Der Engel von Nummer 33 (ePub)
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Der Engel von Nummer 33 von Polly WilliamsAus dem Englischen von Sabine Schilasky
1
Da werde ich von einem Bus überfahren und trage meine schrecklichste Unterhose. Gelbe Baumwolle und von der Größe einer O2-Propellermaschine. Ich liege auf der Regent Street, und mein Rock ist mir bis zur Taille hochgerutscht wie bei einer dieser Komatrinkerinnen, die man in den Nachrichten sieht. Während sich eine kleine Menschenmenge um mich sammelt, entferne ich mich von diesem peinlich verdrehten Körper, schnell und zittrig, bis er nur noch ein Klumpen auf der Straße ist, umringt von blinkenden Lichtern. Leider könnte man die Unterhose noch vom Weltraum aus sehen.
Bin ich tot? Keine Ahnung. Ich fühle mich nicht tot. Oder vielleicht fühle ich mich auch bloß auf dieselbe Weise nicht tot, wie sich alte Leute nicht alt fühlen. Oder ich habe ein Phantom-Ich, ähnlich wie Amputierte Phantomglieder spüren. So oder so, es ist total komisch. Ich bin eine getaufte Ungläubige, die nie zur Kirche geht, ausgenommen zur Mitternachtsmesse an Weihnachten - ich habe eine Schwäche für Weihnachtslieder und Kerzen. Aber ich glaube nicht. Nicht an das. Ich glaube an ein bisschen Yoga (zumindest früher mal eine Zeit lang) und an die Heilkraft von kühlem Weißwein am Abend (bis heute). An den Himmel glaube ich nicht, auch nicht an Geister oder Engel.
Und dennoch.
Ich bin auf meiner eigenen Beerdigung. Seht doch nach oben! Ich bin hier, gleich bei den Deckenbalken, wo Tauben hinmachen und ein übler Holzwurm wütet, von dem der schwule Reverend nichts ahnt. (Colin. Garantiert heißt er Colin.) Ein mehrstimmiges Schlurfen nasser Schuhe auf kaltem trockenem Stein setzt ein. Es ist meine Facebook-Seite, zum Leben erwacht. Die Köpfe gesenkt, die Stirnen gerunzelt, treten sie ernst durch die schweren Holzkirchentüren. Alle sehen mindestens zehn Jahre älter als auf
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ihren Profilfotos aus, sind aschfahl und tragen Anthrazit und Schwarz und Sonnenbrillen. Eine Armee von finsteren Modefreaks. Manche habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich fasse nicht, dass mein Ex, Chris Adderson, die Dreistigkeit besitzt, hier aufzukreuzen, nachdem er mit Sara gevögelt hat - die ebenfalls hier ist. Was für eine Schamlosigkeit. Ich schaue zu, wie sie singen, weinen und, ja, gähnen. (Natürlich tippt Danny Brixham während der Predigt auf sein Blackberry ein.)
In der Menge entdecke ich meine Muswell-Hill-Leute: Freunde, Nachbarn, Schulmütter. Sie sind die Menschen, die meinen Alltag bevölkern, seit ich Freddie bekam und an den Stadtrand zog. Meine liebste Kaffeerunde der Welt. Ja, da ist Tash, richtig schick in Schwarz mit roten Schuhen. (Rote Schuhe bei einer Beerdigung ? Nein, ich auch nicht.) Lydia schluchzt am lautesten von allen. Irgendjemand schluchzt immer lauter als alle anderen, und wer Lydia kennt, weiß, dass sie es sein muss. Und Suze, die gute alte Suze mit ihrer blonden Wuschelmähne, zupft an ihren Redenotizen und kann es gar nicht abwarten. Sie liebt es, vor Publikum zu reden, egal vor welchem. (Womit sie im Elternrat glatte Verschwendung ist; sie sollte lieber einen Kleinstaat regieren.) Und ich sehe, dass sie Unmengen Quatsch über meine Rolle im Schulkomitee geschrieben hat, jene freiwilligen Aktionen, zu denen sie mich immer wieder nötigte, indem sie mich am Schultor abfing und an mein schlechtes Gewissen appellierte : Kuchenverkauf, internationale Abende, Weihnachtsbasar, Girlandenbastelnachmittage, der 5-Kilometer-Lauf, den ich in einem rotgepunkteten Fünfzigerjahre-Ballkleid absolvierte, um Spenden für die bolivianische Partnerschule einzuwerben.
Auf derselben Seite, gleich vor ihnen, sitzt meine arme Familie. Mum wirkt am Boden zerstört, Dad fassungslos. Meine irre Tante Pat sieht aus, als würde sie das Drama eher genießen, wohl weil sie endlich Gelegenheit hat, dieses Monstrum von Hut aufzusetzen, das wie ein gigantischer Oreo-Keks aussieht. Und dann ist da meine kleine Schwester Mary. Keiner hätte ein wenig Privatsphäre dringender nötig als sie gerade. Arme Schwester. Direkt hinter ihr sitzt meine beste Freundin Jenny, die aussieht, als hätte sie Crystal Meth gefrühstückt und sich im Dunkeln geschminkt. Es gibt so vieles, das ich meiner lieben Jenny sagen möchte, nicht zuletzt, dass sie mir immerzu sagte, ich würde noch zu spät zu meiner eigenen Beerdigung kommen. (Stimmt nicht!)
Beerdigung. Das heißt, ich bin wirklich tot, oder? Ich nehme mal an, dass irgendwer meinen Puls gefühlt hat. Mist. Und wenn nicht ? Was ist, wenn hier ein furchtbarer Irrtum vorliegt?
Ollies schönes Gesicht verrät, dass etwas Schreckliches passiert ist. Seine Augen sind geschwollen, rot und glanzlos, und ihn umgibt eine blaue Aura, kalt wie ein OP-Anzug. Wohingegen Freddie ... Nein, das kann ich nicht. Mein süßer, wundervoller kleiner Freddie.
Wenn ich nur daran denke, dass einer von ihnen auch bloß eine Minute länger ohne mich leben muss, höre ich ein Pfeifgeräusch, ein scheußliches Schrillen, gleich einem stürmischen Wind, der über ein flaches Moor heult, und empfinde nichts als Dunkelheit.
Es gibt keine Worte.
Vor fünf Tagen war ich noch lebendig genug, um mich wahnsinnig darüber aufzuregen, wie Ollie die Teller in den Geschirrspüler geräumt hatte. Lebendig genug, mich über die sechs Pfund zu ärgern, die ich über Weihnachten zugelegt hatte, und mir fest vorzunehmen, mit der Dukan-Diät anzufangen. Lebendig genug, einen Vorsatz für das neue Jahr zu formulieren. Ich hatte angenommen, dass ich noch ein Jahr und danach noch eines habe, und nach dem noch ein Jahr und ...
Okay, spulen wir zurück. Vergessen wir meine Beerdigung und sehen uns an, wie der Vorhang fiel.
Vor fünf Tagen
Es ist ein verregneter Dienstagabend, doch nach dem verkaterten Neujahrsanfang will ich dringend aus dem Haus und jemanden sehen, der nicht zu meiner unmittelbaren Familie gehört. Aber ich bin spät dran. Dauernd bin ich spät dran. Diesmal finde ich meinen einen Stiefel nicht, und das bremst mich ziemlich aus. Mein Mann ist keine Hilfe.
»Auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr liebst du mich?«, fragt Ollie, der unten auf der Treppe hockt, den Kopf auf seine Knie gestützt und mich mit seinen trägen schwarzen Augen beobachtet. Er hat die Augen eines jungen italienischen Liebhabers, obwohl er weder besonders jung noch Italiener ist. Er kommt aus Wigan, in der Nähe von Manchester.
»Neuneinhalb.«
»Als wir uns kennenlernten, war es noch elf.«
»Das war, bevor wir dasselbe Bad benutzten.« Ich hüpfe auf einem Stiefel durch den Flur. Daft Punk plärren aus den Lautsprechern. »Mach das leiser, Ol, ernsthaft jetzt. Wo zur Hölle ist mein anderer Stiefel?«
Ollie zuckt mit den Schultern und hebt Freddie auf seinen Schoß. »Wir haben Mittel und Wege, Mummy davon abzuhalten, dass sie in sexy Stiefeln ausgeht, stimmt's, Freddie?« Ollie und Freddie. Ihre Züge gleichen sich auffallend, nur in unterschiedlichen Farbnuancen. Als sie sich ansehen, grinsen beide auf diese Art, die sicher schon längst irgendwer patentiert hat.
»Ollie, ich habe Jenny ewig nicht gesehen!«
»Ja, seit mindestens vierundzwanzig Stunden.«
»Seit Weihnachten, genau genommen.«
»Schatz, heute ist der sechste Januar.«
Ich ignoriere ihn und fange an, Sachen aus dem Weidenkorb in der Diele zu rupfen: Handschuhe, Regenhüte, Gummistiefeleinlagen aus Fleece, Regenschirme, Reste von Weihnachtspapier, die meiner Neujahrsputzorgie entgangen sind. Pingpong, der unschmusigste Tigerkater in ganz Nordlondon, attackiert einen Handschuh, beißt hinein und schüttelt den Kopf wie wild. »Ein Stiefel kann doch nicht einfach verpuffen! Wie kann das sein?«
»Mummys Stiefel hat die Flucht ergriffen.« Ollie lacht und reibt seine Nase in Freddies blondem Wuschelhaar. »Er ist durch ein Portal in die Welt der verlorenen Sachen, die nie wiedergefunden werden.«
»Wie Dr. Who«, sagt Freddie mit einem ernsten Nicken.
»Wie meine Sonnenbrille. Hast du jemals diese klasse Snowboarding- Brille wiedergesehen, die ich von deiner Schwester zu Weihnachten gekriegt habe, Soph?«
Ich werfe ihm einen genervten Blick zu. Er verlegt dauernd irgendwas, weshalb ich ihn auch in Verdacht habe, maßgeblich am Verschwinden meines Stiefels beteiligt zu sein - und hüpfe ins Wohnzimmer. »Nein, habe ich nicht.«
»Was sollen wir heute Abend essen?«
Mich ärgert, dass er wie selbstverständlich davon ausgeht, alles, was mit Kühlschrank, Vorratsschrank und Supermarkt zusammenhängt, wäre meine Sache, obwohl es so ist. Also sage ich nichts und bücke mich, um unter unser graues Samtsofa zu gucken. Dies ist die Unterwelt, in der Legosteine und Wollmäuse gezüchtet werden.
»Soph ? Ich bin am Verhungern. Was gibt's zum Abendbrot?«
»Die Linsen-Lammfleisch-Suppe von gestern Abend.«
»Ooch. Können wir nicht Fish and Chips essen?«, fragt Freddie. Ollie zwinkert ihm zu, und ich weiß, dass sie sich Fish and Chips holen, wahrscheinlich mit einer dieser arterienfeindlichen Würste und so einem eingelegten Ei, das aussieht wie ein unaussprechliches Körperteil in einem Einweckglas.
»AHA !« Gefunden. Ich schnappe mir einen Gleisabschnitt von der Hot-Wheels-Bahn und angle den Stiefel ein Stück heraus, bis ich dran ziehen kann. Mein Fuß stößt gegen etwas Hartes und Scharfkantiges. Ein Transformer. Als ich den Reißverschluss des Stiefels hochziehe, fühlt er sich eng an. Zu eng, so wie der Bund meiner Jeans, die auf wundersame Weise eingelaufen ist. Ich weiß, dass meine Beine mit Brandy-Sahne, Champagnertrüffeln und Früchtepasteten gestopft wurden wie ein Weihnachtsstrumpf. Mir ist klar, dass mich wochenlanger Verzicht und Frust erwarten, und das ist deprimierend. Ich hasse Diäten. Sie entsprechen schlicht nicht meinem Naturell, denn ich habe gerne mehr von allem: mehr Essen, mehr Sex, mehr Schlaf, mehr Schuhe und mehr Zeit. Warum habe ich immerzu zu wenig Zeit?
Mein Handy bimmelt.
Es ist eine SMS von Jenny. Sie ist in der neuen Tapas-Bar in der Beak Street, wo wir nur deshalb einen Tisch kriegen konnten, weil Londons In-Leute noch in den Cotswolds sind, wo sie Glühwein vor den knisternden Kaminen ihrer Wochenend- Cottages schlürfen. »Dem Kellner tue ich schon leid. Wo steckst du?«
»Unterwegs!«, tippe ich zurück und schlüpfe in meinen weiten schwarzen Kunstpelzmantel. Ich bilde mir ja ein, dass ich in dem Ding ein bisschen nuttigen Hollywood-Glamour verstrahle, auch wenn Ollie meint, das Teil ließe mich wie einen Klobrillenbart auf Beinen aussehen und ginge überhaupt nur, sofern ich darunter nackig bin. Freddie lehnt sich an Ollies Brust und mustert mich mit diesem Blick, den er jedes Mal bekommt, wenn ich mich fein mache - als wäre ich jemand anders und nicht bloß seine Mum.
»Du hast was fallen gelassen, Soph. Hinter dir«, sagt Ollie.
Ich beuge mich nach unten. Nichts. »Was?«
»Ich wollte nur sehen, wie du dich bückst.« Ollie grinst sein schmutziges Rockstargrinsen.
