Clarissa 1 - Im Herzen die Wildnis (ePub)
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Clarissa 1 - Im Herzen der Wildnis von Christopher Ross1
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Clarissa Howe hatte sich daran gewöhnt, dass ihr die meisten Männer nachstarrten. Obwohl sie zu wenig verdiente, um sich nach der neuesten Mode zu kleiden, und sie sich keine extravaganten Hüte wie die reichen Ladys aus dem West End leisten konnte, waren selbst vornehme Gentlemen so sehr von ihrem Aussehen angetan, dass sie ihr freundlich zunickten und ein wohlwollendes Lächeln schenkten. Einfache Fischer und Handwerker gaben sich etwas dreister, sie ließen sich schon mal zu einer kühnen Bemerkung hinreißen, und wenn sie ihren Vater vom Hafen abholte, ging immer ein anerkennendes Raunen durch die Menge. Einer hatte ihr mal einen Heiratsantrag auf offener Straße gemacht, ohne dass er jemals mit ihr ausgegangen war.
Warum die Männer sie bewunderten, wusste sie nicht. Wie oft hatte sie vor dem Spiegel in ihrem Zimmer gestanden und sich prüfend betrachtet, während sie mit den flachen Händen die Konturen ihrer schlanken Gestalt nachfuhr, als könnte sie so die Geheimnisse ihres Körpers ergründen. Ihr Gesicht war schmal, die Augen dunkel, die Haare so schwarz, dass sie für eine Indianerin durchgegangen wäre, hätte ihre Haut nicht so hell und weiß geschimmert. Auch an diesem Morgen waren ihre Haare zu locker gebunden. Es würde ihr wohl niemals gelingen, ihre Haare so streng zu frisieren wie damals ihre Mutter. Ständig hingen ihr ein paar vorwitzige Strähnen ins Gesicht. Sie hatte sich angewöhnt, sie aus dem Gesicht zu pusten, so wie sie es als kleines Mädchen getan hatte, eine scheinbar harmlose Geste, die jedoch ebenfalls bei Männern ankam, wie sie zu ihrer Verwunderung festgestellt hatte.
»So sind die Männer nun mal«, hatte ihre Mutter gesagt, »selbst dein Vater dreht sich nach jedem Weiberrock um!« Aber das war keine Erklärung. Eine ihrer Freundinnen beklagte sich heute noch darüber, dass ihr die Männer keine Beachtung schenkten, obwohl Clarissa nichts Abstoßendes an ihr entdecken konnte. »Du bist anders«, hatte die Freundin erklärt, »du bewegst dich so ... aufreizend«, und sie hatte lachend geantwortet: »Das liegt daran, weil ich so oft bei meinem Vater auf dem Fischerboot war und ständig denke, ich würde das Gleichgewicht verlieren.« Das schönste Kompliment hatte ihr ein studierter junger Mann aus Seattle gemacht: »In Ihren Augen leuchten kleine Sterne ! Wussten Sie das, Miss? Wie bei einer Fee aus dem Märchen !« Leider war er nach der zweiten Verabredung abgereist, wohl auch deswegen, weil seine Eltern nicht wollten, dass er sich mit der Tochter eines Fischers traf.
Normalerweise reagierte Clarissa nicht mehr auf die bewundernden Blicke der Männer. Die Gefahr, sich dabei lächerlich zu machen, war zu groß. Doch als an diesem Morgen eine Kutsche an ihr vorbeifuhr und sich ein vornehmer Gentleman weit aus dem Fenster beugte und sie anstarrte, blieb sie stehen und wunderte sich einmal mehr, wie sehr sich manche Gentlemen aus der Oberschicht für sie interessierten. Er nahm sogar seinen Zylinder ab und grüßte sie wie eine Dame, deren Bekanntschaft er gerne gemacht hätte. Neben ihm erkannte sie die Umrisse einer vornehmen Lady. Sie glaubte wohl, dass er eine Bekannte grüßte, und sah sein verräterisches Lächeln nicht.
Clarissa blieb reglos stehen und war froh, als die Kutsche in einer Seitenstraße verschwand. Zu aufdringlich und auch zu abschätzend hatte sie der Fremde gemustert, als wollte er sie mit seinen Blicken ausziehen. In seinen Augen hatte sie jenen Hochmut erkannt, den sie oft bei Gentlemen der Oberschicht beobachtete; die Annahme, sie könnten sich bei einfachen Frauen alles erlauben und das ausleben, was ihnen die feinen Damen der Gesellschaft nicht gestatteten. Als könnte man sie mit einem Lächeln kaufen.
Sie verdrängte die Gedanken an den Gentleman und ging langsam weiter. Auch an diesem Sonntag schlenderte sie an der English Bay entlang, dem weiten Strand im Westen von Vancouver, der im Sommer vor lauter Sonnenhungrigen kaum zu sehen war und jetzt im Spätherbst einsam und verlassen unter dem grauen Himmel lag. Ihr langer Mantel und der Hut schützten sie gegen den kühlen Wind, der über die Bucht hereinkam und sich zwischen den Häusern im West End verfing. Am Strand säumten schmale Holzhäuser mit steilen Giebeldächern die Beach Avenue, ein paar Blocks weiter ragten die herrschaftlichen Villen der Reichen empor. Die wohlhabenden Familien waren noch vor der Eisenbahn gekommen und hatten sich die besten Grundstücke gesichert. Auch sie wohnte in einer dieser Villen, allerdings nur in der winzigen Dachkammer, die dem Dienstmädchen zur Verfügung gestellt wurde.
