Der Prinzessinnenmörder / Kreuthner und Wallner Bd.1 (ePub)
Kriminalroman
In der Idylle lauert das Grauen:
der erste Teil der Krimi-Reihe um die Kult-Ermittler Wallner und Kreuthner vom Tegernsee von Bestseller-Autor Andreas Föhr
An einem eisigen Januarmorgen wird im zugefrorenen oberbayerischen Spitzingsee die Leiche eines...
der erste Teil der Krimi-Reihe um die Kult-Ermittler Wallner und Kreuthner vom Tegernsee von Bestseller-Autor Andreas Föhr
An einem eisigen Januarmorgen wird im zugefrorenen oberbayerischen Spitzingsee die Leiche eines...
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Produktinformationen zu „Der Prinzessinnenmörder / Kreuthner und Wallner Bd.1 (ePub)“
In der Idylle lauert das Grauen:
der erste Teil der Krimi-Reihe um die Kult-Ermittler Wallner und Kreuthner vom Tegernsee von Bestseller-Autor Andreas Föhr
An einem eisigen Januarmorgen wird im zugefrorenen oberbayerischen Spitzingsee die Leiche eines 15-jährigen Mädchens gefunden. Kurioses Detail: Sie wurde durch einen Stich mitten ins Herz getötet und trägt ein goldenes Brokatkleid. Als man im Mund des Opfers eine Plakette mit einer eingravierten Eins findet, ahnt Kommissar Wallner von der Kripo Miesbach, dass dies nur der Anfang einer grauenvollen Mordserie ist. Mehr oder weniger vorschriftsmäßig unterstützt vom ewig grantelnden Polizeiobermeister Kreuthner, beginnt Wallner mit den Ermittlungen, die ihn zu einem schicksalsträchtigen Tag zurückführen ...
Mit Kommissar Clemens Wallner und Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner, dem »Leichen-Leo«, hat der erfolgreiche Drehbuch-Autor Andreas Föhr ein Ermittler-Duo geschaffen, das längst Kult-Status genießt. Spannende Fälle, schwarzer Humor und ein typisch bayerischer Anarchismus zeichnen seine Krimi-Reihe aus.
Alle Bände der »Wallner & Kreuthner«-Krimis auf einen Blick:
Band 1 - Prinzessinnenmörder
Band 2 - Schafkopf
Band 3 - Karwoche
Band 4 - Schwarze Piste
Band 5 - Totensonntag
Band 6 - Wolfsschlucht
Band 7 - Schwarzwasser
Band 8 - Tote Hand
der erste Teil der Krimi-Reihe um die Kult-Ermittler Wallner und Kreuthner vom Tegernsee von Bestseller-Autor Andreas Föhr
An einem eisigen Januarmorgen wird im zugefrorenen oberbayerischen Spitzingsee die Leiche eines 15-jährigen Mädchens gefunden. Kurioses Detail: Sie wurde durch einen Stich mitten ins Herz getötet und trägt ein goldenes Brokatkleid. Als man im Mund des Opfers eine Plakette mit einer eingravierten Eins findet, ahnt Kommissar Wallner von der Kripo Miesbach, dass dies nur der Anfang einer grauenvollen Mordserie ist. Mehr oder weniger vorschriftsmäßig unterstützt vom ewig grantelnden Polizeiobermeister Kreuthner, beginnt Wallner mit den Ermittlungen, die ihn zu einem schicksalsträchtigen Tag zurückführen ...
Mit Kommissar Clemens Wallner und Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner, dem »Leichen-Leo«, hat der erfolgreiche Drehbuch-Autor Andreas Föhr ein Ermittler-Duo geschaffen, das längst Kult-Status genießt. Spannende Fälle, schwarzer Humor und ein typisch bayerischer Anarchismus zeichnen seine Krimi-Reihe aus.
Alle Bände der »Wallner & Kreuthner«-Krimis auf einen Blick:
Band 1 - Prinzessinnenmörder
Band 2 - Schafkopf
Band 3 - Karwoche
Band 4 - Schwarze Piste
Band 5 - Totensonntag
Band 6 - Wolfsschlucht
Band 7 - Schwarzwasser
Band 8 - Tote Hand
Lese-Probe zu „Der Prinzessinnenmörder / Kreuthner und Wallner Bd.1 (ePub)“
Der Prinzessinnenmörder von Andreas Föhr1.
Es war heiß im Wagen. Die Heizung lief auf Maximum. Vor dem Wagen lag ein Stück verschneite Straße im Scheinwerferlicht. Links und rechts der Fahrbahn Wände aus Schnee, glitzernd, mit Eiskristallen darauf. Hinter den Schneewänden - schwächer angeleuchtet - Fichten, deren Äste sich unter der weißen Last bogen. Es war kalt draußen. Minus achtzehn Grad. Polizeiobermeister Leonhard Kreuthner gähnte und fingerte eine Zigarette aus einer zwei Tage alten Schachtel auf der Mittelkonsole des Wagens. Beim Anzünden der Zigarette musste er sich einen Moment auf die Feuerzeugflamme konzentrieren. In diesem Augenblick stieß der Wagen mit etwas auf der Straße zusammen. Der dumpfe Aufprall brachte Kreuthner zu Bewusstsein, dass er ziemlich erschöpft war. Im Rückspiegel sah er einen großen Eisbrocken auf der vom Rücklicht rötlich gefärbten Piste entlangkullern. Er nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette, schüttelte sich wach und blickte wieder nach vorne.
Kreuthner hatte eine anstrengende Nacht hinter sich. Seit neun Uhr war er im Mautner gesessen und hatte mit Freunden Bier getrunken. Es war ein kurzweiliger Abend gewesen. Sie hatten über den Ausflug nach Südtirol im Oktober vor drei Jahren geredet. Kurz nach zehn war ein Streit darüber entbrannt, ob der Wiebek Toni, der damals noch dabei war, sich seinen legendären Rausch entgegen seiner sonstigen Art mit dem Lagreiner beigebracht hatte oder ob er nicht auch beim Törggelen dem Bier treu geblieben war.
... mehr
Der Sennleitner behauptete, der Wiebek könne sich mit Bier gar nicht so zusaufen wie damals geschehen. Das sei bei dem biologisch unmöglich. Doch Kreuthner konterte mit dem Argument, der Wiebek sei ein Mann von Prinzipien. Der habe seit seinem elften Lebensjahr keine andere Flüssigkeit als Bier zu sich genommen. Ein Anruf beim Wiebek hätte Klarheit gebracht. Aber der Wiebek hatte vor einem Jahr geheiratet und ging jetzt jeden Abend um zehn ins Bett, weil die Kleine ab fünf wach war und er dann aufstehen musste. Bloße Rücksichtnahme hätte Kreuthner und seine Kumpane nicht davon abgehalten, beim Wiebek an zurufen. Aber es war bekannt, dass die Wiebeks die Angewohnheit hatten, abends um acht den Telefon stecker aus der Dose zu ziehen. Angeblich wegen der Kleinen. Wahrscheinlich wollten sie einfach ihre Ruhe haben. Ja - so kann ein Mensch vor die Hunde gehen, musste sich Kreuthner denken. Vor drei Jahren noch Jahrhunderträusche, jetzt um zehn ins Bett.
Gegen vier war das Thema Wiebek immer noch nicht geklärt. Aber die drei Freunde wurden von der Be dienung gebeten, ihre Ärsche an die frische Luft zu bewegen. Und so stand Kreuthner auf dem Parkplatz des Mautner neben seinem vereisten Wagen und befand, er habe eindeutig zu viel getrunken, um ins Bett zu gehen. Da könne es nicht schaden, zum Ausnüchtern ein bisschen in der Gegend herumzufahren. Zwischen Tegernsee und Schliersee überkam ihn ein nützlicher Gedanke. In zwei Wochen würde das jährliche Eisstockschießen der Oberlandpolizisten stattfinden. Kreuthner saß im Organisationskomitee, denn dieses Jahr waren die Miesbacher mit der Veranstaltung dran. Als Austragungsort hatte man den Spitzingsee gewählt. Das war ein kleiner See hoch oben in den Bergen gelegen, auf über tausend Metern, und damit eissicher. Der Tegernsee war schon seit Jahren nicht mehr zugefroren. Und selbst bei dem kleineren und nicht so tiefen Schliersee war das eher Glückssache. Der Spitzingsee hingegen war eine Bank. Zwischen Tegernsee und Schliersee kam Kreuthner also der Gedanke, eine Ortsbesichtigung durchzuführen.
Als sich Kreuthner dem Spitzingsee näherte, begann sich der Himmel im Osten schon blass zu färben. Er stellte den Wagen auf einem geräumten Parkplatz ab, der tagsüber von Skitouristen benutzt wurde. Als Kreuthner ausstieg, schnitt ihm die Morgenluft fast den Atem ab, so kalt war es da draußen. Er setzte sich eine Mütze auf, zog Handschuhe an und holte eine Schaufel vom Rücksitz seines Wagens. Im Winter hatte er immer eine Schaufel dabei. Die konnte vielfach von Nutzen sein. Sei es beim Ausschaufeln verschneiter Autos oder auch beim Bau einer Schneebar. Oft war er schon verlacht worden wegen seiner Schaufel. Aber das war ihm egal. Wer zu dumm war, den Sinn einer Schaufel zu erkennen, der sollte halt lachen.
Mit trotzigen Gedanken im Kopf und der Schaufel in der Hand stapfte Kreuthner durch knirschenden Schnee zum Seeufer hinab. Sein Atem kondensierte und fror am Kragen fest. Kreuthner spürte förmlich, wie der Alkohol aus seinem Körper in die Morgenluft verdunstete. Eine unglaubliche Frische machte sich in Lungen und Kopf breit, und er sah hinauf zum Himmel. Dort verblassten gerade die letzten Sterne. Es würde ein klarer, wolkenlos blauer Januartag werden. Kreuthner betrat den zugefrorenen See. Er war etwa dreißig Zentimeter hoch mit Schnee bedeckt. Kreuthner stieß die Schaufel in den Schnee und stellte fest, dass er pulverig war und leicht. Hier oben waren die Temperaturen seit drei Wochen nicht über minus fünf Grad gestiegen. Der Schnee lag locker auf der Eisschicht. Kein Tauwetter hatte ihn mit dem Eis verklebt. Er musste nur noch weggeschaufelt werden.
Kreuthner ging hinaus auf den See. Etwa fünfzig Meter weit. Es knirschte. Kreuthner konnte nicht ergründen, ob es der Schnee war, der knirschte, oder das Eis darunter. Ein weiteres Mal steckte er seine Schaufel in den Schnee und hob den Schnee vorsichtig vom Eis. Dann arbeitete er sich zwei Meter in die Länge vor. Von dem freien Streifen aus trug er zur Linken zwei weitere Meter Schnee ab, bis er eine vier Quadratmeter große Fläche blanken Eises hatte. Erschöpft ließ sich Kreuthner in der Mitte seines Miniatur- Eisstadions niedersinken. Es war inzwischen hell geworden. Mit den Händen wischte er die letzten Schneebrösel zur Seite und betrachtete fasziniert das Eis. Wenn man genau hinsah, dann war es nicht vollkommen eben. Winzige Erhebungen waren zu erkennen, kleine Hochebenen und Tafelberge, platt gedrückt wie Kaugummi auf der Straße. Im Eis selbst sah Kreuthner kleinste Luftblasen und jenseits davon Dunkelheit. Die Eisschicht mochte hier vielleicht dreißig Zentimeter messen. Darunter waren es zwanzig Meter bis zum Seegrund.