»Ollie!« Ich verdrehe die Augen, obwohl ich es genieße, dass er es nach all den Jahren noch klasse findet, meinen Hintern anzugucken. Ich hauche den beiden Küsschen zu wie ein Filmstar. Schließlich war ich früher vollkommen sicher, dass ich mal ein berühmter Filmstar werde. Das war, bevor ich mit fünfzehn aus dem Samstagsclub flog, weil ich mit meinem Schauspiellehrer geknutscht hatte. »Schön brav sein, Jungs.«
»Wann kommst du wieder, Schönheit?«
»Nicht so spät.« Ich trete aus dem wohlig warmen Haus Nummer 33 hinaus in die kalte Londoner Nacht, die so viele Möglichkeiten verspricht. »Ich liebe euch!«, rufe ich den beiden wie immer zu - und ich meine es immer ernst.
Spulen wir drei Stunden vor. Jenny und ich sind in der Tapas- Bar und haben die zweite Rotweinflasche so gut wie geleert. Inzwischen merke ich die Blase an meinem linken kleinen Zeh fast nicht mehr, die ich mir auf dem Hinweg in den verfluchten Stiefeln geholt habe. Kann man an den Zehen zunehmen? Der Abend beginnt, sich herrlich locker anzufühlen. Wahrscheinlich rede ich zu viel, weil ich über Weihnachten zu viel über alles Erdenkliche nachgegrübelt habe. Und nun kotze ich all meine Sorgen vor Jenny auf den Restauranttisch.
»Willst du die bittere Januarwahrheit hören?«, fragt Jenny, die sich offenbar weigert, mit mir zu leiden.
Ich linse durch meine Finger. »Wenn es sein muss.«
»Die meisten Leute würden für deine Probleme morden.« Zufrieden mit dieser Eröffnung lehnt Jenny sich auf ihrem Stuhl zurück, während der Kellner noch eine Flasche entkorkt und uns die lippenstiftverschmierten Gläser auffüllt. »Und«, fährt sie mit erhobenem Zeigefinger fort, »die meisten Frauen würden für einen Mann wie Ollie morden, wie du sehr wohl weißt, Soph.«
»Das würden sie sich noch mal überlegen, wenn sie erst versucht haben, länger als für die Dauer einer Mad-Men-DVDBox mit ihm zusammenzuleben.«
Sie lacht und guckt mich liebevoll an. Ihre Augen sind rosagerändert, weil sie betrunken ist. Das sind wir beide. »Du bist unbarmherzig, Sophie Brady.«
»Nachtaktiv, komplett unpraktisch. Er ist weniger domestiziert als Freddie.«
Sie bedenkt mich mit einem strengen Blick.
»Ja, ja, offensichtlich will ich ihn gar nicht anders.«
»Und das Problem ist ... ?«
»Gar keines. Es ist bloß der mistige Alltagskram.« Ich trinke von meinem Wein, den ich mittlerweile nicht mehr richtig schmecke. Ja, so weit sind wir schon. »Nichts, was man lösen kann, Jenny. Es kann nun mal nicht alles gelöst werden. Das Leben ist kein Sudoku.«
»Hmmm«, macht sie. Sie glaubt, dass es eine globale Verschwörung gibt, die uns alle dazu bringt, zu viel nachzu denken, damit wir Zeitungen, Versicherungen und Wohlfühlprodukte kaufen »wie Babybel-Käse, das merkwürdigste Nahrungsmittel überhaupt«. Ihre Worte, nicht meine. Ich mag Babybel. Die Wachshülle hat denselben Rotton wie mein üblicher Lippenstift, und ungefähr den Gelbton des Käses nehmen meine Lippen schon mal ungeschminkt an.
»Wenn du seit dem zweiundzwanzigsten Lebensjahr mit jemandem zusammen bist ... Ach, ich weiß nicht. Sicher ist es für ihn nicht anders. Er hatte ja nur zwei Freundinnen vor mir. Wir waren beide so JUNG! Und jetzt sind wir schon länger zusammen, als Blair an der Regierung war. Oder Thatcher.« Ich schwenke den Wein in meinem Glas. Und während ich das tue, denke ich, dass ich es wohl niemals leid werde zuzugucken, wie der Rotwein die Glaswände pink färbt. Kleine Freuden. »Die Wahrheit ist, und, bei Gott, das würde ich niemals zu Ollie sagen, also schwör mir bei deinem Leben, dass du es keinem verrätst, aber mir fehlt, wie es früher war. Du weißt schon, am Anfang. Es ist traurig zu wissen, dass ich diesen adrenalingeschwängerten Lustrausch nie mehr erleben werde. Dass, na ja«, ich imitiere einen schlimmen Cockney-Dialekt, »das mit mich und Ollie was Festes is, ne?«
»Was eigentlich ein viel schönerer Gedanke ist, als dir bewusst sein dürfte, Soph.« Jen guckte ein bisschen wehmütig.
Ich fühle mich mies, weil ich habe was sich jeder wünscht und nicht wahnsinnig dankbar bin. Jetzt sind wir beide ziemlich down, also sollte ich dafür sorgen, dass es wieder lustiger wird. »Aber was ist mit dem Grrr ?«
»Dem was ?«
Ich schnurre wieder. »Dem Grrr, du weißt schon ! Dieses Gefühl.«
Jenny lacht. Ein Paar am Nebentisch, das nicht aussieht, als wäre bei ihm viel Grrr zu wollen, tut so, als würde es uns nicht belauschen. Jetzt krümmt die Frau einen Fuß um ihr Stuhlbein und runzelt die Stirn.
»Überbewertet.« Jennys Pupillen tanzen. Ich liebe es, wie ihre Pupillen tanzen können. Sie ist eine der wenigen Frauen, die betrunken hübscher aussehen, weil sie lockerer wird.
»Ich meine nur, dass ich gerne noch mal das Grrr fühlen möchte, ehe ...« Ich knalle die Hände auf den Tisch, denn Jenny wirkt gelangweilt. »Entschuldige! Ich bin schon ruhig. Bestimmt mache ich nur so ein furchtbares Klischee wie eine Midlife-Crisis durch. Das ist öde, und es tut mir leid.«
»Du musst dich nicht entschuldigen«, erwidert Jenny lachend. »Sag mir einfach Bescheid, wenn's übel wird, denn unsere Midlife-Crisis hat noch nicht mal richtig angefangen, Soph.«
»Doch, ich glaube, bei mir ja. Es wurde jedenfalls schon richtig übel.«
»Wann ?« Sie lacht.
»Bei Sainsbury's, heute Nachmittag.« Ich trinke noch einen Schluck Wein, um mich einzustimmen. »Du kennst doch diese Selbstbedienungskassen, die nie funktionieren, sodass man am Ende immer auf einen echten Menschen warten muss, der kommt und das verdammte Ding entriegelt, weil es spinnt, wenn man mit seiner eigenen Einkaufstasche da ist? ›Unerkannter Artikel im Packbereich!‹ Echt, ich hasse Supermärkte. Und, nein, ich habe keine Nektar-Karte. Nein, ich will auch keine Nektar-Karte!«
»Du bist ein Schnösel.«
»Glaub mir, an dem Tag, an dem ich mir eine Kundenkarte von einem Supermarkt geben lasse, ist es vorbei, Jenny.« Ich kippe noch mehr Wein herunter.
Jenny lehnt sich wieder zurück und betrachtet mich auf ihre prüfende Art. »Du bist zu jung für eine Midlife-Crisis, Soph. Dafür musst du vierzig sein, und du bist fünfunddreißig.« Jenny ist sehr genau. Ihr Verstand ist wie ein nach Farben sortierter begehbarer Kleiderschrank. Meiner ähnelt eher einer überfüllten Dessous-Schublade.
»Ich könnte mit siebzig sterben, womit ich jetzt die Mitte meines Lebens erreicht hätte.« (Posthume Anmerkung : kein seltsames Erschaudern bei diesem Satz.) Ich nehme einen Löffel von der Crème Caramel, deren süßer Geschmack wie ein Kuss ist.
»Frauen sterben nicht mehr mit siebzig. Wir sterben mit zweiundachtzig oder so.« Jenny durchbricht die Kruste ihres Schokodesserts mit dem Löffel, worauf süße Schokocreme ausläuft. Die sieht besser aus als meine Crème Caramel. »Die Kerle sterben zuerst.«
»Gut so. Ollie würde sowieso seine Gehhilfe mit dem Wäscheständer verwechseln und seine Unterhose da drauf drapieren.«
»Das ist fantastisch. Mal probieren?«
Ich lange über den Tisch und gehe mit meinem Löffel auf ihr Dessert los. (Kalorien, die jemand anderem gehören, zählen nicht.) Ja, ihres ist besser als meines. »Aber ist es nicht richtig tragisch, dass wir zu alt sein werden, um unsere Freiheit zu genießen, wenn wir sie endlich kriegen?«
»Nein! Ich freue mich schon aufs Alter.«
Ich versuche, mir uns alt vorzustellen, also wirklich alt. Das ist schwer. Wir sind immer schon jung. Ich kaufe bis heute gepunktete Strumpfhosen bei Topshop, und letztes Jahr habe ich mich in Glastonbury im Schlamm gewälzt - nackt.
»Ich will keine von diesen anstrengenden Frauen werden, die sich krampfhaft bemühen, ewig in den Dreißigern zu bleiben. Ich möchte unterschiedliche Beige-Töne anziehen und Beschwerdebriefe an den BBC schicken, weil in den Filmen zu viele Kraftausdrücke vorkommen. Sonst würde ich mich betrogen fühlen.«
»Wie kommt es, dass du jedes Mal das bessere Dessert bestellst, Jenny ?«
»Ich entscheide mich für die Kalorienbombe. Eine ganz simple Taktik.« Sie wischt sich den Mund mit ihrer Serviette und reibt dabei den Rest ihres rosa Lippenstifts ab. Ohne Make- up sieht sie ungefähr wie zehn aus, wie ein beängstigend kluges Schulmädchen. Es liegt an ihrem hübschen weichen Kindergesicht, den großen blauen Augen und dem permanent nachdenklichen Ausdruck. Jenny ist meine einzige Freundin, die die Wochenendzeitung komplett durchliest, bevor sie in den Magazinbeilagen blättert. Sie verschlingt die großen, schweren Bücher, die man gelesen haben muss, anstelle der witzigen. Sie hat sogar Wölfe von Hilary Mantel bis zu Ende gelesen ! Nebenbei kennt sie auch sämtliche Songtexte von Dolly Parton. »Ich habe vor, das ganze Jahr über mehr Nachspeisen zu essen«, ergänzt sie munter. »Mein Vorsatz fürs neue Jahr lautet, dass ich mich nicht fertigmache, weil ich über fünfundsechzig Kilo wiege. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich lieber Nachtisch esse, als spargeldürr zu sein.«
»Ich auch, ich auch.« Ich lange noch einmal mit meinem Löffel hinüber.
»Fett, glücklich und hemmungslos.«
Schwungvoll erhebe ich mein Glas. »Mein guter Vorsatz war, im Januar nichts zu trinken.«
Jenny erhebt ihr Glas, und wir kichern.
»Fette Gesichter altern übrigens teuflisch gut«, sinniere ich.
»Wohl wahr.«
»Das Geniale ist, dass sich fette Menschen nicht zwischen ihrem Gesicht und ihrem Hintern entscheiden müssen. Sie sagen einfach, ich nehme beides, bitte! Wie im Restaurant.«
»Gutes Argument.« Jenny leckt ihren Löffel ab. »Und weißt du was, Soph? Wenn wir alt sind, also richtig alt, essen wir bei jeder Mahlzeit ein Dessert, denn wen kümmert's?«
»Bis dahin sind die Männer sowieso alle tot. Und die ganzen Dürren sterben an Kohlehydratmangel.« Ich stütze mein Kinn auf und denke an die herrliche Völlerei, die mich erwartet. »Und ich sage dir, Jenny, wenn ich alt bin, trage ich eine von diesen durchsichtigen Regenhauben, damit meine Föhnfrisur nicht nass wird, und ich wippel auf orthopädischen Schuhen mit gefederten Sohlen durch die Gegend. Die fand ich immer schon klasse.« »Wir können zusammen auf Kreuzfahrt gehen.
Kreuzfahrten sind super, aber es muss eine von diesen richtig kitschigen sein, wo sich abends eine Sängerin in einem roten Paillettenkleid auf einem weißen Flügel rekelt und Shirley-Bassey-Songs singt.«
»Unbedingt ! Unbedingt !« Wieder erhebe ich mein Glas, allerdings ein bisschen wacklig. »Wir fahren zu den Galapagos- Inseln. Ich wollte schon immer mal zu den Galapagos-Inseln.«
»Um Schildkröten und unheimliche Riesensteine anzugucken. «
»Das sind die Osterinseln, Nuss.«
»Okay, also auch zu den Osterinseln.«
»Und nach St. Barths. Da lasse ich meine Schamhaare verfilzen und bekiffe mich am Strand, denn, verdammt, wieso nicht?«
»Wollen wir auch nach Vegas? Da können wir unsere Rente verjubeln.«
»Oh ja !«
Einen Moment lang schweigen wir zufrieden, kratzen die Dessertreste von unseren Tellern und genießen es, in diesem Restaurant zu sitzen und den Nachwehen der Weihnachtsferien entkommen zu sein. Wir verschlingen das restliche Brot und gackern kindisch, als ein Kellnerin Slapstick-Manier ein Tablett neben uns fallen lässt. Das Teelicht auf dem Tisch ist fast ausgebrannt, qualmt und zeigt nur noch eine bläuliche Winzflamme. Ich bin angenehm beschwipst und entscheide, jetzt das Thema anzusprechen. »Darf ich fragen, Jenny?«
Ein Blitzen geht durch ihre Augen. Sie will nicht, dass ich frage. »Die Antwort ist nein.«
Ich lehne mich halb auf den Tisch und wärme meine Hände am sterbenden Teelicht. »Aber ich dachte, du wolltest das große Gespräch führen?«
»Das ist geschrumpft. Es wurde zu einem Gespräch darüber, wie man am besten ein Lammcarree zubereitet«, sagt sie kurz angebunden und guckt weg von mir.
