Die fernen Sterne der Liebe (ePub)
Neuseeland 1864: Das Leben auf der Schaffarm ihres Vaters bietet Charlotte Wohlstand und Sicherheit, aber sie sehnt sich nach einer Unabhängigkeit, die die Gesellschaft ihr verbietet. Als der Kapitän Richard Steele sie heiraten möchte, scheint ihr Lebensweg...
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Produktinformationen zu „Die fernen Sterne der Liebe (ePub)“
Neuseeland 1864: Das Leben auf der Schaffarm ihres Vaters bietet Charlotte Wohlstand und Sicherheit, aber sie sehnt sich nach einer Unabhängigkeit, die die Gesellschaft ihr verbietet. Als der Kapitän Richard Steele sie heiraten möchte, scheint ihr Lebensweg vorgezeichnet. Auch Charlotte liebt Richard, aber sie ist nicht bereit, einen Ehemann zu akzeptieren, der sein Leben auf See verbringt. Richard heiratet in England eine andere und Charlotte zieht in die Stadt, wo sie sich mit einem kleinen Laden selbstständig macht. Doch dann kommt es zu einem überraschenden Wiedersehen …Liebe oder Unabhängigkeit - ein dramatisches Frauenschicksal aus Neuseeland
Lese-Probe zu „Die fernen Sterne der Liebe (ePub)“
Die fernen Sterne der Liebe von Carol Thomas 1
September 1864
Bess! Hier! Komm sofort zurück!« Ärgerlich presste Edwin Blake die Lippen zusammen, als die schwarze Labradorhündin durch das Schilfgestrüpp am morastigen Flussbett den Hügel hinaufjagte und verschwand, ohne auf seine Rufe zu achten. Da er bemerkte, dass sein zweiter Hund im Begriff war, ihr zu folgen, beugte er sich aus dem Sattel hinunter. »Sitz, Duke«, befahl er barsch. Duke gehorchte. Ein wenig beruhigt, weil wenigstens einer der Hunde auf ihn hörte, wandte sich Edwin mit finsterem Blick nach dem Flussbett um, wo lautes Gebell sowie das Knacken und Rascheln von Schilf zu hören waren, als Bess durchs Unterholz brach. »Offenbar jagt sie etwas«, stellte Charlotte fest und manövrierte ihre Stute um Duke herum, der die Anweisung seines Herrn wörtlich genommen hatte und ihr nun sitzend den Weg versperrte. »Lass sie doch. Sie kommt schon zurück, wenn sie Hunger hat. Sie ist eben jung und temperamentvoll.« »Jung, temperamentvoll und ungehorsam«, verbesserte sie Edwin. »Wenn sie nicht endlich lernt, aufs Wort zu folgen, ist sie zum Schafetreiben nicht zu gebrauchen.« »Heute wollen wir aber keine Schafe treiben, sondern Bäume pflanzen«, entgegnete Charlotte ihrem Bruder mit einem fröhlichen Lächeln. »Und ich glaube nicht, dass Bess uns mit dem Spaten eine große Hilfe sein wird.« Edwin lachte auf. »Du vermutlich auch nicht.« Charlotte lächelte, ohne ihm zu widersprechen. Stattdessen presste sie ihrer Stute die Knie in die Flanken und preschte den Abhang hinauf zu dem erst kürzlich eingezäunten Stück Land, auf dem die Schösslinge gesetzt werden sollten. Die Pflanzen hingen in zwei Jutesäcken an ihrem Sattel, und ihre zartgrünen Spitzen lugten oben heraus. In einigen
