Der Totenflüsterer (ePub)
Eine Leiche soll exhumiert werden, doch im Grab liegen zwei: Ein psychopathischer Mörder hat sich geschworen, den einsamen Toten ihren perfekten Partner an die Seite zu geben - im Tode vereint. Dfie Polizistin Greer Lomax kämpft gegen einen unsichtbaren...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Totenflüsterer (ePub)“
Eine Leiche soll exhumiert werden, doch im Grab liegen zwei: Ein psychopathischer Mörder hat sich geschworen, den einsamen Toten ihren perfekten Partner an die Seite zu geben - im Tode vereint. Dfie Polizistin Greer Lomax kämpft gegen einen unsichtbaren Gegner - und gegen die Liebe zu ihrem Kollegen Ash Keller. Denn das Feuer, das in ihnen brennt, wird zur tödlichen Gefahr...
Lese-Probe zu „Der Totenflüsterer (ePub)“
Der Totenflüsterer von Jamie Denton1
Die Toten hatten immer eine Geschichte zu erzählen, und es war ein Glück für die verblichenen, dass Parker Hennessy zuhören konnte. Mit großem Stolz hatte er die Verantwortung für seine außerordentliche Gabe übernommen.
Ruhig saß er in dem Queen-Anne-Sessel, eine teure schwarze Ledermappe - ein Weihnachtsgeschenk seiner geliebten Susan - offen auf dem Schoß. Im Interesse seiner lebenden Kunden achtete er sehr auf seine Erscheinung. Gedeckte Farben. Die dunkel gemusterte, unauffällige Krawatte passte zu seinem strengen, doch eleganten dunkelblauen Anzug. Weißes Hemd, mahagonibraune, auf Hochglanz polierte Lederschuhe. Er war sorgfältig frisiert, hatte graue Schläfen. Kurz geschnittene, manikürte Fingernägel. Parker Hennessy war durch und durch ein Profi. Immer.
Berater. Beichtvater. Fürsorglicher Vertrauter. Absolute Perfektion. Darauf achtete er, und er zeigte nie auch nur die leiseste Unsicherheit.
Er wartete, bis die trauernde Witwe sich die Tränen abgetupft hatte - überall standen Schachteln mit Papiertaschentüchern -, dann blickte er rasch noch einmal auf ihren Namen. Madelyn. Sie hieß Madelyn Strom.
Manchmal sprangen die Namen in seinem Kopf wild durcheinander, wie weiße Plastikkugeln in einem PlexiglasBehälter, in den Luft gepumpt wird. B-9. 1-25.
So viele Namen. So viele. Manche hatte er vergessen. Andere hatten sich für immer in sein Gedächtnis eingeprägt, und wenn er es zuließ, roch er noch den bitteren Rauch und den Gestank ihres verbrannten Fleisches.
»Sie wollen sicher einen geschlossenen Sarg, aufgrund der Umstände, unter denen Ihr Mann verschieden ist«, sagte Parker. Er sprach leise und gleichmäßig moduliert, um das richtige Maß an Respekt zu vermitteln. Die Lebenden wollten in ihrer Trauer
... mehr
getröstet werden, und das tat er.
Tot war tot in seinem Geschäft. Für ihn jedoch spielte eine Rolle, dass Walter Strom als unglücklicher Mann gestorben war. Warum sonst sollte ein Dreiundfünfzigjähriger eine ganze Schachtel verschreibungspflichtiger Tranquilizer mit einer Flasche Wodka herunterspülen?
Die Witwe blickte Parker an und nickte. Ihre hellbraunen Augen waren rot gerändert und jammervoll. Er versuchte sich ihren Kummer vorzustellen - aber es gelang ihm nicht.
Er versuchte, sich das Elend des Mannes vorzustellen - und Wut stieg in ihm auf.
Plötzlich schlug Madelyn Strom die Augen nieder. Das lag nicht daran, dass er eine unangemessene Emotion gezeigt hatte. Das tat er nie. Er besaß eine seltene, exquisite Gabe und war mittlerweile viel zu gut, um Anfängerfehler zu machen.
Senkte sie aus Schuldgefühl den Blick? Vielleicht, dachte er und schob verstohlen die Schachtel mit den Papiertaschentüchern über den Tisch näher an die trauernde Witwe heran. Vielleicht war sie ja verantwortlich dafür, dass ihr Mann sich das Leben genommen hatte. Seiner Erfahrung nach war das sogar wahrscheinlich. Eine Erfahrung, die er aus dem Leben vieler gezogen hatte.
So vieler. G-56.
Madelyn holte tief Luft. Parker wartete darauf, dass sich seine Geduld auszahlte, und wurde nicht enttäuscht.
»Walter hat mich betrogen«, flüsterte sie. »Und ich habe es nicht gewusst.«
Madelyns Geständnis überraschte ihn nicht. Die Toten hatten immer eine Geschichte zu erzählen. Er musste nur warten, bis ihm die Wahrheit enthüllt wurde. Seine lebenden
Klienten vertrauten ihm. Berater. Beichtvater. Fürsorglicher Freund. Sie vertrauten ihm ihre Trauer an - und ihre schmutzigen kleinen Geheimnisse.
Eine Stunde später brachte er die Witwe schließlich zur Tür. Ihre Hand zitterte, als sie sich von ihm verabschiedete.
»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht nach Hause fahren lassen soll?«, fragte er sie.
»Nein, danke, Mr Hennessy. Ich ...« Sie zögerte. Ihr Händedruck wurde fester, und erneut traten Tränen in ihre Augen. »Ich ... komme schon zurecht.«
Das bezweifelte er, aber es war ihm auch egal. In der Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, hatte er alles über Walter Strom erfahren, was er wissen musste.
Armer, armer Walter. Ein sanfter, freundlicher Mann mit einer Schwäche für Kürbiskuchen, ausländische Filme - und junge, hübsche Brünette mit großen Brüsten, die sich ihre Dienste von ihm stundenweise bezahlen ließen.
Tröstend legte er seine linke Hand über die von Madelyn. Er versprach ihr, dass die Beerdigung ihres Mannes würdevoll und respektvoll vonstattengehen würde, und wartete dann, bis sie die Stufen von der Veranda heruntergegangen war, bevor er die breite Eingangstür zu Hennessys Bestattungsinstitut schloss.
Ein leises Lächeln der Vorfreude umspielte seine Mundwinkel, als er die Treppe ins Untergeschoss hinunterging, wo seine Angestellten die Leiche von Francine Meeks vorbereiteten. Die neunundachtzigjährige frühere HighschoolChemielehrerin hatte ein ereignisloses Leben geführt, das sich nur dadurch auszeichnete, dass sie einen Schüler, der jetzt ein hohes Tier bei der NASA war, in der elften Klasse aus ihrem Unterricht geworfen hatte. Parker blieb stehen und begutachtete die Arbeit der Kosmetikerin. Zufrieden nickte er Opal Jones zu, dann ging er in sein Büro und zog die Tür hinter sich zu.
Die Trauerfeier für Walter Strom, die in drei Tagen stattfand, würde würdevoll und respektvoll sein, wie versprochen. Keiner der Trauergäste würde von ihm oder seinen Angestellten jemals erfahren, dass Stroms Witwe während des Gottesdienstes hauptsächlich deshalb Tränen vergoss, weil ihr Mann sich bei einer Prostituierten mit HIV infiziert hatte. Oh ja, es würde eine schöne, würdevolle Beerdigung werden, allerdings weit weniger bedeutungsvoll, als die private Feier, die nur er durchführen durfte - die durchzuführen seine Pflicht war.
