Der Fluch des Sündenbuchs / Ullstein eBooks (ePub)
Historischer Roman
1618: Die junge Apothekerin Jana und ihr Mann Conrad reisen in die Neue Welt. Sie folgen den Hinweisen des geheimnisvollen Sündenbuchs auf der Suche nach einem sagenumwobenen Schatz im Herzen Amerikas - El Dorado. Doch Gefahren lauern überall: Auf dem Meer...
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Produktinformationen zu „Der Fluch des Sündenbuchs / Ullstein eBooks (ePub)“
1618: Die junge Apothekerin Jana und ihr Mann Conrad reisen in die Neue Welt. Sie folgen den Hinweisen des geheimnisvollen Sündenbuchs auf der Suche nach einem sagenumwobenen Schatz im Herzen Amerikas - El Dorado. Doch Gefahren lauern überall: Auf dem Meer entkommen sie nur knapp Piraten, und an Land erwarten die Schatzsucher dessen feindselige Bewohner. Und dann ist da noch der dunkle Mönch, der Jana und Conrad folgt, seit sie die Alte Welt verlassen haben.
Lese-Probe zu „Der Fluch des Sündenbuchs / Ullstein eBooks (ePub)“
Der Fluch des Sündenbuchs von Beate MalyLondon,
September 1618
Aqua Vitae. Das Getränk wärmte den Magen, vernebelte die Sinne und half dabei, die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten zu vergessen. Es war Richard Waltons Lebenselixier. Der Saft, der ihn am Leben hielt, seine Medizin gegen Selbstzweifel und Angst, die ihn großzügig alle eigenen Fehler verzeihen ließ. Nichts hätte er im Moment dringender gebraucht als jenen starken Brand gemalzter Gerste, den man in der Heimat seiner Mutter Usquebaugh nannte. Ein Wort, das nur aus dem Mund eines Schotten so klang, wie der Brand schmeckte: herb, scharf und, erst wenn er längst den Gaumen passiert hatte, überraschend malzig mild. Aber ausgerechnet jetzt war Richard so trocken wie selten zuvor. Dabei befand er sich an einem der feuchtesten Orte der Stadt: auf einem wackeligen Ruderboot mitten auf der Themse.
Angeekelt hielt er sich die Hand vor Nase und Mund, um sich vor dem entsetzlichen Gestank zu schützen, der vom Wasser her aufstieg. Er hasste schlechte Gerüche. Konnte es sein, dass alle Bewohner Londons ihren Abfall in den Fluss kippten? Schwamm dahinten ein totes Kaninchen? Oder waren es die Überreste eines üppigen Abendessens? Wegen des immer dichter werdenden Nebels und der mondlosen Dunkelheit der Nacht konnte Richard nicht erkennen, worum es sich bei dem leblosen Bündel handelte, das auf der schwarzen Wasseroberfläche neben ihm trieb. Süßlicher Leichengeruch stieg ihm in die Nase, und er schluckte hart, um ein Würgen zu unterdrücken. Vergeblich versuchte er seine Gedanken auf erfreulichere Dinge zu lenken, zum Beispiel auf seine hübsche Frau Julia. Aber sosehr er sich auch konzentrierte, das Bild wollte nicht auftauchen.
... mehr
Nun durchdrang die stinkende, feuchtkalte Nachtluft seinen Mantel und kroch ihm bis unter die Haut. Richard zitterte, doch das Klappern seiner Zähne rührte nicht von der Kälte, sondern von seiner Angst. Sein Ziel war der Tower. Er war noch nie zuvor in der Festung gewesen. Es hieß, nur wenige Männer, die das Gebäude betraten, verließen es lebend.
Was hätte er jetzt für eine Flasche Aqua Vitae gegeben. Das Getränk hätte ihm geholfen, sein Zittern zu verbergen. Aber bevor er in das wackelige Boot des alten Fährmanns gestiegen war, hatte Tom ihm die Flasche mit dem kostbaren Inhalt abgenommen. Wie einem Kleinkind, dem man ein Stück Kuchen verweigerte.
