Am Abend des Mordes / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.5 (ePub)
Roman
Wird Barbarotti kaltgestellt? Aufs Abstellgleis befördert? Nach einem persönlichen Schicksalsschlag mit privaten Problemen beschäftigt, erhält er von seinem Vorgesetzten die Anweisung, sich mit dem Fall eines fünf Jahre zuvor spurlos verschwundenen...
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Produktinformationen zu „Am Abend des Mordes / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.5 (ePub)“
Wird Barbarotti kaltgestellt? Aufs Abstellgleis befördert? Nach einem persönlichen Schicksalsschlag mit privaten Problemen beschäftigt, erhält er von seinem Vorgesetzten die Anweisung, sich mit dem Fall eines fünf Jahre zuvor spurlos verschwundenen Elektrikers zu beschäftigen, als er wieder seinen Dienst antritt. Nicht nur Kollegin Backman fragt sich, ob es sich hierbei nicht nur um eine Form von Beschäftigungstherapie für einen trauernden und labilen Kollegen handelt. Und zunächst sieht es auch ganz so aus, als sei Barbarotti nun zum Spezialisten für sogenannte »kalte Fälle« geworden, denen man nur routinemäßig nachgeht. Zum Zeitpunkt seines Verschwindens lebte besagter Elektriker nämlich mit einer Frau zusammen, die bereits einmal einen Mord begangen und dafür elf Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Doch ohne Leiche keine Mörderin. Beweisen konnte man ihr in diesem Fall nichts. Gunnar Barbarotti tut das, was er am besten kann: Er ermittelt. Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen setzt er zusammen, und als er schließlich begreift, was gespielt wird, hat das weitreichende Konsequenzen ...
Lese-Probe zu „Am Abend des Mordes / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.5 (ePub)“
Am Abend des Mordes von Håkan NesserDer 29. April 2012
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1
Irgendein Morgen.
Er wachte auf, und wenn es im Zimmer eine wahrnehmbare Veränderung gab, so bemerkte er sie nicht.
Es war still wie immer. Das graue Licht der Morgendämmerung, das behutsam durch die dünnen Vorhänge drang, war wie immer. Alles war wie immer - scheinbar wie immer: die flache Steinbank unter dem Fenster und der Korbstuhl in der dunkelsten Ecke, ihre Kleider auf dem Ständer, die blattarme Palme, die Fotos der Kinder aufgereiht an der Wand neben der Tür; alles war so wie bei ihrem Einzug vier Jahre zuvor.
Und in seinem Inneren: ein Traumfragment - ein Verhörraum mit einem Tisch und einem gesichtslosen älteren Mann, der soeben etwas Bedeutsames gesagt hatte -, es verblasste, verschwand in seiner eigenen geheimen Landschaft.
Und Schwere und Müdigkeit in jedem Glied und Gelenk; ebenfalls unverändert und zunehmend, er war inzwischen in seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr, was man nicht weiter zu beachten brauchte, man musste es lediglich feststellen und damit leben. Er drehte den Kopf und sah auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. In zehn Minuten würde der Wecker klingeln. Widerwillig streckte er die Hand aus und schaltete ihn ab. Wandte sich mühsam um und legte den rechten Arm auf Marianne. Tastete sich auch unter die Decke vor, um Kontakt zu ihrer Haut zu bekommen. Unwichtig wo.
Noch eine Sekunde lang war es ein normaler Morgen wie jeder andere.
Dann durchzuckte ihn das Wachsein wie ein elektrischer Schlag - von der Hand über den Arm bis in den ganzen Körper und schlug im Kopf ein wie ein eisiger Blitz.
Die Kühle. Die Abwesenheit.
Die absolute Reglosigkeit und Stille. Jede Faser jeder Zelle in ihm wusste, was passiert war, bevor die zähe Membran seines Bewusstseins mit einem stummen Schrei und einem Nein platzte.
Es war geschehen. Es war geschehen. Für eine Reihe von Augenblicken stellten
sich nur diese drei Worte ein. Sonst nichts. Es war geschehen. Es war geschehen. Nach einer Weile ein wenig mehr. Es passiert wirklich. Es ist keine Angst. Keine Einbildung.
Es ist wirklich geschehen. Ich liege hier. Marianne liegt hier. Es ist Morgen. Wir liegen hier an einem Morgen nach irgendeiner Nacht. Doch hier liege nur ich. Sie liegt nicht neben mir. Wird nie mehr neben mir liegen. Es ist geschehen. Es ist wirklich geschehen.
Erneut ließ er seine Hand auf ihrem Körper ruhen. Unwich
tig wo. Ihrem Körper, mag sein. Aber nicht ihr. So kalt ist keiner. Tot. Es war 6.26 Uhr am 29. April 2012. Marianne war tot.
So war es und nicht anders.
Und nicht anders.
Ihre Augen waren nicht ganz geschlossen. So wenig wie ihr Mund. Als hätte sie doch noch ein letztes Bild mitgenommen. Als hätte sie ihm in allerletzter Sekunde noch etwas sagen wollen.
Vielleicht hatte sie das tatsächlich getan. Ihm etwas gesagt, ein paar Worte ausgesprochen, die eventuell durch den schweren Panzer seines Schlafs gedrungen waren. Oder auch nicht.
Oder war sie gestorben, ohne sich dessen vorher bewusst zu sein? Er würde es nie erfahren. Er würde niemals aufhören, sich das zu fragen.
Noch liege ich hier, dachte er. Noch bin ich der Einzige, der es weiß. Ich kann mir immer noch einbilden, dass alles völlig normal ist. Es könnte auch sein, dass ich hier liege und schlafe und das Ganze nur ein Traum ist. Es kann einfach nicht so unbegreiflich schnell gehen. Das ist doch absurd. Von einer Sekunde auf die andere. Das ist einfach nicht ...
Aber all diese Gedanken waren dünner als die Wand der Seifenblase im Moment des Platzens.
Und sie platzte. Alles war geplatzt.
»Marianne?«, flüsterte er.
Marianne?
Und irgendwo in seinem Inneren antwortete ihre Stimme.