Mit dem Wind wehten einige Regentropfen über die Straße. Die düsteren Wolken hingen so tief, dass sie beinahe die Fichten am Strand und im nahen Stanley Park berührten. Kein Wetter zum Spazierengehen, schon gar nicht für eine alleinstehende Dame ohne Begleitung, aber ein Ritual, auf das Clarissa um keinen Preis verzichten wollte. An jedem freien Tag lief sie über die Beach Avenue am Strand entlang, auf dem Küstenweg im Stanley Park, der sich wie eine undurchdringliche Wildnis im Nordwesten der Halbinsel ausbreitete. Dort begegnete sie nur selten Spaziergängern oder Wanderern, höchstens mal einer Squamish-Familie beim Angeln oder Beerenpflücken. Angeblich wohnten noch mehrere Indianerfamilien in verstreuten Dörfern auf der Halbinsel.
Im Schatten einiger Douglasfichten, die neben dem Weg in die Höhe ragten, blieb sie stehen. Sie trat nah an einen der mächtigen Bäume heran und ließ ihre flache Hand über die Inschrift gleiten, die sie selbst mit einem Messer in die Rinde geritzt hatte: Arthur Howe, August 24, 1892 und Charlotte Howe, March 3, 1893. Neben beide Daten hatte sie ein Kreuz geritzt. Drei Jahre war es nun schon her, seit ihr Vater in einem heftigen Sturm über Bord gegangen und ertrunken war. Sie hatten seine Leiche nie gefunden. Nur ein halbes Jahr später war ihre Mutter ins Wasser gegangen und in den Tod geschwommen. Aus Kummer, wie sie in einem Brief gestanden hatte. Auch nach ihrer Leiche hatte man vergeblich gesucht. Im Meer hatten sie die letzte Ruhe gefunden. Es gab keine Gräber, keine Grabsteine, nur die geritzten Namen und Daten in der Baumrinde, und selbst die waren kaum noch zu erkennen.
Clarissa trat ans flache Ufer, bis sie mit ihren Schuhen beinahe im Wasser stand, und blickte aufs Meer hinaus. Düstere Nebelschwaden hingen über der Bucht. Die Luft roch nach Salz und Tang und verfaultem Holz, und der kalte Sprühregen erinnerte sie an den nahenden Winter. Nur noch wenige Wochen, vielleicht auch nur Tage, trennten sie von der kalten Jahreszeit. In Vancouver waren die Winter verhältnismäßig mild, doch schon in den Ausläufern der Berge, wo ihr Onkel seine Farm hatte, trieb er eisige Schneestürme über das Land, und in den Coast Mountains weiter nördlich lag der Schnee so hoch, dass man nur mit dem Hundeschlitten oder auf Schneeschuhen vorwärtskam.
Auf dem Meer waren die Umrisse eines Fischerbootes zu sehen. Ein Kutter, der wahrscheinlich nur Kabeljau und Heringe in seinen Netzen hatte. Um diese Zeit gab es nicht viel zu holen in diesen Breiten, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Oft waren sie mit leeren Netzen nach Hause gekommen, wenn sie im Spätherbst rausgefahren waren. Sie war häufig dabei gewesen, wenn sie im Sommer für ihre Eltern und im Winter als Haushälterin oder Köchin gearbeitet hatte, meist zusammen mit ihrer Mutter, die ebenfalls arbeiten gehen musste, weil sonst das Geld nicht gereicht hätte. Nach ihrem Tod hatte sie das verschuldete Boot bezahlt und ihren restlichen Besitz verkauft und keine fünfzig Dollar dafür bekommen. Das Geld lag in einem Beutel unter ihren Kleidern.
Ihr Vater hatte seinen Beruf so manches Mal verflucht, auf das stürmische Wetter vor Vancouver Island und die niedrigen Fangquoten geschimpft und die chinesischen Einwanderer dafür verantwortlich gemacht, dass ihre Netze immer leichter wurden und sie kaum noch über die Runden kamen, obwohl keiner der Chinesen als Fischer arbeitete. Die meisten Asiaten hatten beim Bau der Canadian Pacific geholfen und arbeiteten jetzt in Fabriken oder Wäschereien. Doch das Meer hatte ihn auf magische Weise angezogen. »Das Meer ist mein Leben«, hatte er gesagt und wohl schon gewusst, dass es auch einmal sein Tod sein würde. Clarissa konnte sich noch gut an den Jahrhundertsturm erinnern, wie er heulend und fauchend über die Bucht gebraust war und ihre Mutter und sie gemeinsam am Fenster standen und auf das schäumende Meer hinausgeblickt hatten. Schon damals war ihnen klar gewesen, dass er nicht wieder nach Hause zurückkehren würde. Seine eigene Schuld, wie sie zugeben musste, weil er trotz aller Warnungen hinausgefahren war. »Du bleibst bei der Mutter«, hatte er zu ihr gesagt, »ich schaff das schon.«
Sieben Monate später, nachdem sie vergeblich versucht hatte, einen entfernten Verwandten für die Fischerei zu begeistern, war ihre Mutter dem Vater ins Meer gefolgt. Clarissa war unterwegs gewesen und hatte nach ihrer Rückkehr mit anderen Fischern stundenlang nach ihr gesucht. Sie hatten sie nicht gefunden. Vielleicht war es besser so, und sie war jetzt wieder mit ihrem Mann vereint, so wie der Mann und die Frau in der Indianerlegende, die beide ertranken und als Wale wiedergeboren wurden. Die Vorstellung, dass ihre Eltern zu Walen geworden sein könnten, beruhigte sie seltsamerweise.