»Denkt an Julia«, hatte der Diener seiner Frau gesagt und ihn anklagend angesehen. So wie er es immer tat, wenn Richard sich Mut antrank, was in den letzten Jahren immer öfter geschehen war. Er wusste genau, warum er den Saft dringend brauchte, doch die Antwort war so entsetzlich, dass er sie vergessen wollte.
Sein Boot, das bisher lautlos durchs eiskalte Wasser geglitten war, schrammte nun unsanft gegen eine graue Steinmauer, die plötzlich aus dem dicken Nebel auftauchte.
Der Fährmann, ein alter, zahnloser Mann mit einem Mantel, der aussah, als diente er einem ganzen Heer von Wanzen und Flöhen als Unterkunft, hob den Kopf und nickte ihm zu. Sie hatten ihr Ziel erreicht.
Nur widerwillig erhob sich Richard von der nassen Holzbank. Er war das Schwanken des kleinen Bootes nicht gewöhnt und wankte unbeholfen an dem alten Mann vorbei, bemüht, den Mantel nicht zu berühren. Ungeschickt kletterte er eine feuchte, glitschige Strickleiter hoch. Seine glatten Stiefelsohlen und seine klammen Finger drohten am kalten Schleim, den Wasser und Algen hinterlassen hatten, abzurutschen. Aber er gelangte oben an, landete allerdings unsanft auf allen vieren. Schon als Kind hatte er Klettern und Balancieren gehasst. Warum sollte er jetzt als Erwachsener Freude daran haben?
Für einen kurzen Moment war er dankbar für den dichten Nebel und die Dunkelheit. Erst als er sich wieder aufrichtete und rasch seine Hosen abklopfte, erblickte er den jungen Wachmann in königlicher Uniform. Richards Unbehagen wuchs. Was hatte er erwartet? Dass man ihn allein in den Tower spazieren ließ? Der Bursche war sehr jung, Richard schätzte ihn auf zwanzig Lenze oder weniger. Trotzdem hatte er Schultern, die doppelt so breit waren wie Richards. In seiner Linken hielt er eine rußende Fackel, seine Rechte ruhte auf dem Griff einer Waffe. Ein Degen, der in einem ledernen Gürtel steckte.
»Master Richard Walton?«, fragte der Junge. Seine Stimme überschlug sich, als wäre er immer noch im Stimmbruch.
»Habt Ihr jemand anderen erwartet?«, fragte Richard, bemüht, lässig zu klingen.
Der Junge antwortete nicht und bedeutete ihm zu folgen. Seine schweren Stiefel knirschten laut auf dem gekiesten Weg. Er führte Richard durch die Byward-Seitenpforte gegenüber dem Ende der Mint Street. Das kleine Tor wurde durch ein keilförmiges Türmchen geschützt. Der Bau stammte noch aus der Regierungszeit Eduard I., trotzdem war er mit Schießscharten versehen, die dem neuesten Stand der Technik entsprachen. Im Moment war der kleine Turm unbewacht.
»Hier entlang«, sagte der junge Bursche.
Richard beeilte sich, mit dem Jungen mitzuhalten. Auf jeden Schritt des Burschen kamen zwei von Richard. Er stellte sich vor, dass er aussah wie eine der zappelnden Puppen seiner vierjährigen Tochter Mary. Der Gedanke amüsierte ihn.
Zu Richards Linken erhob sich eine massive Mauer, sie musste Teil des Bell Towers sein. Wenn es stimmte, was Tom ihm erzählt hatte, würde er nun gleich den Bloody Tower erreichen, jenen Turm, der für besonders prominente Gefangene vorgesehen war. Der Diener seiner Frau hatte Richard nicht verraten, warum er so genau über den Tower Bescheid wusste, und Richard hatte nicht nachgefragt. Es gab Dinge im Leben eines jeden Mannes, über die man besser schwieg.
Vor einer schweren Holztür stand ein weiterer Wachmann in königlicher Uniform. Er war deutlich älter als Richards Begleiter und mindestens doppelt so dick.
»Wurde aber auch Zeit«, brummte er unfreundlich, öffnete die beschlagene Tür und ließ die beiden eintreten.