Kreuthner starrte auf das dunkle Eis. Die Kälte biss sich durch die Hose, die bereits am Eis festgefroren war, in seine Knie. Doch das kümmerte Kreuthner in diesem Moment nicht. Etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit: Er meinte mit einem Mal zu sehen, wie sich die Dunkelheit unter dem Eis aufhellte. Ein goldfarbener Fleck mit unscharfen Konturen bildete sich dort in der Tiefe. Der Fleck wurde langsam heller und größer, fast hatte es den Anschein, als komme er auf ihn zu. Kreuthner hatte auf einmal das beklemmende Gefühl, dieses Etwas könne in wenigen Sekunden durch den Eispanzer brechen und sich auf ihn stürzen, ihn packen und mit sich in die Tiefe zerren. Ein Fluchtreflex stieg in ihm hoch. Doch Kreuthner widerstand der Versuchung, aufzustehen und zum Ufer zu rennen. Zum einen klebten die Knie am Eis. Zum anderen sagte er sich, das Eis sei bestimmt dick genug, um das, was da auf ihn zukam - was immer es auch war -, aufzuhalten. Aber was war es? Ein Fisch? Dafür war es zu groß. Eine Luftblase? Wo sollte die herkommen? Und auch für eine Luftblase war es zu groß, wie man jetzt erkennen konnte, da das Ding immer näher kam. Ein Teil davon hatte eine käsig bleiche Farbe, die Kreuthner an die Gesichtsfarbe vom Wiebek Toni bei seinem Jahrhundertrausch erinnerte. Je näher das weiße Etwas kam, desto mehr Einzelheiten waren zu erkennen.
Es waren Punkte auf dem Weiß, das wiederum umgeben war von einer Art goldener Aura. Die Punkte im Weiß erinnerten an ein menschliches Gesicht. Und wie er diesen Gedanken dachte, da schoss Kreuthner das Adrenalin bis in die Haarspitzen. Denn das, was da näher kam, war ein menschliches Gesicht! Immer deutlicher war es zu erkennen. Lautlos schwebte es auf Kreuthner zu. Langsam und schwerelos, wie im Weltall. Bis es schließlich mit einem Ruck unterhalb des Eises zur Ruhe kam. Es war das Gesicht eines jungen Mädchens. Es hatte die Augen geöffnet und starrte Kreuthner an. Und um das Mädchengesicht herum die goldene Aura, die Kreuthner sehr verwirrte.
2.
Wallner kam mit seinem Wagen nicht allzu nah an den Tatort heran. Er musste ihn etwa zweihundert Meter vom See entfernt am Straßenrand abstellen. Die meisten Kollegen waren schon eingetroffen. Ebenso die Feuerwehr, die in der Zwischenzeit das Eis aufgesägt und die Leiche geborgen hatte. Die Feuerwehrleute räumten gerade ihre Sachen zusammen und hinterließen einen spurensicherungstechnischen Trümmerhaufen. Wallner betrachtete das Treiben. Er hatte keine Eile.
Wallner war achtunddreißig Jahre alt, groß und halbwegs schlank - was im Augenblick nicht zu erkennen war. Denn Wallner trug eine voluminöse Daunenjacke. Die trug er den ganzen Winter. Das heißt von Ende September bis Anfang Mai. Wallner litt an einem Leiden, das sonst zumeist den Frauen nachgesagt wird: Wallner fror. Ständig. Im Winter sowieso. Aber auch im Sommer. Wenn andere Männer nachts im Bier garten ihre Unverfrorenheit zur Schau stellten, wenn sie, als sei man in der Karibik, in T-Shirt oder dünnem Baumwollhemd unterm freien Sternenhimmel saßen, trug Wallner schon Strickjacke oder einen Wollpullover, von denen er eine große Auswahl besaß. Wallners größter Feind aber war der Luftzug. Nicht dass sich Wallner Sorgen um seine Gesundheit machte. Er fror einfach, wenn es zog. Andere Menschen waren oft erstaunlich unsensibel in der Hinsicht. Wallner hin gegen hatte die empfindlichsten Antennen für Luft, die nicht stillstehen wollte. Hier am See war die Luft still. Bei minus dreizehn Grad.
Auf einer Wiese am See stand ein Campingtisch im Schnee. Auf dem Tisch Pappbecher und Thermoskannen. Wallner kannte den Tisch. Die Kollegen vom K 3, der Abteilung für Spurensicherung, führten den mit. Eine Insel der Kaffee-und-Kuchen-Gemütlichkeit an traurigen Orten. Sogar ein Teller mit Plätzchen stand darauf. Wallner ging zum Tisch und zapfte sich einen Becher dampfenden Kaffee. Während er sich umsah, trank er in kleinen Schlucken. Der Becher wärmte die Finger. Wallner griff gerade nach einem Zimtstern, als ihm der Gedanke kam, dass der Zimtstern wahrscheinlich steinhart gefroren war. Aber da hatte er ihn bereits in der Hand. Er drückte den Stern ein bisschen zwischen den Fingern. Man hätte damit eine Windschutzscheibe einschmeißen können. Wallner überlegte, ob er den Zimtstern zurücklegen sollte, entschied dann aber, ihn in die Tasche seiner Daunenjacke zu stecken.
In einiger Entfernung sah er Tina und Lutz, die an der nackten Leiche einer jungen Frau arbeiteten. Die Leiche lag auf dem Eis. Daneben hatte man in einer großen durchsichtigen Plastiktüte etwas Goldenes verstaut. Wallner konnte nicht erkennen, was es war. Nur, dass es groß war. Eigenartig groß. Was sollte eine Wasserleiche so viel Gold bei sich haben? In diesem Augenblick fiel ein erster Sonnenstrahl auf das goldene Ding. Und es war, als ginge es in Flammen auf, so leuchtete es. Als habe einer ein Lagerfeuer auf dem gefrorenen See entfacht.
»Als Letzter kommen, nix arbeiten und den anderen an Kaffee wegsaufen. San doch immer die Gleichen.«
Wallner blickte in Mike Hankes übernächtigtes Gesicht, das gleichwohl spitzbübische Laune verstrahlte. Mike gluckste und freute sich wie ein Kind über den Spruch, den er schon Dutzende Male angebracht hatte. Wallner goss Mike einen Kaffee ein und reichte ihm den Becher. »Hier. Tu was für dein Gesicht. Was sind denn das für Ringe um die Augen?« »War gestern noch mit dem Kreuthner unterwegs.« Wallner war um die frühe Zeit noch nicht auf der Höhe seiner geistigen Beweglichkeit. Aber »Kreuthner« sagte ihm etwas. »Hat der nicht die Leiche gefunden?« »Hat er«, sagte Mike und nickte dabei, als mische dieser Umstand dem Fall besondere Tragik bei.
Mike berichtete, was vorgefallen war. Wie der Kreuthner vom Mautner in den Morgenstunden noch an den Spitzingsee gefahren war und dort unterm Eis die Leiche gesehen hatte. Er habe nicht lange gefackelt und die Kripo verständigt, weil ihm sofort klar ge wesen sei, dass da Fremdverschulden im Spiel war. Er habe sogar gewusst, dass Tina in dieser Nacht Bereitschaft hatte, und sie direkt zu Hause angerufen. Tina habe zunächst an eine Wichtigtuerei des Kreuthner geglaubt und dieser Vermutung mit ein paar derben Sätzen - man kenne Tina ja - bei ihrer Ankunft am Tatort Ausdruck verliehen, sich dann aber bei der Untersuchung der Leiche selber von der Angemessenheit der vom Kreuthner ergriffenen Maßnahmen überzeugen können. Soweit Mike mitbekommen hatte, war unter dem linken Rippenbogen eine große Einstichwunde - mitten ins Herz. Kreuthner habe nach der Entdeckung der Wunde Tina auf die bösen Verdächtigungen bei ihrer Ankunft angesprochen und gemeint, ob da nicht eine kleine Entschuldigung angebracht sei. Tina habe dem Kreuthner entgegnet, er solle sich lieber von ihrem Tatort verpissen, was der Stimmung nicht eben zuträglich gewesen sei. Das mit dem Tatort sei auch ungerecht gewesen, da Kreuthner tadel lose Vorkehrungen zu dessen Sicherung getroffen, vor allem für die Einrichtung eines Trampelpfades Sorge getragen habe. Aber die »Sackgesichter von der Feuerwehr«, wie Kreuthner sie genannt habe, hätten da überhaupt keinen Sinn dafür gehabt und alles kaputt getreten und Zigarettenkippen fallen lassen. Der Schaden halte sich freilich in Grenzen, weil für die Spurensicherung bei dem vielen Schnee ohnehin nicht viel zu holen sei.
»Was ist da passiert?«, fragte Wallner mit Blick auf die Leiche.
»Ich hab net die geringste Ahnung. Das Mädel ist etwa fünfzehn. Tina meint, sie hätt sie mal gesehen. Vielleicht an der Schule.«
Das rief Wallner in Erinnerung, dass Tina eine fünfzehnjährige Tochter hatte. Er sah Tina neben dem Gesicht des toten Mädchens knien. Sie hatte eine Hand der Toten in der ihren und suchte unter den Finger nägeln nach Hautpartikeln und anderen Fremdkörpern.
»Ist das gut, dass Tina die Leiche ...«
»Sie hat gesagt, es wär okay«, sagte Mike. Aber auch er hatte offenbar Zweifel, ob ausgerechnet Tina die Leiche untersuchen sollte.
Wallner verzichtete darauf, zu Tina zu gehen. In diesem Stadium hatte er unmittelbar am Tatort nichts verloren.
Das war jetzt das Reich der Spurensicherung. Lutz kam auf sie beide zu. Er hatte den Plastikbeutel dabei, aus dem es so golden schimmerte, und ließ ihn jetzt neben den Tisch plumpsen. Wallner versuchte zu erkennen, was darin war. Es sah aus wie Brokat.
»Schöne Scheiße«, begann Lutz das Gespräch.
»Ja, ziemlich jung, das Mädel«, meinte Wallner.
»Und schau dir mal den Tatort an. Das sind ja Vandalen.« Lutz meinte die Feuerwehr.