Wie jedes Mal, wenn sie um ihre Eltern trauerte, sprach sie ein kurzes Gebet und beendete es mit den Worten »Gott schütze euch!«. Der Wind antwortete mit einem leisen Seufzen, als hätte er sie verstanden. Sie wandte sich ab und kehrte langsam zum Haus zurück. Seit dem Tod ihrer Mutter arbeitete sie als Dienstmädchen für eine wohlhabende Familie, die ihren Reichtum wie die meisten Familien im West End mit der Eisenbahn verdient hatte. Thomas Whittler war einer der führenden Manager der Canadian Pacific und hatte schon früh gewusst, dann man den Endpunkt der Transatlantik-Eisenbahn nicht nach Port Moody, sondern an die Küste legen und dort eine neue Stadt gründen würde. Noch bevor Vancouver vor neun Jahren auf der Landkarte erschienen war, hatte er sich mehrere wertvolle Grundstücke gesichert. Seine Frau Louise und er besaßen mehr Geld als Königin Victoria im fernen England, behaupteten manche.
Die Whittlers wohnten in einer zweistöckigen Villa in der Broughton Street. Zwei Giebeldächer erweckten den Eindruck, als hätte man zwei Häuser ineinandergebaut und so verschachtelt, dass sie noch größer und eindrucksvoller wirkten. Eine kiesbedeckte Auffahrt führte durch den gepflegten Garten zum Haus, dessen Wände bis zum ersten Stock türkisfarben und im zweiten Stock unter einem der beiden Dächer blassgelb gestrichen waren. Eine breite Veranda, von schlanken Säulen und einem kunstvoll gedrechselten Holzzaun umgeben, zog sich auf der Vorder- und der Südseite um das Erdgeschoss. Unter einem kleinen Giebeldach führte eine Treppe zum Eingang.
Clarissa ging durch den Dienstboteneingang auf der Rückseite und stieg die steile Treppe zu ihrem Zimmer unter dem Dach empor. Es war kaum größer als die Abstellkammer zwei Türen weiter und lag neben der ebenfalls winzigen Kammer der Köchin, die nachts laut schnarchte und ihr schon manches Mal den Schlaf geraubt hatte. Viel machte es nicht her. Das einfache Bett ließ gerade mal Platz für den Schrank, in dem ihre gesamte Habe untergebracht war, und einen kleinen Tisch mit Stuhl. Auf dem Tisch stand eine Öllampe, elektrisches Licht gab es nur im Erdgeschoss und im ersten Stock.
Im Mantel, weil es unter dem Dach auch keinen Ofen gab und sich die Wärme, die vom Kamin, der direkt neben ihrem Zimmer zum Dach führte, nur langsam in ihrem Zimmer ausbreitete, trat sie ans Fenster. Aus dem leichten Nieseln war stetiger Regen geworden, der gegen das Fenster und in unregelmäßigem Rhythmus auf das Giebeldach schlug. Das Meer sah sie kaum und erkannte die Bäume im Stanley Park nur als dunkle Schatten. Bei schönem Wetter konnte sie, wenn sie ihr Fenster öffnete und sich weit hinausbeugte, sogar die schneebedeckten Gipfel der Coast Mountains sehen, ein Anblick, der sie immer wieder begeisterte und eine unerklärliche Sehnsucht in ihr weckte : Vancouver hinter sich zu lassen und nach Norden in die Wildnis zu ziehen, fernab des großstädtischen Trubels und weit entfernt von reichen Familien wie den Whittlers, die ihren einzigen Lebensinhalt darin sahen, Reichtum anzuhäufen und Gesellschaften für andere Reiche zu geben.
Sobald sie genug Geld gespart hatte, würde sie kündigen und einen Neuanfang wagen. Ob sie es wagte, in die Wildnis zu gehen und in einem dieser winzigen Dörfer abseits der befahrenen Wagenstraßen zu leben, wusste sie noch nicht. Eine Zeitlang hatte sie daran gedacht, zu ihrem Onkel zu ziehen und ihm auf der Farm zu helfen. Als Kind war sie einige Male bei ihm gewesen, hatte ihm bei der Ernte geholfen und jede freie Minute damit verbracht, auf Morning Star über die Hügel zu reiten. »Morning Star« war der etwas hochtrabende Name des stämmigen Wagenpferdes, auf dem sie reiten gelernt hatte. Doch die Wildnis jenseits der geschäftigen Siedlungen am Schienenstrang lockte sie noch stärker, vielleicht weil sie das genaue Gegenteil von dem Meer war, das sie bis zu ihrem Lebensende an den tragischen Tod ihrer Eltern erinnern würde, ihr aber gleichzeitig die Hoffnung vermittelte, sich dort ebenso frei und ungebunden fühlen zu können wie fernab der Küste.
Sie zog langsam ihren Mantel aus und warf ihn aufs Bett. Nach dem Essen, das sie auch an ihren freien Tagen in der Küche bekam, würde sie sich aufs Bett legen und den Nachmittag mit einem guten Buch verbringen. Anders als ihre Eltern, die selten gelesen hatten, tauchte sie gern in fremde Welten ein, etwa in das neue Tom-Sawyer-Buch von Mark Twain, das auf ihrem Kissen lag. Bücher waren der einzige Luxus, den sie sich leistete, sehr zur Verwunderung von Louise Whittler, die anscheinend an ungebildete Dienstmädchen gewöhnt war. Ihre Vorgängerin war eine Indianerin gewesen, die weder lesen noch schreiben konnte. An Weihnachten hatte Mrs Whittler ihr sogar ein Buch geschenkt, eines aus dem eigenen Bücherschrank natürlich, denn unnütze Geldausgaben waren den Whittlers ein Gräuel. Sie waren geizig, eine Eigenschaft, die sie bei vielen reichen Leuten beobachtet hatte.