»Ich schätze, ihr müsst irgendwann einen Hochzeitstermin festlegen«, sage ich vorsichtig. »Ich meine, du willst doch nicht warten, bis du in den Siebzigern bist und wie Vivienne Westwood aussiehst, wenn du zum Altar schreitest.«
Sie lacht nicht, wie ich gedacht hatte. Stattdessen rümpft sie die Nase. »Es ist völlig normal, ein Jahr lang verlobt zu sein.«
»Das war ein Scherz, Jenny.« Dies ist mein Stichwort, es ihr zu erzählen. Ich öffne den Mund und schließe ihn gleich wieder, ohne dass ein Ton herausgekommen ist. Ich kann Blödsinn reden, bis mir die Stimmbänder bluten, aber hierüber kann ich nicht sprechen. Beste Freundinnen, keine Geheimnisse ? Sicher doch. Aber ich will nicht unser Abendessen ruinieren - oder Schlimmeres. Und sowieso bin ich betrunken. Ja, ja, zu betrunken. Also nehme ich mir vor, nächste Woche bei ihr vorbeizufahren, tagsüber, wenn Sam nicht da ist, und bei Kaffee und Passionsfrucht-Käsekuchen mit ihr zu reden. Sie liebt Käsekuchen. Käsekuchen wird helfen.
Sie beäugt mich misstrauisch. »Ich weiß, dass du ihn nicht magst, Soph.«
»Das ist nicht wahr.«
Schweigen. Uns beiden ist klar, dass die Unterhaltung ins Stocken geraten ist, als hätte sie eine Bremsschwelle erreicht. Wir sehen uns im Restaurant um und lächeln versonnen: Frauen, die zu viel getrunken haben und sich gut genug kennen, um das Thema zu vergessen, bevor wir uns gegenseitig mit unseren Handtaschen verkloppen. Einige der Gäste machen sich zum Aufbruch bereit, lassen sich die Rechnung bringen, gehen noch mal zum Klo. Gleichzeitig kommen die nächsten Gäste herein, rotwangig von einem Theaterbesuch oder einer Bar, übernehmen die freien Tische und bestellen Tapas.
Ein Kellner fragt uns, ob wir noch etwas wollen, was ein dezenter Rauswurf sein soll. Ich sehe auf meine Uhr. »Echt schon so spät ? Mir kommt es vor, als wäre ich erst seit fünf Minunten hier. Ich sollte lieber nach Hause.«
Jenny wirkt enttäuscht. »Aber wir haben Sarahs Affäre noch gar nicht durchgehechelt.«
»Ich weiß, und Maxines neue Zähne auch nicht. Die feilen die echten Zähne auf Shane-McGowan-Stümpfe runter und verblenden sie dann. Ist das nicht total fies?«
»Ich habe gehört, dass diese Kronen dauernd abfallen.«
Ich lache durch die Nase. »Erinnerst du dich, wie mir meine Haar-Extension auf dem Primrose Hill abgeflogen und auf David Walliams Labradoodle gelandet ist?« Ich weiß auch nicht, wieso mir das jetzt wieder einfällt, aber ich sehe es lebhaft vor mir. Dieser fantastische Tag oben auf dem Primrose Hill, ganz London vor uns ausgebreitet; Freddie, damals noch ein Baby, sitzt auf der Picknickdecke und stopft sich Erdbeeren in den Mund. Das alles ist eine Ewigkeit her.
»Und der Hund bespringt dein Haarteil !«
Ich sehe die Zeit auf der großen Uhr der Frau am Nebentisch. Es ist wirklich spät.
Jenny ertappt mich. Sie weiß, was ich denke. »Ist es nicht schlechtes Karma, so viel Wein übrig zu lassen?« Sie malt mit einem Finger über das Flaschenetikett. »Und so guten Wein.«
»Aber es wäre ein bisschen studentenmäßig, zu fragen, ob wir die Flasche mitnehmen können, oder?«
»Wäre es, Soph. Ja.«
»Trotzdem eine Schande.«
»Wärst du rechtzeitig hier gewesen, hätten wir die Flasche jetzt leer.«
»Recht hast du. Was schlägst du vor?«
Jenny füllt unsere Gläser. »Alles andere wäre unhöflich.«
»Du übernimmst die Verantwortung, Jenny.« Ich hickse. »Und ich sage dir gleich, dass ich dir die Schuld gebe, wenn Ollie schimpft, weil ich sturzbesoffen nach Hause komme.«
Sie hält ihr Glas in die Höhe. »Gut, ich übernehme die volle Verantwortung. Dafür sind unverheiratete Freundinnen doch da, nicht? Die verheirateten bei ihren Männern vom Haken zu holen.«
Als wir schließlich das Restaurant verlassen, regnet es draußen. Es schüttet sogar so heftig, dass einen der Guss von der Seite erwischt. Dabei ist es eiskalt, sodass jederzeit Schneeregen droht. Die Straße glänzt nass und wimmelt von Leuten, die zu viel getrunken haben, keinen Regenschirm bei sich und dringend nach Hause wollen. Leuten wie uns, die verzweifelt ein Taxi erwischen wollen. Wir geben es auf, eines in der Beak Street zu finden, und gehen Richtung Regent Street, wo mehr Verkehr ist und die Chance mithin größer. Die Ledersohlen meiner Stiefel glitschen auf dem nassen Pflaster. Ein besetztes Taxi nach dem anderen braust vorbei. Manche knipsen ihre Lichter in dem Moment aus, in dem sie fast bei uns sind; andere werden uns von Nachtschwärmern weggeschnappt, die aus der Great Marlborough Street und vom Fouberts Place kommen. Sie kapern Taxis, die rechtmäßig unsere gewesen wären, weil wir schon seit Jahren warten. Ein eben gestohlenes Taxi schleudert uns einen Schwall Dreckwasser aus einer Pfütze über die Füße.
»Das ist Müll, Jenny. Nehmen wir uns eines von den komischen Taxis.«
»Die Mini-Cab-Fahrer sehen alle wie frisch vom Fahndungsfoto aus.«
»Um diese Zeit steige ich garantiert nicht in die U-Bahn.«
»Juhu !« Jenny packt meine Hand. »Oh, ihr Kleingläubigen. Guck mal, da ist eines, direkt hinter dem Bus.«
Wir beobachten, wie das warme, gelbe Licht in der nassen Dunkelheit näher kommt und langsam heller wird.
»Okay«, sage ich entschlossen und strecke einen Arm raus. »Aufgepasst. Das kriege ich, und wenn es mich umbringt.«
2
Der Sarg war weiß und mit einem vibrierenden Strauß Marshmallow-rosa Lilien geschmückt. Jenny kam er zu klein vor, erbärmlich dürftig. Sich vorzustellen, dass Sophies Leiche - die wunderschöne, witzige, legendäre Sophie - da drinnen lag, seit fünf Tagen tot und kalt wie Lehm, war ihr so gut wie unmöglich. Sie drückte Sams Hand fester und fühlte die steife Manschettenkante seines Hemds an ihrem Handgelenk.
Ein Schluchzen hallte durch die überfüllte Kirche. Jedes Mal, wenn das passierte, was ziemlich häufig war - alle vier oder fünf Atemzüge, wie sie gezählt hatte -, biss Jenny die Zähne zusammen, dass ihre Füllungen knarzten. Sie wusste nicht, wo sie hingucken sollte, deshalb richtete sie ihren Blick auf Ollie, der verloren in der ersten Kirchenbank stand. Seine Kleiderbügelschultern waren neuerdings leicht vorgebeugt, sein Gesicht selbst im fahlen Tageslicht überschattet. Es war, als wäre seine gesamte Kraft in seine linke Hand geflossen, mit der er Freddies hielt. Kein Wunder. Freddie wirkte so herzzerreißend winzig. Seine Kindergestalt wurde von den gigantischen Buntglasfenstern und der gähnenden Weite des Kirchenschiffs auf Liliputanerproportionen geschrumpft.
Ollie und Freddie, die beiden großen Lieben in Sophies Leben, waren flankiert von Ollies gut aussehender Mutter Vicki und, an Freddies anderer Hand, Sophs Mutter Sally. Sally war dünner denn je, nur noch Haut und Knochen in ihrem schwarzen Kostüm, und die einzelne schwarze Feder an ihrem Hut bebte. Mike, Sophs Dad, hatte einen Arm um ihre Schultern geschlungen - wobei er das eine Schulterpolster in einen unglücklichen Winkel schob - und seinen anderen um Sophies Schwester Mary. Das normalerweise hübsche Gesicht der armen Mary war vom Weinen aufgedunsen wie ein Pilz, und das Licht, das durch eine gelbe Fensterscheibe hereinfiel, verlieh ihrer Blässe einen merkwürdigen Farbton.
Zweifellos wünschten sie, dass sie, Jenny, vor den Bus gelaufen wäre anstatt ihrer wundervollen Tochter. Sie war keine Mutter, keine Ehefrau, war nie und würde nie so ein strahlender Stern wie Sophie. Und könnte Jenny es, sie würde ihren Platz einnehmen. Aber es war alles so schnell gegangen. Eine ausgestreckte Hand, ein Ausrutschen, dann das entsetzliche Knirschen von Metall und Knochen. Immer noch sah sie Sophie auf der Straße liegen. Das Bild hatte sich auf ewig in ihr Gedächtnis eingebrannt, ähnlich einer grellen Glühbirne, nachdem man die Augen geschlossen hat.
»Abgemacht.« Das hatte sie gesagt, und es verfolgte sie seither. Egoistisch hatte sie Sophie angespornt, mehr zu trinken. Dabei hätte ihr bewusst sein müssen, dass Sophie Mutter war und sie beide nicht mehr in den Zwanzigern. Sophie trug Verantwortung, wie die meisten Frauen in ihrem Alter. Jenny war der komische Vogel, wollte ihrer Freundin unbedingt so viel Zeit wie möglich abringen, konnte nicht loslassen. Hätte sie Sophie früher nach Hause gehen lassen, hätte es noch nicht geregnet, die Straße wäre nicht glatt gewesen, und dieser Bus wäre irgendwo sonst unterwegs gewesen, nicht in der Regent Street. Genau wie sie.
Wie vom Reverend gebeten - Colin, und Jenny musste daran denken, wie witzig Sophie es gefunden hätte, dass er Colin hieß - hielt sie ihr fotokopiertes Gesangsblatt in die Höhe. Oben war Sophies schönes Gesicht aufgedruckt, sodass das Blatt wie eine Pressemitteilung aussah. Das Papier zitterte, und die Farbe verschmierte unter ihren schwitzenden Fingern. Könnte sie singen ? Sie war verblüfft, dass tatsächlich Töne aus ihrem Mund kamen, keine Schreie. »Jerusalem.« Soph und sie hatten dieses Lied im Laufe der Jahre oft bei Trauungen gesungen. Manche Ehen hatten überdauert, andere nicht. Und keine von ihnen war jemals so glücklich wie Ollies und Sophies. Gewesen. O Gott ! Das Gesangsblatt wackelte heftiger. Es war so, so falsch. Sie blickte hinauf zum Deckengewölbe. Tränen brannten in ihren Augen. Sophie, wo bist du? Bitte, hör auf, tot zu sein. Das ist weder toll noch witzig. Keiner lacht, verdammt!
Sie wollte am liebsten ins Bett kriechen, sich ein Kissen über den Kopf ziehen und sich wieder und wieder Sophies Bandansage auf dem Anrufbeantworter anhören - »Hier ist Soph, wagt ja nicht aufzulegen, ehe ihr eine Nachricht hinterlassen habt!« Vor allem wollte sie so tun, als wäre nichts von dem hier passiert.
»Geht es, Babe?«, flüsterte Sam, der von seinen Einsdreiundachtzig zu ihr hinuntersah.
Sie nickte. Ihr Mund war ausgedörrt, sodass sie zwar singen, aber nicht sprechen konnte. Was nichts Gutes für ihre Rede bedeutete. (Es sei denn, sie sang sie?) Der Trauergottesdienst ging weiter, zog sich quälend lange hin. Es war wie Sophies Trauung, dachte Jenny, nur umgekehrt.
O Gott, die Trauerreden! Sie war nicht mal annähernd bereit, brauchte noch mindestens sechs Monate länger, um sich vorzubereiten. Sophies Schwester Mary ging als Erste nach vorn. Ohne die geschwollenen Augen von ihren Notizen zu heben, versuchte sie sich an einigen Anekdoten von Sophie als Kind : Wie sie einmal ein Katzenbaby auf der Straße fand, das sie »Sock« nannte, und weil sie solche Angst hatte, dass ihr Vater ihr nicht erlaubte, es zu behalten, hatte sie es drei Tage lang in ihrer Wäschekommode versteckt und von Butterkeksen in Milch getunkt ernährt. Als schließlich jemand mitbekam, dass das Kätzchen da war, erklärte Sophie lang und breit, was für eine wunderbare Mutter sie dem Kleinen gewesen war. An dieser Stelle versagte Marys Stimme, und sie musste auf ihren Platz zurückgebracht werden.
Nicht sie jetzt. Noch nicht. Ihr blieben ein paar Minuten, sich zusammenzureißen. Komm schon, Jenny.
Eine andere Rednerin ging mit festen Schritten den Mittelgang hinunter. Jenny sah in das Programm. Suze. Suze Silver. Vage erinnerte sich Jenny, dass Sophie den Namen erwähnt hatte. Eine Schulmutter ? Ja, sie musste wohl eine Schulmutter sein. Suze, mit langem »z«.