»Ist nicht so wild, wie's ausschaut. Die Leiche ist da ja nur aufgetaucht. Weiß jemand, wo sie in den See geworfen wurde? «
»Vom Ufer aus kann sie kaum dort hingetrieben worden sein. Wir haben mal das Bodenprofil vom See unter die Lupe genommen.« Mike zog eine gefaxte Karte des Spitzingsees hervor, auf der akribisch die Höhenlinien eingetragen waren. Er deutete auf ein Kreuz, das den Fundort der Leiche markierte. »Da hätte die irgendwann bergauf treiben müssen.«
Wallner warf einen flüchtigen Blick auf die Karte, nahm einen Schluck von dem Kaffee, der inzwischen nur noch handwarm war, und wandte sich an Lutz. »Wie lange ist sie da unten gelegen?«
»Schwer zu sagen. Bei dem kalten Wasser ist die Verwesung erheblich verlangsamt. Das müssen die in der Gerichtsmedizin klären. Ich sag mal so: Sie schaut ziemlich frisch aus.«
»Wie lange ist der See schon zugefroren?«
Mike zuckte die Schultern. »Genau hat das hier keiner gewusst. Die vom Hotel sagen, dass sie schon Silvester auf dem Eis gewesen sind.«
Wallner ließ seinen Blick über den See schweifen. »Das heißt, die Leiche wurde vor Silvester in den See geworfen oder jemand hat ein Loch ins Eis gehackt, um sie zu versenken. Gibt's eine Vermisstenanzeige?«
Mike schüttelte den Kopf. »Nicht hier, nicht in Bayern. Die anderen Bundesländer checken wir gerade. Aber wahrscheinlich ist sie eh aus dem Landkreis. Tina hat gesagt ...«
»Ja, hast du erzählt.« Wallner blinzelte in die auf gehende Sonne. »Irgendwas stimmt hier doch nicht. Eine Fünfzehnjährige, die Tage oder Wochen abgängig ist - das muss doch mal einer gemeldet haben.«
»Mei - es passieren die seltsamsten Sachen.« Mit dieser Erklärung war Wallner nicht wirklich zufrieden. Aber im Augenblick fiel ihm auch nichts Besseres ein. Er nahm den Plastiksack und betrachtete den Inhalt.
»Goldbrokat?«
»Ein goldenes Kleid. So eine Art Prinzessinnenkleid für den Fasching.«
»Das hatte die Tote an?«
»Ja.«
»Das kann nicht sein, dass sie nach einem Faschingsfest erstochen und in den See geworfen wurde? Mal ganz blöd gefragt.«
»Kaum«, meinte Lutz. »Unter so einem Kleid trägt man normalerweise Unterwäsche.«
»Du meinst, sie hatte nur das Kleid an?«
»Ja. Und sie ist in dem Kleid auch nicht erstochen worden. Es gibt keine Einstichstelle im Kleid.« »Das heißt, der Mörder ...«
»... hat ihr das Kleid hinterher angezogen.« Wallners Blick wanderte zu der Leiche des Mädchens. Er hatte schon den einen oder anderen Mord erlebt. Der Landkreis Miesbach war nicht die Bronx. Aber ein bisschen gemordet wurde immer. Wallner hatte auch brutalere Morde als diesen gesehen. Blutbäder mit verstümmelten Leichen. Aber die Gründe waren immer die gleichen: Eifersucht. Drogen. Habgier. In neun von zehn Fällen stand der Täter innerhalb einer Stunde fest, man musste ihn nur finden und festnehmen. Der Rest war irgendwie kalkulierbar. Das hier war anders. Der Mörder dieses Mädchens hatte keines der üblichen Motive. Er wollte durch die Machart des Verbrechens etwas mitteilen. Die Frage war: Was und wem?
3.
Wallner stellte den Becher mit dem mittlerweile kalten Kaffee neben den Plätzchenteller, sog die eisige Morgenluft bis in die Bronchien und ging ein paar Schritte in Richtung See. Bis zur Absperrung. Tina wurde auf Wallner aufmerksam und winkte ihm zu. Er winkte zurück. Dann begann Wallner den Ort des Geschehens in sich aufzunehmen. Nicht wie die Kollegen von der Spurensicherung. Die suchten nach Details, um sie zu sammeln und aus den Puzzlestücken ein Ganzes zu bauen. Darin waren sie besser, als Wallner es je werden konnte. Lutz und Tina hatten im Lauf der Jahre einen sicheren Instinkt entwickelt, welche der zigtausend Einzelteile an einem Tatort Hinweise auf den Täter geben konnten. Wallner suchte etwas anderes. Wallner spürte der Aura des Tatorts nach. Jeder Ort, an dem ein Verbrechen begangen oder ein Opfer gefunden wurde, hatte nach Wallners Meinung diese Aura. Ein Mord störte den ruhigen Fluss der Dinge. Als ob ein Stein auf die glatte Wasseroberfläche eines Teichs geworfen wurde. Das Wasser wurde unruhig, warf Wellen. Und diese Wellen waren noch einige Zeit, nachdem der Stein untergegangen war, sichtbar. Ebenso hallte für Wallner das Echo eines Mordes am Tatort nach. Er erinnerte sich an seinen letzten Tatort. Ein Haus in der Miesbacher Innenstadt. Eine Frau war von ihrem eifersüchtigen Freund mit vierundzwanzig Messerstichen getötet worden. Das war kein Stein im Teich gewesen. Es war, als hätte jemand mit einer Schrotflinte auf die Wasseroberfläche gefeuert. Die Wellen waren chaotisch und heftig gewesen, aber von kurzer Dauer. Das hier war anders. Das hier waren große Wellen, die von weit her kamen. Stark und geordnet.
Wallner betrachtete den See. Die Januarsonne hatte die Schneefläche in ein flaches, aber helles Licht getaucht. Er sah das Loch, aus dem man die Leiche geholt hatte, er sah Tina, zu der sich gerade der Gerichtsmediziner aus München gesellte. Er sah die Spuren der Feuerwehrleute im Schnee. Sein Blick glitt über die unberührten Teile des Sees. Eine weiße, blitzende, fast konturlose Fläche. Wallners Blick blieb hängen. Er spürte es mehr, als dass er es sah. Es war am anderen Ende des Sees. Die Sonnenstrahlen brachen sich an einer Stelle geringfügig anders als auf dem restlichen See. Irgendetwas war dort. Wallner ging zurück zu Mike, zeigte ihm die Stelle und bat ihn, ein paar Leute dorthin zu schicken. Aber sie sollten vorsichtig sein. Das Eis sei an dieser Stelle wahrscheinlich dünner. Ohne weitere Erklärungen entfernte sich Wallner. Er war bereits wieder in seine Gedanken versunken. Mike hatte mit der Zeit gelernt, kryptische Anweisungen seines Chefs in praktische Maßnahmen umzusetzen. Also nahm er sich ein paar Leute und begab sich zu der von Wallner angegebenen Stelle.
Was man denn da suche, wollte ein junger Kollege wissen, während sie über den verschneiten See stapften. Mike wusste auch nicht, was sie suchten. So ermahnte er den jungen Kollegen, keine Volksreden zu halten und stattdessen lieber hurtig die Schneeschaufel zu schwingen. Und wer als Erster ins Eis einbreche, zahle eine Runde Glühwein. Das sei eh klar. Der junge Kollege machte sich sogleich an vorderster Front ans Schaufeln, war aber nicht gewillt, sich mit dummen Sprüchen abspeisen zu lassen. Ob das hier eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sei, und was das Ganze eigentlich solle. Denn für heute Abend sei wieder Schnee angesagt. Dann könne man morgen gleich noch mal ausrücken. Oder glaube Mike vielleicht, dass der Täter hier das Messer auf dem Eis habe liegen lassen? Im Übrigen habe der Täter die Leiche ja logischerweise in den See geworfen, bevor der zugefroren sei. Und zwar dreißig Zentimeter dick. Da könnten sie lange auf einen Glühwein warten. Praktisch mit diesen Worten hatte der junge Kollege die Runde Glühwein auch schon verwirkt. Denn plötzlich knarzte und krachte es, und eh der Mann begriff, was geschah, steckte er bis zum Bauch im Eis.
Wallner war unterdessen um den See herumgegangen. Etwas hatte ihn beunruhigt. Und es war nicht die Stelle gewesen, an der der junge Kollege jetzt im Eis steckte. Als Wallner die kleine Unregelmäßigkeit auf dem Schnee entdeckt hatte, da war ihm, als sei dahinter noch etwas anderes. Im Wald. Aber der Schnee hatte in der Morgensonne geglitzert und geblendet. Und das hatte den Wald hinter dem See ganz schwarz aussehen lassen. Es war ein kleines Licht gewesen. Rot und einsam flackerte und tanzte es im dunklen Wald. Eine Täuschung, hätte er sich unter anderen Umständen gesagt. Nichts, weswegen er an einem kalten Januarmorgen um den ganzen Spitzingsee gelaufen wäre. Doch das kleine, rote Irrlicht war Wallner erschienen wie ... nun, Wallner war nicht sehr gläubig, aber ihm war, als flackere dort eine einsame Seele. Und es war ihm weiter, als sei es die Seele des toten Mädchens, die da einen elfenhaften, traurigen Tanz vollführte. Wallner hatte sich die Augen gerieben und heftig den Kopf geschüttelt. Dann hatte er sich zwei Hände voll Schnee ins Gesicht gepackt und abermals zum Wald hinübergeschaut. Das Licht war jetzt verschwunden, und Wallner sagte sich, dass er sich in Acht nehmen müsse, dass ihm seine Müdigkeit keine Streiche spiele. Ihm ruhelose Seelen vorgaukele, wo in Wirklichkeit nichts war. Nur ein ungeklärter Mord. Wallner betrachtete Mike und seine Männer, die über den See zogen. Und da war es wieder aufgetaucht, das rote Seelenlichtlein.
Wallner kämpfte sich durch den verschneiten Wald und versank bald knöcheltief, bald bis übers Knie im lockeren Schnee. Von fern hörte er Männerstimmen, aufgeregt durcheinanderschreiend, dazwischen Mikes Anweisungen, wie man den jungen Kollegen aus dem Eis zu befreien habe; mit scharfem Ton verlangte er nach einer Wärmedecke, und nach dem Gerichtsmedizinfritzen solle man schicken, dass er sich das Schlamassel mal ansehe, nicht dass sich der junge Kollege noch wichtige Teile abfriere, bevor er seinen Glühwein auszutun die Gelegenheit habe. Wallner wandte sich vom Ufer ab, und die Stimmen wurden leiser. Immer mühsamer wurde der Weg durch den tiefen Schnee. Aber Wallner war sich seines Weges sicher. Hier hatte er das rote Lichtlein tanzen sehen. Es konnte nicht weit sein. Wallner war außer Atem geraten, halb vor Anstrengung, halb in erregter Erwartung dessen, was er antreffen würde. An einer um gestürzten Fichte blieb er stehen, blickte um sich. Es war dunkler geworden. Bleigraue Wolken hatten die Sonne verdeckt. Obwohl noch früh am Tag, herrschte mit einem Mal Dämmerstimmung. Die Kondenswolken aus dem eigenen Mund vernebelten Wallner den Blick. Als sie sich verzogen, sah Wallner hinter einer schneebedeckten Bodenwelle etwas Dreieckiges hervorragen. Wallner ging näher heran. Es war ein Holzdach, sehr klein. Von Traufseite zu Traufseite vielleicht einen Meter messend. Und recht viel mehr erhob es sich auch nicht über den Boden. Wallner beschleunigte seinen Schritt, rannte die letzten Meter. Schließlich stand er vor dem kleinen Dach, das ihm bei näherem Ansehen ein durchaus vertrauter Anblick war. Jetzt konnte er erkennen, was es war - das rote Licht. Nichts Ungewöhnliches. Doch was er über dem roten Lichtlein sah, raubte Wallner den Atem.