Walter Strom brauchte ihn. Er brauchte seine Führung und Erfahrung. Seine Fähigkeit, ihn mit seiner wahren Gefährtin zu vereinen, der perfekten Frau, die es wert war, in Ewigkeit an seiner Seite zu ruhen.
Parkers Blut summte vor Erregung, aber er drängte die Vorfreude zurück. Bevor er sich auf die Suche nach der besonderen Frau für Walter machte, hatte er noch viel zu tun. Zuerst musste er die Lebenden zufriedenstellen. Er musste die Leiche aus dem Leichenschauhaus holen, den sehr teuren Sarg bestellen, den die Witwe ausgesucht hatte, zweifellos aus Schuldgefühl, weil sie ihren Mann in die Arme von Prostituierten getrieben hatte. Er musste bei der Floristin und dem Drucker anrufen und den Text der Traueranzeige entwerfen. Erst danach konnte er sich seiner eigentlichen Gabe widmen und seinem Klienten seine besonderen Dienste zuteilwerden lassen.
Ja, dachte er, die Toten haben immer eine Geschichte zu erzählen. Und es war seine Pflicht, ihnen das glückliche Ende zu bescheren, das sie verdient hatten.
Und Parker Hennessy nahm seine Pflicht sehr ernst.
Greer Lomax klappte den schweren Band mit den Kommunalgesetzen zu und stieß frustriert die Luft aus. Obwohl sie sogar ihre Mittagspause hatte ausfallen lassen, um über dem dicken Buch zu brüten, hatte sie keine Verordnung
gefunden, die das Umstoßen von Grabsteinen für ungesetzlich erklärte. Sie hatte nichts in der Hand, um Anklage zu erheben.
Erschöpft rieb sie sich die Schläfen, aber das langsame, stetige Pochen, verursacht vom Schlafmangel, ließ nicht nach. Dass wütende Witwen mit blau getöntem Haar am Morgen das Büro des Bezirkssheriffs in Magnolia gestürmt hatten und lauthals Gerechtigkeit für die Schändung der Gräber ihrer Männer gefordert hatten, hatte das Pochen nur noch verstärkt.
Auch zwei Aspirin und jede Menge starker, schwarzer Kaffee hatten nicht geholfen. Die Erfahrung lehrte sie, dass die Schmerzen erst nach ein paar Stunden ununterbrochenen Schlafs vergehen würden, aber da sie im Moment die einzige Polizistin im Dienst war, musste dieser Luxus wohl noch warten.
Sie hatte größere Probleme als Kopfschmerzen - die alten Schachteln hatten damit gedroht, die Angelegenheit selbst in ihre arthritischen Hände zu nehmen. Erneut stieß Greer einen Seufzer aus und erhob sich, um das Buch wieder ins Regal zu stellen. Sie hätte die alten Damen besser besänftigen sollen, statt ihnen zu erklären, dass sie höchstens Bußgelder wegen Vandalismus erheben konnte, vorausgesetzt, die verantwortlichen Kinder waren überhaupt schon strafmündig.
»Und schon wieder ein Tag im Paradies«, murmelte sie, griff nach ihren blauweißen Kaffeebecher, der auf ihrem alten, schweren Metallschreibtisch stand, und machte sich auf den Weg in den Pausenraum, um sich noch einmal Kaffee zu holen.
Wahrscheinlich hatten sowieso diese Studentenbürschchen vom Seaside College die Verwüstungen angerichtet. Wenn sie die richtigen Personen streng genug befragte, konnte sie sich vielleicht die sterbenslangweilige Überwachung des Friedhofs sparen.
Stirnrunzelnd blieb sie stehen. Was war bloß los mit ihr? Sie sollte dankbar sein, dass sie nicht mehr diesem täglichen Dauerstress ausgesetzt war, statt sich darüber zu beklagen, wie ruhig ihre Abende hier verliefen. Hier brauchte sie sich doch höchstens um eine Handvoll ungezogener Gören mit zu viel Freizeit zu kümmern oder darum, eine Gruppe blutrünstiger alter Damen, die sich als Hüterinnen des Gesetzes aufspielten, in Schach zu halten. Nach fast sechs Jahren, in denen sie aus dem Leichenschauhaus kaum herausgekommen war, sollte sie dankbar sein, dass es auch noch ruhige Posten gab, in denen sie wegen ein paar umgestürzter Grabsteine ermitteln musste. Zum Jammern hatte sie keinen Grund.
Du kannst nicht beides haben, Lomax. Genau.
Sie betrat den Pausenraum, wo Blythe Norton, die die Tagschicht koordinierte, gerade versuchte sich zu entspannen. Sie war mit Kyle Norton verheiratet, der ebenfalls Sheriff in Magnolia County war. Es war schwer genug, sich auf den harten Plastikstühlen, die um den Kunststofftisch P mit imitierten Holzmaserungen herumstanden, auszuruhen, dachte Greer, aber für eine Frau im neunten Monat war es so gut wie unmöglich.
Greer nickte Blythe grüßend zu. Die Schwangere hatte sich einen weiteren Stuhl mit einem dicken roten Samtkissen herangezogen und ihre geschwollenen Füße hochgelegt.
Blythe grinste sie an. »Ich habe fest damit gerechnet, dass du mich zur Unterstützung holst«, neckte sie Greer und stellte ihre Teetasse auf ihren dicken Bauch.
Greer lächelte müde. »An dem Tag, an dem ich mit einem Haufen aufgeregter alter Damen nicht mehr fertig werde, gebe ich meine Polizeimarke zurück.«
Und zwar für immer, fügte sie im Stillen hinzu. Überrascht stellte sie fest, dass sie ein scharfer Stich des Bedauerns durchfuhr. Sie hätte wissen müssen, dass es ein Fehler war, einen anderen Job im Polizeidienst zu übernehmen, aber das Angebot hatte sie unvorbereitet getroffen und sie in einem schwachen Moment erwischt.
Als Sheriff Travis Willows ihr das Angebot gemacht hatte, hätte sie ablehnen sollen. Er hatte ihr jedoch versprochen, dass die Position als Deputy zeitlich begrenzt wäre, und sie war darauf hereingefallen. Drei seiner Deputies hatten gekündigt, weil sie anderswo besser bezahlte Posten gefunden hatten, und sie sollte nur einspringen, bis er die freien Stellen neu besetzt hatte. Bei jemand anderem hätte sie das Angebot rundheraus abgelehnt, aber Travis war ein alter Freund der Familie. Zu ihm nein zu sagen, war so, wie ihrem Vater etwas abzuschlagen - wenn Buddy Lomax noch am Leben gewesen wäre.
Wider besseres Wissen hatte sie den Job also angenommen. Sie war noch keinen Monat dort, als das politische Klima sich veränderte und das Budget gekürzt wurde. Achtzehn Monate später arbeitete sie immer noch im Schichtdienst, vier bis sechs Tage in der Woche und gelegentlich auch schon einmal eine Doppelschicht.
Position auf Zeit, von wegen.