Suze hatte ein gerötetes Gesicht unter einem außergewöhnlichen Helm Kraushaar, das auf seine extrem unattraktive Art schon wieder merkwürdig faszinierend war. (Wie konnte sie in all ihrem Kummer auf Haare achten? Was stimmte denn nicht mit ihr?) Suze reckte ihr Kinn, sodass man das große Muttermal darunter sah, das an eine zerdrückte Rosine erinnerte, und begann zu sprechen. Ihre laute Stimme ließ alle respektvoll verstummen, als wäre sie eine evangelische Pastorin. Sie schwärmte von Sophies Engagement für die Schule und die Gemeinde, ihrem Kuchenbacken, der Organisation des Quizabends und davon, dass sie eine der elegantesten Mütter am Schultor gewesen war. Sie erzählte, wie die anderen Mütter scherzten, dass Sophie nie dasselbe Paar Schuhe zweimal trug. Dann, zehn Minuten später, endete die kraushaarige Rednerin. Colin sah erwartungsvoll zu Jenny und zog eine Braue hoch.
»Meinst du, du schaffst das?«, fragte Sam, der sichtlich Zweifel hegte.
Jenny machte sich auf den langen Weg zum Podium, wobei ihre harten Sohlen unangenehm klackerten. Ihre neue schwarze Hose, die sie sich überstürzt online für diesen Anlass bestellt hatte, schnitt beim Gehen in ihre Hüften. Sie war eine Nummer zu klein - Jenny hatte Größe vierzig, nicht achtunddreißig, und wem wollte sie hier was vormachen? Noch dazu war diese Hose von der gekünstelten Förmlichkeit eines Lokalpolitikeranzugs für die Wahlkampagne. Sie wünschte, sie hätte Sophie zu Ehren etwas Ausgefalleneres angezogen. Sophie wäre in Schwarz mit Leopardenprint gekommen, einem Vintage- Kostüm im Stil der Fünfziger, so etwas in der Richtung. Der Weg dauerte ewig, und bei jedem Schritt verschob sich der Hosenbund. Bis sie endlich am Rednerpult stand und zu den Leuten hinuntersah, hatte sich der Reißverschluss verdreht, und die Schrittnaht bohrte sich fi es in ihr Fleisch. Arsch frisst Hose, super. Sophie hätte sich schlappgelacht.
Alle Augen waren auf Jenny gerichtet, und die Anspannung in der Kirche war deutlich zu spüren. Jenny konnte sie sogar hören: Tick, Tick, Tick. Wie ein Elektrozaun.
Notizen. Sie musste nur ihre Rede ablesen, und alles wäre gut. Aber die Schrift verschwamm ihr vor den Augen. Sie schluckte und konzentrierte sich. Die Worte, die sie geschrieben und morgens Sam laut vorgelesen hatte, während sie vor einem Porridge saß, das sie nicht herunterbekam, schienen plötzlich falsch, als handelten sie von jemand anderem, nicht Sophie. Hilflos blickte sie zu den vielen Reihen erwartungsvoller, geröteter, angespannter Mienen und rasch wieder nach unten. Schweiß rann ihr die Nase hinab und tropfte aufs Papier. Ich vermassel das. Ich werde es komplett und vollends vergurken.
Die Pause dehnte sich beklemmend qualvoll aus, als säße man bei einem Arzt und wartete, dass er einem Fäden aus einer Wunde zog. Sie blickte zu Sam, der verlegen dreinschaute. Dann sah sie zu Ollie, und seine traurigen schwarzen Augen wirkten erstaunlich sanft. Er war der eine Mensch, der sie hassen müsste, und tat es nicht.
»Ich habe mir diese Notizen gemacht«, begann sie. Ollie machte ihr Mut. Wenn er so tapfer sein konnte, konnte sie es auch. Das Mikrofon verstärkte ihre Stimme, die nicht wie sie klang - eher wie Margot Leadbetter. »Und sie handeln davon, was für ein wunderbarer Mensch Sophie ...« Sie konnte nicht »war« sagen. Sie konnte es einfach nicht. »Aber das wisst ihr ja alle. Deshalb ist diese Kirche so gerappelt voll. Also werde ich nicht vorlesen, was ich geschrieben habe, und ich bitte alle, Nachsicht mit mir zu haben.« Sam biss sich jetzt auf die Faust, schüttelte den Kopf und guckte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Ich war die Letzte, die Sophie lebend gesehen hat.« Alle hielten hörbar den Atem an. »Und das empfinde ich als ein riesiges Privileg. Wir hatten Spaß an dem Abend, an dem sie gestorben ist. Neben vielem anderem war Soph, meine älteste und beste Freundin, sagenhaft witzig. Sie konnte noch die finstersten Dinge mit Humor nehmen. Sogar hier würde sie noch etwas finden, worüber man lachen kann.« Ollie grinste überrascht, während die anderen sie mit steinernem Ausdruck betrachteten, als hätte sie etwas Furchtbares gesagt. »Und an dem Abend war sie lebendiger, als es die meisten von uns jemals sein werden. Sie war einer dieser Menschen, voller ... Licht und Strahlen, der Mittelpunkt in jedem Raum. Und sie hatte die unverschämteste, lauteste Lache. Wir nannten sie früher ›die Hupe‹.« Hier geriet sie ins Stocken. Aus ihrem Mund kam ein unbeabsichtigtes Ploppen, als würde ihr das Herz wie Brausepulver auf der Zunge explodieren. Es war undenkbar, dass sie »die Hupe« nie wieder hören würde. »Wenn ich an Sophie denke, stelle ich sie mir tanzend vor. Sophie liebte es zu tanzen, und sie scherte sich einen Dr... darum, was irgendwer von ihr dachte. Solche Komplexe, wie wir sie haben, kannte sie gar nicht. Vielmehr liebte sie es, von anderen gesehen zu werden. Was mich auf das nächste Thema bringt, nämlich ...« Hier legte sie eine Pause ein, weil sie unsicher war, was sie als Nächstes sagen sollte. »Hüte! Sophie liebte Hüte, besonders Vintage-Hüte mit Federn, und Kleider mit ausschwingenden Röcken, und Pailletten und Schuhe. Sie war die Hohepriesterin der Schuhe.« Ein kurzes Lachen ging durch die Kirche. Endlich entkrampften sich die Leute. »Sophie konnte alles anziehen, weil sie wunderschön war, vor allem aber, weil sie glücklich war. Sie machte das Glück elegant. Ihre Familie bescherte ihr dieses große Glück und diese Sicherheit, dass sie wunderbar war, wie sie war.« Ollie wischte sich mit seinem knittrigen schwarzen Sakkoärmel die Tränen ab. »Sie war wahnsinnig in Ollie verliebt. Und Freddie ...« Freddie starrte auf den Fußboden, als wollte er dringend verschwinden. »Freddie machte sie zur stolzesten Mutter der Welt.« Ihre Stimme kippte. Sie schniefte und fing sich wieder. »Ich schätze, alles, was ich sagen will, ist, dass ich Sophie immer vermissen werde. Als Freundin und als Mensch ist sie absolut unersetzbar. « Sie sah hinunter auf ihre Notizen, und eine Welle von Selbstzweifeln überkam sie. Was zum Teufel dachte sie sich nur? Aufhören, aufhören! »Das ist alles, ähm, danke.« Als sie ihren entsetzlich langen Weg zurück in ihre Kirchenbank antrat und sich die Blicke in ihre marineblaue Marksand- Spencer-Bluse bohrten, knacksten die ersten Noten von Neil Youngs »Harvest Moon« aus den uralten Lautsprecherboxen. Reihenweise brachen die Leute in Tränen aus - die Freunde, Cousins, Ex-Freunde, Freddies Lehrer, Sophies Friseurin, ihre Putzhilfe, die Musikverlagsfreunde von Ollie, alle, die Sophie gekannt und geliebt hatten, denn wer sie kannte, musste sie ja lieben, was Jenny auch noch hätte sagen müssen. Sie fragte sich, ob die anderen den Song erkannten. Zu ihm hatten Sophie und Ollie den Tanz bei ihrer Hochzeit eröffnet. Jenny schluckte ihre Tränen herunter und reihte sich in den Strom der Trauernden ein, die hinter dem Sarg her auf den Friedhof gingen. Es herrschte gelbliches Licht, und dunkle Wolken brauten sich über dem Kirchturm zusammen. Die Luft roch nach Regen.
»Warum hast du deine Rede im letzten Moment geändert?«, fragte Sam.
»War sie doof?«
Sam zog sie an seinen dunkelblauen Anzug. Es war sein zweitbester. »Nein, deine Rede war ...« Er zögerte. »Süß, wirklich süß, Jenny. Keine Sorge.«
Sie ballte die Fäuste in ihren Jackentaschen. Nichts täte sie lieber, als nach Hause zu fahren, sich ein gigantisches Glas Wein eingießen und Sophie anrufen. Das tat sie immer nach einem miesen Tag. Und dieser war der mieseste überhaupt. Sie drehte sich zu Sam und sah, wie er von Seb, dem bisexuellen Gärtner mit dem Goldzahn, den Sophie ihnen für ihre Blumenkästen empfohlen hatte, in die Menge gezogen wurde. Ohne Sam neben sich fühlte Jenny sich bloßgestellt, beobachtet, der letzte Mensch, der Sophie lebend gesehen hatte, der schlechte Einfluss. Sie wünschte, sie könnte sich wie die anderen Gäste davonschleichen, auf die Straßen Nordlondons und in ihr verändertes Leben zurückkehren. Sie blickte auf ihre Uhr. Nicht mehr lange. Die Beisetzung auf dem Highgate- Friedhof sollte nur im kleinen Familienkreis stattfinden, Gott sei Dank. Sie hätte nicht die Nerven dafür. Ihr Job war, mit Freddie zu Ollie nach Hause zu fahren und ihm Abendessen zu kochen. Und sie war heilfroh, dass sie eine Aufgabe hatte, sich nützlich machen durfte. Ja, sie musste Freddie suchen. Wo war er ? Noch während sie sich zwischen den verwirrenden Hüten und Federgestecken umblickte, bemerkte sie eine Frau, die sich entschlossen ihren Weg zu ihr bahnte. »Jenny !«
Sie erstarrte. Es war die Frau, die von ihrem eigenen Haar gefressen wurde.
»Suze Silver«, stellte sie sich vor, streckte Jenny ihre behandschuhte Hand hin und zerquetschte ihr fast die Finger. »Ich habe ja so viel von dir gehört!«
»Ach ja ?«, fragte sie erschrocken.
»Von Sophie«, erklärte Suze.
Jenny merkte, wie sie rot wurde. »Ja, natürlich.«
Suze kam näher und hauchte Jenny verschwörerisch ihren Keksatem aufs Gesicht. »Du warst aber mutig, so frei zu sprechen. Echt mutig.«
»Danke.« Sie lächelte und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sophies Tod hatte eine klaffende Leere in jede Unterhaltung gerissen. Und dabei wollte jeder immer nur darüber reden.
Suze war unbeirrbar. »Du musst dich furchtbar fühlen ... hier zu sein.« Sie legte eine Pause ein, damit Jenny sie mit den scheußlichen Einzelheiten füllen konnte. »Wo du doch den Unfall miterlebt hast und so«, ergänzte sie, als keine Details kamen.
Jenny wandte den Blick ab. Sie konnte Sophie noch auf dem Asphalt liegen sehen, den Knall und das Quietschen hören.
»Hör mal, tut mir leid, aber wenn du mal reden willst, jederzeit. «
»Danke.« Ich will nicht reden. Vor allem will ich nicht mit dir reden, dachte Jenny. Und ich mag deine lila Handschuhe nicht.
»Und falls es dir nichts ausmacht, melde ich mich mal.«
»Ja ?« Vielleicht könnte sie einfach Suze' Haarberg hinaufklettern und über ihre Schultern hinweg fliehen.
»Ollie wird jede Hilfe brauchen, die er kriegen kann, meinst du nicht auch?«
»Ja, ja, wird er.« Sie lächelte und fühlte sich ein bisschen schlecht, weil sie vorher so verärgert gewesen war. Suze war gewiss eine nette, praktisch veranlagte Frau. Sie war Sophies Freundin. Also startete Jenny einen neuen Versuch und wühlte in ihrer Handtasche, bis sie eine abgegriffene Visitenkarte gefunden hatte. »Hier ist meine Nummer.«
Suze blickte auf die weiße Karte - »Jenny Vale, Redakteurin « - und griente triumphierend. »Super !«
Jenny gab vor, gehen zu müssen, und ließ Suze stehen. Bevor sie weit gekommen war, berührte Ollie sacht ihren Arm. »Hi, Jenny«, sagte er so leise, dass man ihn kaum hörte.
»Es tut mir leid. Es tut mir so unsagbar leid, Ollie.« Die dunkelgraue Wolke umhüllte inzwischen die Kirchturmspitze. Auf einmal fing es zu regnen an, und spitze, eisige Tropfen pieksten in die wunde Haut um Jennys Augen.
Er blickte auf seine Uhr. »Wir gehen jetzt zum ...« Eine halbe Ewigkeit zögerte er, wohl weil er das Wort »Grab« nicht über die Lippen brachte. Jenny nahm seine Hand, weil es sich richtig anfühlte, das zu tun. Doch sowie sie seine Finger in ihren hielt, wusste sie nicht mehr weiter. »... zum Grab.«
»Ich bringe Freddie nach Hause.«
Sie standen einen Moment da und fixierten den verwuschelten blonden Hinterkopf von Freddie. Keiner von ihnen rührte sich, denn sie wollten ihn nicht vom Sarg seiner Mutter wegziehen. Und Jenny hielt immer noch Ollies Hand. Sie sollte sie loslassen.