Richard wich dem eisigen Blick des dicken Wachmanns aus und heftete sich dem Jungen an die Fersen. Rasch lief er hinter ihm her und folgte ihm über eine schmale, ausgetretene Steintreppe. Um im Dunkeln auf dem glatten Stein nicht auszurutschen, hielt er sich mit seiner Rechten an der rauen Steinmauer fest.
Vor einer niedrigen Holztür blieb der Uniformierte stehen, klopfte und holte gleichzeitig einen schweren Schlüsselbund unter seinem Rock hervor. Mit einem besonders großen Schlüssel sperrte er die Tür auf und stieß sie vorsichtig auf.
Einladende Wärme, der behagliche Schein eines offenen Kaminfeuers und der köstliche Duft gebratenen Hühnchens schlugen Richard entgegen.
»Sir, Euer Besuch ist da«, sagte der Bursche. Er sprach mit der Unterwürfigkeit eines Bediensteten, nicht mit der Strenge eines Gefängniswärters.
»Lasst uns allein!« Der Befehl kam aus dem hintersten Teil des Raums, von dort, wo sich ein offener Kamin befand. In einem komfortablen, breiten Holzstuhl neben dem knisternden Feuer saß ein alter Mann. Sir Walter Raleigh. Er war einst einer der einflussreichsten Männer des Reichs, Abenteurer, Entdecker und Pirat von Elisabeth I. gewesen, heute war er ein zum Tode verurteilter Gefangener.
Der junge Wachmann verbeugte sich und verließ ohne sich dabei umzudrehen den Raum.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, zuckte Richard zusammen. Es war anzunehmen, dass der König nichts von seinem Besuch wusste. Was, wenn der junge Bursche ihn nicht wieder abholte und zurückbrachte? Würde man ihn gemeinsam mit Raleigh köpfen? Er spürte, wie seine Hände feucht wurden, dabei fürchtete er den Tod seit langem nicht mehr. Dennoch zitterte er heftig. Nur ein Schluck Aqua Vitae, und er würde sich deutlich besser fühlen.
Vorsichtig schaute er sich um. Der Raum war prunkvoll eingerichtet. Verglaste Fenster, gerahmte Bilder an den weiß getünchten Wänden, ein massives Schreibpult, eine Truhe, ein Himmelbett, zwei kunstvoll verzierte Stühle vor einem Tisch, einladend gedeckt mit einer köstlichen, aber noch unberührten Abendmahlzeit. Es gab unerfreulichere Orte in der Stadt und ganz sicher auch im Tower.
»Nehmt Euch einen Stuhl und kommt zu mir«, sagte Raleigh. Es war mehr ein Befehl als eine freundliche Aufforderung. Der alte Mann hatte trotz seiner Gefangenschaft nichts an Würde eingebüßt. Unter einer bestickten Samtjacke trug er ein makelloses Hemd mit sauberem Spitzenkragen. Sein schütteres Haar war penibel frisiert, sein Bart säuberlich gestutzt. Sicher kam regelmäßig ein Diener, der ihm bei seiner Toilette half und ihm seine schmutzige Kleidung abnahm, um sie zu waschen. Kerzengerade saß Raleigh in seinem Stuhl und beobachtete jede von Richards Bewegungen. Etwas ungeschickt schnappte dieser einen der Stühle beim Esstisch. Die Holzbeine scharrten über den sauber gekehrten Steinfußboden. Richard trug den Stuhl zum Feuer. Rasch wurde ihm in seinem dicken Wollmantel heiß. Aber er weigerte sich, das Kleidungsstück auszuziehen, denn er wollte keinen Moment länger als notwendig hier verbringen.
»Ihr fragt Euch sicher, warum ich Euch an diesen garstigen Ort bestellt habe«, begann Raleigh. Auf einem kleinen Beistelltischchen neben seinem Stuhl standen ein Weinkelch und ein Krug aus geschliffenem Glas. Die Flüssigkeit funkelte rubinrot im Licht des offenen Kamins. Richards Kehle war ausgedörrt. Er schleckte mit der Zunge über seine trockenen Lippen.
»Ich bin mit Eurer Tochter verheiratet«, sagte er vorsichtig. Er wollte nicht zugeben, dass er gekommen war, weil Tom ihn dazu überredet hatte, der Einladung nachzugehen. Von sich aus hätte er das Schreiben heimlich verschwinden lassen.