Blythe lächelte müde. »Nach dieser Unterhosen-Episode bei Hester Simpkins Beerdigung vor zwei Wochen kann ich es den alten Mädels noch nicht mal übel nehmen, dass sie sich so aufregen.«
In den vergangenen Wochen war der Shady-KnollsFriedhof das Hauptangriffsziel sämtlicher jugendlicher Witzbolde im Bezirk geworden. Vor zwei Wochen hatten alkoholisierte College-Schüler die Höschen der Schülerinnen der Delta Sigma Kai Studentinnenvereinigung erbeutet und damit diverse Bäume auf dem Friedhof dekoriert. Niemandem waren die bunten Wäschestücke aus Satin und Spitze aufgefallen, die an den höchsten Ästen einer Trauerweide in der Nähe der Grabstelle flatterten, wo Hester Simpkin zur letzten Ruhe getragen wurde - bis schließlich eine steife Brise vom Atlantik aufgekommen und ein Schauer von Höschen auf die überwiegend älteren Trauergäste niedergegangen war.
Greer spülte ihre Tasse aus und schenkte sich frischen Kaffee ein. Sie rang sich ein Lächeln ab, als sie sich Blythe gegenüber an den Tisch setzte. »Dieses Mal werden sie erst Ruhe geben, wenn die >Bösewichte< an der Kreuzung von Main Street und Chestnut Street hängen.«
Böse, schnaubte sie im Stillen. Als ob diese Leute hier eine Ahnung davon hätten, wie viel Böses es wirklich auf der Welt gab. Als ob sie überhaupt wüssten, was dieses Wort bedeutete.
Ihr Magen knurrte, und sie spähte stirnrunzelnd in die rosa Bäckereischachtel, die auf dem Tisch stand. Vielleicht gab es ja noch irgendetwas mit Schokolade.
Blythe pustete in ihren Tee. »Sieh es doch mal positiv«, sagte sie und legte die Hand schützend auf ihren dicken Bauch. »Wenn die Kinder Grabsteine umstoßen, sind sie wenigstens nicht hinter den Dorftrotteln her.«
Greer nickte und nahm sich einen Donut mit Ahornsirup aus der Schachtel. »Wir sollten uns auf einen Anruf vom Staatsanwalt gefasst machen«, sagte sie, bevor sie hineinbiss. »Ich habe gehört, wie Betty Riddle den Truppen Befehle gegeben hat, als sie sich zurückzogen.«
»Oh, apropos.« Blythe stellte ihre Tasse ab. »Ich habe eine Nachricht für dich von Travis. Er sitzt in einer Konferenz mit dem Budget-Ausschuss. Du sollst ihn um halb drei bei einer Exhumierung vertreten.«
Greer verschluckte sich beinahe an ihrem Donut. »Ich?«, stieß sie hervor. »Warum denn ich?«
»Weil du die einzige bist, die verfügbar ist. Kyle muss vor Gericht als Zeuge aussagen, Grant ist immer noch krankgeschrieben, und ... «
»Wo ist Orson?«, fragte Greer. Tate Orson kam zwar gerade erst frisch von der Akademie, aber es war ihr absolut egal, wer bei einer Exhumierung dabei war, wenn nur sie es nicht sein musste.
Blythe schüttelte den Kopf. »Er hat bis zum Wochenende frei.«
Greer warf den halb aufgegessenen Donut in den Abfallkorb. Ihr war der Appetit vergangen. »Ruf ihn einfach an.«
»Das geht nicht. Er macht Urlaub in der Hütte seines Großvaters, oben am See. Kein Strom, kein Telefon und auch kein Handy-Empfang.«
»Urlaub? Er ist doch noch nicht einmal sechs Monate hier«, beschwerte sich Greer. Sie machte den Job, den sie noch nicht einmal gewollt hatte, schon viel länger und war bis jetzt noch nicht einmal einen Tag lang krank gewesen. Irgendetwas stimmte da doch nicht.
Blythe seufzte. »Travis hat mich gewarnt, dass du dich wahrscheinlich aufregen würdest.«
»Ja, da hat er auch ganz recht«, erwiderte Greer gereizt. »Ich mache keine Autopsien mehr. Nie mehr.«
Blythe zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Ich dachte, du solltest nur dabei sein, wenn sie das Grab öffnen, und dann den Transport der Leiche zur Gerichtsmedizin begleiten?«
Greer krampfte sich der Magen zusammen. Ihr wurde übel.
»Man muss die ganze Zeit über dabei bleiben«, erklärte sie. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Ruf Travis an und sag ihm, er soll sich jemand anderen suchen.«
Ihr Stuhl scharrte laut über den graublau gesprenkelten Fliesenboden, als sie aufstand. Sie musste hier raus. Sie brauchte dringend Luft, frische Luft, die die Erinnerung an den beißenden Gestank von verwesendem Fleisch von ihr nahm.
»Greer, warte ... «
Der Stuhl wäre beinahe umgefallen, aber Greer packte ihn noch im letzten Moment. »Am besten rufe ich ihn selber an«, sagte sie.
Und sage ihm, dass ich kündige.
Sie würde auf keinen Fall mehr an einer Autopsie teilnehmen. Wenn sie nur während der Exhumierung dabei sein müsste, würde sie es schon irgendwie durchstehen, aber der Gedanke an das, was danach kam, schnürte ihr die Kehle zusammen und erfüllte sie mit kalter, blanker Angst.
»Du weißt doch, dass er die Sitzung nicht verlassen kann«, erinnerte Blythe sie. »Er muss aus dem Budget-Ausschuss so viel wie möglich herausquetschen.«
Wenn es Travis gelang, zusätzliche Gelder für das Präsidium herauszuholen, konnte er weitere Deputies einstellen, und dann wären ihre Tage in Uniform Gott sei Dank gezählt. War das nicht ihr Ziel? Ein für alle Mal aufzuhören?
Sie umklammerte die Rückenlehne des Stuhls bis ihre Knöchel weiß hervortraten. »Kann die Exhumierung nicht verschoben werden?«, fragte sie. Es war ihr egal, wie verzweifelt sie klang. Sie war verzweifelt.
Travis hatte ja keine Ahnung, was er ihr mit einer solchen Aufgabe antat. Was für einen Rückschlag sie erleiden konnte. Niemand wusste das.
Sie hatte jetzt seit fast einem Monat keine Panikattacke mehr gehabt, noch nicht einmal nach dem Albtraum letzte Nacht. Aber allein der Gedanke an eine Autopsie reichte schon aus, um sich nach der betäubenden Wirkung der ovalen rosa Pille zu sehnen.
Dank der Berichterstattung der nationalen Presse war Greers Geschichte als Special Agent des FBI kein Geheimnis. Vor zwei Jahren war ihr Foto, neben einem alten Schnappschuss von Alan Henry Vicar, auf der Titelseite jeder größeren Zeitung im Land zu sehen gewesen. Von ihrem Krankenbett aus hatte sie in den Fernsehnachrichten die Berichterstattung über die Morde an neunzehn jungen Frauen verfolgt, die der Priester, wie die Medien Vicar getauft hatten, weil er seine Opfer in Priesterkleidung überfiel, begangen hatte.
Um alles noch schlimmer zu machen, hatte man ihr Dutzende von Gesprächen mit psychiatrischen Kapazitäten zugemutet. Die Mistkerle waren sämtlich davon ausgegangen, dass sie normal funktionierte, obwohl sie ein so grässlich brutales Verbrechen überlebt hatte, und schließlich war sie darüber körperlich krank geworden. Oprah, Dr. Phil und sogar Jerry Springer waren auf den Medienexpress aufgesprungen und hatten dem Thema ganze Sendungen gewidmet - und ihre Mutter hatte sie natürlich alle aufgezeichnet.