»Jenny, da ist etwas, das ich dich fragen muss.«
»Ja ?« Sie hatte ein ungutes Gefühl, was das sein könnte, und ließ seine Hand los.
Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Sicher konnte er nicht schlafen. »Hat Sophie über uns geredet, über sie und mich, unsere Ehe, an dem Abend, als sie gestorben ist ?«
Das ungute Gefühl wurde schlimmer. Was konnte sie sagen? Wenn sie ihm die Wahrheit erzählte, könnte er Sophies Worte nach mehreren Gläsern Wein und in einer aufgewühlten Laune als ernsten Vorwurf gegen sich werten, den er nie wieder abschütteln konnte. Und Jenny hatte versprochen, es keinem zu sagen.
»Ich muss wissen, ob ...«
Colin der Reverend unterbrach sie. »Ollie«, flüsterte er und legte eine beringte rosige Hand auf Ollies schwarzen Wollärmel. »Es ist Zeit.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
In der Menge entdecke ich meine Muswell-Hill-Leute: Freunde, Nachbarn, Schulmütter. Sie sind die Menschen, die meinen Alltag bevölkern, seit ich Freddie bekam und an den Stadtrand zog. Meine liebste Kaffeerunde der Welt. Ja, da ist Tash, richtig schick in Schwarz mit roten Schuhen. (Rote Schuhe bei einer Beerdigung ? Nein, ich auch nicht.) Lydia schluchzt am lautesten von allen. Irgendjemand schluchzt immer lauter als alle anderen, und wer Lydia kennt, weiß, dass sie es sein muss. Und Suze, die gute alte Suze mit ihrer blonden Wuschelmähne, zupft an ihren Redenotizen und kann es gar nicht abwarten. Sie liebt es, vor Publikum zu reden, egal vor welchem. (Womit sie im Elternrat glatte Verschwendung ist; sie sollte lieber einen Kleinstaat regieren.) Und ich sehe, dass sie Unmengen Quatsch über meine Rolle im Schulkomitee geschrieben hat, jene freiwilligen Aktionen, zu denen sie mich immer wieder nötigte, indem sie mich am Schultor abfing und an mein schlechtes Gewissen appellierte : Kuchenverkauf, internationale Abende, Weihnachtsbasar, Girlandenbastelnachmittage, der 5-Kilometer-Lauf, den ich in einem rotgepunkteten Fünfzigerjahre-Ballkleid absolvierte, um Spenden für die bolivianische Partnerschule einzuwerben.
Auf derselben Seite, gleich vor ihnen, sitzt meine arme Familie. Mum wirkt am Boden zerstört, Dad fassungslos. Meine irre Tante Pat sieht aus, als würde sie das Drama eher genießen, wohl weil sie endlich Gelegenheit hat, dieses Monstrum von Hut aufzusetzen, das wie ein gigantischer Oreo-Keks aussieht. Und dann ist da meine kleine Schwester Mary. Keiner hätte ein wenig Privatsphäre dringender nötig als sie gerade. Arme Schwester. Direkt hinter ihr sitzt meine beste Freundin Jenny, die aussieht, als hätte sie Crystal Meth gefrühstückt und sich im Dunkeln geschminkt. Es gibt so vieles, das ich meiner lieben Jenny sagen möchte, nicht zuletzt, dass sie mir immerzu sagte, ich würde noch zu spät zu meiner eigenen Beerdigung kommen. (Stimmt nicht!)
Beerdigung. Das heißt, ich bin wirklich tot, oder? Ich nehme mal an, dass irgendwer meinen Puls gefühlt hat. Mist. Und wenn nicht ? Was ist, wenn hier ein furchtbarer Irrtum vorliegt?
Ollies schönes Gesicht verrät, dass etwas Schreckliches passiert ist. Seine Augen sind geschwollen, rot und glanzlos, und ihn umgibt eine blaue Aura, kalt wie ein OP-Anzug. Wohingegen Freddie ... Nein, das kann ich nicht. Mein süßer, wundervoller kleiner Freddie.
Wenn ich nur daran denke, dass einer von ihnen auch bloß eine Minute länger ohne mich leben muss, höre ich ein Pfeifgeräusch, ein scheußliches Schrillen, gleich einem stürmischen Wind, der über ein flaches Moor heult, und empfinde nichts als Dunkelheit.
Es gibt keine Worte.
Vor fünf Tagen war ich noch lebendig genug, um mich wahnsinnig darüber aufzuregen, wie Ollie die Teller in den Geschirrspüler geräumt hatte. Lebendig genug, mich über die sechs Pfund zu ärgern, die ich über Weihnachten zugelegt hatte, und mir fest vorzunehmen, mit der Dukan-Diät anzufangen. Lebendig genug, einen Vorsatz für das neue Jahr zu formulieren. Ich hatte angenommen, dass ich noch ein Jahr und danach noch eines habe, und nach dem noch ein Jahr und ...
Okay, spulen wir zurück. Vergessen wir meine Beerdigung und sehen uns an, wie der Vorhang fiel.
Vor fünf Tagen
Es ist ein verregneter Dienstagabend, doch nach dem verkaterten Neujahrsanfang will ich dringend aus dem Haus und jemanden sehen, der nicht zu meiner unmittelbaren Familie gehört. Aber ich bin spät dran. Dauernd bin ich spät dran. Diesmal finde ich meinen einen Stiefel nicht, und das bremst mich ziemlich aus. Mein Mann ist keine Hilfe.
»Auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr liebst du mich?«, fragt Ollie, der unten auf der Treppe hockt, den Kopf auf seine Knie gestützt und mich mit seinen trägen schwarzen Augen beobachtet. Er hat die Augen eines jungen italienischen Liebhabers, obwohl er weder besonders jung noch Italiener ist. Er kommt aus Wigan, in der Nähe von Manchester.
»Neuneinhalb.«
»Als wir uns kennenlernten, war es noch elf.«
»Das war, bevor wir dasselbe Bad benutzten.« Ich hüpfe auf einem Stiefel durch den Flur. Daft Punk plärren aus den Lautsprechern. »Mach das leiser, Ol, ernsthaft jetzt. Wo zur Hölle ist mein anderer Stiefel?«
Ollie zuckt mit den Schultern und hebt Freddie auf seinen Schoß. »Wir haben Mittel und Wege, Mummy davon abzuhalten, dass sie in sexy Stiefeln ausgeht, stimmt's, Freddie?« Ollie und Freddie. Ihre Züge gleichen sich auffallend, nur in unterschiedlichen Farbnuancen. Als sie sich ansehen, grinsen beide auf diese Art, die sicher schon längst irgendwer patentiert hat.
»Ollie, ich habe Jenny ewig nicht gesehen!«
»Ja, seit mindestens vierundzwanzig Stunden.«
»Seit Weihnachten, genau genommen.«
»Schatz, heute ist der sechste Januar.«
Ich ignoriere ihn und fange an, Sachen aus dem Weidenkorb in der Diele zu rupfen: Handschuhe, Regenhüte, Gummistiefeleinlagen aus Fleece, Regenschirme, Reste von Weihnachtspapier, die meiner Neujahrsputzorgie entgangen sind. Pingpong, der unschmusigste Tigerkater in ganz Nordlondon, attackiert einen Handschuh, beißt hinein und schüttelt den Kopf wie wild. »Ein Stiefel kann doch nicht einfach verpuffen! Wie kann das sein?«
»Mummys Stiefel hat die Flucht ergriffen.« Ollie lacht und reibt seine Nase in Freddies blondem Wuschelhaar. »Er ist durch ein Portal in die Welt der verlorenen Sachen, die nie wiedergefunden werden.«
»Wie Dr. Who«, sagt Freddie mit einem ernsten Nicken.
»Wie meine Sonnenbrille. Hast du jemals diese klasse Snowboarding- Brille wiedergesehen, die ich von deiner Schwester zu Weihnachten gekriegt habe, Soph?«
Ich werfe ihm einen genervten Blick zu. Er verlegt dauernd irgendwas, weshalb ich ihn auch in Verdacht habe, maßgeblich am Verschwinden meines Stiefels beteiligt zu sein - und hüpfe ins Wohnzimmer. »Nein, habe ich nicht.«
»Was sollen wir heute Abend essen?«
Mich ärgert, dass er wie selbstverständlich davon ausgeht, alles, was mit Kühlschrank, Vorratsschrank und Supermarkt zusammenhängt, wäre meine Sache, obwohl es so ist. Also sage ich nichts und bücke mich, um unter unser graues Samtsofa zu gucken. Dies ist die Unterwelt, in der Legosteine und Wollmäuse gezüchtet werden.
»Soph ? Ich bin am Verhungern. Was gibt's zum Abendbrot?«
»Die Linsen-Lammfleisch-Suppe von gestern Abend.«
»Ooch. Können wir nicht Fish and Chips essen?«, fragt Freddie. Ollie zwinkert ihm zu, und ich weiß, dass sie sich Fish and Chips holen, wahrscheinlich mit einer dieser arterienfeindlichen Würste und so einem eingelegten Ei, das aussieht wie ein unaussprechliches Körperteil in einem Einweckglas.
»AHA !« Gefunden. Ich schnappe mir einen Gleisabschnitt von der Hot-Wheels-Bahn und angle den Stiefel ein Stück heraus, bis ich dran ziehen kann. Mein Fuß stößt gegen etwas Hartes und Scharfkantiges. Ein Transformer. Als ich den Reißverschluss des Stiefels hochziehe, fühlt er sich eng an. Zu eng, so wie der Bund meiner Jeans, die auf wundersame Weise eingelaufen ist. Ich weiß, dass meine Beine mit Brandy-Sahne, Champagnertrüffeln und Früchtepasteten gestopft wurden wie ein Weihnachtsstrumpf. Mir ist klar, dass mich wochenlanger Verzicht und Frust erwarten, und das ist deprimierend. Ich hasse Diäten. Sie entsprechen schlicht nicht meinem Naturell, denn ich habe gerne mehr von allem: mehr Essen, mehr Sex, mehr Schlaf, mehr Schuhe und mehr Zeit. Warum habe ich immerzu zu wenig Zeit?
Mein Handy bimmelt.
Es ist eine SMS von Jenny. Sie ist in der neuen Tapas-Bar in der Beak Street, wo wir nur deshalb einen Tisch kriegen konnten, weil Londons In-Leute noch in den Cotswolds sind, wo sie Glühwein vor den knisternden Kaminen ihrer Wochenend- Cottages schlürfen. »Dem Kellner tue ich schon leid. Wo steckst du?«
»Unterwegs!«, tippe ich zurück und schlüpfe in meinen weiten schwarzen Kunstpelzmantel. Ich bilde mir ja ein, dass ich in dem Ding ein bisschen nuttigen Hollywood-Glamour verstrahle, auch wenn Ollie meint, das Teil ließe mich wie einen Klobrillenbart auf Beinen aussehen und ginge überhaupt nur, sofern ich darunter nackig bin. Freddie lehnt sich an Ollies Brust und mustert mich mit diesem Blick, den er jedes Mal bekommt, wenn ich mich fein mache - als wäre ich jemand anders und nicht bloß seine Mum.
»Du hast was fallen gelassen, Soph. Hinter dir«, sagt Ollie.
Ich beuge mich nach unten. Nichts. »Was?«
»Ich wollte nur sehen, wie du dich bückst.« Ollie grinst sein schmutziges Rockstargrinsen.
»Ollie!« Ich verdrehe die Augen, obwohl ich es genieße, dass er es nach all den Jahren noch klasse findet, meinen Hintern anzugucken. Ich hauche den beiden Küsschen zu wie ein Filmstar. Schließlich war ich früher vollkommen sicher, dass ich mal ein berühmter Filmstar werde. Das war, bevor ich mit fünfzehn aus dem Samstagsclub flog, weil ich mit meinem Schauspiellehrer geknutscht hatte. »Schön brav sein, Jungs.«
»Wann kommst du wieder, Schönheit?«
»Nicht so spät.« Ich trete aus dem wohlig warmen Haus Nummer 33 hinaus in die kalte Londoner Nacht, die so viele Möglichkeiten verspricht. »Ich liebe euch!«, rufe ich den beiden wie immer zu - und ich meine es immer ernst.
Spulen wir drei Stunden vor. Jenny und ich sind in der Tapas- Bar und haben die zweite Rotweinflasche so gut wie geleert. Inzwischen merke ich die Blase an meinem linken kleinen Zeh fast nicht mehr, die ich mir auf dem Hinweg in den verfluchten Stiefeln geholt habe. Kann man an den Zehen zunehmen? Der Abend beginnt, sich herrlich locker anzufühlen. Wahrscheinlich rede ich zu viel, weil ich über Weihnachten zu viel über alles Erdenkliche nachgegrübelt habe. Und nun kotze ich all meine Sorgen vor Jenny auf den Restauranttisch.
»Willst du die bittere Januarwahrheit hören?«, fragt Jenny, die sich offenbar weigert, mit mir zu leiden.