»Ihr seid mit meiner unehelichen Tochter verheiratet«, korrigierte Raleigh ihn. Es klang bitter, und in den Augen des alten Mannes lag Bedauern. Julia hatte Richard erzählt, dass Raleigh ihre Mutter aufrichtig und innig geliebt hatte und sie geheiratet hätte, wenn die Umstände andere gewesen wären. Aber wie so oft, war es zu keiner Ehe gekommen, weil Julias Mutter weder die richtige gesellschaftliche Stellung gehabt noch über die entsprechende Mitgift verfügt hatte. Sie war nicht einmal eine Engländerin gewesen, sondern war mit ihren Eltern aus Hamburg zugewandert.
So als könnte Raleigh Richards Gedanken lesen, schüttelte er den Kopf und fuhr mit ernster Stimme fort: »Ich habe Julias Mutter bis zu ihrem Tod finanziell unterstützt und danach Julia. Gott ist mein Zeuge, und niemand kann das besser wissen als Ihr.«
Richard zuckte mit den Schultern. Wohl wissend, dass es besser war zu schweigen als zu erwähnen, dass das Geld nie ausgereicht hatte. Sicher wusste Raleigh von Richards Vorliebe für Aqua Vitae. Julias kleiner Wollladen hatte nicht genug Geld abgeworfen, und letzten Monat hätten sie beinahe das kleine Häuschen in der Roseline räumen müssen. Aber irgendwie hatte seine Frau es geschafft, die Gläubiger zu beruhigen.
Raleigh holte Richard aus seinen Überlegungen: »Nächste Woche werde ich einen Kopf kürzer gemacht, und das ist sowohl für mich als auch für Julia unerfreulich. «
Etwas an dem Satz irritierte Richard. Wo war die Angst in Raleighs Stimme? War der Vater seiner Frau ein begnadeter Schauspieler, ein Freund des verstorbenen William Shakespeares womöglich, oder hatte er tatsächlich keine Angst vor dem Tod?
»Weder meine Frau noch meine Kinder werden sich um Julia kümmern. Verständlicherweise haben sie kein Interesse an ihr. Meine Familie muss froh sein, wenn sie ihren eigenen Lebensstandard halten kann. Deshalb liegt es nun an Euch, tatsächlich für Julia und Eure Kinder zu sorgen.«
Richard öffnete den Mund, um etwas einzuwenden, aber Raleigh hielt ihn mit einer ungehaltenen Handbewegung davon ab.
»Die wenigen Stunden, die mir noch bleiben, sind zu kostbar, als dass ich Eure armseligen Entschuldigungen hören möchte.«
Richard fühlte sich ertappt. Verlegen blickte er zu Boden und klopfte mit seinen Fingern auf die Oberschenkel. Hätte er sich bloß nicht von Tom zu diesem Besuch überreden lassen. Während Raleigh ihn schweigend musterte, wurde er immer nervöser. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und seiner Oberlippe. Am liebsten wäre er aufgestanden. Warum tat er es nicht einfach?
Schließlich brach Raleigh das Schweigen und sagte: »Ihr seid ein Versager, der beim kleinsten Problem zur Flasche greift. Julia hat etwas Besseres als Euch verdient.«
Richard hob seinen Kopf und erwiderte gekränkt: »Wie ich meine Probleme zu lösen versuche, ist meine Sache.«
»Das sehe ich anders. Ihr tragt die Verantwortung für Eure Frau und Eure Kinder.«
Copyright © Ullstein Verlag.
Nun durchdrang die stinkende, feuchtkalte Nachtluft seinen Mantel und kroch ihm bis unter die Haut. Richard zitterte, doch das Klappern seiner Zähne rührte nicht von der Kälte, sondern von seiner Angst. Sein Ziel war der Tower. Er war noch nie zuvor in der Festung gewesen. Es hieß, nur wenige Männer, die das Gebäude betraten, verließen es lebend.
Was hätte er jetzt für eine Flasche Aqua Vitae gegeben. Das Getränk hätte ihm geholfen, sein Zittern zu verbergen. Aber bevor er in das wackelige Boot des alten Fährmanns gestiegen war, hatte Tom ihm die Flasche mit dem kostbaren Inhalt abgenommen. Wie einem Kleinkind, dem man ein Stück Kuchen verweigerte.