4.
Die Sonne stand schon tief. Es war gegen halb fünf. Peter sah im Westen Wolken aufziehen. Aber der Westen ist weit, wenn man auf einem Zweitausender sitzt. Den ganzen Tag über hatte der Föhn den Alpenhauptkamm in Sonne und laue Winde gehüllt. Selbst jetzt war es noch warm. Peter blickte auf seine Skischuhe, an denen der Schnee sich zum größten Teil in Wasser verwandelt hatte, das in kleinen Bächen zwischen den Schnallen abfloss. Er nahm einen Schluck aus der Thermoskanne und reichte sie an das Mädchen weiter. Lisa saß zwei Meter weiter auf einem Stein. Sie war blond und hatte die Haare zu zwei Zöpfen geflochten und die Zöpfe um den Kopf gewunden. Die Strahlen der Nachmittagssonne verzauberten ihr Gesicht, brachten ihre blauen Augen mit dem dunkelblauen Ring um die Iris zum Leuchten und machten jede einzelne Sommersprosse auf ihrer Nase sichtbar. Sie war fünfzehn und lächelte. Sie lächelte erschöpft und jung, und das Herz wurde ihm schwer vor Glück.
»Schade, dass Mama nicht Ski fährt«, sagte Lisa und nahm einen Schluck aus der Thermoskanne.
»Ja, schade«, sagte Peter.
»Wir erzählen's ihr besser nicht, wie?« In Lisas Blick lag Sorge.
»Na, wir erzählen's ihr schon. Also im Wesentlichen.« Lisa sah ihn an, und ein schelmisches Lächeln spielte um ihre Lippen. Ein paar Sommersprossen auf der Nase verschwanden in kleinen Falten.
»Wir waren Skifahren. Das reicht ja.«
»Warum will Mama eigentlich nicht, dass ich Touren gehe?«
»Sie fährt nicht Ski. Deswegen weiß sie nicht, wie das ist, wenn man Touren geht. Und weil sie's nicht kennt, macht es ihr Angst. In den Nachrichten bringen sie ja nur, wenn Tourengeher von Lawinen verschüttet werden. Sie denkt, das passiert ständig, verstehst du?«
»Klar. Wenn ich das nur aus den Nachrichten wüsste ...«
Lisa schraubte die Thermosflasche zu. Sie war ganz konzentriert auf diesen Vorgang, wie auf alles, was sie tat. Er sog die kleinste Bewegung von ihr ein. Sie gab ihm die Flasche zurück, und die abendlichen Sonnenstrahlen brachen sich in ihren Augen.
Gestern Nacht waren sie in das irische Pub gegangen. Lisa hatte auf der Schule davon gehört. Unter Leuten ihres Alters war es legendär. Die Gäste waren meist Engländer, Australier, Holländer und Schweden, kaum einer über zwanzig. Das Personal kam aus England und seinen ehemaligen Kolonien. Nur Claudia, die dunkelhaarige, leicht verlebte Schönheit hinter der Bar, war eine Einheimische aus dem Spertental. Ab 22 Uhr war der Boden des Lokals mit Glasscherben und Zigarettenkippen übersät und die Kellner betrunkener als die Gäste. Aus den Lautsprechern kam ein Musikmix aus Nirvana, Guns 'n' Roses, Green Day und wieder Nirvana. Lisa hatte fünf Minuten, nachdem sie gekommen waren, einen holländischen Verehrer von siebzehn Jahren, der aber auf dem Weg zur Tanzfläche gegen einen schwedischen Tisch torkelte und anschließend in längere Verhandlungen über die Bezahlung der zu Boden gerissenen Getränke verwickelt wurde. Zwei junge Männer aus Wolverhampton sprangen für den Holländer ein. Peter behielt Lisa im Auge. Er setzte sich an die Bar und begann ein bisschen mit Claudia zu flirten. Claudia hatte gesehen, dass Peter mit Lisa gekommen war. Sie fragte, wer denn die Kleine sei. Peter sagte, das sei seine Tochter. Claudia schien einen Augenblick irritiert. Dann sagte sie: »Die hosch guat hinkriagt.«
Lisa stand mit den zwei Jungs auf der Tanzfläche. Blond, schlank, hochgewachsen. Sie trug die Haare offen und Jeans mit Löchern und Tennisschuhe aus Segeltuch. Peter bemerkte, wie die Männer im Raum seine Tochter anstarrten. Die zwei Engländer spielten Luftgitarre und versuchten, Lisa mit allerlei Albernheiten zu unterhalten. Lisa benahm sich höflich distanziert, lächelte, lachte auch. So wie eine Prinzessin, die halb amüsiert, halb in geübter Gewohnheit Huldigungen entgegennahm. Schließlich ließ sie ihre Verehrer stehen und ging zu Peter an die Theke.
»Was ist? Sind die Jungs nicht nett?«
»Ja, ganz süß.« Sie zuckte mit den Schultern. Er schob ihr einen Maracujasaft hin, den er bei Claudia bestellt hatte. Sie nahm den Strohhalm zwischen die Lippen und sog die Flüssigkeit ein. Für einen Augenblick verschmolz sie ganz mit dem Maracujasaft. Es schien nichts anderes zu geben als das Glas, den Saft, den Strohhalm und sie. In solchen Momenten hatte sie die Augen fast geschlossen. Er fragte sich, was sie zwischen ihren langen Wimpern sehen mochte. Vielleicht nichts. Vielleicht war ihr Blick auch nach innen gerichtet, und sie träumte von irgendetwas, das sie für sich behielt. Sie setzte das Glas mit Grazie auf dem Tresen ab.
»Tanzt du mit mir?«
»Bist du sicher? Ich meine, ich bin froh, dass mir hier noch niemand seinen Platz angeboten hat.«
Lisa lächelte ihn an. »So ein Quatsch«, sagte sie, als wäre sie fünfunddreißig. Dann zog sie ihn am Hemd und deutete mit dem Kopf zur Tanzfläche. In dieser Nacht hatten sie getanzt, Spaß gehabt, Lisa hatte zwei Gläser Sekt getrunken und eine Zigarette geraucht. Sie waren um halb drei in die Pension zurückgekehrt.
»Komm, Prinzessin, es wird Zeit, dass wir abfahren.« Lisa nickte und gab ihm die Thermoskanne zurück. Dann begann sie andächtig, die Schnallen ihrer Skischuhe zu schließen.
Die Idee mit der Skitour war Peter heute Morgen gekommen. Sie hatten spät gefrühstückt nach der anstrengenden Nacht. Es war ein schöner Tag. Die Luft war mild und der Frühling schon zu erahnen. Die Pisten würden brechend voll sein. Die meisten Leute hatten heute frei.
»Komm«, hatte Peter gesagt, »wir machen eine Skitour. Da sind wir allein auf der Piste.«
»Einfach so?«, hatte Lisa gefragt. »Wir haben doch gar nichts dabei.«
»Wir leihen uns Skier und Felle. Was meinst du?«
Sie waren zum nächsten Skiverleih gefahren, hatten sich die Ausrüstung ausgeliehen und gefragt, wo man in der Gegend am besten eine einsame Skitour machen könne. Peter war früher oft Skitouren gegangen. Er kannte sich einigermaßen aus. Drei Stunden später standen sie auf dem Gipfel in zweieinhalbtausend Metern Höhe. Die Sonne schien.
Das Zillertal lag zu ihren Füßen.
Peter betrachtete Lisa, wie sie in sich versunken den Reißverschluss ihres Anoraks hochzog. Er fragte sich, wie oft sie noch eine Skiwoche miteinander verbringen würden. In ein oder zwei Jahren würde Lisa einen festen Freund haben oder lieber mit ihrer Clique verreisen. Noch ein paar Jahre später würde sie heiraten. Peter hoffte, dass Lisa einen Mann fände, den er mochte. Einer, mit dem man Ski fahren und ein paar vernünftige Sätze wechseln könnte. Auf ihrer Hochzeit würde Peter den Brautwalzer mit Lisa tanzen. Ganz altmodisch. Aber sie würde das so wollen.
»Was ist los? Du siehst mich so komisch an.« Lisa lächelte unsicher.
»Nichts. Ich war in Gedanken.«
Peter genoss noch einmal den Panoramablick. Im Südwesten konnten sie bis zum Ortler sehen, der schon in Südtirol war. Im Osten leuchteten rosa Großglockner und Großvenediger, im Norden begrenzten die schroffen Felsformationen des Karwendel den Horizont. Sie hatten eineinhalb Stunden Zeit, bevor es dunkel wurde. Das war mehr als genug, um ins Tal abzufahren. Lawinen waren nicht zu befürchten. Es hatte seit über einer Woche nicht geschneit. Was Peter etwas Sorge bereitete, war der feste Schnee. Lisa war keine erfahrene Tiefschneefahrerin. Aber sie war sportlich und hatte Kraft.
Peter packte die Felle in den Tourenrucksack und verstaute die Thermosflasche. Schließlich stieg er in seine Bindung und kontrollierte noch einmal, ob auch Lisa richtig in der Bindung stand.
»Und? Bist du fit?«
»Klar«, sagte Lisa und fuhr ein paar Meter ab, bis sie den Einstieg in den ersten Hang erreichte. Er war relativ steil, wurde aber nach unten zu flacher.
»Du brauchst ein bisschen Geschwindigkeit, sonst kriegst du die Skier nicht rum. Der Schnee ist ziemlich schwer.«
Lisa betrachtete mit ernstem Gesicht den unter ihr liegenden Hang und nickte.
»Also fahr schräg rein. Aber nicht zu schräg. Ich fahr vor. Versuch, ungefähr meiner Spur zu folgen.«
»Okay.«
Peter merkte, dass Lisa Respekt hatte vor dem Hang. Vielleicht auch Angst. Sie waren bislang erst zweimal auf einer Skitour gewesen. Aber das war in flacherem Gelände gewesen, in leichtem Pulver. Das hier war anspruchsvoller.
»Wenn's nicht geht, dann einfach traversieren, anhalten, umdrehen und weiterfahren. Unten wird's dann leichter.«
»Das geht schon«, sagte Lisa und biss sich auf die Oberlippe. Peter überlegte, ob er noch etwas zu ihrer Beruhigung sagen sollte, entschied sich dann aber loszufahren. Wenn Lisa tatsächlich Probleme haben würde beim Abfahren, dann könnte die Zeit, entgegen seiner ursprünglichen Berechnung, knapp werden.