Ich bin nicht hier.
Es tut mir leid für dich, aber ich bin weitergegangen.
Tut mir leid für dich und für die Kinder.
Kümmere dich um die Kinder. Ich liebe euch. Für euch ist es am schwierigsten, aber eines Tages werden wir wieder vereint sein. Das weiß ich.
Er nahm ihre Hand, und auch wenn sie nicht mehr zu Marianne gehörte, hielt er sie fest. Spürte ihre stumme Kühle, hielt sie fest und schloss die Augen.
Um Viertel vor sieben stand er auf. Er hatte gehört, dass sich einige der Kinder im Haus bewegten, und es wurde Zeit, ihnen zu erzählen, dass ihre Mutter tot war.
Dass sie im Laufe der Nacht in ihrem Bett gestorben war.
Wahrscheinlich, wie schon einmal, ein Aneurysma. Ein kleines Blutgefäß im Gehirn, das vor anderthalb Jahren geplatzt war. Er war nicht unvorbereitet gewesen. Die Möglichkeit, dass es geschehen könnte, hatte wie ein vergifteter Stachel in ihm gesteckt. Nun war dieser Stachel fort.
Noch ehe er die Tür erreicht hatte, streckte ihn die Trauer nieder. Sie kam von hinten wie eine Orkanböe, und er fiel blindlings zu Boden und blieb wie in einem Krampf liegen, bis es ihm gelang, die Hände zu falten und Gott um Kraft zu bitten.
Die nötige Kraft, um in die Küche hinunterzugehen, die Kinder am Tisch zu versammeln und es ihnen zu erzählen.
II
Mai 2012 / Juni 1989
2
Eva Backman klopfte an und trat ein.
Blieb an der Tür stehen und schaute sich um. Asunander stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und telefonierte. Hinter seinem Schreibtisch lehnte ein Stapel Umzugskartons an der Wand. Wenn sie richtig sah, acht bis zehn Stück. Sie fragte sich, ob er wirklich so viele benötigte. Sollte sie selbst eines Tages ihr Büro räumen, würde ihr vermutlich ein einziger reichen. In ferner Zukunft.
Oder zwei Papptüten.
Aber Asunander war Kommissar und Chef, das war natürlich ein Unterschied. Mehr als fünfzehn Jahre hatte er in diesem geräumigen Büro gehaust und alles Mögliche angesammelt. So besaß er beispielsweise ein ziemlich gut gefülltes Bücherregal; wahrscheinlich stammten die meisten Werke aus seinem Privatbesitz. Das hatte sie schon früher des Öfteren gedacht, und nun ließ sie den Blick über die Bücherrücken schweifen und stellte es nochmals fest, während sie darauf wartete, dass er sein Gespräch beendete. Ein lesender Polizist. In erster Linie Geschichte, sowohl Kriminalgeschichte als auch allgemeine Historie. Wörterbücher und Lexika. Ein halber Meter Belletristik.
Verwahrte er hinter den Bücherreihen im Übrigen edlen Whisky und anderes? Oder in der Schreibtischschublade? Asunander hatte Facetten, die sie nie eingehender erkundet hatte, und da er nur noch knapp zwei Monate auf seinem Posten blieb, würde er seine Geheimnisse wohl auch für sich behalten dürfen.
Dachte Inspektor Backman und nahm im Besuchersessel Platz.
Asunander beendete sein Telefonat, drehte sich um, nickte ihr zu und wippte zwei Mal auf Fersen und Zehen vor und zurück, ehe er sich an seinen Schreibtisch setzte.
»Du räumst auf?«
Sie deutete auf die Kartons. Er starrte sie an. Sie dachte, dass sie ihm in all den Jahren niemals nahegekommen war und ihr das in diesen letzten Wochen mit Sicherheit auch nicht mehr gelingen würde. Damit befand sie sich in guter Gesellschaft, Asunander war nun einmal, wie er war. Ein Einzelgänger.
»Toivonen hatte ein paar Kartons übrig. Er ist ja im März umgezogen. Die hat er mir heute Morgen vorbeigebracht.«
Backman nickte.
»Aber wir sind nicht hier, um über mein Hinscheiden zu sprechen.« Er räusperte sich und wühlte in den Blätterstapeln auf seinem Schreibtisch. »Es geht um Barbarotti. Wie zum Teufel geht es ihm eigentlich? Gibt es eine nennenswerte Verbesserung? «
Eva Backman seufzte und überlegte, was sie darauf antworten sollte.
Verbesserung? Sekundenlang betrachtete sie Asunanders schwere Gesichtszüge. Gab es hinter diesen Falten und der Elefantenhaut so etwas wie Einfühlungsvermögen? Existierte dort ein Funken Wärme und Menschlichkeit, oder hatten die Jahre und der Überdruss und die Einsamkeit die letzten Reste von Mitgefühl abgeschliffen?
Schwer zu sagen.
Drei Wochen waren seit Mariannes Tod vergangen, gut eine seit ihrer Beerdigung. Eva Backman hatte in dieser Zeit praktisch täglich mit Barbarotti gesprochen. Meistens sogar zwei oder drei Mal. Hatte versucht, mit ihm zu sprechen. Zuletzt an diesem Morgen. Sie wusste nicht, ob das Wort »Verbesserung « in diesem Zusammenhang irgendeine Relevanz besaß. Sie hatte jedenfalls keine erkennen können, wusste jedoch nicht, was sich hinter Barbarottis roboterhafter Fassade verbergen mochte.
Wie dunkles Wasser unter der Eisdecke auf einem Waldsee; der Gedanke war ihr an diesem Morgen mal wieder gekommen, und es war vermutlich kein schlechtes Bild für die Lage.
»Er kommt heute Nachmittag.«
»Ja, das ist mir bekannt«, sagte Asunander. »Also stellt sich die Frage, welche Verwendung wir für ihn finden können.«
»Verwendung?«
»Jetzt leg meine Worte nicht auf die Goldwaage. Du weißt schon, was ich meine.«
»Ich glaube, es ist wichtig, dass er wieder arbeitet«, sagte Eva Backman.