Von der Straße drang Hufgeklapper herauf. Sie trat erneut ans Fenster und beobachtete, wie eine Kutsche vor dem Haus hielt, und ein Gentleman mit seiner Begleiterin ausstieg. Der Mann mit dem Zylinder, der ihr auf der Beach Avenue hinterhergestarrt hatte ! Sie erkannte ihn an seinem hageren Gesicht und seinem spöttischen Lächeln und zuckte unwillkürlich zurück, als er seinen Zylinder abnahm und seine Begleiterin zur Treppe führte. Er sagte etwas, das sie nicht verstand, und sprach anscheinend mit der dicken Köchin, die sie an ihrem freien Tag als Dienstmädchen vertrat. Seine hochmütige Miene ließ vermuten, dass er sie zurechtgewiesen hatte. Das Gesicht der blonden Lady, die mit ihm gekommen war, war unter einem breitkrempigen Hut verborgen.
Clarissa nahm ihren Hut ab und setzte sich aufs Bett. Der Gedanke, dass der aufdringliche Gentleman länger bleiben könnte, beunruhigte sie. Sie verspürte keine Lust, sich noch einmal sein spöttisches Lächeln gefallen lassen zu müssen. Und es war nicht nur dieses Lächeln und die Art, wie er sie angesehen und mit seinen Blicken verschlungen hatte. Von ihm war etwas Bedrohliches ausgegangen, als hätte er geschworen, ihr so lange nachzustellen, bis sie sich ihm hingab, ungeachtet der blonden Lady an seiner Seite und ungeachtet ihrer Weigerung, sein Lächeln und Winken zu erwidern.
Ein abwegiger Gedanke, wie sie zugeben musste, und doch nicht aus der Welt, hörte man doch immer wieder von Gentlemen seines Schlages, dass sie sich bei Abhängigen das holten, was sie bei ihren Ehefrauen oder Verlobten nicht bekamen. Erst vor ein paar Wochen war das Gerücht umgegangen, der Juniorchef einer Gießerei hätte eine Fabrikarbeiterin vergewaltigt und dabei so stark verletzt, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Die Arbeiterin wusste natürlich, dass es vollkommen sinnlos war, einen Mann wie ihn zu verklagen, und hatte die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen.
Über die Treppe näherten sich Schritte. Es klopfte, die Tür ging auf, und die Köchin streckte ihren Kopf ins Zimmer. »Gut, dass du hier bist, Clarissa«, sagte sie. »Die Herrin schickt mich. Es wäre unerwarteter Besuch gekommen, und du solltest heute Dienst machen. Ihr Sohn ist aus Toronto zurückgekehrt. Frank Whittler und seine Verlobte. Keine Ahnung, wie sie heißt.« Sie senkte ihre Stimme und blickte sich um, bevor sie fortfuhr: »Ein widerlicher Geselle, wenn du mich fragst, und seine Verlobte ist nicht viel besser. Ich soll ihr um Punkt drei den Tee servieren, nicht um vier, sondern um drei, das sei sie von zu Hause gewöhnt.« Sie verdrehte die Augen. »Kommst du? Sie warten auf dich. Die Herrin möchte dich in spätestens zehn Minuten im Salon sehen.«
»Frank Whittler?« Clarissa war bereits am Schrank und zog ihre Dienstmädchen-Uniform heraus, den schwarzen Rock, die weiße Bluse und die weiße Haube. »Ich dachte, der wollte in Toronto eine Anwaltskanzlei eröffnen.«
Die Köchin blickte sich erneut um. »Hat anscheinend nicht geklappt. Soviel ich gerade mitbekommen habe, will er bei seinem Vater einsteigen.«
»Und seine Verlobte ?« Clarissa schlüpfte aus ihren Kleidern. »Spielt die Madame. Du kennst doch den Typ.«
»Betsy!«, schallte es von unten herauf. »Wo bleibst du denn?«
»Ich bin schon unterwegs, Madame!«, rief die Köchin. Sie zog die Tür zu und lief nach unten. Unter jedem ihrer schweren Schritte knarrten die Stufen.
Clarissa hatte bereits ihre Uniform angezogen, band vor dem Spiegel über der Kommode ihre Haare neu und steckte die Haube mit zwei Klammern fest. Sie pustete eine Strähne von ihrem linken Auge und strich sie mit angefeuchteten Fingern nach hinten. Ihr Gesicht war noch vom Spaziergang gerötet.
Mit einem Seufzer wandte sie sich vom Spiegel ab und folgte der Köchin nach unten. Die Tür zum Salon stand offen und gab den Blick auf Frank Whittler und seinen Vater frei, einen stattlichen Mann mit schlohweißem Vollbart. »Lass mir noch ein wenig Zeit«, sagte Frank, »ich muss mich erst einmal an diese Stadt gewöhnen und möchte mit Catherine noch ein paar Wochen Urlaub genießen, bevor ich zu arbeiten anfange. Die Jahre in Toronto waren sehr hart.« Er blickte sich zu seiner Verlobten um, die von der Treppe nicht zu sehen war. »Nicht wahr, Schatz? Das haben wir uns verdient.«
»Meinetwegen«, antwortete Thomas Whittler, »aber zu viel Zeit sollten wir nicht verstreichen lassen. Wir haben eine neue Nebenstrecke in Planung, und jemand muss sich um die Grundstücke am Fraser River kümmern.« Er kaute auf einer kalten Zigarre. »Und ihr beide meint es wirklich ernst? Dann sollten wir für nächsten Samstag einen Empfang planen, auf dem wir eure Verlobung offiziell bekannt geben. Ihr müsst unbedingt den Bürgermeister kennenlernen.« Er blickte die Lady an. »Ihr Vater ist Manager der Southern Ontario?«
Clarissa hatte den Flur erreicht und sah Louise aus einem der anderen Zimmer kommen. »Da sind Sie ja endlich, Clarissa!«, begrüßte die Frau des Managers sie ungeduldig. »Unser Sohn und seine Verlobte sind überraschend aus Toronto zurückgekommen. Bringen Sie uns Champagner, den guten französischen, und vier Gläser und decken Sie den Tisch fürs Mittagessen, ja?«
»Sehr wohl, Madame«, antwortete sie.