Peter fuhr vorsichtig in den Hang, wobei er gründlich überlegte, welchen Einfahrtswinkel er Lisa zumuten konnte. Schon auf den ersten Metern spürte Peter, dass der Schnee fester war, als er angenommen hatte. Er zog ein paar weite Bögen. Doch das fiel selbst ihm nicht leicht. Auf halber Höhe des Hangs blieb er stehen.
»Sei vorsichtig! Der Schnee ist ziemlich fest!«, rief er zu Lisa hoch. Lisa zögerte, studierte den Hang, rutschte ein paar Meter ab, bevor sie sich entschloss loszufahren. Sie begann sehr flach, doch nach einer kleinen Kuppe wurde ihre Bahn steiler. Sie legte das Gewicht nach hinten. Dadurch gewann sie an Fahrt. Das erlaubte es ihr, einen großen Bogen zu fahren. Aber Peter sah, dass sie die Skier kaum noch unter Kontrolle hatte.
»Nicht so schnell, Lisa! Gewicht nach vorne!«
Doch Lisa hörte ihn nicht mehr. Oder sie hörte ihn, konnte seinen Rat aber nicht mehr befolgen, weil jetzt Skier und Schwerkraft das Kommando übernommen hatten. Kurz darauf flog sie an Peter vorbei. Er sah die Angst in ihrem Gesicht.
»Halt an! Lass dich fallen!«, schrie er ihr hinterher. Aber Lisa schoss jetzt fast senkrecht Richtung Tal. Es gelang ihr noch mit großer Kraftanstrengung, ihren Skiern eine Linkskurve aufzuzwingen. Doch dadurch raste sie jetzt auf eine Felskante zu. Peter stand paralysiert im Hang und starrte auf das kleiner werdende Mädchen, das sich mit unverminderter Geschwindigkeit der Kante näherte. Nur noch wenige Meter trennten Lisa vom Abgrund. Endlich ließ sie sich fallen. Nasser Schnee wirbelte auf. Die Skier wurden ihr von den Füßen gerissen und flogen durch die Luft. Lisa wurde - wenn auch abgebremst - weiter auf den Abgrund zugeschleudert. Peter betete, dass sie recht zeitig anhalten möge. Doch ihre Geschwindigkeit war zu groß. Plötzlich war sie hinter der Felskante verschwunden. Peter blickte fassungslos nach unten. Kurz darauf hörte er zeitversetzt Lisas Schrei. Dann Stille.
Copyright der Originalausgabe © 2008 by Knaur Verlag, München.
Der Sennleitner behauptete, der Wiebek könne sich mit Bier gar nicht so zusaufen wie damals geschehen. Das sei bei dem biologisch unmöglich. Doch Kreuthner konterte mit dem Argument, der Wiebek sei ein Mann von Prinzipien. Der habe seit seinem elften Lebensjahr keine andere Flüssigkeit als Bier zu sich genommen. Ein Anruf beim Wiebek hätte Klarheit gebracht. Aber der Wiebek hatte vor einem Jahr geheiratet und ging jetzt jeden Abend um zehn ins Bett, weil die Kleine ab fünf wach war und er dann aufstehen musste. Bloße Rücksichtnahme hätte Kreuthner und seine Kumpane nicht davon abgehalten, beim Wiebek an zurufen. Aber es war bekannt, dass die Wiebeks die Angewohnheit hatten, abends um acht den Telefon stecker aus der Dose zu ziehen. Angeblich wegen der Kleinen. Wahrscheinlich wollten sie einfach ihre Ruhe haben. Ja - so kann ein Mensch vor die Hunde gehen, musste sich Kreuthner denken. Vor drei Jahren noch Jahrhunderträusche, jetzt um zehn ins Bett.
Gegen vier war das Thema Wiebek immer noch nicht geklärt. Aber die drei Freunde wurden von der Be dienung gebeten, ihre Ärsche an die frische Luft zu bewegen. Und so stand Kreuthner auf dem Parkplatz des Mautner neben seinem vereisten Wagen und befand, er habe eindeutig zu viel getrunken, um ins Bett zu gehen. Da könne es nicht schaden, zum Ausnüchtern ein bisschen in der Gegend herumzufahren. Zwischen Tegernsee und Schliersee überkam ihn ein nützlicher Gedanke. In zwei Wochen würde das jährliche Eisstockschießen der Oberlandpolizisten stattfinden. Kreuthner saß im Organisationskomitee, denn dieses Jahr waren die Miesbacher mit der Veranstaltung dran. Als Austragungsort hatte man den Spitzingsee gewählt. Das war ein kleiner See hoch oben in den Bergen gelegen, auf über tausend Metern, und damit eissicher. Der Tegernsee war schon seit Jahren nicht mehr zugefroren. Und selbst bei dem kleineren und nicht so tiefen Schliersee war das eher Glückssache. Der Spitzingsee hingegen war eine Bank. Zwischen Tegernsee und Schliersee kam Kreuthner also der Gedanke, eine Ortsbesichtigung durchzuführen.
Als sich Kreuthner dem Spitzingsee näherte, begann sich der Himmel im Osten schon blass zu färben. Er stellte den Wagen auf einem geräumten Parkplatz ab, der tagsüber von Skitouristen benutzt wurde. Als Kreuthner ausstieg, schnitt ihm die Morgenluft fast den Atem ab, so kalt war es da draußen. Er setzte sich eine Mütze auf, zog Handschuhe an und holte eine Schaufel vom Rücksitz seines Wagens. Im Winter hatte er immer eine Schaufel dabei. Die konnte vielfach von Nutzen sein. Sei es beim Ausschaufeln verschneiter Autos oder auch beim Bau einer Schneebar. Oft war er schon verlacht worden wegen seiner Schaufel. Aber das war ihm egal. Wer zu dumm war, den Sinn einer Schaufel zu erkennen, der sollte halt lachen.
Mit trotzigen Gedanken im Kopf und der Schaufel in der Hand stapfte Kreuthner durch knirschenden Schnee zum Seeufer hinab. Sein Atem kondensierte und fror am Kragen fest. Kreuthner spürte förmlich, wie der Alkohol aus seinem Körper in die Morgenluft verdunstete. Eine unglaubliche Frische machte sich in Lungen und Kopf breit, und er sah hinauf zum Himmel. Dort verblassten gerade die letzten Sterne. Es würde ein klarer, wolkenlos blauer Januartag werden. Kreuthner betrat den zugefrorenen See. Er war etwa dreißig Zentimeter hoch mit Schnee bedeckt. Kreuthner stieß die Schaufel in den Schnee und stellte fest, dass er pulverig war und leicht. Hier oben waren die Temperaturen seit drei Wochen nicht über minus fünf Grad gestiegen. Der Schnee lag locker auf der Eisschicht. Kein Tauwetter hatte ihn mit dem Eis verklebt. Er musste nur noch weggeschaufelt werden.
Kreuthner ging hinaus auf den See. Etwa fünfzig Meter weit. Es knirschte. Kreuthner konnte nicht ergründen, ob es der Schnee war, der knirschte, oder das Eis darunter. Ein weiteres Mal steckte er seine Schaufel in den Schnee und hob den Schnee vorsichtig vom Eis. Dann arbeitete er sich zwei Meter in die Länge vor. Von dem freien Streifen aus trug er zur Linken zwei weitere Meter Schnee ab, bis er eine vier Quadratmeter große Fläche blanken Eises hatte. Erschöpft ließ sich Kreuthner in der Mitte seines Miniatur- Eisstadions niedersinken. Es war inzwischen hell geworden. Mit den Händen wischte er die letzten Schneebrösel zur Seite und betrachtete fasziniert das Eis. Wenn man genau hinsah, dann war es nicht vollkommen eben. Winzige Erhebungen waren zu erkennen, kleine Hochebenen und Tafelberge, platt gedrückt wie Kaugummi auf der Straße. Im Eis selbst sah Kreuthner kleinste Luftblasen und jenseits davon Dunkelheit. Die Eisschicht mochte hier vielleicht dreißig Zentimeter messen. Darunter waren es zwanzig Meter bis zum Seegrund.
Kreuthner starrte auf das dunkle Eis. Die Kälte biss sich durch die Hose, die bereits am Eis festgefroren war, in seine Knie. Doch das kümmerte Kreuthner in diesem Moment nicht. Etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit: Er meinte mit einem Mal zu sehen, wie sich die Dunkelheit unter dem Eis aufhellte. Ein goldfarbener Fleck mit unscharfen Konturen bildete sich dort in der Tiefe. Der Fleck wurde langsam heller und größer, fast hatte es den Anschein, als komme er auf ihn zu. Kreuthner hatte auf einmal das beklemmende Gefühl, dieses Etwas könne in wenigen Sekunden durch den Eispanzer brechen und sich auf ihn stürzen, ihn packen und mit sich in die Tiefe zerren. Ein Fluchtreflex stieg in ihm hoch. Doch Kreuthner widerstand der Versuchung, aufzustehen und zum Ufer zu rennen. Zum einen klebten die Knie am Eis. Zum anderen sagte er sich, das Eis sei bestimmt dick genug, um das, was da auf ihn zukam - was immer es auch war -, aufzuhalten. Aber was war es? Ein Fisch? Dafür war es zu groß. Eine Luftblase? Wo sollte die herkommen? Und auch für eine Luftblase war es zu groß, wie man jetzt erkennen konnte, da das Ding immer näher kam. Ein Teil davon hatte eine käsig bleiche Farbe, die Kreuthner an die Gesichtsfarbe vom Wiebek Toni bei seinem Jahrhundertrausch erinnerte. Je näher das weiße Etwas kam, desto mehr Einzelheiten waren zu erkennen.
Es waren Punkte auf dem Weiß, das wiederum umgeben war von einer Art goldener Aura. Die Punkte im Weiß erinnerten an ein menschliches Gesicht. Und wie er diesen Gedanken dachte, da schoss Kreuthner das Adrenalin bis in die Haarspitzen. Denn das, was da näher kam, war ein menschliches Gesicht! Immer deutlicher war es zu erkennen. Lautlos schwebte es auf Kreuthner zu. Langsam und schwerelos, wie im Weltall. Bis es schließlich mit einem Ruck unterhalb des Eises zur Ruhe kam. Es war das Gesicht eines jungen Mädchens. Es hatte die Augen geöffnet und starrte Kreuthner an. Und um das Mädchengesicht herum die goldene Aura, die Kreuthner sehr verwirrte.
2.
Wallner kam mit seinem Wagen nicht allzu nah an den Tatort heran. Er musste ihn etwa zweihundert Meter vom See entfernt am Straßenrand abstellen. Die meisten Kollegen waren schon eingetroffen. Ebenso die Feuerwehr, die in der Zwischenzeit das Eis aufgesägt und die Leiche geborgen hatte. Die Feuerwehrleute räumten gerade ihre Sachen zusammen und hinterließen einen spurensicherungstechnischen Trümmerhaufen. Wallner betrachtete das Treiben. Er hatte keine Eile.