»Wir können hier niemanden therapieren«, entgegnete Asunander. »Nicht einmal unter diesen Umständen. Versteh mich nicht falsch, auch ich habe ein Herz im Leib.«
»Das habe ich nie bezweifelt«, erklärte Backman. Und ob ich das habe, dachte sie. Mehr als einmal.
»Und?«, sagte Asunander.
Eva Backman überlegte einen Moment. »Ich weiß nicht recht, wie es ihm geht«, gestand sie. »Und auch nicht, inwiefern er verwendbar ist.«
»Er ist ein verdammt guter Polizist«, meinte Asunander. »Schwierig, aber gut.«
Und du bist ein verdammt schwieriger Chef, setzte Back- man ihren inneren Monolog fort. Eventuell gut, aber definitiv schwierig.
»Da hast du recht«, sagte sie.
»Davon, dass einem die Frau so mir nichts, dir nichts stirbt, wird man natürlich nicht besser. Vermutlich wird man eher schwieriger.«
Er lehnte sich zurück und faltete die Hände im Nacken. Blickte zur Decke hinauf und schien seine letzte Behauptung zu überdenken.
Nicht besser, aber schwieriger?
Eva Backman schwieg eine Weile und fragte sich, was Asunander eigentlich von ihr wollte. Ob er von ihr tatsächlich erwartete, dass sie Barbarotti beurteilte - oder ob er sie bloß gerufen hatte, weil die Lage ein wenig sondiert werden musste.
Aber Asunander gab sich selten damit zufrieden, die Lage im Allgemeinen zu sondieren, und ein Freund von Konversation war er auch nicht. Sie nahm an, dass er in dieser Frage trotz allem ihre Hilfe benötigte. Wollte er ihre wohlüberlegten Ansichten dazu hören, welche Arbeitsaufgaben man einem schwierigen, aber guten Kriminalinspektor übertragen sollte, dessen erst siebenundvierzigjährige Ehefrau verstorben war und ihn mit fünf halbwüchsigen Kindern und einer ... einer Trauer allein gelassen hatte, von deren Ausmaß und Tiefe man sich wohl gar keine Vorstellung machen konnte. Ja, wahrscheinlich wollte Asunander, dass sie diese Nuss für ihn knackte.
»Er sollte vielleicht nicht gleich am Fall Fängström arbeiten «, sagte sie. »Das erschiene mir nicht richtig.«
Asunander nickte mürrisch, ohne den Blick von der Decke zu wenden. Ohne dass sie sich dagegen hätte wehren können, schob sich der Fall Fängström in Eva Backmans Bewusstsein, was allerdings nicht weiter verwunderlich war; er war erst achtundvierzig Stunden alt, und sie war ab der ersten Sekunde beteiligt gewesen. Raymond Fängström, 29 Jahre alt und alleinstehend, war am Sonntagmorgen von seiner treusorgenden Mutter tot auf dem Fußboden seiner Küche gefunden worden, als diese ihn besuchen wollte, um ihm im Haushalt zur Hand zu gehen. Putzen und bügeln und was auch immer. Sie hatte ihn mit den Armen unter sich auf dem Bauch liegend in der Passage zwischen Herd/Spüle und Kühlschrank/Gefrierschrank gefunden, und schon bald stand fest, dass er dort seit dem Vorabend gelegen haben musste. Er hatte sich einigermaßen ergiebig übergeben, und sein Kopf ruhte in einem Teil des Erbrochenen. Auf dem Tisch standen die Reste einer Mahlzeit; zwei Personen hatten allem Anschein nach Spaghetti mit Hackfleischsauce gegessen und sich eine Flasche Rotwein geteilt.
Wer Fängströms Essensgast gewesen war, wusste man noch nicht, aber der Polizeiarzt, ein gewisser Herbert Lindman, der normalerweise in wenigstens drei von vier Fällen richtig lag, hatte behauptet, dass die Chancen für eine Vergiftung ziemlich gut standen. Proben vom Wein, den Spaghetti und der Hackfleischsauce sowie von Fängströms Mageninhalt - sowohl vom Erbrochenen als auch vom Rest - waren ins Staatliche Kriminaltechnische Labor in Linköping geschickt worden, und die Ergebnisse würden demnächst eintreffen. Hoffentlich noch im Laufe der Woche.
Das Problem war nicht bloß, dass Raymond Fängström unter unklaren Umständen gestorben war. Das Problem bestand vielmehr darin, wer er war: Seit den Wahlen 2010 saß er für die rechtspopulistische Partei der Schwedendemokraten im Stadtrat von Kymlinge. Es waren bereits Stimmen laut geworden, die meinten, dass man es mit einem politischen Mord zu tun hatte. Dass Fängström ein Opfer böswilliger Kräfte am linken Rand des politischen Spektrums geworden war. Vielleicht ein Migrant, vielleicht ein Homosexueller, es gab zahlreiche Gegner der Politik und der fremdenfeindlichen Ansichten, die Fängström vertrat und im Stadtrat durchzusetzen versuchte, wo er die Rolle eines Züngleins an der Waage gespielt hatte.
Dass diese Stimmen eher lautstark als vielstimmig waren, spielte kaum eine Rolle, die Medien hatten die Sache sowohl vor Ort als auch landesweit aufgebauscht. Politische Morde kamen in Schweden eher selten vor, und so hatten sich bei der montäglichen Pressekonferenz im Polizeipräsidium von Kymlinge über fünfzig Journalisten eingefunden.
Eva Backman hatte bisher sechs Personen vernommen, die mit dem toten Schwedendemokraten mehr oder weniger in Verbindung gestanden hatten; in ihrem Notizblock waren zwöf weitere verzeichnet, und beim Gedanken an diese Gespräche empfand sie keinerlei Vorfreude. Am Vortag hatte sie noch zu später Stunde Sigmund Stiller gegenüber gesessen, dem zweiten Mann auf der kommunalen Liste der Partei, der Fängström, wie allgemein erwartet wurde, im Stadtrat ersetzen würde. Wenn sie daran zurückdachte, biss sie immer noch die Zähne zusammen.