Sie hatte drei Wochen im Krankenhaus gelegen, um sich von den Verletzungen, die der berüchtigte Serienkiller ihr zugefügt hatte, zu erholen. Im Grunde konnte sie sich glücklich schätzen, dass sie überlebt hatte und nur unter Albträumen und Panikattacken litt. Anonyme Alkoholiker hatten nicht als einzige das Mantra: »Ein Tag nach dem anderen«. Noch Wochen danach hatte sie von Stunde zu Stunde gelebt. Und in keiner einzigen Sekunde dieser Sechzig-Minuten-Abschnitte vergaß sie, was sie für ein Glück gehabt hatte. Ihr war egal, wie unvernünftig es klang, aber sie würde keiner Autopsie mehr beiwohnen und das Risiko eingehen, dass ihre Panikattacken in der Öffentlichkeit bekannt wurden.
Blythe blickte sie voller Mitgefühl an. »Der Richter wollte der Exhumierung von Lowell Archers Leiche erst gar nicht zustimmen, und jetzt hat der Staatsanwalt nur wenig Zeit, um die Leiche exhumieren zu lassen, Beweise zu sammeln und den Fall vors Schwurgericht zu bringen. Es kann nicht verschoben werden. Du wirst es leider machen müssen.«
Greer schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Sie würde es schaffen, und wenn sie sich von Sekunde zu Sekunde hangeln musste.
Sie holte tief Luft. Okay, vielleicht überreagierte sie ja.
Sie musste nur ruhig bleiben, einen klaren Kopf bewahren und wenigstens den Nachmittag überstehen, ohne auch noch den halben Donut von sich zu geben, das sie gerade gegessen hatte.
Sie öffnete die Augen und blickte Blythe an. »Ich habe keine andere Wahl, nicht wahr?«
»Wir haben immer eine Wahl«, erwiderte Blythe. »Nur fällt es einem manchmal schwerer.«
Sie hatte in ihrem Leben wahrhaftig schon genug harte Entscheidungen getroffen. Zum Beispiel, als sie sich als Lockvogel für einen sadistischen Killer zur Verfügung gestellt hatte. Natürlich bereute sie die Entscheidung auch, aber obwohl es sie eine Menge gekostet hatte, spürte sie nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, doch auch eine tiefe Befriedigung, weil sie diejenige gewesen war, die Vicar ein Brecheisen über den Schädel geschlagen hatte.
Sie holte erneut tief Luft und atmete langsam und gleichmäßig aus. Sie würde nicht von Angesicht zu Angesicht einem Serienkiller gegenüberstehen. Sie brauchte doch nur der Exhumierung beizuwohnen, den Transport zu sichern und dabeizustehen, wenn der Leichnam, der seit sechs Monaten im Grab lag, aus dem Sarg auf den Seziertisch gelegt wurde. Sobald der Gerichtsmediziner, Manny Cantrell, sein Skalpell ergriff, war sie draußen.
Es kostete sie große Anstrengung, sich zu dieser unangenehmen Aufgabe zu entschließen. »Ich dachte, Archer wäre an einem Herzinfarkt gestorben?«, fragte sie Blythe. Der Versicherungsmakler war erst Ende fünfzig gewesen, hatte aber Übergewicht gehabt, drei Packungen Kools am Tag geraucht und war mit einer Frau verheiratet gewesen, die halb so alt war wie er.
»Ja«, bestätigte Blythe. »Aber seine Töchter beschuldigen Reba Archer, Lowell vergiftet zu haben. Vermutlich haben sie den Staatsanwalt von der Stichhaltigkeit ihres Verdachts überzeugt.«
Greer zog sich den Stuhl wieder heran und setzte sich. Den scharfen, metallischen Geschmack im Mund ignorierte sie ganz bewusst. »Und es wurde keine Autopsie durchgeführt, da ja Archer angeblich eines natürlichen Todes gestorben ist. Es geht also wahrscheinlich um Geld?«
»Geht es darum nicht immer?«, erwiderte Blythe zynisch. »Wenn seine Töchter nachweisen können, dass ihre böse Stiefmutter Daddy umgebracht hat, um ihn zu beerben, dann bekommen sie seinen Besitz zurück.«
Greer zog die Augenbrauen hoch. »War er denn so vermögend?«
»Nach dem, was ich gehört habe« - Blythe senkte die Stimme -»besaß Archer weit mehr als die meisten Leute hier in der Stadt glauben. Man munkelt von einem Anwesen auf den Outer Banks, das seiner ersten Frau gehört hat. Als sie starb, ging der Besitz auf ihn über. Eigentlich hätten seine Töchter ihn jetzt erben müssen, aber da er ohne Testament gestorben ist, gehört alles rechtmäßig Reba.«
Greer lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Wie praktisch für sie«, sagte sie. »Der Mann war doch Versicherungsmakler. Man sollte meinen, er war klug genug, um ein Testament zu hinterlassen.«
»Das sollte man meinen«, stimmte Blythe zu. »Aber wenn der Staatsanwalt nicht beweisen kann, dass Reba den alten Mann auf dem Gewissen hat, wird es in Magnolia wohl eine weitere reiche Witwe geben.«
Eine reiche junge Witwe, dachte Greer, denn Reba Haskell Archer war höchstens sechs- oder siebenundzwanzig und damit sechs beziehungsweise zehn Jahre jünger als Archers Töchter.
Ihr Problem war, dass sie die Bewohner ihrer Heimatstadt einfach schon ihr ganzes Leben lang kannte. Sie war mit zwei der vier Haskell-Jungen in die Schule gegangen und hatte sie nicht besonders gemocht. »Das ist weißer Abschaum«, hatte ihre Mutter oft geflüstert, wenn der Name
Haskell fiel. Die Familie hatte immer Ärger gemacht, und das wurde auch mit zunehmendem Alter nicht besser. Und wenn Lowell Archers Töchter jetzt vermuteten, dass die junge Frau ihren Vater vergiftet hatte, konnte Greer das gut nachvollziehen.
»Hast du eine Kopie der Anweisung?«, fragte sie Blythe. Sie war nicht scharf darauf, jetzt schon zum Friedhof aufzubrechen, aber die Fahrt dorthin würde mindestens fünfzig Minuten oder sogar länger dauern.
»Liegt auf Travis' Schreibtisch.«
Blythe wollte schon aufstehen, aber Greer bedeutete ihr, sitzen zu bleiben. »Ich hole sie schon.«
Die Gegensprechanlage summte, und dann ertönte die raue Stimme von Addy Ricker, der Sekretärin der Bezirkswache, über den Lautsprecher. »Greer? Bist du mit Blythe im Pausenraum?«
Addy war schon auf der Bezirkswache gewesen, als Greer noch in der Grundschule war. Sie hatte bereits zwei Ehemänner und einen Sohn überlebt. Mittlerweile war sie bestimmt schon im Pensionsalter, obwohl Greer sich nicht vorstellen konnte, dass das Präsidium jemals Ersatz für Addy finden würde.
»Ja, Ma'am«, rief sie, damit Addy sie hören konnte. Bitte, bitte, hab etwas für mich, betete sie. Irgendetwas. Ein Verkehrsvergehen, einen Fahrraddiebstahl an der Highschool, irgendetwas, damit sie nicht bei Archers Exhumierung dabei sein musste.
»Auf Leitung drei ist deine Mama«, sagte Addy.
Greer stöhnte. Blythe hustete, vermutlich, um ihr Kichern zu verstecken.