Ich linse durch meine Finger. »Wenn es sein muss.«
»Die meisten Leute würden für deine Probleme morden.« Zufrieden mit dieser Eröffnung lehnt Jenny sich auf ihrem Stuhl zurück, während der Kellner noch eine Flasche entkorkt und uns die lippenstiftverschmierten Gläser auffüllt. »Und«, fährt sie mit erhobenem Zeigefinger fort, »die meisten Frauen würden für einen Mann wie Ollie morden, wie du sehr wohl weißt, Soph.«
»Das würden sie sich noch mal überlegen, wenn sie erst versucht haben, länger als für die Dauer einer Mad-Men-DVDBox mit ihm zusammenzuleben.«
Sie lacht und guckt mich liebevoll an. Ihre Augen sind rosagerändert, weil sie betrunken ist. Das sind wir beide. »Du bist unbarmherzig, Sophie Brady.«
»Nachtaktiv, komplett unpraktisch. Er ist weniger domestiziert als Freddie.«
Sie bedenkt mich mit einem strengen Blick.
»Ja, ja, offensichtlich will ich ihn gar nicht anders.«
»Und das Problem ist ... ?«
»Gar keines. Es ist bloß der mistige Alltagskram.« Ich trinke von meinem Wein, den ich mittlerweile nicht mehr richtig schmecke. Ja, so weit sind wir schon. »Nichts, was man lösen kann, Jenny. Es kann nun mal nicht alles gelöst werden. Das Leben ist kein Sudoku.«
»Hmmm«, macht sie. Sie glaubt, dass es eine globale Verschwörung gibt, die uns alle dazu bringt, zu viel nachzu denken, damit wir Zeitungen, Versicherungen und Wohlfühlprodukte kaufen »wie Babybel-Käse, das merkwürdigste Nahrungsmittel überhaupt«. Ihre Worte, nicht meine. Ich mag Babybel. Die Wachshülle hat denselben Rotton wie mein üblicher Lippenstift, und ungefähr den Gelbton des Käses nehmen meine Lippen schon mal ungeschminkt an.
»Wenn du seit dem zweiundzwanzigsten Lebensjahr mit jemandem zusammen bist ... Ach, ich weiß nicht. Sicher ist es für ihn nicht anders. Er hatte ja nur zwei Freundinnen vor mir. Wir waren beide so JUNG! Und jetzt sind wir schon länger zusammen, als Blair an der Regierung war. Oder Thatcher.« Ich schwenke den Wein in meinem Glas. Und während ich das tue, denke ich, dass ich es wohl niemals leid werde zuzugucken, wie der Rotwein die Glaswände pink färbt. Kleine Freuden. »Die Wahrheit ist, und, bei Gott, das würde ich niemals zu Ollie sagen, also schwör mir bei deinem Leben, dass du es keinem verrätst, aber mir fehlt, wie es früher war. Du weißt schon, am Anfang. Es ist traurig zu wissen, dass ich diesen adrenalingeschwängerten Lustrausch nie mehr erleben werde. Dass, na ja«, ich imitiere einen schlimmen Cockney-Dialekt, »das mit mich und Ollie was Festes is, ne?«
»Was eigentlich ein viel schönerer Gedanke ist, als dir bewusst sein dürfte, Soph.« Jen guckte ein bisschen wehmütig.
Ich fühle mich mies, weil ich habe was sich jeder wünscht und nicht wahnsinnig dankbar bin. Jetzt sind wir beide ziemlich down, also sollte ich dafür sorgen, dass es wieder lustiger wird. »Aber was ist mit dem Grrr ?«
»Dem was ?«
Ich schnurre wieder. »Dem Grrr, du weißt schon ! Dieses Gefühl.«
Jenny lacht. Ein Paar am Nebentisch, das nicht aussieht, als wäre bei ihm viel Grrr zu wollen, tut so, als würde es uns nicht belauschen. Jetzt krümmt die Frau einen Fuß um ihr Stuhlbein und runzelt die Stirn.
»Überbewertet.« Jennys Pupillen tanzen. Ich liebe es, wie ihre Pupillen tanzen können. Sie ist eine der wenigen Frauen, die betrunken hübscher aussehen, weil sie lockerer wird.
»Ich meine nur, dass ich gerne noch mal das Grrr fühlen möchte, ehe ...« Ich knalle die Hände auf den Tisch, denn Jenny wirkt gelangweilt. »Entschuldige! Ich bin schon ruhig. Bestimmt mache ich nur so ein furchtbares Klischee wie eine Midlife-Crisis durch. Das ist öde, und es tut mir leid.«
»Du musst dich nicht entschuldigen«, erwidert Jenny lachend. »Sag mir einfach Bescheid, wenn's übel wird, denn unsere Midlife-Crisis hat noch nicht mal richtig angefangen, Soph.«
»Doch, ich glaube, bei mir ja. Es wurde jedenfalls schon richtig übel.«
»Wann ?« Sie lacht.
»Bei Sainsbury's, heute Nachmittag.« Ich trinke noch einen Schluck Wein, um mich einzustimmen. »Du kennst doch diese Selbstbedienungskassen, die nie funktionieren, sodass man am Ende immer auf einen echten Menschen warten muss, der kommt und das verdammte Ding entriegelt, weil es spinnt, wenn man mit seiner eigenen Einkaufstasche da ist? ›Unerkannter Artikel im Packbereich!‹ Echt, ich hasse Supermärkte. Und, nein, ich habe keine Nektar-Karte. Nein, ich will auch keine Nektar-Karte!«
»Du bist ein Schnösel.«
»Glaub mir, an dem Tag, an dem ich mir eine Kundenkarte von einem Supermarkt geben lasse, ist es vorbei, Jenny.« Ich kippe noch mehr Wein herunter.
Jenny lehnt sich wieder zurück und betrachtet mich auf ihre prüfende Art. »Du bist zu jung für eine Midlife-Crisis, Soph. Dafür musst du vierzig sein, und du bist fünfunddreißig.« Jenny ist sehr genau. Ihr Verstand ist wie ein nach Farben sortierter begehbarer Kleiderschrank. Meiner ähnelt eher einer überfüllten Dessous-Schublade.
»Ich könnte mit siebzig sterben, womit ich jetzt die Mitte meines Lebens erreicht hätte.« (Posthume Anmerkung : kein seltsames Erschaudern bei diesem Satz.) Ich nehme einen Löffel von der Crème Caramel, deren süßer Geschmack wie ein Kuss ist.
»Frauen sterben nicht mehr mit siebzig. Wir sterben mit zweiundachtzig oder so.« Jenny durchbricht die Kruste ihres Schokodesserts mit dem Löffel, worauf süße Schokocreme ausläuft. Die sieht besser aus als meine Crème Caramel. »Die Kerle sterben zuerst.«
»Gut so. Ollie würde sowieso seine Gehhilfe mit dem Wäscheständer verwechseln und seine Unterhose da drauf drapieren.«
»Das ist fantastisch. Mal probieren?«
Ich lange über den Tisch und gehe mit meinem Löffel auf ihr Dessert los. (Kalorien, die jemand anderem gehören, zählen nicht.) Ja, ihres ist besser als meines. »Aber ist es nicht richtig tragisch, dass wir zu alt sein werden, um unsere Freiheit zu genießen, wenn wir sie endlich kriegen?«
»Nein! Ich freue mich schon aufs Alter.«
Ich versuche, mir uns alt vorzustellen, also wirklich alt. Das ist schwer. Wir sind immer schon jung. Ich kaufe bis heute gepunktete Strumpfhosen bei Topshop, und letztes Jahr habe ich mich in Glastonbury im Schlamm gewälzt - nackt.
»Ich will keine von diesen anstrengenden Frauen werden, die sich krampfhaft bemühen, ewig in den Dreißigern zu bleiben. Ich möchte unterschiedliche Beige-Töne anziehen und Beschwerdebriefe an den BBC schicken, weil in den Filmen zu viele Kraftausdrücke vorkommen. Sonst würde ich mich betrogen fühlen.«
»Wie kommt es, dass du jedes Mal das bessere Dessert bestellst, Jenny ?«
»Ich entscheide mich für die Kalorienbombe. Eine ganz simple Taktik.« Sie wischt sich den Mund mit ihrer Serviette und reibt dabei den Rest ihres rosa Lippenstifts ab. Ohne Make- up sieht sie ungefähr wie zehn aus, wie ein beängstigend kluges Schulmädchen. Es liegt an ihrem hübschen weichen Kindergesicht, den großen blauen Augen und dem permanent nachdenklichen Ausdruck. Jenny ist meine einzige Freundin, die die Wochenendzeitung komplett durchliest, bevor sie in den Magazinbeilagen blättert. Sie verschlingt die großen, schweren Bücher, die man gelesen haben muss, anstelle der witzigen. Sie hat sogar Wölfe von Hilary Mantel bis zu Ende gelesen ! Nebenbei kennt sie auch sämtliche Songtexte von Dolly Parton. »Ich habe vor, das ganze Jahr über mehr Nachspeisen zu essen«, ergänzt sie munter. »Mein Vorsatz fürs neue Jahr lautet, dass ich mich nicht fertigmache, weil ich über fünfundsechzig Kilo wiege. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich lieber Nachtisch esse, als spargeldürr zu sein.«
»Ich auch, ich auch.« Ich lange noch einmal mit meinem Löffel hinüber.
»Fett, glücklich und hemmungslos.«
Schwungvoll erhebe ich mein Glas. »Mein guter Vorsatz war, im Januar nichts zu trinken.«
Jenny erhebt ihr Glas, und wir kichern.
»Fette Gesichter altern übrigens teuflisch gut«, sinniere ich.
»Wohl wahr.«
»Das Geniale ist, dass sich fette Menschen nicht zwischen ihrem Gesicht und ihrem Hintern entscheiden müssen. Sie sagen einfach, ich nehme beides, bitte! Wie im Restaurant.«
»Gutes Argument.« Jenny leckt ihren Löffel ab. »Und weißt du was, Soph? Wenn wir alt sind, also richtig alt, essen wir bei jeder Mahlzeit ein Dessert, denn wen kümmert's?«
»Bis dahin sind die Männer sowieso alle tot. Und die ganzen Dürren sterben an Kohlehydratmangel.« Ich stütze mein Kinn auf und denke an die herrliche Völlerei, die mich erwartet. »Und ich sage dir, Jenny, wenn ich alt bin, trage ich eine von diesen durchsichtigen Regenhauben, damit meine Föhnfrisur nicht nass wird, und ich wippel auf orthopädischen Schuhen mit gefederten Sohlen durch die Gegend. Die fand ich immer schon klasse.« »Wir können zusammen auf Kreuzfahrt gehen.
Kreuzfahrten sind super, aber es muss eine von diesen richtig kitschigen sein, wo sich abends eine Sängerin in einem roten Paillettenkleid auf einem weißen Flügel rekelt und Shirley-Bassey-Songs singt.«
»Unbedingt ! Unbedingt !« Wieder erhebe ich mein Glas, allerdings ein bisschen wacklig. »Wir fahren zu den Galapagos- Inseln. Ich wollte schon immer mal zu den Galapagos-Inseln.«
»Um Schildkröten und unheimliche Riesensteine anzugucken. «
»Das sind die Osterinseln, Nuss.«
»Okay, also auch zu den Osterinseln.«
»Und nach St. Barths. Da lasse ich meine Schamhaare verfilzen und bekiffe mich am Strand, denn, verdammt, wieso nicht?«
»Wollen wir auch nach Vegas? Da können wir unsere Rente verjubeln.«
»Oh ja !«
Einen Moment lang schweigen wir zufrieden, kratzen die Dessertreste von unseren Tellern und genießen es, in diesem Restaurant zu sitzen und den Nachwehen der Weihnachtsferien entkommen zu sein. Wir verschlingen das restliche Brot und gackern kindisch, als ein Kellnerin Slapstick-Manier ein Tablett neben uns fallen lässt. Das Teelicht auf dem Tisch ist fast ausgebrannt, qualmt und zeigt nur noch eine bläuliche Winzflamme. Ich bin angenehm beschwipst und entscheide, jetzt das Thema anzusprechen. »Darf ich fragen, Jenny?«
Ein Blitzen geht durch ihre Augen. Sie will nicht, dass ich frage. »Die Antwort ist nein.«
Ich lehne mich halb auf den Tisch und wärme meine Hände am sterbenden Teelicht. »Aber ich dachte, du wolltest das große Gespräch führen?«
»Das ist geschrumpft. Es wurde zu einem Gespräch darüber, wie man am besten ein Lammcarree zubereitet«, sagt sie kurz angebunden und guckt weg von mir.
»Ich schätze, ihr müsst irgendwann einen Hochzeitstermin festlegen«, sage ich vorsichtig. »Ich meine, du willst doch nicht warten, bis du in den Siebzigern bist und wie Vivienne Westwood aussiehst, wenn du zum Altar schreitest.«
Sie lacht nicht, wie ich gedacht hatte. Stattdessen rümpft sie die Nase. »Es ist völlig normal, ein Jahr lang verlobt zu sein.«
»Das war ein Scherz, Jenny.« Dies ist mein Stichwort, es ihr zu erzählen. Ich öffne den Mund und schließe ihn gleich wieder, ohne dass ein Ton herausgekommen ist. Ich kann Blödsinn reden, bis mir die Stimmbänder bluten, aber hierüber kann ich nicht sprechen. Beste Freundinnen, keine Geheimnisse ? Sicher doch. Aber ich will nicht unser Abendessen ruinieren - oder Schlimmeres. Und sowieso bin ich betrunken. Ja, ja, zu betrunken. Also nehme ich mir vor, nächste Woche bei ihr vorbeizufahren, tagsüber, wenn Sam nicht da ist, und bei Kaffee und Passionsfrucht-Käsekuchen mit ihr zu reden. Sie liebt Käsekuchen. Käsekuchen wird helfen.