Stiller hatte zwar nicht die Anwesenheit eines Anwalts verlangt, aber auf einen Leibwächter bestanden, da er davon ausging, dass er im Fadenkreuz linker Terroristen war, was er auch allen möglichen Medien gegenüber verkündet hatte. Im Übrigen vertrat er die Ansicht, dass jedem Schwedendemokraten im Land ein Leibwächter zugeteilt werden sollte, ein Vorschlag, der von der Parteiführung in Stockholm allerdings umgehend heruntergespielt wurde. Oder in Schonen oder wo auch immer; jedenfalls hatte Eva Backman schon nach wenigen Stunden der Ermittlungen gespürt, dass sie am liebsten Verkehrspolizistin oder Drogenfahnderin oder was auch immer gewesen wäre. Alles, nur keine Kriminalinspektorin, die in einem verzwickten Fall mit einem toten Rassisten ermittelte.
Sicher, seit die Schwedendemokraten Krawatten trugen und ins schwedische Parlament eingezogen waren, nannten sie sich nicht mehr Rassisten, aber auf kommunaler Ebene brauchte - zumindest in Kymlinge - niemand zu bezweifeln, welche Ansichten sie vertraten. In seinen knapp zwei Jahren im Stadtrat war es Raymond Fängström gelungen, seinen Mitbürgern zwei Dinge zu beweisen: Er hasste alle Menschen, die südlich der Alpen geboren waren, und er gehörte nicht unbedingt zu den hellsten Köpfen im Lande.
Es zeigte sich, dass Sigmund Stiller (Eva Backman hatte recherchiert, dass er eigentlich Jan Johansson hieß, jedoch einen anderen Namen angenommen hatte, nachdem man ihn in der Schule gemobbt hatte) seinem Parteiführer weder in der einen noch der anderen Hinsicht nachstand.
»Warum glauben Sie, dass es für Fängströms Tod politische Gründe gibt?«, hatte Backman ihn gefragt.
»Das liegt doch auf der Hand«, hatte Stiller ihr geantwortet. »Sie sind hinter uns her.«
»Wer ist sie?«
»Na die. Die Islamisten. Die Asylanten. Raymond wurde ermordet, das ist der Anfang des großen Rassenkriegs, kapiert?«
»Genau«, hatte sein Leibwächter ergänzt, der auf den Namen Hank hörte und aussah, als würde er hundertfünfzig Kilo auf die Waage bringen: »The hit has shit the fan.«
Nein, es schien ihr wirklich nicht richtig, Barbarotti auf Fängström anzusetzen.
»Davon soll er die Finger lassen«, meinte Asunander. »Stress
kann er sicher nicht gebrauchen, was?«
»Jedenfalls nicht in zu großen Dosen«, erwiderte Backman.
Asunander senkte die Hände zum Schreibtisch und wühlte wieder eine Zeit lang. Schien es sich dann jedoch anders zu überlegen und hob eine braune Mappe aus der obersten Schreibtischschublade.
»Was hältst du hiervon?«
Er ließ die Mappe nicht los, sondern drehte sie nur so um, dass sie den Text auf der Vorderseite lesen konnte.
Arnold Morinder
Das war bloß ein Name, und sie erinnerte sich nicht sofort an die Begleitumstände. Es klingelte zwar irgendwo, aber sie war nicht beteiligt gewesen. Höchstens am Rande. Asunander öffnete die Mappe und murmelte etwas vor sich hin, das sie nicht verstehen konnte.
»Ich erinnere mich nur vage«, bekannte sie. »War das etwa der Typ mit dem blauen Moped?«
»Stimmt genau«, antwortete Asunander. »Ungefähr fünf Jahre ist das jetzt her. Wir haben nicht viel Klarheit in die Angelegenheit bringen können.«
»Ja, daran erinnere ich mich«, sagte Backman. »Aber an den Ermittlungen war ich nie wirklich beteiligt. Wurde der Fall damals nicht ziemlich schnell zu den Akten gelegt?«
»So ist es«, bestätigte Asunander, und um seinen Mund legte sich ein unzufriedener Zug. »Nicht aufklärbar. Bei den Ermittlungen kam rein gar nichts heraus. Aber der verdammte Bursche ist nie wieder aufgetaucht.«
»Menschen, die verschwinden«, stellte Backman fest. »Schwie rig zu ermitteln.«
»Was du nicht sagst«, kommentierte Asunander.
Backman dachte nach. »Und was soll Barbarotti deiner Meinung nach daran ändern können?«
Asunander zuckte unbeholfen mit den Schultern. »Die Sache würde ihn beschäftigen. Lautete so nicht die ärztliche Verordnung? Und falls er nicht weiterkommen sollte, schadet es jedenfalls auch nicht.«
Backman entgegnete nichts.
»Würdest du bitte so nett sein, das Material durchzusehen, bevor er es tut«, fuhr Asunander mit einer Miene fort, die wahrscheinlich illustrieren sollte, dass sie zu einer gemeinsamen Entscheidung gekommen waren. »Dann kannst du den Fall heute Nachmittag für ihn zusammenfassen. Aber nicht vergessen, er wird der Sache alleine nachgehen müssen. Ein oder zwei Wochen, damit er sich wieder einleben kann. Was denkt die Frau Inspektorin darüber?«
»Ich denke absolut nichts«, erwiderte Eva Backman.
»Schön«, sagte Asunander. »Der Staatsanwalt ist informiert, aber es wird keine offiziellen Vernehmungen geben. Er soll nur vorsichtig sondieren, du wirst das Barbarotti schon auseinandersetzen. «
Vorsichtig sondieren, dachte sie gereizt, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Eine Ein-Mann-Ermittlung? Wenn man schon arbeiten sollte, konnte man es doch genauso gut mit voller Kraft tun? Oder etwa nicht?
Und würde Barbarotti Asunanders Schachzug nicht mit Sicherheit durchschauen? Begreifen, dass es hierbei im Grunde lediglich um eine Beschäftigungstherapie ging. Dass man ihm eigentlich absprach, arbeitsfähig zu sein.