Wallner war achtunddreißig Jahre alt, groß und halbwegs schlank - was im Augenblick nicht zu erkennen war. Denn Wallner trug eine voluminöse Daunenjacke. Die trug er den ganzen Winter. Das heißt von Ende September bis Anfang Mai. Wallner litt an einem Leiden, das sonst zumeist den Frauen nachgesagt wird: Wallner fror. Ständig. Im Winter sowieso. Aber auch im Sommer. Wenn andere Männer nachts im Bier garten ihre Unverfrorenheit zur Schau stellten, wenn sie, als sei man in der Karibik, in T-Shirt oder dünnem Baumwollhemd unterm freien Sternenhimmel saßen, trug Wallner schon Strickjacke oder einen Wollpullover, von denen er eine große Auswahl besaß. Wallners größter Feind aber war der Luftzug. Nicht dass sich Wallner Sorgen um seine Gesundheit machte. Er fror einfach, wenn es zog. Andere Menschen waren oft erstaunlich unsensibel in der Hinsicht. Wallner hin gegen hatte die empfindlichsten Antennen für Luft, die nicht stillstehen wollte. Hier am See war die Luft still. Bei minus dreizehn Grad.
Auf einer Wiese am See stand ein Campingtisch im Schnee. Auf dem Tisch Pappbecher und Thermoskannen. Wallner kannte den Tisch. Die Kollegen vom K 3, der Abteilung für Spurensicherung, führten den mit. Eine Insel der Kaffee-und-Kuchen-Gemütlichkeit an traurigen Orten. Sogar ein Teller mit Plätzchen stand darauf. Wallner ging zum Tisch und zapfte sich einen Becher dampfenden Kaffee. Während er sich umsah, trank er in kleinen Schlucken. Der Becher wärmte die Finger. Wallner griff gerade nach einem Zimtstern, als ihm der Gedanke kam, dass der Zimtstern wahrscheinlich steinhart gefroren war. Aber da hatte er ihn bereits in der Hand. Er drückte den Stern ein bisschen zwischen den Fingern. Man hätte damit eine Windschutzscheibe einschmeißen können. Wallner überlegte, ob er den Zimtstern zurücklegen sollte, entschied dann aber, ihn in die Tasche seiner Daunenjacke zu stecken.
In einiger Entfernung sah er Tina und Lutz, die an der nackten Leiche einer jungen Frau arbeiteten. Die Leiche lag auf dem Eis. Daneben hatte man in einer großen durchsichtigen Plastiktüte etwas Goldenes verstaut. Wallner konnte nicht erkennen, was es war. Nur, dass es groß war. Eigenartig groß. Was sollte eine Wasserleiche so viel Gold bei sich haben? In diesem Augenblick fiel ein erster Sonnenstrahl auf das goldene Ding. Und es war, als ginge es in Flammen auf, so leuchtete es. Als habe einer ein Lagerfeuer auf dem gefrorenen See entfacht.
»Als Letzter kommen, nix arbeiten und den anderen an Kaffee wegsaufen. San doch immer die Gleichen.«
Wallner blickte in Mike Hankes übernächtigtes Gesicht, das gleichwohl spitzbübische Laune verstrahlte. Mike gluckste und freute sich wie ein Kind über den Spruch, den er schon Dutzende Male angebracht hatte. Wallner goss Mike einen Kaffee ein und reichte ihm den Becher. »Hier. Tu was für dein Gesicht. Was sind denn das für Ringe um die Augen?« »War gestern noch mit dem Kreuthner unterwegs.« Wallner war um die frühe Zeit noch nicht auf der Höhe seiner geistigen Beweglichkeit. Aber »Kreuthner« sagte ihm etwas. »Hat der nicht die Leiche gefunden?« »Hat er«, sagte Mike und nickte dabei, als mische dieser Umstand dem Fall besondere Tragik bei.
Mike berichtete, was vorgefallen war. Wie der Kreuthner vom Mautner in den Morgenstunden noch an den Spitzingsee gefahren war und dort unterm Eis die Leiche gesehen hatte. Er habe nicht lange gefackelt und die Kripo verständigt, weil ihm sofort klar ge wesen sei, dass da Fremdverschulden im Spiel war. Er habe sogar gewusst, dass Tina in dieser Nacht Bereitschaft hatte, und sie direkt zu Hause angerufen. Tina habe zunächst an eine Wichtigtuerei des Kreuthner geglaubt und dieser Vermutung mit ein paar derben Sätzen - man kenne Tina ja - bei ihrer Ankunft am Tatort Ausdruck verliehen, sich dann aber bei der Untersuchung der Leiche selber von der Angemessenheit der vom Kreuthner ergriffenen Maßnahmen überzeugen können. Soweit Mike mitbekommen hatte, war unter dem linken Rippenbogen eine große Einstichwunde - mitten ins Herz. Kreuthner habe nach der Entdeckung der Wunde Tina auf die bösen Verdächtigungen bei ihrer Ankunft angesprochen und gemeint, ob da nicht eine kleine Entschuldigung angebracht sei. Tina habe dem Kreuthner entgegnet, er solle sich lieber von ihrem Tatort verpissen, was der Stimmung nicht eben zuträglich gewesen sei. Das mit dem Tatort sei auch ungerecht gewesen, da Kreuthner tadel lose Vorkehrungen zu dessen Sicherung getroffen, vor allem für die Einrichtung eines Trampelpfades Sorge getragen habe. Aber die »Sackgesichter von der Feuerwehr«, wie Kreuthner sie genannt habe, hätten da überhaupt keinen Sinn dafür gehabt und alles kaputt getreten und Zigarettenkippen fallen lassen. Der Schaden halte sich freilich in Grenzen, weil für die Spurensicherung bei dem vielen Schnee ohnehin nicht viel zu holen sei.
»Was ist da passiert?«, fragte Wallner mit Blick auf die Leiche.
»Ich hab net die geringste Ahnung. Das Mädel ist etwa fünfzehn. Tina meint, sie hätt sie mal gesehen. Vielleicht an der Schule.«
Das rief Wallner in Erinnerung, dass Tina eine fünfzehnjährige Tochter hatte. Er sah Tina neben dem Gesicht des toten Mädchens knien. Sie hatte eine Hand der Toten in der ihren und suchte unter den Finger nägeln nach Hautpartikeln und anderen Fremdkörpern.
»Ist das gut, dass Tina die Leiche ...«
»Sie hat gesagt, es wär okay«, sagte Mike. Aber auch er hatte offenbar Zweifel, ob ausgerechnet Tina die Leiche untersuchen sollte.
Wallner verzichtete darauf, zu Tina zu gehen. In diesem Stadium hatte er unmittelbar am Tatort nichts verloren.
Das war jetzt das Reich der Spurensicherung. Lutz kam auf sie beide zu. Er hatte den Plastikbeutel dabei, aus dem es so golden schimmerte, und ließ ihn jetzt neben den Tisch plumpsen. Wallner versuchte zu erkennen, was darin war. Es sah aus wie Brokat.
»Schöne Scheiße«, begann Lutz das Gespräch.
»Ja, ziemlich jung, das Mädel«, meinte Wallner.
»Und schau dir mal den Tatort an. Das sind ja Vandalen.« Lutz meinte die Feuerwehr.
»Ist nicht so wild, wie's ausschaut. Die Leiche ist da ja nur aufgetaucht. Weiß jemand, wo sie in den See geworfen wurde? «
»Vom Ufer aus kann sie kaum dort hingetrieben worden sein. Wir haben mal das Bodenprofil vom See unter die Lupe genommen.« Mike zog eine gefaxte Karte des Spitzingsees hervor, auf der akribisch die Höhenlinien eingetragen waren. Er deutete auf ein Kreuz, das den Fundort der Leiche markierte. »Da hätte die irgendwann bergauf treiben müssen.«
Wallner warf einen flüchtigen Blick auf die Karte, nahm einen Schluck von dem Kaffee, der inzwischen nur noch handwarm war, und wandte sich an Lutz. »Wie lange ist sie da unten gelegen?«
»Schwer zu sagen. Bei dem kalten Wasser ist die Verwesung erheblich verlangsamt. Das müssen die in der Gerichtsmedizin klären. Ich sag mal so: Sie schaut ziemlich frisch aus.«
»Wie lange ist der See schon zugefroren?«
Mike zuckte die Schultern. »Genau hat das hier keiner gewusst. Die vom Hotel sagen, dass sie schon Silvester auf dem Eis gewesen sind.«
Wallner ließ seinen Blick über den See schweifen. »Das heißt, die Leiche wurde vor Silvester in den See geworfen oder jemand hat ein Loch ins Eis gehackt, um sie zu versenken. Gibt's eine Vermisstenanzeige?«
Mike schüttelte den Kopf. »Nicht hier, nicht in Bayern. Die anderen Bundesländer checken wir gerade. Aber wahrscheinlich ist sie eh aus dem Landkreis. Tina hat gesagt ...«
»Ja, hast du erzählt.« Wallner blinzelte in die auf gehende Sonne. »Irgendwas stimmt hier doch nicht. Eine Fünfzehnjährige, die Tage oder Wochen abgängig ist - das muss doch mal einer gemeldet haben.«
»Mei - es passieren die seltsamsten Sachen.« Mit dieser Erklärung war Wallner nicht wirklich zufrieden. Aber im Augenblick fiel ihm auch nichts Besseres ein. Er nahm den Plastiksack und betrachtete den Inhalt.
»Goldbrokat?«
»Ein goldenes Kleid. So eine Art Prinzessinnenkleid für den Fasching.«
»Das hatte die Tote an?«
»Ja.«
»Das kann nicht sein, dass sie nach einem Faschingsfest erstochen und in den See geworfen wurde? Mal ganz blöd gefragt.«
»Kaum«, meinte Lutz. »Unter so einem Kleid trägt man normalerweise Unterwäsche.«
»Du meinst, sie hatte nur das Kleid an?«
»Ja. Und sie ist in dem Kleid auch nicht erstochen worden. Es gibt keine Einstichstelle im Kleid.« »Das heißt, der Mörder ...«
»... hat ihr das Kleid hinterher angezogen.« Wallners Blick wanderte zu der Leiche des Mädchens. Er hatte schon den einen oder anderen Mord erlebt. Der Landkreis Miesbach war nicht die Bronx. Aber ein bisschen gemordet wurde immer. Wallner hatte auch brutalere Morde als diesen gesehen. Blutbäder mit verstümmelten Leichen. Aber die Gründe waren immer die gleichen: Eifersucht. Drogen. Habgier. In neun von zehn Fällen stand der Täter innerhalb einer Stunde fest, man musste ihn nur finden und festnehmen. Der Rest war irgendwie kalkulierbar. Das hier war anders. Der Mörder dieses Mädchens hatte keines der üblichen Motive. Er wollte durch die Machart des Verbrechens etwas mitteilen. Die Frage war: Was und wem?
3.