Sie beäugt mich misstrauisch. »Ich weiß, dass du ihn nicht magst, Soph.«
»Das ist nicht wahr.«
Schweigen. Uns beiden ist klar, dass die Unterhaltung ins Stocken geraten ist, als hätte sie eine Bremsschwelle erreicht. Wir sehen uns im Restaurant um und lächeln versonnen: Frauen, die zu viel getrunken haben und sich gut genug kennen, um das Thema zu vergessen, bevor wir uns gegenseitig mit unseren Handtaschen verkloppen. Einige der Gäste machen sich zum Aufbruch bereit, lassen sich die Rechnung bringen, gehen noch mal zum Klo. Gleichzeitig kommen die nächsten Gäste herein, rotwangig von einem Theaterbesuch oder einer Bar, übernehmen die freien Tische und bestellen Tapas.
Ein Kellner fragt uns, ob wir noch etwas wollen, was ein dezenter Rauswurf sein soll. Ich sehe auf meine Uhr. »Echt schon so spät ? Mir kommt es vor, als wäre ich erst seit fünf Minunten hier. Ich sollte lieber nach Hause.«
Jenny wirkt enttäuscht. »Aber wir haben Sarahs Affäre noch gar nicht durchgehechelt.«
»Ich weiß, und Maxines neue Zähne auch nicht. Die feilen die echten Zähne auf Shane-McGowan-Stümpfe runter und verblenden sie dann. Ist das nicht total fies?«
»Ich habe gehört, dass diese Kronen dauernd abfallen.«
Ich lache durch die Nase. »Erinnerst du dich, wie mir meine Haar-Extension auf dem Primrose Hill abgeflogen und auf David Walliams Labradoodle gelandet ist?« Ich weiß auch nicht, wieso mir das jetzt wieder einfällt, aber ich sehe es lebhaft vor mir. Dieser fantastische Tag oben auf dem Primrose Hill, ganz London vor uns ausgebreitet; Freddie, damals noch ein Baby, sitzt auf der Picknickdecke und stopft sich Erdbeeren in den Mund. Das alles ist eine Ewigkeit her.
»Und der Hund bespringt dein Haarteil !«
Ich sehe die Zeit auf der großen Uhr der Frau am Nebentisch. Es ist wirklich spät.
Jenny ertappt mich. Sie weiß, was ich denke. »Ist es nicht schlechtes Karma, so viel Wein übrig zu lassen?« Sie malt mit einem Finger über das Flaschenetikett. »Und so guten Wein.«
»Aber es wäre ein bisschen studentenmäßig, zu fragen, ob wir die Flasche mitnehmen können, oder?«
»Wäre es, Soph. Ja.«
»Trotzdem eine Schande.«
»Wärst du rechtzeitig hier gewesen, hätten wir die Flasche jetzt leer.«
»Recht hast du. Was schlägst du vor?«
Jenny füllt unsere Gläser. »Alles andere wäre unhöflich.«
»Du übernimmst die Verantwortung, Jenny.« Ich hickse. »Und ich sage dir gleich, dass ich dir die Schuld gebe, wenn Ollie schimpft, weil ich sturzbesoffen nach Hause komme.«
Sie hält ihr Glas in die Höhe. »Gut, ich übernehme die volle Verantwortung. Dafür sind unverheiratete Freundinnen doch da, nicht? Die verheirateten bei ihren Männern vom Haken zu holen.«
Als wir schließlich das Restaurant verlassen, regnet es draußen. Es schüttet sogar so heftig, dass einen der Guss von der Seite erwischt. Dabei ist es eiskalt, sodass jederzeit Schneeregen droht. Die Straße glänzt nass und wimmelt von Leuten, die zu viel getrunken haben, keinen Regenschirm bei sich und dringend nach Hause wollen. Leuten wie uns, die verzweifelt ein Taxi erwischen wollen. Wir geben es auf, eines in der Beak Street zu finden, und gehen Richtung Regent Street, wo mehr Verkehr ist und die Chance mithin größer. Die Ledersohlen meiner Stiefel glitschen auf dem nassen Pflaster. Ein besetztes Taxi nach dem anderen braust vorbei. Manche knipsen ihre Lichter in dem Moment aus, in dem sie fast bei uns sind; andere werden uns von Nachtschwärmern weggeschnappt, die aus der Great Marlborough Street und vom Fouberts Place kommen. Sie kapern Taxis, die rechtmäßig unsere gewesen wären, weil wir schon seit Jahren warten. Ein eben gestohlenes Taxi schleudert uns einen Schwall Dreckwasser aus einer Pfütze über die Füße.
»Das ist Müll, Jenny. Nehmen wir uns eines von den komischen Taxis.«
»Die Mini-Cab-Fahrer sehen alle wie frisch vom Fahndungsfoto aus.«
»Um diese Zeit steige ich garantiert nicht in die U-Bahn.«
»Juhu !« Jenny packt meine Hand. »Oh, ihr Kleingläubigen. Guck mal, da ist eines, direkt hinter dem Bus.«
Wir beobachten, wie das warme, gelbe Licht in der nassen Dunkelheit näher kommt und langsam heller wird.
»Okay«, sage ich entschlossen und strecke einen Arm raus. »Aufgepasst. Das kriege ich, und wenn es mich umbringt.«
2
Der Sarg war weiß und mit einem vibrierenden Strauß Marshmallow-rosa Lilien geschmückt. Jenny kam er zu klein vor, erbärmlich dürftig. Sich vorzustellen, dass Sophies Leiche - die wunderschöne, witzige, legendäre Sophie - da drinnen lag, seit fünf Tagen tot und kalt wie Lehm, war ihr so gut wie unmöglich. Sie drückte Sams Hand fester und fühlte die steife Manschettenkante seines Hemds an ihrem Handgelenk.
Ein Schluchzen hallte durch die überfüllte Kirche. Jedes Mal, wenn das passierte, was ziemlich häufig war - alle vier oder fünf Atemzüge, wie sie gezählt hatte -, biss Jenny die Zähne zusammen, dass ihre Füllungen knarzten. Sie wusste nicht, wo sie hingucken sollte, deshalb richtete sie ihren Blick auf Ollie, der verloren in der ersten Kirchenbank stand. Seine Kleiderbügelschultern waren neuerdings leicht vorgebeugt, sein Gesicht selbst im fahlen Tageslicht überschattet. Es war, als wäre seine gesamte Kraft in seine linke Hand geflossen, mit der er Freddies hielt. Kein Wunder. Freddie wirkte so herzzerreißend winzig. Seine Kindergestalt wurde von den gigantischen Buntglasfenstern und der gähnenden Weite des Kirchenschiffs auf Liliputanerproportionen geschrumpft.
Ollie und Freddie, die beiden großen Lieben in Sophies Leben, waren flankiert von Ollies gut aussehender Mutter Vicki und, an Freddies anderer Hand, Sophs Mutter Sally. Sally war dünner denn je, nur noch Haut und Knochen in ihrem schwarzen Kostüm, und die einzelne schwarze Feder an ihrem Hut bebte. Mike, Sophs Dad, hatte einen Arm um ihre Schultern geschlungen - wobei er das eine Schulterpolster in einen unglücklichen Winkel schob - und seinen anderen um Sophies Schwester Mary. Das normalerweise hübsche Gesicht der armen Mary war vom Weinen aufgedunsen wie ein Pilz, und das Licht, das durch eine gelbe Fensterscheibe hereinfiel, verlieh ihrer Blässe einen merkwürdigen Farbton.
Zweifellos wünschten sie, dass sie, Jenny, vor den Bus gelaufen wäre anstatt ihrer wundervollen Tochter. Sie war keine Mutter, keine Ehefrau, war nie und würde nie so ein strahlender Stern wie Sophie. Und könnte Jenny es, sie würde ihren Platz einnehmen. Aber es war alles so schnell gegangen. Eine ausgestreckte Hand, ein Ausrutschen, dann das entsetzliche Knirschen von Metall und Knochen. Immer noch sah sie Sophie auf der Straße liegen. Das Bild hatte sich auf ewig in ihr Gedächtnis eingebrannt, ähnlich einer grellen Glühbirne, nachdem man die Augen geschlossen hat.
»Abgemacht.« Das hatte sie gesagt, und es verfolgte sie seither. Egoistisch hatte sie Sophie angespornt, mehr zu trinken. Dabei hätte ihr bewusst sein müssen, dass Sophie Mutter war und sie beide nicht mehr in den Zwanzigern. Sophie trug Verantwortung, wie die meisten Frauen in ihrem Alter. Jenny war der komische Vogel, wollte ihrer Freundin unbedingt so viel Zeit wie möglich abringen, konnte nicht loslassen. Hätte sie Sophie früher nach Hause gehen lassen, hätte es noch nicht geregnet, die Straße wäre nicht glatt gewesen, und dieser Bus wäre irgendwo sonst unterwegs gewesen, nicht in der Regent Street. Genau wie sie.
Wie vom Reverend gebeten - Colin, und Jenny musste daran denken, wie witzig Sophie es gefunden hätte, dass er Colin hieß - hielt sie ihr fotokopiertes Gesangsblatt in die Höhe. Oben war Sophies schönes Gesicht aufgedruckt, sodass das Blatt wie eine Pressemitteilung aussah. Das Papier zitterte, und die Farbe verschmierte unter ihren schwitzenden Fingern. Könnte sie singen ? Sie war verblüfft, dass tatsächlich Töne aus ihrem Mund kamen, keine Schreie. »Jerusalem.« Soph und sie hatten dieses Lied im Laufe der Jahre oft bei Trauungen gesungen. Manche Ehen hatten überdauert, andere nicht. Und keine von ihnen war jemals so glücklich wie Ollies und Sophies. Gewesen. O Gott ! Das Gesangsblatt wackelte heftiger. Es war so, so falsch. Sie blickte hinauf zum Deckengewölbe. Tränen brannten in ihren Augen. Sophie, wo bist du? Bitte, hör auf, tot zu sein. Das ist weder toll noch witzig. Keiner lacht, verdammt!
Sie wollte am liebsten ins Bett kriechen, sich ein Kissen über den Kopf ziehen und sich wieder und wieder Sophies Bandansage auf dem Anrufbeantworter anhören - »Hier ist Soph, wagt ja nicht aufzulegen, ehe ihr eine Nachricht hinterlassen habt!« Vor allem wollte sie so tun, als wäre nichts von dem hier passiert.
»Geht es, Babe?«, flüsterte Sam, der von seinen Einsdreiundachtzig zu ihr hinuntersah.
Sie nickte. Ihr Mund war ausgedörrt, sodass sie zwar singen, aber nicht sprechen konnte. Was nichts Gutes für ihre Rede bedeutete. (Es sei denn, sie sang sie?) Der Trauergottesdienst ging weiter, zog sich quälend lange hin. Es war wie Sophies Trauung, dachte Jenny, nur umgekehrt.
O Gott, die Trauerreden! Sie war nicht mal annähernd bereit, brauchte noch mindestens sechs Monate länger, um sich vorzubereiten. Sophies Schwester Mary ging als Erste nach vorn. Ohne die geschwollenen Augen von ihren Notizen zu heben, versuchte sie sich an einigen Anekdoten von Sophie als Kind : Wie sie einmal ein Katzenbaby auf der Straße fand, das sie »Sock« nannte, und weil sie solche Angst hatte, dass ihr Vater ihr nicht erlaubte, es zu behalten, hatte sie es drei Tage lang in ihrer Wäschekommode versteckt und von Butterkeksen in Milch getunkt ernährt. Als schließlich jemand mitbekam, dass das Kätzchen da war, erklärte Sophie lang und breit, was für eine wunderbare Mutter sie dem Kleinen gewesen war. An dieser Stelle versagte Marys Stimme, und sie musste auf ihren Platz zurückgebracht werden.
Nicht sie jetzt. Noch nicht. Ihr blieben ein paar Minuten, sich zusammenzureißen. Komm schon, Jenny.
Eine andere Rednerin ging mit festen Schritten den Mittelgang hinunter. Jenny sah in das Programm. Suze. Suze Silver. Vage erinnerte sich Jenny, dass Sophie den Namen erwähnt hatte. Eine Schulmutter ? Ja, sie musste wohl eine Schulmutter sein. Suze, mit langem »z«.
Suze hatte ein gerötetes Gesicht unter einem außergewöhnlichen Helm Kraushaar, das auf seine extrem unattraktive Art schon wieder merkwürdig faszinierend war. (Wie konnte sie in all ihrem Kummer auf Haare achten? Was stimmte denn nicht mit ihr?) Suze reckte ihr Kinn, sodass man das große Muttermal darunter sah, das an eine zerdrückte Rosine erinnerte, und begann zu sprechen. Ihre laute Stimme ließ alle respektvoll verstummen, als wäre sie eine evangelische Pastorin. Sie schwärmte von Sophies Engagement für die Schule und die Gemeinde, ihrem Kuchenbacken, der Organisation des Quizabends und davon, dass sie eine der elegantesten Mütter am Schultor gewesen war. Sie erzählte, wie die anderen Mütter scherzten, dass Sophie nie dasselbe Paar Schuhe zweimal trug. Dann, zehn Minuten später, endete die kraushaarige Rednerin. Colin sah erwartungsvoll zu Jenny und zog eine Braue hoch.
»Meinst du, du schaffst das?«, fragte Sam, der sichtlich Zweifel hegte.