Greer trat an die Theke und griff zum Hörer. »Heute nicht, Addy. Bitte. Richte ihr bitte aus, dass ich nicht da bin und sie später zurückrufe.« Nächste Woche vielleicht.
»Greer Garson Lomax«, schalt Addy sie. «Man lügt seine Mama nicht an. Das tut man nicht!«
Greer kniff sich in den Nasenrücken und zählte langsam bis zehn. Wer brauchte schon ein Gewissen, wenn man Addy hatte?
»Das ist doch nur eine winzige Notlüge«, flehte sie Addy an. »Ich bin gerade auf dem Weg nach draußen.«
»Sie sagt, es ist wichtig.«
Für June Lomax Fulton waren auch alle möglichen Fernsehsendungen wichtig. »Sag ihr, die Krise muss warten, bis ich eine Leiche exhumiert habe, ja?«
Bevor Addy weiter schimpfen konnte, legte Greer auf. Es mochte ja keine Möglichkeit geben, die Exhumierung von Lowell Archer zu umgehen, aber sie würde sich auf gar keinen Fall an ein und demselben Nachmittag ihrer Mutter und einer Autopsie stellen. Sie war doch keine Masochistin.
Weltbild Buchverlag
- Originalausgaben –
Deutsche Erstausgabe 2009
Copyright © 2006 by Jamie Denton
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Tot war tot in seinem Geschäft. Für ihn jedoch spielte eine Rolle, dass Walter Strom als unglücklicher Mann gestorben war. Warum sonst sollte ein Dreiundfünfzigjähriger eine ganze Schachtel verschreibungspflichtiger Tranquilizer mit einer Flasche Wodka herunterspülen?
Die Witwe blickte Parker an und nickte. Ihre hellbraunen Augen waren rot gerändert und jammervoll. Er versuchte sich ihren Kummer vorzustellen - aber es gelang ihm nicht.
Er versuchte, sich das Elend des Mannes vorzustellen - und Wut stieg in ihm auf.
Plötzlich schlug Madelyn Strom die Augen nieder. Das lag nicht daran, dass er eine unangemessene Emotion gezeigt hatte. Das tat er nie. Er besaß eine seltene, exquisite Gabe und war mittlerweile viel zu gut, um Anfängerfehler zu machen.
Senkte sie aus Schuldgefühl den Blick? Vielleicht, dachte er und schob verstohlen die Schachtel mit den Papiertaschentüchern über den Tisch näher an die trauernde Witwe heran. Vielleicht war sie ja verantwortlich dafür, dass ihr Mann sich das Leben genommen hatte. Seiner Erfahrung nach war das sogar wahrscheinlich. Eine Erfahrung, die er aus dem Leben vieler gezogen hatte.
So vieler. G-56.
Madelyn holte tief Luft. Parker wartete darauf, dass sich seine Geduld auszahlte, und wurde nicht enttäuscht.
»Walter hat mich betrogen«, flüsterte sie. »Und ich habe es nicht gewusst.«
Madelyns Geständnis überraschte ihn nicht. Die Toten hatten immer eine Geschichte zu erzählen. Er musste nur warten, bis ihm die Wahrheit enthüllt wurde. Seine lebenden
Klienten vertrauten ihm. Berater. Beichtvater. Fürsorglicher Freund. Sie vertrauten ihm ihre Trauer an - und ihre schmutzigen kleinen Geheimnisse.
Eine Stunde später brachte er die Witwe schließlich zur Tür. Ihre Hand zitterte, als sie sich von ihm verabschiedete.
»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht nach Hause fahren lassen soll?«, fragte er sie.
»Nein, danke, Mr Hennessy. Ich ...« Sie zögerte. Ihr Händedruck wurde fester, und erneut traten Tränen in ihre Augen. »Ich ... komme schon zurecht.«
Das bezweifelte er, aber es war ihm auch egal. In der Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, hatte er alles über Walter Strom erfahren, was er wissen musste.
Armer, armer Walter. Ein sanfter, freundlicher Mann mit einer Schwäche für Kürbiskuchen, ausländische Filme - und junge, hübsche Brünette mit großen Brüsten, die sich ihre Dienste von ihm stundenweise bezahlen ließen.
Tröstend legte er seine linke Hand über die von Madelyn. Er versprach ihr, dass die Beerdigung ihres Mannes würdevoll und respektvoll vonstattengehen würde, und wartete dann, bis sie die Stufen von der Veranda heruntergegangen war, bevor er die breite Eingangstür zu Hennessys Bestattungsinstitut schloss.
Ein leises Lächeln der Vorfreude umspielte seine Mundwinkel, als er die Treppe ins Untergeschoss hinunterging, wo seine Angestellten die Leiche von Francine Meeks vorbereiteten. Die neunundachtzigjährige frühere HighschoolChemielehrerin hatte ein ereignisloses Leben geführt, das sich nur dadurch auszeichnete, dass sie einen Schüler, der jetzt ein hohes Tier bei der NASA war, in der elften Klasse aus ihrem Unterricht geworfen hatte. Parker blieb stehen und begutachtete die Arbeit der Kosmetikerin. Zufrieden nickte er Opal Jones zu, dann ging er in sein Büro und zog die Tür hinter sich zu.
Die Trauerfeier für Walter Strom, die in drei Tagen stattfand, würde würdevoll und respektvoll sein, wie versprochen. Keiner der Trauergäste würde von ihm oder seinen Angestellten jemals erfahren, dass Stroms Witwe während des Gottesdienstes hauptsächlich deshalb Tränen vergoss, weil ihr Mann sich bei einer Prostituierten mit HIV infiziert hatte. Oh ja, es würde eine schöne, würdevolle Beerdigung werden, allerdings weit weniger bedeutungsvoll, als die private Feier, die nur er durchführen durfte - die durchzuführen seine Pflicht war.
Walter Strom brauchte ihn. Er brauchte seine Führung und Erfahrung. Seine Fähigkeit, ihn mit seiner wahren Gefährtin zu vereinen, der perfekten Frau, die es wert war, in Ewigkeit an seiner Seite zu ruhen.
Parkers Blut summte vor Erregung, aber er drängte die Vorfreude zurück. Bevor er sich auf die Suche nach der besonderen Frau für Walter machte, hatte er noch viel zu tun. Zuerst musste er die Lebenden zufriedenstellen. Er musste die Leiche aus dem Leichenschauhaus holen, den sehr teuren Sarg bestellen, den die Witwe ausgesucht hatte, zweifellos aus Schuldgefühl, weil sie ihren Mann in die Arme von Prostituierten getrieben hatte. Er musste bei der Floristin und dem Drucker anrufen und den Text der Traueranzeige entwerfen. Erst danach konnte er sich seiner eigentlichen Gabe widmen und seinem Klienten seine besonderen Dienste zuteilwerden lassen.
Ja, dachte er, die Toten haben immer eine Geschichte zu erzählen. Und es war seine Pflicht, ihnen das glückliche Ende zu bescheren, das sie verdient hatten.
Und Parker Hennessy nahm seine Pflicht sehr ernst.
Greer Lomax klappte den schweren Band mit den Kommunalgesetzen zu und stieß frustriert die Luft aus. Obwohl sie sogar ihre Mittagspause hatte ausfallen lassen, um über dem dicken Buch zu brüten, hatte sie keine Verordnung
gefunden, die das Umstoßen von Grabsteinen für ungesetzlich erklärte. Sie hatte nichts in der Hand, um Anklage zu erheben.