Wallner stellte den Becher mit dem mittlerweile kalten Kaffee neben den Plätzchenteller, sog die eisige Morgenluft bis in die Bronchien und ging ein paar Schritte in Richtung See. Bis zur Absperrung. Tina wurde auf Wallner aufmerksam und winkte ihm zu. Er winkte zurück. Dann begann Wallner den Ort des Geschehens in sich aufzunehmen. Nicht wie die Kollegen von der Spurensicherung. Die suchten nach Details, um sie zu sammeln und aus den Puzzlestücken ein Ganzes zu bauen. Darin waren sie besser, als Wallner es je werden konnte. Lutz und Tina hatten im Lauf der Jahre einen sicheren Instinkt entwickelt, welche der zigtausend Einzelteile an einem Tatort Hinweise auf den Täter geben konnten. Wallner suchte etwas anderes. Wallner spürte der Aura des Tatorts nach. Jeder Ort, an dem ein Verbrechen begangen oder ein Opfer gefunden wurde, hatte nach Wallners Meinung diese Aura. Ein Mord störte den ruhigen Fluss der Dinge. Als ob ein Stein auf die glatte Wasseroberfläche eines Teichs geworfen wurde. Das Wasser wurde unruhig, warf Wellen. Und diese Wellen waren noch einige Zeit, nachdem der Stein untergegangen war, sichtbar. Ebenso hallte für Wallner das Echo eines Mordes am Tatort nach. Er erinnerte sich an seinen letzten Tatort. Ein Haus in der Miesbacher Innenstadt. Eine Frau war von ihrem eifersüchtigen Freund mit vierundzwanzig Messerstichen getötet worden. Das war kein Stein im Teich gewesen. Es war, als hätte jemand mit einer Schrotflinte auf die Wasseroberfläche gefeuert. Die Wellen waren chaotisch und heftig gewesen, aber von kurzer Dauer. Das hier war anders. Das hier waren große Wellen, die von weit her kamen. Stark und geordnet.
Wallner betrachtete den See. Die Januarsonne hatte die Schneefläche in ein flaches, aber helles Licht getaucht. Er sah das Loch, aus dem man die Leiche geholt hatte, er sah Tina, zu der sich gerade der Gerichtsmediziner aus München gesellte. Er sah die Spuren der Feuerwehrleute im Schnee. Sein Blick glitt über die unberührten Teile des Sees. Eine weiße, blitzende, fast konturlose Fläche. Wallners Blick blieb hängen. Er spürte es mehr, als dass er es sah. Es war am anderen Ende des Sees. Die Sonnenstrahlen brachen sich an einer Stelle geringfügig anders als auf dem restlichen See. Irgendetwas war dort. Wallner ging zurück zu Mike, zeigte ihm die Stelle und bat ihn, ein paar Leute dorthin zu schicken. Aber sie sollten vorsichtig sein. Das Eis sei an dieser Stelle wahrscheinlich dünner. Ohne weitere Erklärungen entfernte sich Wallner. Er war bereits wieder in seine Gedanken versunken. Mike hatte mit der Zeit gelernt, kryptische Anweisungen seines Chefs in praktische Maßnahmen umzusetzen. Also nahm er sich ein paar Leute und begab sich zu der von Wallner angegebenen Stelle.
Was man denn da suche, wollte ein junger Kollege wissen, während sie über den verschneiten See stapften. Mike wusste auch nicht, was sie suchten. So ermahnte er den jungen Kollegen, keine Volksreden zu halten und stattdessen lieber hurtig die Schneeschaufel zu schwingen. Und wer als Erster ins Eis einbreche, zahle eine Runde Glühwein. Das sei eh klar. Der junge Kollege machte sich sogleich an vorderster Front ans Schaufeln, war aber nicht gewillt, sich mit dummen Sprüchen abspeisen zu lassen. Ob das hier eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sei, und was das Ganze eigentlich solle. Denn für heute Abend sei wieder Schnee angesagt. Dann könne man morgen gleich noch mal ausrücken. Oder glaube Mike vielleicht, dass der Täter hier das Messer auf dem Eis habe liegen lassen? Im Übrigen habe der Täter die Leiche ja logischerweise in den See geworfen, bevor der zugefroren sei. Und zwar dreißig Zentimeter dick. Da könnten sie lange auf einen Glühwein warten. Praktisch mit diesen Worten hatte der junge Kollege die Runde Glühwein auch schon verwirkt. Denn plötzlich knarzte und krachte es, und eh der Mann begriff, was geschah, steckte er bis zum Bauch im Eis.
Wallner war unterdessen um den See herumgegangen. Etwas hatte ihn beunruhigt. Und es war nicht die Stelle gewesen, an der der junge Kollege jetzt im Eis steckte. Als Wallner die kleine Unregelmäßigkeit auf dem Schnee entdeckt hatte, da war ihm, als sei dahinter noch etwas anderes. Im Wald. Aber der Schnee hatte in der Morgensonne geglitzert und geblendet. Und das hatte den Wald hinter dem See ganz schwarz aussehen lassen. Es war ein kleines Licht gewesen. Rot und einsam flackerte und tanzte es im dunklen Wald. Eine Täuschung, hätte er sich unter anderen Umständen gesagt. Nichts, weswegen er an einem kalten Januarmorgen um den ganzen Spitzingsee gelaufen wäre. Doch das kleine, rote Irrlicht war Wallner erschienen wie ... nun, Wallner war nicht sehr gläubig, aber ihm war, als flackere dort eine einsame Seele. Und es war ihm weiter, als sei es die Seele des toten Mädchens, die da einen elfenhaften, traurigen Tanz vollführte. Wallner hatte sich die Augen gerieben und heftig den Kopf geschüttelt. Dann hatte er sich zwei Hände voll Schnee ins Gesicht gepackt und abermals zum Wald hinübergeschaut. Das Licht war jetzt verschwunden, und Wallner sagte sich, dass er sich in Acht nehmen müsse, dass ihm seine Müdigkeit keine Streiche spiele. Ihm ruhelose Seelen vorgaukele, wo in Wirklichkeit nichts war. Nur ein ungeklärter Mord. Wallner betrachtete Mike und seine Männer, die über den See zogen. Und da war es wieder aufgetaucht, das rote Seelenlichtlein.
Wallner kämpfte sich durch den verschneiten Wald und versank bald knöcheltief, bald bis übers Knie im lockeren Schnee. Von fern hörte er Männerstimmen, aufgeregt durcheinanderschreiend, dazwischen Mikes Anweisungen, wie man den jungen Kollegen aus dem Eis zu befreien habe; mit scharfem Ton verlangte er nach einer Wärmedecke, und nach dem Gerichtsmedizinfritzen solle man schicken, dass er sich das Schlamassel mal ansehe, nicht dass sich der junge Kollege noch wichtige Teile abfriere, bevor er seinen Glühwein auszutun die Gelegenheit habe. Wallner wandte sich vom Ufer ab, und die Stimmen wurden leiser. Immer mühsamer wurde der Weg durch den tiefen Schnee. Aber Wallner war sich seines Weges sicher. Hier hatte er das rote Lichtlein tanzen sehen. Es konnte nicht weit sein. Wallner war außer Atem geraten, halb vor Anstrengung, halb in erregter Erwartung dessen, was er antreffen würde. An einer um gestürzten Fichte blieb er stehen, blickte um sich. Es war dunkler geworden. Bleigraue Wolken hatten die Sonne verdeckt. Obwohl noch früh am Tag, herrschte mit einem Mal Dämmerstimmung. Die Kondenswolken aus dem eigenen Mund vernebelten Wallner den Blick. Als sie sich verzogen, sah Wallner hinter einer schneebedeckten Bodenwelle etwas Dreieckiges hervorragen. Wallner ging näher heran. Es war ein Holzdach, sehr klein. Von Traufseite zu Traufseite vielleicht einen Meter messend. Und recht viel mehr erhob es sich auch nicht über den Boden. Wallner beschleunigte seinen Schritt, rannte die letzten Meter. Schließlich stand er vor dem kleinen Dach, das ihm bei näherem Ansehen ein durchaus vertrauter Anblick war. Jetzt konnte er erkennen, was es war - das rote Licht. Nichts Ungewöhnliches. Doch was er über dem roten Lichtlein sah, raubte Wallner den Atem.
4.
Die Sonne stand schon tief. Es war gegen halb fünf. Peter sah im Westen Wolken aufziehen. Aber der Westen ist weit, wenn man auf einem Zweitausender sitzt. Den ganzen Tag über hatte der Föhn den Alpenhauptkamm in Sonne und laue Winde gehüllt. Selbst jetzt war es noch warm. Peter blickte auf seine Skischuhe, an denen der Schnee sich zum größten Teil in Wasser verwandelt hatte, das in kleinen Bächen zwischen den Schnallen abfloss. Er nahm einen Schluck aus der Thermoskanne und reichte sie an das Mädchen weiter. Lisa saß zwei Meter weiter auf einem Stein. Sie war blond und hatte die Haare zu zwei Zöpfen geflochten und die Zöpfe um den Kopf gewunden. Die Strahlen der Nachmittagssonne verzauberten ihr Gesicht, brachten ihre blauen Augen mit dem dunkelblauen Ring um die Iris zum Leuchten und machten jede einzelne Sommersprosse auf ihrer Nase sichtbar. Sie war fünfzehn und lächelte. Sie lächelte erschöpft und jung, und das Herz wurde ihm schwer vor Glück.
»Schade, dass Mama nicht Ski fährt«, sagte Lisa und nahm einen Schluck aus der Thermoskanne.
»Ja, schade«, sagte Peter.
»Wir erzählen's ihr besser nicht, wie?« In Lisas Blick lag Sorge.
»Na, wir erzählen's ihr schon. Also im Wesentlichen.« Lisa sah ihn an, und ein schelmisches Lächeln spielte um ihre Lippen. Ein paar Sommersprossen auf der Nase verschwanden in kleinen Falten.
»Wir waren Skifahren. Das reicht ja.«
»Warum will Mama eigentlich nicht, dass ich Touren gehe?«
»Sie fährt nicht Ski. Deswegen weiß sie nicht, wie das ist, wenn man Touren geht. Und weil sie's nicht kennt, macht es ihr Angst. In den Nachrichten bringen sie ja nur, wenn Tourengeher von Lawinen verschüttet werden. Sie denkt, das passiert ständig, verstehst du?«
»Klar. Wenn ich das nur aus den Nachrichten wüsste ...«
Lisa schraubte die Thermosflasche zu. Sie war ganz konzentriert auf diesen Vorgang, wie auf alles, was sie tat. Er sog die kleinste Bewegung von ihr ein. Sie gab ihm die Flasche zurück, und die abendlichen Sonnenstrahlen brachen sich in ihren Augen.