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Clarissa Howe hatte sich daran gewöhnt, dass ihr die meisten Männer nachstarrten. Obwohl sie zu wenig verdiente, um sich nach der neuesten Mode zu kleiden, und sie sich keine extravaganten Hüte wie die reichen Ladys aus dem West End leisten konnte, waren selbst vornehme Gentlemen so sehr von ihrem Aussehen angetan, dass sie ihr freundlich zunickten und ein wohlwollendes Lächeln schenkten. Einfache Fischer und Handwerker gaben sich etwas dreister, sie ließen sich schon mal zu einer kühnen Bemerkung hinreißen, und wenn sie ihren Vater vom Hafen abholte, ging immer ein anerkennendes Raunen durch die Menge. Einer hatte ihr mal einen Heiratsantrag auf offener Straße gemacht, ohne dass er jemals mit ihr ausgegangen war.
Warum die Männer sie bewunderten, wusste sie nicht. Wie oft hatte sie vor dem Spiegel in ihrem Zimmer gestanden und sich prüfend betrachtet, während sie mit den flachen Händen die Konturen ihrer schlanken Gestalt nachfuhr, als könnte sie so die Geheimnisse ihres Körpers ergründen. Ihr Gesicht war schmal, die Augen dunkel, die Haare so schwarz, dass sie für eine Indianerin durchgegangen wäre, hätte ihre Haut nicht so hell und weiß geschimmert. Auch an diesem Morgen waren ihre Haare zu locker gebunden. Es würde ihr wohl niemals gelingen, ihre Haare so streng zu frisieren wie damals ihre Mutter. Ständig hingen ihr ein paar vorwitzige Strähnen ins Gesicht. Sie hatte sich angewöhnt, sie aus dem Gesicht zu pusten, so wie sie es als kleines Mädchen getan hatte, eine scheinbar harmlose Geste, die jedoch ebenfalls bei Männern ankam, wie sie zu ihrer Verwunderung festgestellt hatte.
»So sind die Männer nun mal«, hatte ihre Mutter gesagt, »selbst dein Vater dreht sich nach jedem Weiberrock um!« Aber das war keine Erklärung. Eine ihrer Freundinnen beklagte sich heute noch darüber, dass ihr die Männer keine Beachtung schenkten, obwohl Clarissa nichts Abstoßendes an ihr entdecken konnte. »Du bist anders«, hatte die Freundin erklärt, »du bewegst dich so ... aufreizend«, und sie hatte lachend geantwortet: »Das liegt daran, weil ich so oft bei meinem Vater auf dem Fischerboot war und ständig denke, ich würde das Gleichgewicht verlieren.« Das schönste Kompliment hatte ihr ein studierter junger Mann aus Seattle gemacht: »In Ihren Augen leuchten kleine Sterne ! Wussten Sie das, Miss? Wie bei einer Fee aus dem Märchen !« Leider war er nach der zweiten Verabredung abgereist, wohl auch deswegen, weil seine Eltern nicht wollten, dass er sich mit der Tochter eines Fischers traf.
Normalerweise reagierte Clarissa nicht mehr auf die bewundernden Blicke der Männer. Die Gefahr, sich dabei lächerlich zu machen, war zu groß. Doch als an diesem Morgen eine Kutsche an ihr vorbeifuhr und sich ein vornehmer Gentleman weit aus dem Fenster beugte und sie anstarrte, blieb sie stehen und wunderte sich einmal mehr, wie sehr sich manche Gentlemen aus der Oberschicht für sie interessierten. Er nahm sogar seinen Zylinder ab und grüßte sie wie eine Dame, deren Bekanntschaft er gerne gemacht hätte. Neben ihm erkannte sie die Umrisse einer vornehmen Lady. Sie glaubte wohl, dass er eine Bekannte grüßte, und sah sein verräterisches Lächeln nicht.
Clarissa blieb reglos stehen und war froh, als die Kutsche in einer Seitenstraße verschwand. Zu aufdringlich und auch zu abschätzend hatte sie der Fremde gemustert, als wollte er sie mit seinen Blicken ausziehen. In seinen Augen hatte sie jenen Hochmut erkannt, den sie oft bei Gentlemen der Oberschicht beobachtete; die Annahme, sie könnten sich bei einfachen Frauen alles erlauben und das ausleben, was ihnen die feinen Damen der Gesellschaft nicht gestatteten. Als könnte man sie mit einem Lächeln kaufen.
Sie verdrängte die Gedanken an den Gentleman und ging langsam weiter. Auch an diesem Sonntag schlenderte sie an der English Bay entlang, dem weiten Strand im Westen von Vancouver, der im Sommer vor lauter Sonnenhungrigen kaum zu sehen war und jetzt im Spätherbst einsam und verlassen unter dem grauen Himmel lag. Ihr langer Mantel und der Hut schützten sie gegen den kühlen Wind, der über die Bucht hereinkam und sich zwischen den Häusern im West End verfing. Am Strand säumten schmale Holzhäuser mit steilen Giebeldächern die Beach Avenue, ein paar Blocks weiter ragten die herrschaftlichen Villen der Reichen empor. Die wohlhabenden Familien waren noch vor der Eisenbahn gekommen und hatten sich die besten Grundstücke gesichert. Auch sie wohnte in einer dieser Villen, allerdings nur in der winzigen Dachkammer, die dem Dienstmädchen zur Verfügung gestellt wurde.