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Jahren würden die Bäume den Schafen während der Wintermonate guten Schutz bieten. Der vergangene Winter war sehr streng gewesen, und ein eisiger Sturm hatte den anderen abgelöst. Doch der September brachte einen plötzlichen Wärmeeinbruch, sodass binnen zweier Wochen frisches Frühlingsgras auf den Hügeln spross. An den Bäumen schwollen die Knospen, und der Frost, der den Boden so lange verhärtet hatte, ließ allmählich nach. »Ob Kapitän Steele wohl schon eingetroffen ist?«, fragte Edwin, als sie den Zaun erreicht hatten. Unwillkürlich blickte Charlotte sich um. An einem klaren Tag hätte sie das ganze Tal überblicken können, doch heute war es zu dunstig dazu. »Wollen wir hoffen, dass er sich nicht als Enttäuschung entpuppt«, entgegnete sie. »Enttäuschung? Wünschst du dir vielleicht, dass er gut genug aussehen könnte, um Gnade vor deinen Augen zu finden, Schwesterchen?« Charlotte lachte. »Du weißt ganz genau, was ich meine, Edwin. Ich dachte eher an sein Konversationstalent, damit er uns mit spannenden Anekdoten von seinen Reisen unterhält. Wie dem auch sei, er wird sicher etwas anderes zu berichten haben als das ständige Gerede über die Farm und das Wetter.« »Und Sarahs Rückenschmerzen«, ergänzte Edwin mit spöttischem Lächeln. »Richtig«, stimmte Charlotte schmunzelnd zu. Edwins Frau Sarah war im achten Monat schwanger. Sie erwartete ihr drittes Kind und sprach den ganzen Tag über nichts anderes als darüber, dass ihr der Rücken schmerzte. Die Familie hatte zwar Mitgefühl mit ihr, war es aber leid, ständig nur von ihren verschiedenen Zipperlein zu hören. Es wäre wirklich schön, wenn sich dieser Richard Steele nicht als Langweiler erweisen würde, dachte Charlotte, während sie sich aus dem Sattel schwang. Sie freute sich schon seit Wochen darauf, ihn kennenzulernen, seit seine Eltern, die Besitzer der Nachbarfarm, angekündigt hatten, er werde sie Mitte September besuchen. Ben und Letitia Steele wohnten noch nicht lange in dieser Gegend Neuseelands. Ursprünglich hatten sie sich auf der Nordinsel niedergelassen, doch da das Land dort nicht sehr fruchtbar gewesen war, hatte Ben die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, anderthalb Hektar gutes Weideland in den Malvern Hills in Canterbury zu kaufen. Richard war ihr einziges Kind, und weil sie ihn seit knapp zwei Jahren nicht mehr gesehen hatten, fieberten sie seinem Besuch verständlicherweise entgegen. »Nun, wahrscheinlich fange ich jetzt am besten mit dem Pflanzen an«, seufzte Edwin wenig begeistert und stieg ebenfalls ab. »Von allein werden sich die Dinger nicht in die Erde setzen.« Charlotte nahm die Säcke vom Sattel und warf sie auf den Boden, wo Duke sie mit einem zweifelnden Schnuppern begutachtete. »Möchtest du in diesem Frühling noch mehr Schösslinge pflanzen, oder sind das die letzten?«, erkundigte sie sich. »Die letzten, sofern ich etwas mitzureden habe«, erwiderte Edwin und griff nach dem Spaten, der an seinem Sattel befestigt war. »Hast du schon entschieden, ob du zu George und Ann nach Lyttelton ziehen wirst?« Charlotte lächelte ihm spöttisch zu. »Edwin, du weißt genauso gut wie ich, dass in dieser Frage unser Vater das letzte Wort hat. Vermutlich hat er dich gebeten, mit mir darüber zu sprechen.« Edwin nickte. »Na, wenigstens bist du ehrlich«, erwiderte sie mit einem höhnischen Auflachen. Charlotte verstand sich gut mit Edwin, der mit seinen achtundzwanzig Jahren sechs Jahre älter war als sie, denn sie waren einander sehr ähnlich. Beide waren sie hochgewachsen, hatten hellbraunes Haar und haselnussbraune Augen. Außerdem waren sie schlagfertig, hatten eine scharfe Zunge und einen ausgeprägten Willen. Äußerlich waren sie nach ihrem Vater geraten, während ihr Bruder George, drei Jahre älter als Charlotte, eher der verstorbenen Mutter glich. Er