Erschöpft rieb sie sich die Schläfen, aber das langsame, stetige Pochen, verursacht vom Schlafmangel, ließ nicht nach. Dass wütende Witwen mit blau getöntem Haar am Morgen das Büro des Bezirkssheriffs in Magnolia gestürmt hatten und lauthals Gerechtigkeit für die Schändung der Gräber ihrer Männer gefordert hatten, hatte das Pochen nur noch verstärkt.
Auch zwei Aspirin und jede Menge starker, schwarzer Kaffee hatten nicht geholfen. Die Erfahrung lehrte sie, dass die Schmerzen erst nach ein paar Stunden ununterbrochenen Schlafs vergehen würden, aber da sie im Moment die einzige Polizistin im Dienst war, musste dieser Luxus wohl noch warten.
Sie hatte größere Probleme als Kopfschmerzen - die alten Schachteln hatten damit gedroht, die Angelegenheit selbst in ihre arthritischen Hände zu nehmen. Erneut stieß Greer einen Seufzer aus und erhob sich, um das Buch wieder ins Regal zu stellen. Sie hätte die alten Damen besser besänftigen sollen, statt ihnen zu erklären, dass sie höchstens Bußgelder wegen Vandalismus erheben konnte, vorausgesetzt, die verantwortlichen Kinder waren überhaupt schon strafmündig.
»Und schon wieder ein Tag im Paradies«, murmelte sie, griff nach ihren blauweißen Kaffeebecher, der auf ihrem alten, schweren Metallschreibtisch stand, und machte sich auf den Weg in den Pausenraum, um sich noch einmal Kaffee zu holen.
Wahrscheinlich hatten sowieso diese Studentenbürschchen vom Seaside College die Verwüstungen angerichtet. Wenn sie die richtigen Personen streng genug befragte, konnte sie sich vielleicht die sterbenslangweilige Überwachung des Friedhofs sparen.
Stirnrunzelnd blieb sie stehen. Was war bloß los mit ihr? Sie sollte dankbar sein, dass sie nicht mehr diesem täglichen Dauerstress ausgesetzt war, statt sich darüber zu beklagen, wie ruhig ihre Abende hier verliefen. Hier brauchte sie sich doch höchstens um eine Handvoll ungezogener Gören mit zu viel Freizeit zu kümmern oder darum, eine Gruppe blutrünstiger alter Damen, die sich als Hüterinnen des Gesetzes aufspielten, in Schach zu halten. Nach fast sechs Jahren, in denen sie aus dem Leichenschauhaus kaum herausgekommen war, sollte sie dankbar sein, dass es auch noch ruhige Posten gab, in denen sie wegen ein paar umgestürzter Grabsteine ermitteln musste. Zum Jammern hatte sie keinen Grund.
Du kannst nicht beides haben, Lomax. Genau.
Sie betrat den Pausenraum, wo Blythe Norton, die die Tagschicht koordinierte, gerade versuchte sich zu entspannen. Sie war mit Kyle Norton verheiratet, der ebenfalls Sheriff in Magnolia County war. Es war schwer genug, sich auf den harten Plastikstühlen, die um den Kunststofftisch P mit imitierten Holzmaserungen herumstanden, auszuruhen, dachte Greer, aber für eine Frau im neunten Monat war es so gut wie unmöglich.
Greer nickte Blythe grüßend zu. Die Schwangere hatte sich einen weiteren Stuhl mit einem dicken roten Samtkissen herangezogen und ihre geschwollenen Füße hochgelegt.
Blythe grinste sie an. »Ich habe fest damit gerechnet, dass du mich zur Unterstützung holst«, neckte sie Greer und stellte ihre Teetasse auf ihren dicken Bauch.
Greer lächelte müde. »An dem Tag, an dem ich mit einem Haufen aufgeregter alter Damen nicht mehr fertig werde, gebe ich meine Polizeimarke zurück.«
Und zwar für immer, fügte sie im Stillen hinzu. Überrascht stellte sie fest, dass sie ein scharfer Stich des Bedauerns durchfuhr. Sie hätte wissen müssen, dass es ein Fehler war, einen anderen Job im Polizeidienst zu übernehmen, aber das Angebot hatte sie unvorbereitet getroffen und sie in einem schwachen Moment erwischt.
Als Sheriff Travis Willows ihr das Angebot gemacht hatte, hätte sie ablehnen sollen. Er hatte ihr jedoch versprochen, dass die Position als Deputy zeitlich begrenzt wäre, und sie war darauf hereingefallen. Drei seiner Deputies hatten gekündigt, weil sie anderswo besser bezahlte Posten gefunden hatten, und sie sollte nur einspringen, bis er die freien Stellen neu besetzt hatte. Bei jemand anderem hätte sie das Angebot rundheraus abgelehnt, aber Travis war ein alter Freund der Familie. Zu ihm nein zu sagen, war so, wie ihrem Vater etwas abzuschlagen - wenn Buddy Lomax noch am Leben gewesen wäre.
Wider besseres Wissen hatte sie den Job also angenommen. Sie war noch keinen Monat dort, als das politische Klima sich veränderte und das Budget gekürzt wurde. Achtzehn Monate später arbeitete sie immer noch im Schichtdienst, vier bis sechs Tage in der Woche und gelegentlich auch schon einmal eine Doppelschicht.
Position auf Zeit, von wegen.
Blythe lächelte müde. »Nach dieser Unterhosen-Episode bei Hester Simpkins Beerdigung vor zwei Wochen kann ich es den alten Mädels noch nicht mal übel nehmen, dass sie sich so aufregen.«
In den vergangenen Wochen war der Shady-KnollsFriedhof das Hauptangriffsziel sämtlicher jugendlicher Witzbolde im Bezirk geworden. Vor zwei Wochen hatten alkoholisierte College-Schüler die Höschen der Schülerinnen der Delta Sigma Kai Studentinnenvereinigung erbeutet und damit diverse Bäume auf dem Friedhof dekoriert. Niemandem waren die bunten Wäschestücke aus Satin und Spitze aufgefallen, die an den höchsten Ästen einer Trauerweide in der Nähe der Grabstelle flatterten, wo Hester Simpkin zur letzten Ruhe getragen wurde - bis schließlich eine steife Brise vom Atlantik aufgekommen und ein Schauer von Höschen auf die überwiegend älteren Trauergäste niedergegangen war.
Greer spülte ihre Tasse aus und schenkte sich frischen Kaffee ein. Sie rang sich ein Lächeln ab, als sie sich Blythe gegenüber an den Tisch setzte. »Dieses Mal werden sie erst Ruhe geben, wenn die >Bösewichte< an der Kreuzung von Main Street und Chestnut Street hängen.«
Böse, schnaubte sie im Stillen. Als ob diese Leute hier eine Ahnung davon hätten, wie viel Böses es wirklich auf der Welt gab. Als ob sie überhaupt wüssten, was dieses Wort bedeutete.
Ihr Magen knurrte, und sie spähte stirnrunzelnd in die rosa Bäckereischachtel, die auf dem Tisch stand. Vielleicht gab es ja noch irgendetwas mit Schokolade.