Oder war es genau das, was er jetzt brauchte? Die Medizin, die Gunnar Barbarotti in seiner momentanen Lage selbst bevorzugen würde? Eine geschützte Spielwiese in einem abgelegenen Winkel der wahren Polizeiarbeit.
Wenn man ihn denn gefragt hätte.
Und er einen eigenen Willen hätte. In den Gesprächen, die sie mit ihm geführt hatte, war davon nur wenig zu spüren gewesen. Genau genommen nichts.
Trauer, dachte sie und betrat ihr Büro. Darum geht es hier. Um den Permafrost der Seele.
Übersetzung: Paul Berf
1. Auflage Copyright © der Originalausgabe 2012 by Håkan Nesser Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
1
Irgendein Morgen.
Er wachte auf, und wenn es im Zimmer eine wahrnehmbare Veränderung gab, so bemerkte er sie nicht.
Es war still wie immer. Das graue Licht der Morgendämmerung, das behutsam durch die dünnen Vorhänge drang, war wie immer. Alles war wie immer - scheinbar wie immer: die flache Steinbank unter dem Fenster und der Korbstuhl in der dunkelsten Ecke, ihre Kleider auf dem Ständer, die blattarme Palme, die Fotos der Kinder aufgereiht an der Wand neben der Tür; alles war so wie bei ihrem Einzug vier Jahre zuvor.
Und in seinem Inneren: ein Traumfragment - ein Verhörraum mit einem Tisch und einem gesichtslosen älteren Mann, der soeben etwas Bedeutsames gesagt hatte -, es verblasste, verschwand in seiner eigenen geheimen Landschaft.
Und Schwere und Müdigkeit in jedem Glied und Gelenk; ebenfalls unverändert und zunehmend, er war inzwischen in seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr, was man nicht weiter zu beachten brauchte, man musste es lediglich feststellen und damit leben. Er drehte den Kopf und sah auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. In zehn Minuten würde der Wecker klingeln. Widerwillig streckte er die Hand aus und schaltete ihn ab. Wandte sich mühsam um und legte den rechten Arm auf Marianne. Tastete sich auch unter die Decke vor, um Kontakt zu ihrer Haut zu bekommen. Unwichtig wo.
Noch eine Sekunde lang war es ein normaler Morgen wie jeder andere.
Dann durchzuckte ihn das Wachsein wie ein elektrischer Schlag - von der Hand über den Arm bis in den ganzen Körper und schlug im Kopf ein wie ein eisiger Blitz.
Die Kühle. Die Abwesenheit.
Die absolute Reglosigkeit und Stille. Jede Faser jeder Zelle in ihm wusste, was passiert war, bevor die zähe Membran seines Bewusstseins mit einem stummen Schrei und einem Nein platzte.
Es war geschehen. Es war geschehen. Für eine Reihe von Augenblicken stellten
sich nur diese drei Worte ein. Sonst nichts. Es war geschehen. Es war geschehen. Nach einer Weile ein wenig mehr. Es passiert wirklich. Es ist keine Angst. Keine Einbildung.
Es ist wirklich geschehen. Ich liege hier. Marianne liegt hier. Es ist Morgen. Wir liegen hier an einem Morgen nach irgendeiner Nacht. Doch hier liege nur ich. Sie liegt nicht neben mir. Wird nie mehr neben mir liegen. Es ist geschehen. Es ist wirklich geschehen.
Erneut ließ er seine Hand auf ihrem Körper ruhen. Unwich
tig wo. Ihrem Körper, mag sein. Aber nicht ihr. So kalt ist keiner. Tot. Es war 6.26 Uhr am 29. April 2012. Marianne war tot.
So war es und nicht anders.
Und nicht anders.
Ihre Augen waren nicht ganz geschlossen. So wenig wie ihr Mund. Als hätte sie doch noch ein letztes Bild mitgenommen. Als hätte sie ihm in allerletzter Sekunde noch etwas sagen wollen.
Vielleicht hatte sie das tatsächlich getan. Ihm etwas gesagt, ein paar Worte ausgesprochen, die eventuell durch den schweren Panzer seines Schlafs gedrungen waren. Oder auch nicht.
Oder war sie gestorben, ohne sich dessen vorher bewusst zu sein? Er würde es nie erfahren. Er würde niemals aufhören, sich das zu fragen.
Noch liege ich hier, dachte er. Noch bin ich der Einzige, der es weiß. Ich kann mir immer noch einbilden, dass alles völlig normal ist. Es könnte auch sein, dass ich hier liege und schlafe und das Ganze nur ein Traum ist. Es kann einfach nicht so unbegreiflich schnell gehen. Das ist doch absurd. Von einer Sekunde auf die andere. Das ist einfach nicht ...
Aber all diese Gedanken waren dünner als die Wand der Seifenblase im Moment des Platzens.
Und sie platzte. Alles war geplatzt.
»Marianne?«, flüsterte er.
Marianne?
Und irgendwo in seinem Inneren antwortete ihre Stimme.
Ich bin nicht hier.
Es tut mir leid für dich, aber ich bin weitergegangen.
Tut mir leid für dich und für die Kinder.
Kümmere dich um die Kinder. Ich liebe euch. Für euch ist es am schwierigsten, aber eines Tages werden wir wieder vereint sein. Das weiß ich.
Er nahm ihre Hand, und auch wenn sie nicht mehr zu Marianne gehörte, hielt er sie fest. Spürte ihre stumme Kühle, hielt sie fest und schloss die Augen.
Um Viertel vor sieben stand er auf. Er hatte gehört, dass sich einige der Kinder im Haus bewegten, und es wurde Zeit, ihnen zu erzählen, dass ihre Mutter tot war.
Dass sie im Laufe der Nacht in ihrem Bett gestorben war.
Wahrscheinlich, wie schon einmal, ein Aneurysma. Ein kleines Blutgefäß im Gehirn, das vor anderthalb Jahren geplatzt war. Er war nicht unvorbereitet gewesen. Die Möglichkeit, dass es geschehen könnte, hatte wie ein vergifteter Stachel in ihm gesteckt. Nun war dieser Stachel fort.