Mit dem Wind wehten einige Regentropfen über die Straße. Die düsteren Wolken hingen so tief, dass sie beinahe die Fichten am Strand und im nahen Stanley Park berührten. Kein Wetter zum Spazierengehen, schon gar nicht für eine alleinstehende Dame ohne Begleitung, aber ein Ritual, auf das Clarissa um keinen Preis verzichten wollte. An jedem freien Tag lief sie über die Beach Avenue am Strand entlang, auf dem Küstenweg im Stanley Park, der sich wie eine undurchdringliche Wildnis im Nordwesten der Halbinsel ausbreitete. Dort begegnete sie nur selten Spaziergängern oder Wanderern, höchstens mal einer Squamish-Familie beim Angeln oder Beerenpflücken. Angeblich wohnten noch mehrere Indianerfamilien in verstreuten Dörfern auf der Halbinsel.
Im Schatten einiger Douglasfichten, die neben dem Weg in die Höhe ragten, blieb sie stehen. Sie trat nah an einen der mächtigen Bäume heran und ließ ihre flache Hand über die Inschrift gleiten, die sie selbst mit einem Messer in die Rinde geritzt hatte: Arthur Howe, August 24, 1892 und Charlotte Howe, March 3, 1893. Neben beide Daten hatte sie ein Kreuz geritzt. Drei Jahre war es nun schon her, seit ihr Vater in einem heftigen Sturm über Bord gegangen und ertrunken war. Sie hatten seine Leiche nie gefunden. Nur ein halbes Jahr später war ihre Mutter ins Wasser gegangen und in den Tod geschwommen. Aus Kummer, wie sie in einem Brief gestanden hatte. Auch nach ihrer Leiche hatte man vergeblich gesucht. Im Meer hatten sie die letzte Ruhe gefunden. Es gab keine Gräber, keine Grabsteine, nur die geritzten Namen und Daten in der Baumrinde, und selbst die waren kaum noch zu erkennen.
Clarissa trat ans flache Ufer, bis sie mit ihren Schuhen beinahe im Wasser stand, und blickte aufs Meer hinaus. Düstere Nebelschwaden hingen über der Bucht. Die Luft roch nach Salz und Tang und verfaultem Holz, und der kalte Sprühregen erinnerte sie an den nahenden Winter. Nur noch wenige Wochen, vielleicht auch nur Tage, trennten sie von der kalten Jahreszeit. In Vancouver waren die Winter verhältnismäßig mild, doch schon in den Ausläufern der Berge, wo ihr Onkel seine Farm hatte, trieb er eisige Schneestürme über das Land, und in den Coast Mountains weiter nördlich lag der Schnee so hoch, dass man nur mit dem Hundeschlitten oder auf Schneeschuhen vorwärtskam.
Auf dem Meer waren die Umrisse eines Fischerbootes zu sehen. Ein Kutter, der wahrscheinlich nur Kabeljau und Heringe in seinen Netzen hatte. Um diese Zeit gab es nicht viel zu holen in diesen Breiten, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Oft waren sie mit leeren Netzen nach Hause gekommen, wenn sie im Spätherbst rausgefahren waren. Sie war häufig dabei gewesen, wenn sie im Sommer für ihre Eltern und im Winter als Haushälterin oder Köchin gearbeitet hatte, meist zusammen mit ihrer Mutter, die ebenfalls arbeiten gehen musste, weil sonst das Geld nicht gereicht hätte. Nach ihrem Tod hatte sie das verschuldete Boot bezahlt und ihren restlichen Besitz verkauft und keine fünfzig Dollar dafür bekommen. Das Geld lag in einem Beutel unter ihren Kleidern.
Ihr Vater hatte seinen Beruf so manches Mal verflucht, auf das stürmische Wetter vor Vancouver Island und die niedrigen Fangquoten geschimpft und die chinesischen Einwanderer dafür verantwortlich gemacht, dass ihre Netze immer leichter wurden und sie kaum noch über die Runden kamen, obwohl keiner der Chinesen als Fischer arbeitete. Die meisten Asiaten hatten beim Bau der Canadian Pacific geholfen und arbeiteten jetzt in Fabriken oder Wäschereien. Doch das Meer hatte ihn auf magische Weise angezogen. »Das Meer ist mein Leben«, hatte er gesagt und wohl schon gewusst, dass es auch einmal sein Tod sein würde. Clarissa konnte sich noch gut an den Jahrhundertsturm erinnern, wie er heulend und fauchend über die Bucht gebraust war und ihre Mutter und sie gemeinsam am Fenster standen und auf das schäumende Meer hinausgeblickt hatten. Schon damals war ihnen klar gewesen, dass er nicht wieder nach Hause zurückkehren würde. Seine eigene Schuld, wie sie zugeben musste, weil er trotz aller Warnungen hinausgefahren war. »Du bleibst bei der Mutter«, hatte er zu ihr gesagt, »ich schaff das schon.«
Sieben Monate später, nachdem sie vergeblich versucht hatte, einen entfernten Verwandten für die Fischerei zu begeistern, war ihre Mutter dem Vater ins Meer gefolgt. Clarissa war unterwegs gewesen und hatte nach ihrer Rückkehr mit anderen Fischern stundenlang nach ihr gesucht. Sie hatten sie nicht gefunden. Vielleicht war es besser so, und sie war jetzt wieder mit ihrem Mann vereint, so wie der Mann und die Frau in der Indianerlegende, die beide ertranken und als Wale wiedergeboren wurden. Die Vorstellung, dass ihre Eltern zu Walen geworden sein könnten, beruhigte sie seltsamerweise.
Wie jedes Mal, wenn sie um ihre Eltern trauerte, sprach sie ein kurzes Gebet und beendete es mit den Worten »Gott schütze euch!«. Der Wind antwortete mit einem leisen Seufzen, als hätte er sie verstanden. Sie wandte sich ab und kehrte langsam zum Haus zurück. Seit dem Tod ihrer Mutter arbeitete sie als Dienstmädchen für eine wohlhabende Familie, die ihren Reichtum wie die meisten Familien im West End mit der Eisenbahn verdient hatte. Thomas Whittler war einer der führenden Manager der Canadian Pacific und hatte schon früh gewusst, dann man den Endpunkt der Transatlantik-Eisenbahn nicht nach Port Moody, sondern an die Küste legen und dort eine neue Stadt gründen würde. Noch bevor Vancouver vor neun Jahren auf der Landkarte erschienen war, hatte er sich mehrere wertvolle Grundstücke gesichert. Seine Frau Louise und er besaßen mehr Geld als Königin Victoria im fernen England, behaupteten manche.