»Denkt an Julia«, hatte der Diener seiner Frau gesagt und ihn anklagend angesehen. So wie er es immer tat, wenn Richard sich Mut antrank, was in den letzten Jahren immer öfter geschehen war. Er wusste genau, warum er den Saft dringend brauchte, doch die Antwort war so entsetzlich, dass er sie vergessen wollte.
Sein Boot, das bisher lautlos durchs eiskalte Wasser geglitten war, schrammte nun unsanft gegen eine graue Steinmauer, die plötzlich aus dem dicken Nebel auftauchte.
Der Fährmann, ein alter, zahnloser Mann mit einem Mantel, der aussah, als diente er einem ganzen Heer von Wanzen und Flöhen als Unterkunft, hob den Kopf und nickte ihm zu. Sie hatten ihr Ziel erreicht.
Nur widerwillig erhob sich Richard von der nassen Holzbank. Er war das Schwanken des kleinen Bootes nicht gewöhnt und wankte unbeholfen an dem alten Mann vorbei, bemüht, den Mantel nicht zu berühren. Ungeschickt kletterte er eine feuchte, glitschige Strickleiter hoch. Seine glatten Stiefelsohlen und seine klammen Finger drohten am kalten Schleim, den Wasser und Algen hinterlassen hatten, abzurutschen. Aber er gelangte oben an, landete allerdings unsanft auf allen vieren. Schon als Kind hatte er Klettern und Balancieren gehasst. Warum sollte er jetzt als Erwachsener Freude daran haben?
Für einen kurzen Moment war er dankbar für den dichten Nebel und die Dunkelheit. Erst als er sich wieder aufrichtete und rasch seine Hosen abklopfte, erblickte er den jungen Wachmann in königlicher Uniform. Richards Unbehagen wuchs. Was hatte er erwartet? Dass man ihn allein in den Tower spazieren ließ? Der Bursche war sehr jung, Richard schätzte ihn auf zwanzig Lenze oder weniger. Trotzdem hatte er Schultern, die doppelt so breit waren wie Richards. In seiner Linken hielt er eine rußende Fackel, seine Rechte ruhte auf dem Griff einer Waffe. Ein Degen, der in einem ledernen Gürtel steckte.
»Master Richard Walton?«, fragte der Junge. Seine Stimme überschlug sich, als wäre er immer noch im Stimmbruch.
»Habt Ihr jemand anderen erwartet?«, fragte Richard, bemüht, lässig zu klingen.
Der Junge antwortete nicht und bedeutete ihm zu folgen. Seine schweren Stiefel knirschten laut auf dem gekiesten Weg. Er führte Richard durch die Byward-Seitenpforte gegenüber dem Ende der Mint Street. Das kleine Tor wurde durch ein keilförmiges Türmchen geschützt. Der Bau stammte noch aus der Regierungszeit Eduard I., trotzdem war er mit Schießscharten versehen, die dem neuesten Stand der Technik entsprachen. Im Moment war der kleine Turm unbewacht.
»Hier entlang«, sagte der junge Bursche.
Richard beeilte sich, mit dem Jungen mitzuhalten. Auf jeden Schritt des Burschen kamen zwei von Richard. Er stellte sich vor, dass er aussah wie eine der zappelnden Puppen seiner vierjährigen Tochter Mary. Der Gedanke amüsierte ihn.
Zu Richards Linken erhob sich eine massive Mauer, sie musste Teil des Bell Towers sein. Wenn es stimmte, was Tom ihm erzählt hatte, würde er nun gleich den Bloody Tower erreichen, jenen Turm, der für besonders prominente Gefangene vorgesehen war. Der Diener seiner Frau hatte Richard nicht verraten, warum er so genau über den Tower Bescheid wusste, und Richard hatte nicht nachgefragt. Es gab Dinge im Leben eines jeden Mannes, über die man besser schwieg.
Vor einer schweren Holztür stand ein weiterer Wachmann in königlicher Uniform. Er war deutlich älter als Richards Begleiter und mindestens doppelt so dick.