Gestern Nacht waren sie in das irische Pub gegangen. Lisa hatte auf der Schule davon gehört. Unter Leuten ihres Alters war es legendär. Die Gäste waren meist Engländer, Australier, Holländer und Schweden, kaum einer über zwanzig. Das Personal kam aus England und seinen ehemaligen Kolonien. Nur Claudia, die dunkelhaarige, leicht verlebte Schönheit hinter der Bar, war eine Einheimische aus dem Spertental. Ab 22 Uhr war der Boden des Lokals mit Glasscherben und Zigarettenkippen übersät und die Kellner betrunkener als die Gäste. Aus den Lautsprechern kam ein Musikmix aus Nirvana, Guns 'n' Roses, Green Day und wieder Nirvana. Lisa hatte fünf Minuten, nachdem sie gekommen waren, einen holländischen Verehrer von siebzehn Jahren, der aber auf dem Weg zur Tanzfläche gegen einen schwedischen Tisch torkelte und anschließend in längere Verhandlungen über die Bezahlung der zu Boden gerissenen Getränke verwickelt wurde. Zwei junge Männer aus Wolverhampton sprangen für den Holländer ein. Peter behielt Lisa im Auge. Er setzte sich an die Bar und begann ein bisschen mit Claudia zu flirten. Claudia hatte gesehen, dass Peter mit Lisa gekommen war. Sie fragte, wer denn die Kleine sei. Peter sagte, das sei seine Tochter. Claudia schien einen Augenblick irritiert. Dann sagte sie: »Die hosch guat hinkriagt.«
Lisa stand mit den zwei Jungs auf der Tanzfläche. Blond, schlank, hochgewachsen. Sie trug die Haare offen und Jeans mit Löchern und Tennisschuhe aus Segeltuch. Peter bemerkte, wie die Männer im Raum seine Tochter anstarrten. Die zwei Engländer spielten Luftgitarre und versuchten, Lisa mit allerlei Albernheiten zu unterhalten. Lisa benahm sich höflich distanziert, lächelte, lachte auch. So wie eine Prinzessin, die halb amüsiert, halb in geübter Gewohnheit Huldigungen entgegennahm. Schließlich ließ sie ihre Verehrer stehen und ging zu Peter an die Theke.
»Was ist? Sind die Jungs nicht nett?«
»Ja, ganz süß.« Sie zuckte mit den Schultern. Er schob ihr einen Maracujasaft hin, den er bei Claudia bestellt hatte. Sie nahm den Strohhalm zwischen die Lippen und sog die Flüssigkeit ein. Für einen Augenblick verschmolz sie ganz mit dem Maracujasaft. Es schien nichts anderes zu geben als das Glas, den Saft, den Strohhalm und sie. In solchen Momenten hatte sie die Augen fast geschlossen. Er fragte sich, was sie zwischen ihren langen Wimpern sehen mochte. Vielleicht nichts. Vielleicht war ihr Blick auch nach innen gerichtet, und sie träumte von irgendetwas, das sie für sich behielt. Sie setzte das Glas mit Grazie auf dem Tresen ab.
»Tanzt du mit mir?«
»Bist du sicher? Ich meine, ich bin froh, dass mir hier noch niemand seinen Platz angeboten hat.«
Lisa lächelte ihn an. »So ein Quatsch«, sagte sie, als wäre sie fünfunddreißig. Dann zog sie ihn am Hemd und deutete mit dem Kopf zur Tanzfläche. In dieser Nacht hatten sie getanzt, Spaß gehabt, Lisa hatte zwei Gläser Sekt getrunken und eine Zigarette geraucht. Sie waren um halb drei in die Pension zurückgekehrt.
»Komm, Prinzessin, es wird Zeit, dass wir abfahren.« Lisa nickte und gab ihm die Thermoskanne zurück. Dann begann sie andächtig, die Schnallen ihrer Skischuhe zu schließen.
Die Idee mit der Skitour war Peter heute Morgen gekommen. Sie hatten spät gefrühstückt nach der anstrengenden Nacht. Es war ein schöner Tag. Die Luft war mild und der Frühling schon zu erahnen. Die Pisten würden brechend voll sein. Die meisten Leute hatten heute frei.
»Komm«, hatte Peter gesagt, »wir machen eine Skitour. Da sind wir allein auf der Piste.«
»Einfach so?«, hatte Lisa gefragt. »Wir haben doch gar nichts dabei.«
»Wir leihen uns Skier und Felle. Was meinst du?«
Sie waren zum nächsten Skiverleih gefahren, hatten sich die Ausrüstung ausgeliehen und gefragt, wo man in der Gegend am besten eine einsame Skitour machen könne. Peter war früher oft Skitouren gegangen. Er kannte sich einigermaßen aus. Drei Stunden später standen sie auf dem Gipfel in zweieinhalbtausend Metern Höhe. Die Sonne schien.
Das Zillertal lag zu ihren Füßen.
Peter betrachtete Lisa, wie sie in sich versunken den Reißverschluss ihres Anoraks hochzog. Er fragte sich, wie oft sie noch eine Skiwoche miteinander verbringen würden. In ein oder zwei Jahren würde Lisa einen festen Freund haben oder lieber mit ihrer Clique verreisen. Noch ein paar Jahre später würde sie heiraten. Peter hoffte, dass Lisa einen Mann fände, den er mochte. Einer, mit dem man Ski fahren und ein paar vernünftige Sätze wechseln könnte. Auf ihrer Hochzeit würde Peter den Brautwalzer mit Lisa tanzen. Ganz altmodisch. Aber sie würde das so wollen.
»Was ist los? Du siehst mich so komisch an.« Lisa lächelte unsicher.
»Nichts. Ich war in Gedanken.«
Peter genoss noch einmal den Panoramablick. Im Südwesten konnten sie bis zum Ortler sehen, der schon in Südtirol war. Im Osten leuchteten rosa Großglockner und Großvenediger, im Norden begrenzten die schroffen Felsformationen des Karwendel den Horizont. Sie hatten eineinhalb Stunden Zeit, bevor es dunkel wurde. Das war mehr als genug, um ins Tal abzufahren. Lawinen waren nicht zu befürchten. Es hatte seit über einer Woche nicht geschneit. Was Peter etwas Sorge bereitete, war der feste Schnee. Lisa war keine erfahrene Tiefschneefahrerin. Aber sie war sportlich und hatte Kraft.
Peter packte die Felle in den Tourenrucksack und verstaute die Thermosflasche. Schließlich stieg er in seine Bindung und kontrollierte noch einmal, ob auch Lisa richtig in der Bindung stand.
»Und? Bist du fit?«
»Klar«, sagte Lisa und fuhr ein paar Meter ab, bis sie den Einstieg in den ersten Hang erreichte. Er war relativ steil, wurde aber nach unten zu flacher.
»Du brauchst ein bisschen Geschwindigkeit, sonst kriegst du die Skier nicht rum. Der Schnee ist ziemlich schwer.«
Lisa betrachtete mit ernstem Gesicht den unter ihr liegenden Hang und nickte.
»Also fahr schräg rein. Aber nicht zu schräg. Ich fahr vor. Versuch, ungefähr meiner Spur zu folgen.«
»Okay.«
Peter merkte, dass Lisa Respekt hatte vor dem Hang. Vielleicht auch Angst. Sie waren bislang erst zweimal auf einer Skitour gewesen. Aber das war in flacherem Gelände gewesen, in leichtem Pulver. Das hier war anspruchsvoller.
»Wenn's nicht geht, dann einfach traversieren, anhalten, umdrehen und weiterfahren. Unten wird's dann leichter.«
»Das geht schon«, sagte Lisa und biss sich auf die Oberlippe. Peter überlegte, ob er noch etwas zu ihrer Beruhigung sagen sollte, entschied sich dann aber loszufahren. Wenn Lisa tatsächlich Probleme haben würde beim Abfahren, dann könnte die Zeit, entgegen seiner ursprünglichen Berechnung, knapp werden.
Peter fuhr vorsichtig in den Hang, wobei er gründlich überlegte, welchen Einfahrtswinkel er Lisa zumuten konnte. Schon auf den ersten Metern spürte Peter, dass der Schnee fester war, als er angenommen hatte. Er zog ein paar weite Bögen. Doch das fiel selbst ihm nicht leicht. Auf halber Höhe des Hangs blieb er stehen.
»Sei vorsichtig! Der Schnee ist ziemlich fest!«, rief er zu Lisa hoch. Lisa zögerte, studierte den Hang, rutschte ein paar Meter ab, bevor sie sich entschloss loszufahren. Sie begann sehr flach, doch nach einer kleinen Kuppe wurde ihre Bahn steiler. Sie legte das Gewicht nach hinten. Dadurch gewann sie an Fahrt. Das erlaubte es ihr, einen großen Bogen zu fahren. Aber Peter sah, dass sie die Skier kaum noch unter Kontrolle hatte.
»Nicht so schnell, Lisa! Gewicht nach vorne!«
Doch Lisa hörte ihn nicht mehr. Oder sie hörte ihn, konnte seinen Rat aber nicht mehr befolgen, weil jetzt Skier und Schwerkraft das Kommando übernommen hatten. Kurz darauf flog sie an Peter vorbei. Er sah die Angst in ihrem Gesicht.
»Halt an! Lass dich fallen!«, schrie er ihr hinterher. Aber Lisa schoss jetzt fast senkrecht Richtung Tal. Es gelang ihr noch mit großer Kraftanstrengung, ihren Skiern eine Linkskurve aufzuzwingen. Doch dadurch raste sie jetzt auf eine Felskante zu. Peter stand paralysiert im Hang und starrte auf das kleiner werdende Mädchen, das sich mit unverminderter Geschwindigkeit der Kante näherte. Nur noch wenige Meter trennten Lisa vom Abgrund. Endlich ließ sie sich fallen. Nasser Schnee wirbelte auf. Die Skier wurden ihr von den Füßen gerissen und flogen durch die Luft. Lisa wurde - wenn auch abgebremst - weiter auf den Abgrund zugeschleudert. Peter betete, dass sie recht zeitig anhalten möge. Doch ihre Geschwindigkeit war zu groß. Plötzlich war sie hinter der Felskante verschwunden. Peter blickte fassungslos nach unten. Kurz darauf hörte er zeitversetzt Lisas Schrei. Dann Stille.
Copyright der Originalausgabe © 2008 by Knaur Verlag, München.
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Autoren-Porträt von Andreas Föhr
Andreas Föhr, Jahrgang 1958, gelernter Jurist, arbeitete einige Jahre bei der Rundfunkaufsicht und als Anwalt. Seit 1991 verfasst er erfolgreich Drehbücher für das Fernsehen mit Schwerpunkt im Bereich Krimi. Zusammen mit Thomas Letocha schrieb er unter anderem für „SOKO 5113, Ein Fall für zwei" und „Der Bulle von Tölz".Für seinen Debütroman „Der Prinzessinnenmörder" ist Andreas Föhr mit dem begehrten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet worden. Mit „Schwarze Piste" stand Föhr monatelang unter den Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste.
Andreas Föhr lebt bei Wasserburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Föhr
- 2010, 1. Auflage, 384 Seiten, Deutsch
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426409526
- ISBN-13: 9783426409527
- Erscheinungsdatum: 15.12.2010
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