Noch ehe er die Tür erreicht hatte, streckte ihn die Trauer nieder. Sie kam von hinten wie eine Orkanböe, und er fiel blindlings zu Boden und blieb wie in einem Krampf liegen, bis es ihm gelang, die Hände zu falten und Gott um Kraft zu bitten.
Die nötige Kraft, um in die Küche hinunterzugehen, die Kinder am Tisch zu versammeln und es ihnen zu erzählen.
II
Mai 2012 / Juni 1989
2
Eva Backman klopfte an und trat ein.
Blieb an der Tür stehen und schaute sich um. Asunander stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und telefonierte. Hinter seinem Schreibtisch lehnte ein Stapel Umzugskartons an der Wand. Wenn sie richtig sah, acht bis zehn Stück. Sie fragte sich, ob er wirklich so viele benötigte. Sollte sie selbst eines Tages ihr Büro räumen, würde ihr vermutlich ein einziger reichen. In ferner Zukunft.
Oder zwei Papptüten.
Aber Asunander war Kommissar und Chef, das war natürlich ein Unterschied. Mehr als fünfzehn Jahre hatte er in diesem geräumigen Büro gehaust und alles Mögliche angesammelt. So besaß er beispielsweise ein ziemlich gut gefülltes Bücherregal; wahrscheinlich stammten die meisten Werke aus seinem Privatbesitz. Das hatte sie schon früher des Öfteren gedacht, und nun ließ sie den Blick über die Bücherrücken schweifen und stellte es nochmals fest, während sie darauf wartete, dass er sein Gespräch beendete. Ein lesender Polizist. In erster Linie Geschichte, sowohl Kriminalgeschichte als auch allgemeine Historie. Wörterbücher und Lexika. Ein halber Meter Belletristik.
Verwahrte er hinter den Bücherreihen im Übrigen edlen Whisky und anderes? Oder in der Schreibtischschublade? Asunander hatte Facetten, die sie nie eingehender erkundet hatte, und da er nur noch knapp zwei Monate auf seinem Posten blieb, würde er seine Geheimnisse wohl auch für sich behalten dürfen.
Dachte Inspektor Backman und nahm im Besuchersessel Platz.
Asunander beendete sein Telefonat, drehte sich um, nickte ihr zu und wippte zwei Mal auf Fersen und Zehen vor und zurück, ehe er sich an seinen Schreibtisch setzte.
»Du räumst auf?«
Sie deutete auf die Kartons. Er starrte sie an. Sie dachte, dass sie ihm in all den Jahren niemals nahegekommen war und ihr das in diesen letzten Wochen mit Sicherheit auch nicht mehr gelingen würde. Damit befand sie sich in guter Gesellschaft, Asunander war nun einmal, wie er war. Ein Einzelgänger.
»Toivonen hatte ein paar Kartons übrig. Er ist ja im März umgezogen. Die hat er mir heute Morgen vorbeigebracht.«
Backman nickte.
»Aber wir sind nicht hier, um über mein Hinscheiden zu sprechen.« Er räusperte sich und wühlte in den Blätterstapeln auf seinem Schreibtisch. »Es geht um Barbarotti. Wie zum Teufel geht es ihm eigentlich? Gibt es eine nennenswerte Verbesserung? «
Eva Backman seufzte und überlegte, was sie darauf antworten sollte.
Verbesserung? Sekundenlang betrachtete sie Asunanders schwere Gesichtszüge. Gab es hinter diesen Falten und der Elefantenhaut so etwas wie Einfühlungsvermögen? Existierte dort ein Funken Wärme und Menschlichkeit, oder hatten die Jahre und der Überdruss und die Einsamkeit die letzten Reste von Mitgefühl abgeschliffen?
Schwer zu sagen.
Drei Wochen waren seit Mariannes Tod vergangen, gut eine seit ihrer Beerdigung. Eva Backman hatte in dieser Zeit praktisch täglich mit Barbarotti gesprochen. Meistens sogar zwei oder drei Mal. Hatte versucht, mit ihm zu sprechen. Zuletzt an diesem Morgen. Sie wusste nicht, ob das Wort »Verbesserung « in diesem Zusammenhang irgendeine Relevanz besaß. Sie hatte jedenfalls keine erkennen können, wusste jedoch nicht, was sich hinter Barbarottis roboterhafter Fassade verbergen mochte.
Wie dunkles Wasser unter der Eisdecke auf einem Waldsee; der Gedanke war ihr an diesem Morgen mal wieder gekommen, und es war vermutlich kein schlechtes Bild für die Lage.
»Er kommt heute Nachmittag.«
»Ja, das ist mir bekannt«, sagte Asunander. »Also stellt sich die Frage, welche Verwendung wir für ihn finden können.«
»Verwendung?«
»Jetzt leg meine Worte nicht auf die Goldwaage. Du weißt schon, was ich meine.«
»Ich glaube, es ist wichtig, dass er wieder arbeitet«, sagte Eva Backman.
»Wir können hier niemanden therapieren«, entgegnete Asunander. »Nicht einmal unter diesen Umständen. Versteh mich nicht falsch, auch ich habe ein Herz im Leib.«
»Das habe ich nie bezweifelt«, erklärte Backman. Und ob ich das habe, dachte sie. Mehr als einmal.
»Und?«, sagte Asunander.
Eva Backman überlegte einen Moment. »Ich weiß nicht recht, wie es ihm geht«, gestand sie. »Und auch nicht, inwiefern er verwendbar ist.«
»Er ist ein verdammt guter Polizist«, meinte Asunander. »Schwierig, aber gut.«
Und du bist ein verdammt schwieriger Chef, setzte Back- man ihren inneren Monolog fort. Eventuell gut, aber definitiv schwierig.
»Da hast du recht«, sagte sie.