»Wurde aber auch Zeit«, brummte er unfreundlich, öffnete die beschlagene Tür und ließ die beiden eintreten.
Richard wich dem eisigen Blick des dicken Wachmanns aus und heftete sich dem Jungen an die Fersen. Rasch lief er hinter ihm her und folgte ihm über eine schmale, ausgetretene Steintreppe. Um im Dunkeln auf dem glatten Stein nicht auszurutschen, hielt er sich mit seiner Rechten an der rauen Steinmauer fest.
Vor einer niedrigen Holztür blieb der Uniformierte stehen, klopfte und holte gleichzeitig einen schweren Schlüsselbund unter seinem Rock hervor. Mit einem besonders großen Schlüssel sperrte er die Tür auf und stieß sie vorsichtig auf.
Einladende Wärme, der behagliche Schein eines offenen Kaminfeuers und der köstliche Duft gebratenen Hühnchens schlugen Richard entgegen.
»Sir, Euer Besuch ist da«, sagte der Bursche. Er sprach mit der Unterwürfigkeit eines Bediensteten, nicht mit der Strenge eines Gefängniswärters.
»Lasst uns allein!« Der Befehl kam aus dem hintersten Teil des Raums, von dort, wo sich ein offener Kamin befand. In einem komfortablen, breiten Holzstuhl neben dem knisternden Feuer saß ein alter Mann. Sir Walter Raleigh. Er war einst einer der einflussreichsten Männer des Reichs, Abenteurer, Entdecker und Pirat von Elisabeth I. gewesen, heute war er ein zum Tode verurteilter Gefangener.
Der junge Wachmann verbeugte sich und verließ ohne sich dabei umzudrehen den Raum.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, zuckte Richard zusammen. Es war anzunehmen, dass der König nichts von seinem Besuch wusste. Was, wenn der junge Bursche ihn nicht wieder abholte und zurückbrachte? Würde man ihn gemeinsam mit Raleigh köpfen? Er spürte, wie seine Hände feucht wurden, dabei fürchtete er den Tod seit langem nicht mehr. Dennoch zitterte er heftig. Nur ein Schluck Aqua Vitae, und er würde sich deutlich besser fühlen.
Vorsichtig schaute er sich um. Der Raum war prunkvoll eingerichtet. Verglaste Fenster, gerahmte Bilder an den weiß getünchten Wänden, ein massives Schreibpult, eine Truhe, ein Himmelbett, zwei kunstvoll verzierte Stühle vor einem Tisch, einladend gedeckt mit einer köstlichen, aber noch unberührten Abendmahlzeit. Es gab unerfreulichere Orte in der Stadt und ganz sicher auch im Tower.
»Nehmt Euch einen Stuhl und kommt zu mir«, sagte Raleigh. Es war mehr ein Befehl als eine freundliche Aufforderung. Der alte Mann hatte trotz seiner Gefangenschaft nichts an Würde eingebüßt. Unter einer bestickten Samtjacke trug er ein makelloses Hemd mit sauberem Spitzenkragen. Sein schütteres Haar war penibel frisiert, sein Bart säuberlich gestutzt. Sicher kam regelmäßig ein Diener, der ihm bei seiner Toilette half und ihm seine schmutzige Kleidung abnahm, um sie zu waschen. Kerzengerade saß Raleigh in seinem Stuhl und beobachtete jede von Richards Bewegungen. Etwas ungeschickt schnappte dieser einen der Stühle beim Esstisch. Die Holzbeine scharrten über den sauber gekehrten Steinfußboden. Richard trug den Stuhl zum Feuer. Rasch wurde ihm in seinem dicken Wollmantel heiß. Aber er weigerte sich, das Kleidungsstück auszuziehen, denn er wollte keinen Moment länger als notwendig hier verbringen.
»Ihr fragt Euch sicher, warum ich Euch an diesen garstigen Ort bestellt habe«, begann Raleigh. Auf einem kleinen Beistelltischchen neben seinem Stuhl standen ein Weinkelch und ein Krug aus geschliffenem Glas. Die Flüssigkeit funkelte rubinrot im Licht des offenen Kamins. Richards Kehle war ausgedörrt. Er schleckte mit der Zunge über seine trockenen Lippen.