Jenny machte sich auf den langen Weg zum Podium, wobei ihre harten Sohlen unangenehm klackerten. Ihre neue schwarze Hose, die sie sich überstürzt online für diesen Anlass bestellt hatte, schnitt beim Gehen in ihre Hüften. Sie war eine Nummer zu klein - Jenny hatte Größe vierzig, nicht achtunddreißig, und wem wollte sie hier was vormachen? Noch dazu war diese Hose von der gekünstelten Förmlichkeit eines Lokalpolitikeranzugs für die Wahlkampagne. Sie wünschte, sie hätte Sophie zu Ehren etwas Ausgefalleneres angezogen. Sophie wäre in Schwarz mit Leopardenprint gekommen, einem Vintage- Kostüm im Stil der Fünfziger, so etwas in der Richtung. Der Weg dauerte ewig, und bei jedem Schritt verschob sich der Hosenbund. Bis sie endlich am Rednerpult stand und zu den Leuten hinuntersah, hatte sich der Reißverschluss verdreht, und die Schrittnaht bohrte sich fi es in ihr Fleisch. Arsch frisst Hose, super. Sophie hätte sich schlappgelacht.
Alle Augen waren auf Jenny gerichtet, und die Anspannung in der Kirche war deutlich zu spüren. Jenny konnte sie sogar hören: Tick, Tick, Tick. Wie ein Elektrozaun.
Notizen. Sie musste nur ihre Rede ablesen, und alles wäre gut. Aber die Schrift verschwamm ihr vor den Augen. Sie schluckte und konzentrierte sich. Die Worte, die sie geschrieben und morgens Sam laut vorgelesen hatte, während sie vor einem Porridge saß, das sie nicht herunterbekam, schienen plötzlich falsch, als handelten sie von jemand anderem, nicht Sophie. Hilflos blickte sie zu den vielen Reihen erwartungsvoller, geröteter, angespannter Mienen und rasch wieder nach unten. Schweiß rann ihr die Nase hinab und tropfte aufs Papier. Ich vermassel das. Ich werde es komplett und vollends vergurken.
Die Pause dehnte sich beklemmend qualvoll aus, als säße man bei einem Arzt und wartete, dass er einem Fäden aus einer Wunde zog. Sie blickte zu Sam, der verlegen dreinschaute. Dann sah sie zu Ollie, und seine traurigen schwarzen Augen wirkten erstaunlich sanft. Er war der eine Mensch, der sie hassen müsste, und tat es nicht.
»Ich habe mir diese Notizen gemacht«, begann sie. Ollie machte ihr Mut. Wenn er so tapfer sein konnte, konnte sie es auch. Das Mikrofon verstärkte ihre Stimme, die nicht wie sie klang - eher wie Margot Leadbetter. »Und sie handeln davon, was für ein wunderbarer Mensch Sophie ...« Sie konnte nicht »war« sagen. Sie konnte es einfach nicht. »Aber das wisst ihr ja alle. Deshalb ist diese Kirche so gerappelt voll. Also werde ich nicht vorlesen, was ich geschrieben habe, und ich bitte alle, Nachsicht mit mir zu haben.« Sam biss sich jetzt auf die Faust, schüttelte den Kopf und guckte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Ich war die Letzte, die Sophie lebend gesehen hat.« Alle hielten hörbar den Atem an. »Und das empfinde ich als ein riesiges Privileg. Wir hatten Spaß an dem Abend, an dem sie gestorben ist. Neben vielem anderem war Soph, meine älteste und beste Freundin, sagenhaft witzig. Sie konnte noch die finstersten Dinge mit Humor nehmen. Sogar hier würde sie noch etwas finden, worüber man lachen kann.« Ollie grinste überrascht, während die anderen sie mit steinernem Ausdruck betrachteten, als hätte sie etwas Furchtbares gesagt. »Und an dem Abend war sie lebendiger, als es die meisten von uns jemals sein werden. Sie war einer dieser Menschen, voller ... Licht und Strahlen, der Mittelpunkt in jedem Raum. Und sie hatte die unverschämteste, lauteste Lache. Wir nannten sie früher ›die Hupe‹.« Hier geriet sie ins Stocken. Aus ihrem Mund kam ein unbeabsichtigtes Ploppen, als würde ihr das Herz wie Brausepulver auf der Zunge explodieren. Es war undenkbar, dass sie »die Hupe« nie wieder hören würde. »Wenn ich an Sophie denke, stelle ich sie mir tanzend vor. Sophie liebte es zu tanzen, und sie scherte sich einen Dr... darum, was irgendwer von ihr dachte. Solche Komplexe, wie wir sie haben, kannte sie gar nicht. Vielmehr liebte sie es, von anderen gesehen zu werden. Was mich auf das nächste Thema bringt, nämlich ...« Hier legte sie eine Pause ein, weil sie unsicher war, was sie als Nächstes sagen sollte. »Hüte! Sophie liebte Hüte, besonders Vintage-Hüte mit Federn, und Kleider mit ausschwingenden Röcken, und Pailletten und Schuhe. Sie war die Hohepriesterin der Schuhe.« Ein kurzes Lachen ging durch die Kirche. Endlich entkrampften sich die Leute. »Sophie konnte alles anziehen, weil sie wunderschön war, vor allem aber, weil sie glücklich war. Sie machte das Glück elegant. Ihre Familie bescherte ihr dieses große Glück und diese Sicherheit, dass sie wunderbar war, wie sie war.« Ollie wischte sich mit seinem knittrigen schwarzen Sakkoärmel die Tränen ab. »Sie war wahnsinnig in Ollie verliebt. Und Freddie ...« Freddie starrte auf den Fußboden, als wollte er dringend verschwinden. »Freddie machte sie zur stolzesten Mutter der Welt.« Ihre Stimme kippte. Sie schniefte und fing sich wieder. »Ich schätze, alles, was ich sagen will, ist, dass ich Sophie immer vermissen werde. Als Freundin und als Mensch ist sie absolut unersetzbar. « Sie sah hinunter auf ihre Notizen, und eine Welle von Selbstzweifeln überkam sie. Was zum Teufel dachte sie sich nur? Aufhören, aufhören! »Das ist alles, ähm, danke.« Als sie ihren entsetzlich langen Weg zurück in ihre Kirchenbank antrat und sich die Blicke in ihre marineblaue Marksand- Spencer-Bluse bohrten, knacksten die ersten Noten von Neil Youngs »Harvest Moon« aus den uralten Lautsprecherboxen. Reihenweise brachen die Leute in Tränen aus - die Freunde, Cousins, Ex-Freunde, Freddies Lehrer, Sophies Friseurin, ihre Putzhilfe, die Musikverlagsfreunde von Ollie, alle, die Sophie gekannt und geliebt hatten, denn wer sie kannte, musste sie ja lieben, was Jenny auch noch hätte sagen müssen. Sie fragte sich, ob die anderen den Song erkannten. Zu ihm hatten Sophie und Ollie den Tanz bei ihrer Hochzeit eröffnet. Jenny schluckte ihre Tränen herunter und reihte sich in den Strom der Trauernden ein, die hinter dem Sarg her auf den Friedhof gingen. Es herrschte gelbliches Licht, und dunkle Wolken brauten sich über dem Kirchturm zusammen. Die Luft roch nach Regen.
»Warum hast du deine Rede im letzten Moment geändert?«, fragte Sam.
»War sie doof?«
Sam zog sie an seinen dunkelblauen Anzug. Es war sein zweitbester. »Nein, deine Rede war ...« Er zögerte. »Süß, wirklich süß, Jenny. Keine Sorge.«
Sie ballte die Fäuste in ihren Jackentaschen. Nichts täte sie lieber, als nach Hause zu fahren, sich ein gigantisches Glas Wein eingießen und Sophie anrufen. Das tat sie immer nach einem miesen Tag. Und dieser war der mieseste überhaupt. Sie drehte sich zu Sam und sah, wie er von Seb, dem bisexuellen Gärtner mit dem Goldzahn, den Sophie ihnen für ihre Blumenkästen empfohlen hatte, in die Menge gezogen wurde. Ohne Sam neben sich fühlte Jenny sich bloßgestellt, beobachtet, der letzte Mensch, der Sophie lebend gesehen hatte, der schlechte Einfluss. Sie wünschte, sie könnte sich wie die anderen Gäste davonschleichen, auf die Straßen Nordlondons und in ihr verändertes Leben zurückkehren. Sie blickte auf ihre Uhr. Nicht mehr lange. Die Beisetzung auf dem Highgate- Friedhof sollte nur im kleinen Familienkreis stattfinden, Gott sei Dank. Sie hätte nicht die Nerven dafür. Ihr Job war, mit Freddie zu Ollie nach Hause zu fahren und ihm Abendessen zu kochen. Und sie war heilfroh, dass sie eine Aufgabe hatte, sich nützlich machen durfte. Ja, sie musste Freddie suchen. Wo war er ? Noch während sie sich zwischen den verwirrenden Hüten und Federgestecken umblickte, bemerkte sie eine Frau, die sich entschlossen ihren Weg zu ihr bahnte. »Jenny !«
Sie erstarrte. Es war die Frau, die von ihrem eigenen Haar gefressen wurde.
»Suze Silver«, stellte sie sich vor, streckte Jenny ihre behandschuhte Hand hin und zerquetschte ihr fast die Finger. »Ich habe ja so viel von dir gehört!«
»Ach ja ?«, fragte sie erschrocken.
»Von Sophie«, erklärte Suze.
Jenny merkte, wie sie rot wurde. »Ja, natürlich.«
Suze kam näher und hauchte Jenny verschwörerisch ihren Keksatem aufs Gesicht. »Du warst aber mutig, so frei zu sprechen. Echt mutig.«
»Danke.« Sie lächelte und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sophies Tod hatte eine klaffende Leere in jede Unterhaltung gerissen. Und dabei wollte jeder immer nur darüber reden.
Suze war unbeirrbar. »Du musst dich furchtbar fühlen ... hier zu sein.« Sie legte eine Pause ein, damit Jenny sie mit den scheußlichen Einzelheiten füllen konnte. »Wo du doch den Unfall miterlebt hast und so«, ergänzte sie, als keine Details kamen.
Jenny wandte den Blick ab. Sie konnte Sophie noch auf dem Asphalt liegen sehen, den Knall und das Quietschen hören.
»Hör mal, tut mir leid, aber wenn du mal reden willst, jederzeit. «
»Danke.« Ich will nicht reden. Vor allem will ich nicht mit dir reden, dachte Jenny. Und ich mag deine lila Handschuhe nicht.
»Und falls es dir nichts ausmacht, melde ich mich mal.«
»Ja ?« Vielleicht könnte sie einfach Suze' Haarberg hinaufklettern und über ihre Schultern hinweg fliehen.
»Ollie wird jede Hilfe brauchen, die er kriegen kann, meinst du nicht auch?«
»Ja, ja, wird er.« Sie lächelte und fühlte sich ein bisschen schlecht, weil sie vorher so verärgert gewesen war. Suze war gewiss eine nette, praktisch veranlagte Frau. Sie war Sophies Freundin. Also startete Jenny einen neuen Versuch und wühlte in ihrer Handtasche, bis sie eine abgegriffene Visitenkarte gefunden hatte. »Hier ist meine Nummer.«
Suze blickte auf die weiße Karte - »Jenny Vale, Redakteurin « - und griente triumphierend. »Super !«
Jenny gab vor, gehen zu müssen, und ließ Suze stehen. Bevor sie weit gekommen war, berührte Ollie sacht ihren Arm. »Hi, Jenny«, sagte er so leise, dass man ihn kaum hörte.
»Es tut mir leid. Es tut mir so unsagbar leid, Ollie.« Die dunkelgraue Wolke umhüllte inzwischen die Kirchturmspitze. Auf einmal fing es zu regnen an, und spitze, eisige Tropfen pieksten in die wunde Haut um Jennys Augen.
Er blickte auf seine Uhr. »Wir gehen jetzt zum ...« Eine halbe Ewigkeit zögerte er, wohl weil er das Wort »Grab« nicht über die Lippen brachte. Jenny nahm seine Hand, weil es sich richtig anfühlte, das zu tun. Doch sowie sie seine Finger in ihren hielt, wusste sie nicht mehr weiter. »... zum Grab.«
»Ich bringe Freddie nach Hause.«
Sie standen einen Moment da und fixierten den verwuschelten blonden Hinterkopf von Freddie. Keiner von ihnen rührte sich, denn sie wollten ihn nicht vom Sarg seiner Mutter wegziehen. Und Jenny hielt immer noch Ollies Hand. Sie sollte sie loslassen.
»Jenny, da ist etwas, das ich dich fragen muss.«
»Ja ?« Sie hatte ein ungutes Gefühl, was das sein könnte, und ließ seine Hand los.
Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Sicher konnte er nicht schlafen. »Hat Sophie über uns geredet, über sie und mich, unsere Ehe, an dem Abend, als sie gestorben ist ?«
Das ungute Gefühl wurde schlimmer. Was konnte sie sagen? Wenn sie ihm die Wahrheit erzählte, könnte er Sophies Worte nach mehreren Gläsern Wein und in einer aufgewühlten Laune als ernsten Vorwurf gegen sich werten, den er nie wieder abschütteln konnte. Und Jenny hatte versprochen, es keinem zu sagen.
»Ich muss wissen, ob ...«
Colin der Reverend unterbrach sie. »Ollie«, flüsterte er und legte eine beringte rosige Hand auf Ollies schwarzen Wollärmel. »Es ist Zeit.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Polly Williams
Polly Williams arbeitet in einem chaotischen Loft im Nordwesten von London. Dort ist es im Sommer brütend heiß, bitterkalt im Winter und niemals still, bis die drei Kinder nicht in der Schule sind. Polly Williams liebt Cornwall, New York, Online Shopping, schweren Rotwein und modere Lyrik. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Bibliographische Angaben
- Autor: Polly Williams
- 2013, 298 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 395569027X
- ISBN-13: 9783955690274
- Erscheinungsdatum: 23.08.2013
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