Die Whittlers wohnten in einer zweistöckigen Villa in der Broughton Street. Zwei Giebeldächer erweckten den Eindruck, als hätte man zwei Häuser ineinandergebaut und so verschachtelt, dass sie noch größer und eindrucksvoller wirkten. Eine kiesbedeckte Auffahrt führte durch den gepflegten Garten zum Haus, dessen Wände bis zum ersten Stock türkisfarben und im zweiten Stock unter einem der beiden Dächer blassgelb gestrichen waren. Eine breite Veranda, von schlanken Säulen und einem kunstvoll gedrechselten Holzzaun umgeben, zog sich auf der Vorder- und der Südseite um das Erdgeschoss. Unter einem kleinen Giebeldach führte eine Treppe zum Eingang.
Clarissa ging durch den Dienstboteneingang auf der Rückseite und stieg die steile Treppe zu ihrem Zimmer unter dem Dach empor. Es war kaum größer als die Abstellkammer zwei Türen weiter und lag neben der ebenfalls winzigen Kammer der Köchin, die nachts laut schnarchte und ihr schon manches Mal den Schlaf geraubt hatte. Viel machte es nicht her. Das einfache Bett ließ gerade mal Platz für den Schrank, in dem ihre gesamte Habe untergebracht war, und einen kleinen Tisch mit Stuhl. Auf dem Tisch stand eine Öllampe, elektrisches Licht gab es nur im Erdgeschoss und im ersten Stock.
Im Mantel, weil es unter dem Dach auch keinen Ofen gab und sich die Wärme, die vom Kamin, der direkt neben ihrem Zimmer zum Dach führte, nur langsam in ihrem Zimmer ausbreitete, trat sie ans Fenster. Aus dem leichten Nieseln war stetiger Regen geworden, der gegen das Fenster und in unregelmäßigem Rhythmus auf das Giebeldach schlug. Das Meer sah sie kaum und erkannte die Bäume im Stanley Park nur als dunkle Schatten. Bei schönem Wetter konnte sie, wenn sie ihr Fenster öffnete und sich weit hinausbeugte, sogar die schneebedeckten Gipfel der Coast Mountains sehen, ein Anblick, der sie immer wieder begeisterte und eine unerklärliche Sehnsucht in ihr weckte : Vancouver hinter sich zu lassen und nach Norden in die Wildnis zu ziehen, fernab des großstädtischen Trubels und weit entfernt von reichen Familien wie den Whittlers, die ihren einzigen Lebensinhalt darin sahen, Reichtum anzuhäufen und Gesellschaften für andere Reiche zu geben.
Sobald sie genug Geld gespart hatte, würde sie kündigen und einen Neuanfang wagen. Ob sie es wagte, in die Wildnis zu gehen und in einem dieser winzigen Dörfer abseits der befahrenen Wagenstraßen zu leben, wusste sie noch nicht. Eine Zeitlang hatte sie daran gedacht, zu ihrem Onkel zu ziehen und ihm auf der Farm zu helfen. Als Kind war sie einige Male bei ihm gewesen, hatte ihm bei der Ernte geholfen und jede freie Minute damit verbracht, auf Morning Star über die Hügel zu reiten. »Morning Star« war der etwas hochtrabende Name des stämmigen Wagenpferdes, auf dem sie reiten gelernt hatte. Doch die Wildnis jenseits der geschäftigen Siedlungen am Schienenstrang lockte sie noch stärker, vielleicht weil sie das genaue Gegenteil von dem Meer war, das sie bis zu ihrem Lebensende an den tragischen Tod ihrer Eltern erinnern würde, ihr aber gleichzeitig die Hoffnung vermittelte, sich dort ebenso frei und ungebunden fühlen zu können wie fernab der Küste.
Sie zog langsam ihren Mantel aus und warf ihn aufs Bett. Nach dem Essen, das sie auch an ihren freien Tagen in der Küche bekam, würde sie sich aufs Bett legen und den Nachmittag mit einem guten Buch verbringen. Anders als ihre Eltern, die selten gelesen hatten, tauchte sie gern in fremde Welten ein, etwa in das neue Tom-Sawyer-Buch von Mark Twain, das auf ihrem Kissen lag. Bücher waren der einzige Luxus, den sie sich leistete, sehr zur Verwunderung von Louise Whittler, die anscheinend an ungebildete Dienstmädchen gewöhnt war. Ihre Vorgängerin war eine Indianerin gewesen, die weder lesen noch schreiben konnte. An Weihnachten hatte Mrs Whittler ihr sogar ein Buch geschenkt, eines aus dem eigenen Bücherschrank natürlich, denn unnütze Geldausgaben waren den Whittlers ein Gräuel. Sie waren geizig, eine Eigenschaft, die sie bei vielen reichen Leuten beobachtet hatte.
Von der Straße drang Hufgeklapper herauf. Sie trat erneut ans Fenster und beobachtete, wie eine Kutsche vor dem Haus hielt, und ein Gentleman mit seiner Begleiterin ausstieg. Der Mann mit dem Zylinder, der ihr auf der Beach Avenue hinterhergestarrt hatte ! Sie erkannte ihn an seinem hageren Gesicht und seinem spöttischen Lächeln und zuckte unwillkürlich zurück, als er seinen Zylinder abnahm und seine Begleiterin zur Treppe führte. Er sagte etwas, das sie nicht verstand, und sprach anscheinend mit der dicken Köchin, die sie an ihrem freien Tag als Dienstmädchen vertrat. Seine hochmütige Miene ließ vermuten, dass er sie zurechtgewiesen hatte. Das Gesicht der blonden Lady, die mit ihm gekommen war, war unter einem breitkrempigen Hut verborgen.