»Davon, dass einem die Frau so mir nichts, dir nichts stirbt, wird man natürlich nicht besser. Vermutlich wird man eher schwieriger.«
Er lehnte sich zurück und faltete die Hände im Nacken. Blickte zur Decke hinauf und schien seine letzte Behauptung zu überdenken.
Nicht besser, aber schwieriger?
Eva Backman schwieg eine Weile und fragte sich, was Asunander eigentlich von ihr wollte. Ob er von ihr tatsächlich erwartete, dass sie Barbarotti beurteilte - oder ob er sie bloß gerufen hatte, weil die Lage ein wenig sondiert werden musste.
Aber Asunander gab sich selten damit zufrieden, die Lage im Allgemeinen zu sondieren, und ein Freund von Konversation war er auch nicht. Sie nahm an, dass er in dieser Frage trotz allem ihre Hilfe benötigte. Wollte er ihre wohlüberlegten Ansichten dazu hören, welche Arbeitsaufgaben man einem schwierigen, aber guten Kriminalinspektor übertragen sollte, dessen erst siebenundvierzigjährige Ehefrau verstorben war und ihn mit fünf halbwüchsigen Kindern und einer ... einer Trauer allein gelassen hatte, von deren Ausmaß und Tiefe man sich wohl gar keine Vorstellung machen konnte. Ja, wahrscheinlich wollte Asunander, dass sie diese Nuss für ihn knackte.
»Er sollte vielleicht nicht gleich am Fall Fängström arbeiten «, sagte sie. »Das erschiene mir nicht richtig.«
Asunander nickte mürrisch, ohne den Blick von der Decke zu wenden. Ohne dass sie sich dagegen hätte wehren können, schob sich der Fall Fängström in Eva Backmans Bewusstsein, was allerdings nicht weiter verwunderlich war; er war erst achtundvierzig Stunden alt, und sie war ab der ersten Sekunde beteiligt gewesen. Raymond Fängström, 29 Jahre alt und alleinstehend, war am Sonntagmorgen von seiner treusorgenden Mutter tot auf dem Fußboden seiner Küche gefunden worden, als diese ihn besuchen wollte, um ihm im Haushalt zur Hand zu gehen. Putzen und bügeln und was auch immer. Sie hatte ihn mit den Armen unter sich auf dem Bauch liegend in der Passage zwischen Herd/Spüle und Kühlschrank/Gefrierschrank gefunden, und schon bald stand fest, dass er dort seit dem Vorabend gelegen haben musste. Er hatte sich einigermaßen ergiebig übergeben, und sein Kopf ruhte in einem Teil des Erbrochenen. Auf dem Tisch standen die Reste einer Mahlzeit; zwei Personen hatten allem Anschein nach Spaghetti mit Hackfleischsauce gegessen und sich eine Flasche Rotwein geteilt.
Wer Fängströms Essensgast gewesen war, wusste man noch nicht, aber der Polizeiarzt, ein gewisser Herbert Lindman, der normalerweise in wenigstens drei von vier Fällen richtig lag, hatte behauptet, dass die Chancen für eine Vergiftung ziemlich gut standen. Proben vom Wein, den Spaghetti und der Hackfleischsauce sowie von Fängströms Mageninhalt - sowohl vom Erbrochenen als auch vom Rest - waren ins Staatliche Kriminaltechnische Labor in Linköping geschickt worden, und die Ergebnisse würden demnächst eintreffen. Hoffentlich noch im Laufe der Woche.
Das Problem war nicht bloß, dass Raymond Fängström unter unklaren Umständen gestorben war. Das Problem bestand vielmehr darin, wer er war: Seit den Wahlen 2010 saß er für die rechtspopulistische Partei der Schwedendemokraten im Stadtrat von Kymlinge. Es waren bereits Stimmen laut geworden, die meinten, dass man es mit einem politischen Mord zu tun hatte. Dass Fängström ein Opfer böswilliger Kräfte am linken Rand des politischen Spektrums geworden war. Vielleicht ein Migrant, vielleicht ein Homosexueller, es gab zahlreiche Gegner der Politik und der fremdenfeindlichen Ansichten, die Fängström vertrat und im Stadtrat durchzusetzen versuchte, wo er die Rolle eines Züngleins an der Waage gespielt hatte.
Dass diese Stimmen eher lautstark als vielstimmig waren, spielte kaum eine Rolle, die Medien hatten die Sache sowohl vor Ort als auch landesweit aufgebauscht. Politische Morde kamen in Schweden eher selten vor, und so hatten sich bei der montäglichen Pressekonferenz im Polizeipräsidium von Kymlinge über fünfzig Journalisten eingefunden.
Eva Backman hatte bisher sechs Personen vernommen, die mit dem toten Schwedendemokraten mehr oder weniger in Verbindung gestanden hatten; in ihrem Notizblock waren zwöf weitere verzeichnet, und beim Gedanken an diese Gespräche empfand sie keinerlei Vorfreude. Am Vortag hatte sie noch zu später Stunde Sigmund Stiller gegenüber gesessen, dem zweiten Mann auf der kommunalen Liste der Partei, der Fängström, wie allgemein erwartet wurde, im Stadtrat ersetzen würde. Wenn sie daran zurückdachte, biss sie immer noch die Zähne zusammen.
Stiller hatte zwar nicht die Anwesenheit eines Anwalts verlangt, aber auf einen Leibwächter bestanden, da er davon ausging, dass er im Fadenkreuz linker Terroristen war, was er auch allen möglichen Medien gegenüber verkündet hatte. Im Übrigen vertrat er die Ansicht, dass jedem Schwedendemokraten im Land ein Leibwächter zugeteilt werden sollte, ein Vorschlag, der von der Parteiführung in Stockholm allerdings umgehend heruntergespielt wurde. Oder in Schonen oder wo auch immer; jedenfalls hatte Eva Backman schon nach wenigen Stunden der Ermittlungen gespürt, dass sie am liebsten Verkehrspolizistin oder Drogenfahnderin oder was auch immer gewesen wäre. Alles, nur keine Kriminalinspektorin, die in einem verzwickten Fall mit einem toten Rassisten ermittelte.