war viel kräftiger gebaut, hatte graue Augen und einen dichten schwarzen Haarschopf. Von seinem Gemüt her war er ausgeglichener veranlagt, was allerdings nicht hieß, dass er stets die andere Wange hingehalten hätte. Doch selbst in dieser Hinsicht war er aus der Art geschlagen, denn während Charlotte und Edwin leicht in die Luft gingen, schwelte Georges Wut vor sich hin wie ein schlecht geschürtes Feuer. Trotz ihrer Verschiedenheit vermisste Charlotte ihn sehr, seit er vor sieben Jahren die Farm verlassen hatte, um eine Stelle bei einem Versicherungsunternehmen in Christchurch anzutreten. Nach einer Weile war er dann nach Lyttleton gezogen, wo er auch seine Frau kennengelernt hatte. Zurzeit waren sie, wie jedes Frühjahr, zu Besuch auf der Farm. Sie kamen zweimal jährlich, und zwar gegen Anfang des Frühjahrs und zu Weihnachten. Auch das war ein Punkt, in dem George anders war als seine Geschwister. Er verhielt sich in allem, was er tat, berechenbar. Vielleicht war das der Grund, warum er nie Interesse an der Schafzucht gezeigt hatte, deren Erfolg stark vom Wetter abhing. Und das Wetter hatte bekanntermaßen seine Launen. »Warum möchtest du nicht bei ihnen wohnen?«, fragte Edwin geradeheraus. »Das ist doch offenbar so, sonst wärst du schon längst hingefahren.« »Wirst du mich bei Vater, George oder Ann verpetzen, wenn ich es dir verrate?«, gab Charlotte zurück. »Von mir erfahren sie natürlich kein Sterbenswörtchen, versprochen.« Charlotte nickte, denn sie wusste, dass sie Edwin vertrauen konnte. »Also gut, es gibt zwei Gründe. Erstens will ich ihre Privatsphäre nicht stören.« »Privatsphäre?«, wunderte sich Edwin. »Das ist wohl kaum ein vernünftiger Einwand. Denk nur einmal darüber nach, wie viel Privatsphäre Sarah und ich haben. Nämlich überhaupt keine von unserem Schlafzimmer einmal abgesehen. Und selbst das lässt angesichts der dünnen Wände in Vaters Haus sehr zu wünschen übrig.« »Schon, aber das ist etwas anderes, Edwin«, widersprach Charlotte. »Du und Sarah, ihr wohnt in Vaters Haus und könnt deshalb nicht allzu viel Privatsphäre erwarten. George hingegen besitzt ein eigenes Haus, in dem er allein mit Ann lebt. Wenn ich mich bei ihnen breitmachen würde, wäre ich ein Störenfried.« Edwin zuckte die Achseln. Offenbar leuchtete ihm diese Begründung nicht ein. »Und was hindert dich noch daran?« »Ich finde George und Ann ausgesprochen langweilig. Und zieh jetzt nicht die Augenbrauen hoch«, wies sie ihn zurecht. »Du hast mich gefragt, warum ich nicht bei ihnen wohnen will, und ich gebe dir eine aufrichtige Antwort. Sosehr ich George und Ann auch liebe, sind sie wirklich nicht besonders unterhaltsam. George liest die ganze Zeit, und Ann hat nur ihre Stickarbeiten im Kopf.« Edwin nickte widerstrebend. »Zugegeben, sie sind nicht unbedingt gesprächig. Aber Ann würde sich bestimmt über weibliche Gesellschaft freuen, wenn George tagsüber im Büro ist. Ann mag wortkarg sein, doch zumindest ist sie nicht exaltiert ganz im Gegensatz zu Isobel. Du weißt, dass Vater dich wegen Isobel gern aus dem Haus haben will. Seiner Ansicht nach beeinflusst sie dich mehr, als gut für dich ist. Immerhin macht sie aus ihrer Abneigung gegen Männer kein Geheimnis.« »Edwin, Isobel hat überhaupt nichts gegen Männer!«, protestierte Charlotte. »Hat sie doch. Sie lehnt Männer genauso ab wie die Ehe. Deshalb findet Vater, dass sie dir nicht guttut, und ich teile durchaus seine Auffassung.