Blythe pustete in ihren Tee. »Sieh es doch mal positiv«, sagte sie und legte die Hand schützend auf ihren dicken Bauch. »Wenn die Kinder Grabsteine umstoßen, sind sie wenigstens nicht hinter den Dorftrotteln her.«
Greer nickte und nahm sich einen Donut mit Ahornsirup aus der Schachtel. »Wir sollten uns auf einen Anruf vom Staatsanwalt gefasst machen«, sagte sie, bevor sie hineinbiss. »Ich habe gehört, wie Betty Riddle den Truppen Befehle gegeben hat, als sie sich zurückzogen.«
»Oh, apropos.« Blythe stellte ihre Tasse ab. »Ich habe eine Nachricht für dich von Travis. Er sitzt in einer Konferenz mit dem Budget-Ausschuss. Du sollst ihn um halb drei bei einer Exhumierung vertreten.«
Greer verschluckte sich beinahe an ihrem Donut. »Ich?«, stieß sie hervor. »Warum denn ich?«
»Weil du die einzige bist, die verfügbar ist. Kyle muss vor Gericht als Zeuge aussagen, Grant ist immer noch krankgeschrieben, und ... «
»Wo ist Orson?«, fragte Greer. Tate Orson kam zwar gerade erst frisch von der Akademie, aber es war ihr absolut egal, wer bei einer Exhumierung dabei war, wenn nur sie es nicht sein musste.
Blythe schüttelte den Kopf. »Er hat bis zum Wochenende frei.«
Greer warf den halb aufgegessenen Donut in den Abfallkorb. Ihr war der Appetit vergangen. »Ruf ihn einfach an.«
»Das geht nicht. Er macht Urlaub in der Hütte seines Großvaters, oben am See. Kein Strom, kein Telefon und auch kein Handy-Empfang.«
»Urlaub? Er ist doch noch nicht einmal sechs Monate hier«, beschwerte sich Greer. Sie machte den Job, den sie noch nicht einmal gewollt hatte, schon viel länger und war bis jetzt noch nicht einmal einen Tag lang krank gewesen. Irgendetwas stimmte da doch nicht.
Blythe seufzte. »Travis hat mich gewarnt, dass du dich wahrscheinlich aufregen würdest.«
»Ja, da hat er auch ganz recht«, erwiderte Greer gereizt. »Ich mache keine Autopsien mehr. Nie mehr.«
Blythe zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Ich dachte, du solltest nur dabei sein, wenn sie das Grab öffnen, und dann den Transport der Leiche zur Gerichtsmedizin begleiten?«
Greer krampfte sich der Magen zusammen. Ihr wurde übel.
»Man muss die ganze Zeit über dabei bleiben«, erklärte sie. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Ruf Travis an und sag ihm, er soll sich jemand anderen suchen.«
Ihr Stuhl scharrte laut über den graublau gesprenkelten Fliesenboden, als sie aufstand. Sie musste hier raus. Sie brauchte dringend Luft, frische Luft, die die Erinnerung an den beißenden Gestank von verwesendem Fleisch von ihr nahm.
»Greer, warte ... «
Der Stuhl wäre beinahe umgefallen, aber Greer packte ihn noch im letzten Moment. »Am besten rufe ich ihn selber an«, sagte sie.
Und sage ihm, dass ich kündige.
Sie würde auf keinen Fall mehr an einer Autopsie teilnehmen. Wenn sie nur während der Exhumierung dabei sein müsste, würde sie es schon irgendwie durchstehen, aber der Gedanke an das, was danach kam, schnürte ihr die Kehle zusammen und erfüllte sie mit kalter, blanker Angst.
»Du weißt doch, dass er die Sitzung nicht verlassen kann«, erinnerte Blythe sie. »Er muss aus dem Budget-Ausschuss so viel wie möglich herausquetschen.«
Wenn es Travis gelang, zusätzliche Gelder für das Präsidium herauszuholen, konnte er weitere Deputies einstellen, und dann wären ihre Tage in Uniform Gott sei Dank gezählt. War das nicht ihr Ziel? Ein für alle Mal aufzuhören?
Sie umklammerte die Rückenlehne des Stuhls bis ihre Knöchel weiß hervortraten. »Kann die Exhumierung nicht verschoben werden?«, fragte sie. Es war ihr egal, wie verzweifelt sie klang. Sie war verzweifelt.
Travis hatte ja keine Ahnung, was er ihr mit einer solchen Aufgabe antat. Was für einen Rückschlag sie erleiden konnte. Niemand wusste das.
Sie hatte jetzt seit fast einem Monat keine Panikattacke mehr gehabt, noch nicht einmal nach dem Albtraum letzte Nacht. Aber allein der Gedanke an eine Autopsie reichte schon aus, um sich nach der betäubenden Wirkung der ovalen rosa Pille zu sehnen.
Dank der Berichterstattung der nationalen Presse war Greers Geschichte als Special Agent des FBI kein Geheimnis. Vor zwei Jahren war ihr Foto, neben einem alten Schnappschuss von Alan Henry Vicar, auf der Titelseite jeder größeren Zeitung im Land zu sehen gewesen. Von ihrem Krankenbett aus hatte sie in den Fernsehnachrichten die Berichterstattung über die Morde an neunzehn jungen Frauen verfolgt, die der Priester, wie die Medien Vicar getauft hatten, weil er seine Opfer in Priesterkleidung überfiel, begangen hatte.
Um alles noch schlimmer zu machen, hatte man ihr Dutzende von Gesprächen mit psychiatrischen Kapazitäten zugemutet. Die Mistkerle waren sämtlich davon ausgegangen, dass sie normal funktionierte, obwohl sie ein so grässlich brutales Verbrechen überlebt hatte, und schließlich war sie darüber körperlich krank geworden. Oprah, Dr. Phil und sogar Jerry Springer waren auf den Medienexpress aufgesprungen und hatten dem Thema ganze Sendungen gewidmet - und ihre Mutter hatte sie natürlich alle aufgezeichnet.
Sie hatte drei Wochen im Krankenhaus gelegen, um sich von den Verletzungen, die der berüchtigte Serienkiller ihr zugefügt hatte, zu erholen. Im Grunde konnte sie sich glücklich schätzen, dass sie überlebt hatte und nur unter Albträumen und Panikattacken litt. Anonyme Alkoholiker hatten nicht als einzige das Mantra: »Ein Tag nach dem anderen«. Noch Wochen danach hatte sie von Stunde zu Stunde gelebt. Und in keiner einzigen Sekunde dieser Sechzig-Minuten-Abschnitte vergaß sie, was sie für ein Glück gehabt hatte. Ihr war egal, wie unvernünftig es klang, aber sie würde keiner Autopsie mehr beiwohnen und das Risiko eingehen, dass ihre Panikattacken in der Öffentlichkeit bekannt wurden.
Blythe blickte sie voller Mitgefühl an. »Der Richter wollte der Exhumierung von Lowell Archers Leiche erst gar nicht zustimmen, und jetzt hat der Staatsanwalt nur wenig Zeit, um die Leiche exhumieren zu lassen, Beweise zu sammeln und den Fall vors Schwurgericht zu bringen. Es kann nicht verschoben werden. Du wirst es leider machen müssen.«
Greer schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Sie würde es schaffen, und wenn sie sich von Sekunde zu Sekunde hangeln musste.
Sie holte tief Luft. Okay, vielleicht überreagierte sie ja.
Sie musste nur ruhig bleiben, einen klaren Kopf bewahren und wenigstens den Nachmittag überstehen, ohne auch noch den halben Donut von sich zu geben, das sie gerade gegessen hatte.