Sicher, seit die Schwedendemokraten Krawatten trugen und ins schwedische Parlament eingezogen waren, nannten sie sich nicht mehr Rassisten, aber auf kommunaler Ebene brauchte - zumindest in Kymlinge - niemand zu bezweifeln, welche Ansichten sie vertraten. In seinen knapp zwei Jahren im Stadtrat war es Raymond Fängström gelungen, seinen Mitbürgern zwei Dinge zu beweisen: Er hasste alle Menschen, die südlich der Alpen geboren waren, und er gehörte nicht unbedingt zu den hellsten Köpfen im Lande.
Es zeigte sich, dass Sigmund Stiller (Eva Backman hatte recherchiert, dass er eigentlich Jan Johansson hieß, jedoch einen anderen Namen angenommen hatte, nachdem man ihn in der Schule gemobbt hatte) seinem Parteiführer weder in der einen noch der anderen Hinsicht nachstand.
»Warum glauben Sie, dass es für Fängströms Tod politische Gründe gibt?«, hatte Backman ihn gefragt.
»Das liegt doch auf der Hand«, hatte Stiller ihr geantwortet. »Sie sind hinter uns her.«
»Wer ist sie?«
»Na die. Die Islamisten. Die Asylanten. Raymond wurde ermordet, das ist der Anfang des großen Rassenkriegs, kapiert?«
»Genau«, hatte sein Leibwächter ergänzt, der auf den Namen Hank hörte und aussah, als würde er hundertfünfzig Kilo auf die Waage bringen: »The hit has shit the fan.«
Nein, es schien ihr wirklich nicht richtig, Barbarotti auf Fängström anzusetzen.
»Davon soll er die Finger lassen«, meinte Asunander. »Stress
kann er sicher nicht gebrauchen, was?«
»Jedenfalls nicht in zu großen Dosen«, erwiderte Backman.
Asunander senkte die Hände zum Schreibtisch und wühlte wieder eine Zeit lang. Schien es sich dann jedoch anders zu überlegen und hob eine braune Mappe aus der obersten Schreibtischschublade.
»Was hältst du hiervon?«
Er ließ die Mappe nicht los, sondern drehte sie nur so um, dass sie den Text auf der Vorderseite lesen konnte.
Arnold Morinder
Das war bloß ein Name, und sie erinnerte sich nicht sofort an die Begleitumstände. Es klingelte zwar irgendwo, aber sie war nicht beteiligt gewesen. Höchstens am Rande. Asunander öffnete die Mappe und murmelte etwas vor sich hin, das sie nicht verstehen konnte.
»Ich erinnere mich nur vage«, bekannte sie. »War das etwa der Typ mit dem blauen Moped?«
»Stimmt genau«, antwortete Asunander. »Ungefähr fünf Jahre ist das jetzt her. Wir haben nicht viel Klarheit in die Angelegenheit bringen können.«
»Ja, daran erinnere ich mich«, sagte Backman. »Aber an den Ermittlungen war ich nie wirklich beteiligt. Wurde der Fall damals nicht ziemlich schnell zu den Akten gelegt?«
»So ist es«, bestätigte Asunander, und um seinen Mund legte sich ein unzufriedener Zug. »Nicht aufklärbar. Bei den Ermittlungen kam rein gar nichts heraus. Aber der verdammte Bursche ist nie wieder aufgetaucht.«
»Menschen, die verschwinden«, stellte Backman fest. »Schwie rig zu ermitteln.«
»Was du nicht sagst«, kommentierte Asunander.
Backman dachte nach. »Und was soll Barbarotti deiner Meinung nach daran ändern können?«
Asunander zuckte unbeholfen mit den Schultern. »Die Sache würde ihn beschäftigen. Lautete so nicht die ärztliche Verordnung? Und falls er nicht weiterkommen sollte, schadet es jedenfalls auch nicht.«
Backman entgegnete nichts.
»Würdest du bitte so nett sein, das Material durchzusehen, bevor er es tut«, fuhr Asunander mit einer Miene fort, die wahrscheinlich illustrieren sollte, dass sie zu einer gemeinsamen Entscheidung gekommen waren. »Dann kannst du den Fall heute Nachmittag für ihn zusammenfassen. Aber nicht vergessen, er wird der Sache alleine nachgehen müssen. Ein oder zwei Wochen, damit er sich wieder einleben kann. Was denkt die Frau Inspektorin darüber?«
»Ich denke absolut nichts«, erwiderte Eva Backman.
»Schön«, sagte Asunander. »Der Staatsanwalt ist informiert, aber es wird keine offiziellen Vernehmungen geben. Er soll nur vorsichtig sondieren, du wirst das Barbarotti schon auseinandersetzen. «
Vorsichtig sondieren, dachte sie gereizt, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Eine Ein-Mann-Ermittlung? Wenn man schon arbeiten sollte, konnte man es doch genauso gut mit voller Kraft tun? Oder etwa nicht?
Und würde Barbarotti Asunanders Schachzug nicht mit Sicherheit durchschauen? Begreifen, dass es hierbei im Grunde lediglich um eine Beschäftigungstherapie ging. Dass man ihm eigentlich absprach, arbeitsfähig zu sein.
Oder war es genau das, was er jetzt brauchte? Die Medizin, die Gunnar Barbarotti in seiner momentanen Lage selbst bevorzugen würde? Eine geschützte Spielwiese in einem abgelegenen Winkel der wahren Polizeiarbeit.
Wenn man ihn denn gefragt hätte.
Und er einen eigenen Willen hätte. In den Gesprächen, die sie mit ihm geführt hatte, war davon nur wenig zu spüren gewesen. Genau genommen nichts.
Trauer, dachte sie und betrat ihr Büro. Darum geht es hier. Um den Permafrost der Seele.
Übersetzung: Paul Berf
1. Auflage Copyright © der Originalausgabe 2012 by Håkan Nesser Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Håkan Nesser
Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Håkan Nesser
- 2012, 480 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Paul Berf
- Verlag: Penguin Random House
- ISBN-10: 3641081572
- ISBN-13: 9783641081577
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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