»Ich bin mit Eurer Tochter verheiratet«, sagte er vorsichtig. Er wollte nicht zugeben, dass er gekommen war, weil Tom ihn dazu überredet hatte, der Einladung nachzugehen. Von sich aus hätte er das Schreiben heimlich verschwinden lassen.
»Ihr seid mit meiner unehelichen Tochter verheiratet«, korrigierte Raleigh ihn. Es klang bitter, und in den Augen des alten Mannes lag Bedauern. Julia hatte Richard erzählt, dass Raleigh ihre Mutter aufrichtig und innig geliebt hatte und sie geheiratet hätte, wenn die Umstände andere gewesen wären. Aber wie so oft, war es zu keiner Ehe gekommen, weil Julias Mutter weder die richtige gesellschaftliche Stellung gehabt noch über die entsprechende Mitgift verfügt hatte. Sie war nicht einmal eine Engländerin gewesen, sondern war mit ihren Eltern aus Hamburg zugewandert.
So als könnte Raleigh Richards Gedanken lesen, schüttelte er den Kopf und fuhr mit ernster Stimme fort: »Ich habe Julias Mutter bis zu ihrem Tod finanziell unterstützt und danach Julia. Gott ist mein Zeuge, und niemand kann das besser wissen als Ihr.«
Richard zuckte mit den Schultern. Wohl wissend, dass es besser war zu schweigen als zu erwähnen, dass das Geld nie ausgereicht hatte. Sicher wusste Raleigh von Richards Vorliebe für Aqua Vitae. Julias kleiner Wollladen hatte nicht genug Geld abgeworfen, und letzten Monat hätten sie beinahe das kleine Häuschen in der Roseline räumen müssen. Aber irgendwie hatte seine Frau es geschafft, die Gläubiger zu beruhigen.
Raleigh holte Richard aus seinen Überlegungen: »Nächste Woche werde ich einen Kopf kürzer gemacht, und das ist sowohl für mich als auch für Julia unerfreulich. «
Etwas an dem Satz irritierte Richard. Wo war die Angst in Raleighs Stimme? War der Vater seiner Frau ein begnadeter Schauspieler, ein Freund des verstorbenen William Shakespeares womöglich, oder hatte er tatsächlich keine Angst vor dem Tod?
»Weder meine Frau noch meine Kinder werden sich um Julia kümmern. Verständlicherweise haben sie kein Interesse an ihr. Meine Familie muss froh sein, wenn sie ihren eigenen Lebensstandard halten kann. Deshalb liegt es nun an Euch, tatsächlich für Julia und Eure Kinder zu sorgen.«
Richard öffnete den Mund, um etwas einzuwenden, aber Raleigh hielt ihn mit einer ungehaltenen Handbewegung davon ab.
»Die wenigen Stunden, die mir noch bleiben, sind zu kostbar, als dass ich Eure armseligen Entschuldigungen hören möchte.«
Richard fühlte sich ertappt. Verlegen blickte er zu Boden und klopfte mit seinen Fingern auf die Oberschenkel. Hätte er sich bloß nicht von Tom zu diesem Besuch überreden lassen. Während Raleigh ihn schweigend musterte, wurde er immer nervöser. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und seiner Oberlippe. Am liebsten wäre er aufgestanden. Warum tat er es nicht einfach?
Schließlich brach Raleigh das Schweigen und sagte: »Ihr seid ein Versager, der beim kleinsten Problem zur Flasche greift. Julia hat etwas Besseres als Euch verdient.«
Richard hob seinen Kopf und erwiderte gekränkt: »Wie ich meine Probleme zu lösen versuche, ist meine Sache.«
»Das sehe ich anders. Ihr tragt die Verantwortung für Eure Frau und Eure Kinder.«
Copyright © Ullstein Verlag.
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Autoren-Porträt von Beate Maly
Beate Maly, geboren in Wien, ist Autorin zahlreicher Kinderbücher, Sachbücher und historischer Romane. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Wien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Beate Maly
- 2013, 1. Auflage, 480 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706344
- ISBN-13: 9783843706346
- Erscheinungsdatum: 11.11.2013
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 3.26 MB
- Ohne Kopierschutz
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