« Ärgerlich wandte Charlotte sich ab. Isobel, ihre Tante, schadete ihr nicht, sondern regte sie ganz im Gegenteil dazu an, selbstständig zu denken und manches in Frage zu stellen. Und seit wann war es ein Fehler, seinen Verstand zu gebrauchen? »Wenn du meine Tochter wärst ...« »Bin ich aber nicht«, unterbrach ihn Charlotte. »Außerdem bin ich kein Kind mehr. Ich ...« Sie verstummte schlagartig und wandte sich abrupt dem Flussbett zu. Denn Bess' fröhliches Gebell wurde plötzlich von einem schrillen Jaulen abgelöst, das Charlotte die Haare zu Berge stehen ließ. Dann war der Hügel in Schweigen gehüllt, bis der Wind ein klägliches und unheimliches Wimmern herantrug. Duke antwortete mit einem nicht minder beängstigenden Winseln. »Was ist denn da passiert?« Mit besorgter Miene sah Charlotte Edwin an. Anstelle einer Antwort ging Edwin zu seinem Pferd und griff nach seinem Gewehr. »Warte hier«, wies er sie leise an. Er warf einen Blick auf Duke und tätschelte ihn aufmunternd. »Komm, Duke«, flüsterte er und marschierte zum Flussbett. Charlotte kaute am Nagel ihres kleinen Fingers und blieb bei den Pferden stehen. Edwin war aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden, denn das dichte Schilfgestrüpp hatte ihn verschluckt. Allerdings konnte sie ihn deutlich hören, während er sich weiter zum Flussbett vorarbeitete, nach Bess rief und pfiff und versuchte, sie ausfindig zu machen. Schließlich verlor Charlotte die Geduld und näherte sich dem Fuß des Hügels. »Edwin, hast du Bess schon gefunden?«, fragte sie. »Noch nicht«, erwiderte er aus einiger Entfernung. »Kannst du sie hören?« »Nein, aber ...« Der Rest von Edwins Antwort ging in Dukes wütendem Gebell unter. Lautes Rascheln drang aus dem Unterholz, und kurz darauf knallte ein Schuss. Ein gellender Schmerzensschrei durchschnitt die Luft. »Edwin!«, entsetzte sich Charlotte, und Todesangst stieg in ihr auf. »Edwin, ist alles in Ordnung?« Wieder ertönten Geraschel und zorniges Kläffen. »Edwin! Edwin!«, rief Charlotte. Endlich übertönte Edwins Stimme den Radau. »Ein Wildschwein!« Charlottes Blick wanderte zu den heftig wogenden Schilfhalmen, die den Fluchtweg des Tiers das Flussbett entlang anzeigten. Duke machte sich bellend an die Verfolgung. »O Gott«, dachte sie und raffte ihre Röcke, um den Rückzug anzutreten. Kurz darauf hastete sie den Hügel hinunter auf die Pferde zu. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse. Vermutlich wäre es besser gewesen, sich nicht ständig umzuschauen, doch sie war machtlos dagegen, obwohl sie dabei Gefahr lief zu stolpern. Beim dritten Mal sah sie, wie ein riesiges schwarzes Wildschwein aus dem Unterholz brach und entweder zufällig oder absichtlich genau auf sie zusteuerte. Mit einem spitzen Schrei, der die Pferde so erschreckte, dass sie davongaloppierten, rannte sie auf den neuen Zaun zu. Wenn es ihr gelang, darüberzuklettern, war sie gerettet. Aber würde sie ihn erreichen, bevor das Wildschwein sie eingeholt hatte? Noch einmal wandte sie sich um und stellte fest, dass sich die abscheulich gebogenen weißen Hauer und die hässliche schwarze Schnauze inzwischen bedrohlich genähert hatten. Sie kreischte auf, stürzte und landete bäuchlings im Gras. Duke, der die Gefahr offenbar ahnte, stürmte auf das Wildschwein zu und verbiss sich wild knurrend