Clarissa nahm ihren Hut ab und setzte sich aufs Bett. Der Gedanke, dass der aufdringliche Gentleman länger bleiben könnte, beunruhigte sie. Sie verspürte keine Lust, sich noch einmal sein spöttisches Lächeln gefallen lassen zu müssen. Und es war nicht nur dieses Lächeln und die Art, wie er sie angesehen und mit seinen Blicken verschlungen hatte. Von ihm war etwas Bedrohliches ausgegangen, als hätte er geschworen, ihr so lange nachzustellen, bis sie sich ihm hingab, ungeachtet der blonden Lady an seiner Seite und ungeachtet ihrer Weigerung, sein Lächeln und Winken zu erwidern.
Ein abwegiger Gedanke, wie sie zugeben musste, und doch nicht aus der Welt, hörte man doch immer wieder von Gentlemen seines Schlages, dass sie sich bei Abhängigen das holten, was sie bei ihren Ehefrauen oder Verlobten nicht bekamen. Erst vor ein paar Wochen war das Gerücht umgegangen, der Juniorchef einer Gießerei hätte eine Fabrikarbeiterin vergewaltigt und dabei so stark verletzt, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Die Arbeiterin wusste natürlich, dass es vollkommen sinnlos war, einen Mann wie ihn zu verklagen, und hatte die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen.
Über die Treppe näherten sich Schritte. Es klopfte, die Tür ging auf, und die Köchin streckte ihren Kopf ins Zimmer. »Gut, dass du hier bist, Clarissa«, sagte sie. »Die Herrin schickt mich. Es wäre unerwarteter Besuch gekommen, und du solltest heute Dienst machen. Ihr Sohn ist aus Toronto zurückgekehrt. Frank Whittler und seine Verlobte. Keine Ahnung, wie sie heißt.« Sie senkte ihre Stimme und blickte sich um, bevor sie fortfuhr: »Ein widerlicher Geselle, wenn du mich fragst, und seine Verlobte ist nicht viel besser. Ich soll ihr um Punkt drei den Tee servieren, nicht um vier, sondern um drei, das sei sie von zu Hause gewöhnt.« Sie verdrehte die Augen. »Kommst du? Sie warten auf dich. Die Herrin möchte dich in spätestens zehn Minuten im Salon sehen.«
»Frank Whittler?« Clarissa war bereits am Schrank und zog ihre Dienstmädchen-Uniform heraus, den schwarzen Rock, die weiße Bluse und die weiße Haube. »Ich dachte, der wollte in Toronto eine Anwaltskanzlei eröffnen.«
Die Köchin blickte sich erneut um. »Hat anscheinend nicht geklappt. Soviel ich gerade mitbekommen habe, will er bei seinem Vater einsteigen.«
»Und seine Verlobte ?« Clarissa schlüpfte aus ihren Kleidern. »Spielt die Madame. Du kennst doch den Typ.«
»Betsy!«, schallte es von unten herauf. »Wo bleibst du denn?«
»Ich bin schon unterwegs, Madame!«, rief die Köchin. Sie zog die Tür zu und lief nach unten. Unter jedem ihrer schweren Schritte knarrten die Stufen.
Clarissa hatte bereits ihre Uniform angezogen, band vor dem Spiegel über der Kommode ihre Haare neu und steckte die Haube mit zwei Klammern fest. Sie pustete eine Strähne von ihrem linken Auge und strich sie mit angefeuchteten Fingern nach hinten. Ihr Gesicht war noch vom Spaziergang gerötet.
Mit einem Seufzer wandte sie sich vom Spiegel ab und folgte der Köchin nach unten. Die Tür zum Salon stand offen und gab den Blick auf Frank Whittler und seinen Vater frei, einen stattlichen Mann mit schlohweißem Vollbart. »Lass mir noch ein wenig Zeit«, sagte Frank, »ich muss mich erst einmal an diese Stadt gewöhnen und möchte mit Catherine noch ein paar Wochen Urlaub genießen, bevor ich zu arbeiten anfange. Die Jahre in Toronto waren sehr hart.« Er blickte sich zu seiner Verlobten um, die von der Treppe nicht zu sehen war. »Nicht wahr, Schatz? Das haben wir uns verdient.«
»Meinetwegen«, antwortete Thomas Whittler, »aber zu viel Zeit sollten wir nicht verstreichen lassen. Wir haben eine neue Nebenstrecke in Planung, und jemand muss sich um die Grundstücke am Fraser River kümmern.« Er kaute auf einer kalten Zigarre. »Und ihr beide meint es wirklich ernst? Dann sollten wir für nächsten Samstag einen Empfang planen, auf dem wir eure Verlobung offiziell bekannt geben. Ihr müsst unbedingt den Bürgermeister kennenlernen.« Er blickte die Lady an. »Ihr Vater ist Manager der Southern Ontario?«
Clarissa hatte den Flur erreicht und sah Louise aus einem der anderen Zimmer kommen. »Da sind Sie ja endlich, Clarissa!«, begrüßte die Frau des Managers sie ungeduldig. »Unser Sohn und seine Verlobte sind überraschend aus Toronto zurückgekommen. Bringen Sie uns Champagner, den guten französischen, und vier Gläser und decken Sie den Tisch fürs Mittagessen, ja?«
»Sehr wohl, Madame«, antwortete sie.
...
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Bibliographische Angaben
- Autor: Christopher Ross
- 2012, 400 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863655648
- ISBN-13: 9783863655648
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
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