Sie öffnete die Augen und blickte Blythe an. »Ich habe keine andere Wahl, nicht wahr?«
»Wir haben immer eine Wahl«, erwiderte Blythe. »Nur fällt es einem manchmal schwerer.«
Sie hatte in ihrem Leben wahrhaftig schon genug harte Entscheidungen getroffen. Zum Beispiel, als sie sich als Lockvogel für einen sadistischen Killer zur Verfügung gestellt hatte. Natürlich bereute sie die Entscheidung auch, aber obwohl es sie eine Menge gekostet hatte, spürte sie nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, doch auch eine tiefe Befriedigung, weil sie diejenige gewesen war, die Vicar ein Brecheisen über den Schädel geschlagen hatte.
Sie holte erneut tief Luft und atmete langsam und gleichmäßig aus. Sie würde nicht von Angesicht zu Angesicht einem Serienkiller gegenüberstehen. Sie brauchte doch nur der Exhumierung beizuwohnen, den Transport zu sichern und dabeizustehen, wenn der Leichnam, der seit sechs Monaten im Grab lag, aus dem Sarg auf den Seziertisch gelegt wurde. Sobald der Gerichtsmediziner, Manny Cantrell, sein Skalpell ergriff, war sie draußen.
Es kostete sie große Anstrengung, sich zu dieser unangenehmen Aufgabe zu entschließen. »Ich dachte, Archer wäre an einem Herzinfarkt gestorben?«, fragte sie Blythe. Der Versicherungsmakler war erst Ende fünfzig gewesen, hatte aber Übergewicht gehabt, drei Packungen Kools am Tag geraucht und war mit einer Frau verheiratet gewesen, die halb so alt war wie er.
»Ja«, bestätigte Blythe. »Aber seine Töchter beschuldigen Reba Archer, Lowell vergiftet zu haben. Vermutlich haben sie den Staatsanwalt von der Stichhaltigkeit ihres Verdachts überzeugt.«
Greer zog sich den Stuhl wieder heran und setzte sich. Den scharfen, metallischen Geschmack im Mund ignorierte sie ganz bewusst. »Und es wurde keine Autopsie durchgeführt, da ja Archer angeblich eines natürlichen Todes gestorben ist. Es geht also wahrscheinlich um Geld?«
»Geht es darum nicht immer?«, erwiderte Blythe zynisch. »Wenn seine Töchter nachweisen können, dass ihre böse Stiefmutter Daddy umgebracht hat, um ihn zu beerben, dann bekommen sie seinen Besitz zurück.«
Greer zog die Augenbrauen hoch. »War er denn so vermögend?«
»Nach dem, was ich gehört habe« - Blythe senkte die Stimme -»besaß Archer weit mehr als die meisten Leute hier in der Stadt glauben. Man munkelt von einem Anwesen auf den Outer Banks, das seiner ersten Frau gehört hat. Als sie starb, ging der Besitz auf ihn über. Eigentlich hätten seine Töchter ihn jetzt erben müssen, aber da er ohne Testament gestorben ist, gehört alles rechtmäßig Reba.«
Greer lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Wie praktisch für sie«, sagte sie. »Der Mann war doch Versicherungsmakler. Man sollte meinen, er war klug genug, um ein Testament zu hinterlassen.«
»Das sollte man meinen«, stimmte Blythe zu. »Aber wenn der Staatsanwalt nicht beweisen kann, dass Reba den alten Mann auf dem Gewissen hat, wird es in Magnolia wohl eine weitere reiche Witwe geben.«
Eine reiche junge Witwe, dachte Greer, denn Reba Haskell Archer war höchstens sechs- oder siebenundzwanzig und damit sechs beziehungsweise zehn Jahre jünger als Archers Töchter.
Ihr Problem war, dass sie die Bewohner ihrer Heimatstadt einfach schon ihr ganzes Leben lang kannte. Sie war mit zwei der vier Haskell-Jungen in die Schule gegangen und hatte sie nicht besonders gemocht. »Das ist weißer Abschaum«, hatte ihre Mutter oft geflüstert, wenn der Name
Haskell fiel. Die Familie hatte immer Ärger gemacht, und das wurde auch mit zunehmendem Alter nicht besser. Und wenn Lowell Archers Töchter jetzt vermuteten, dass die junge Frau ihren Vater vergiftet hatte, konnte Greer das gut nachvollziehen.
»Hast du eine Kopie der Anweisung?«, fragte sie Blythe. Sie war nicht scharf darauf, jetzt schon zum Friedhof aufzubrechen, aber die Fahrt dorthin würde mindestens fünfzig Minuten oder sogar länger dauern.
»Liegt auf Travis' Schreibtisch.«
Blythe wollte schon aufstehen, aber Greer bedeutete ihr, sitzen zu bleiben. »Ich hole sie schon.«
Die Gegensprechanlage summte, und dann ertönte die raue Stimme von Addy Ricker, der Sekretärin der Bezirkswache, über den Lautsprecher. »Greer? Bist du mit Blythe im Pausenraum?«
Addy war schon auf der Bezirkswache gewesen, als Greer noch in der Grundschule war. Sie hatte bereits zwei Ehemänner und einen Sohn überlebt. Mittlerweile war sie bestimmt schon im Pensionsalter, obwohl Greer sich nicht vorstellen konnte, dass das Präsidium jemals Ersatz für Addy finden würde.
»Ja, Ma'am«, rief sie, damit Addy sie hören konnte. Bitte, bitte, hab etwas für mich, betete sie. Irgendetwas. Ein Verkehrsvergehen, einen Fahrraddiebstahl an der Highschool, irgendetwas, damit sie nicht bei Archers Exhumierung dabei sein musste.
»Auf Leitung drei ist deine Mama«, sagte Addy.
Greer stöhnte. Blythe hustete, vermutlich, um ihr Kichern zu verstecken.
Greer trat an die Theke und griff zum Hörer. »Heute nicht, Addy. Bitte. Richte ihr bitte aus, dass ich nicht da bin und sie später zurückrufe.« Nächste Woche vielleicht.
»Greer Garson Lomax«, schalt Addy sie. «Man lügt seine Mama nicht an. Das tut man nicht!«
Greer kniff sich in den Nasenrücken und zählte langsam bis zehn. Wer brauchte schon ein Gewissen, wenn man Addy hatte?
»Das ist doch nur eine winzige Notlüge«, flehte sie Addy an. »Ich bin gerade auf dem Weg nach draußen.«
»Sie sagt, es ist wichtig.«
Für June Lomax Fulton waren auch alle möglichen Fernsehsendungen wichtig. »Sag ihr, die Krise muss warten, bis ich eine Leiche exhumiert habe, ja?«
Bevor Addy weiter schimpfen konnte, legte Greer auf. Es mochte ja keine Möglichkeit geben, die Exhumierung von Lowell Archer zu umgehen, aber sie würde sich auf gar keinen Fall an ein und demselben Nachmittag ihrer Mutter und einer Autopsie stellen. Sie war doch keine Masochistin.
Weltbild Buchverlag
- Originalausgaben –
Deutsche Erstausgabe 2009
Copyright © 2006 by Jamie Denton
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Jamie Denton
Jamie Denton studierte Geschichte und war anschließend viele Jahre als Rechtsberaterin tätig. 1994 gelang ihr die Veröffentlichung ihres ersten Romans. Daraufhin machts sie ihr Hobby zum Beruf und ist seither als freie Schriftstellerin tätig. Ihre erfolgreichen Romane wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jamie Denton
- 2012, 288 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863650085
- ISBN-13: 9783863650087
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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