in dessen massiges Genick, sodass das gewaltige Tier durch den Zusammenstoß nach links abgelenkt wurde. Charlotte rappelte sich auf und musste hilflos mit ansehen, wie Duke die Zähne in das Wildschwein schlug, das, begleitet von heftigem Grunzen, versuchte, ihn abzuschütteln. Dann ging alles ganz schnell. Noch vor einer Sekunde hatte Duke am Genick des Wildschweins gehangen, nun lag er, nur wenige Meter vom Fuße des Hügels entfernt, im Gras und blutete aus einer tiefen Wunde am Hals. Er hob den Kopf und versuchte mühsam, sich aufzurichten. Doch im nächsten Moment ließ er den Kopf mit einem kläglichen Wimmern ins Gras sinken. Die rosige Zunge hing ihm aus dem Maul, als er nach Luft hechelte. Das Wildschwein reckte die Schnauze, wich ein paar Meter zurück und betrachtete den verletzten Hund. Dann senkte es den Kopf und stieß ein lautes Grunzen aus. Offenbar wollte es wieder angreifen. Charlotte war verzweifelt, aber machtlos. Sie rannte in Richtung des schützenden Zauns, von dem sie noch etwa zehn bis fünfzehn Meter trennten. Da sah sie ihn, den Spaten, den Edwin ins Gras hatte fallen lassen. Wenn sie nicht beinahe darüber gestolpert wäre, wäre sie vermutlich nicht auf den Gedanken gekommen. Doch da war er und brachte sie sofort auf die rettende Idee. Da Duke völlig hilflos war, wusste sie, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich selbst zu wehren. Ohne einen Gedanken an die möglichen Folgen zu verschwenden, bückte sie sich, griff mit beiden Händen nach dem Spatenstiel und wirbelte zu dem Wildschwein herum. »Hau ab! Verschwinde!«, brüllte sie, so laut sie konnte. Dabei schwenkte sie den Spaten durch die Luft, in der Hoffnung, das Wildschwein durch diese bedrohliche Geste in die Flucht zu schlagen. Rasch jedoch wurde ihr klar, dass sich dieses Wildschwein von einem Spaten nicht einschüchtern ließ. Anstatt die Beine in die Hand zu nehmen, verharrte es reglos und stierte Charlotte an. Vielleicht hatte es ja noch nie eine schreiende Frau gesehen, die mit einem Spaten herumfuchtelte, und fand das Spektakel amüsant. Weitaus besorgniserregender war aber, dass es langsam näher kam, als wolle es die Angreiferin eingehender in Augenschein nehmen. Charlotte war klar, dass Davonlaufen das Dümmste gewesen wäre, da das Wildschwein sie in diesem Fall sicher verfolgt hätte. Deshalb tat sie das einzig Mögliche: Sie rührte sich nicht von der Stelle und schwenkte weiter drohend ihren Spaten. Im nächsten Moment krachte ein Schuss. Vor Schreck wäre Charlotte beinahe der Spaten aus den Händen geglitten. Das Wildschwein blieb stehen, drehte den Kopf in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war, und nahm grunzend Witterung auf. Als Charlotte bemerkte, dass es abgelenkt war, nützte sie ihre Chance. Sie holte aus und ließ die scharfe Kante des Spatens in hohem Bogen auf die Schnauze des Wildschweins niedersausen. Ein scheußliches Knirschen ertönte, als Zähne und Knochen zersplitterten. Hellrotes Blut spritzte aus dem Maul des Wildschweins auf Charlottes Rock, und der Spaten fiel ihr mit einem dumpfen Geräusch vor die Füße, so kraftvoll war der Schlag gewesen. Bebend vor Furcht bückte sie sich nach ihrer Waffe, wohl wissend, dass das Wildschwein zwar verletzt, aber noch lange nicht tot war. Es taumelte benommen im Kreis herum und stieß ein markerschütterndes Kreischen aus. Blutiger Schaum und Speichel troff aus seinem zerschmetterten Maul ins Gras. Dann stürzte es plötzlich, keine zwei Meter von Charlotte entfernt, zu Boden. Charlotte schwang den Spaten wie eine Axt und schlug mit aller Kraft zu. Das Grunzen verstummte plötzlich, und ein Poltern erklang, als das Wildschwein mit den Läufen zuckte und schließlich verendete. Darauf folgte eine unheimliche Stille, die Charlotte noch mehr ängstigte als die Todesschreie des Tieres. Am ganzen Leibe zitternd starrte sie auf das niedergestreckte Wildschwein. Es war tatsächlich tot. Ihr letzter Hieb hatte ihm den Schädel gespalten. Charlotte ließ den Spaten los, sank auf die Knie und brach in Tränen aus. Wäre Edwin nicht gewesen, sie hätte noch viel länger geweint, doch sie erkannte die Panik in seiner Stimme, als er immer wieder ihren Namen rief. Immer noch bebend wie Espenlaub, zwang sie sich aufzustehen und blickte in Richtung Flussbett. Edwin hatte das Unterholz inzwischen hinter sich und quälte sich den Hügel hinunter. Er ging vornübergebeugt. In der rechten Hand hatte er sein Gewehr, mit der anderen hielt er sich die linke Wade. Charlotte atmete tief durch und lief ihm entgegen. Sobald sie ihn erreicht hatte, kniete sie sich vor ihn hin und betrachtete sein aschfahles Gesicht und das Blut, das zwischen seinen Fingern hervorquoll. Sein Hosenbein war zerrissen und vom Knie abwärts mit Blut getränkt. Die Wunde schien ziemlich tief zu sein. »Was in Gottes Namen hast du dir dabei gedacht, Charlotte!«, schimpfte Edwin wütend. Er warf das Gewehr weg, packte sie an der linken Schulter und schüttelte sie. »Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, in welche Gefahr du dich gebracht hast? Mit einem Spaten gegen ein ausgewachsenes Wildschwein zu kämpfen! Es hätte dich in Stücke reißen können, und du hast verdammtes Glück gehabt, dass dir nichts passiert ist.« Charlotte öffnete den Mund, um ihm zu antworten, doch Edwin gab ihr keine Gelegenheit dazu. »Das Wildschwein hat dich nicht einmal angegriffen, sondern umgekehrt! Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich gesehen habe, wie du stehen geblieben bist und nach dem Spaten gegriffen hast. Ich habe alles ganz genau beobachtet. Du hast mit dem Spaten herumgefuchtelt wie eine Wahnsinnige. Schau dich nur an. Du bist von Kopf bis Fuß mit Blut bespritzt. Mein Gott, was wird Vater dazu sagen, wenn er hört, wie töricht du dich verhalten hast!«, herrschte Edwin sie an. Charlotte riss sich los und erwiderte zornig den wütenden Blick ihres Bruders. »Ich wollte Duke retten!« Edwin starrte sie entgeistert an. »Duke retten? Soll das heißen, dass du dein Leben für einen Hund riskiert hast?« »Du hast deines ja auch für Bess aufs Spiel gesetzt«, gab sie in scharfem Ton zurück und wies mit dem Kopf auf sein verletztes Bein. »Und du hättest es beinahe verloren. Du hast genau gewusst, wie gefährlich es ist, zum Flussbett zu gehen und Bess zu suchen, und du hast es trotzdem getan.« »Ich hatte ein Gewehr«, schrie Edwin. »Wenn ich nur einen verdammten Spaten gehabt hätte, um mich zu verteidigen, hätte ich die Finger davongelassen!« »Und schau, was dir das Gewehr genützt hat. Wahrscheinlich wärst du mit einem Spaten besser zurechtgekommen«, schleuderte sie ihm entgegen. »Duke hat das Wildschwein angegriffen, um mir das Leben zu retten. Also musste ich ihm helfen.« Hätte ihr Bruder nicht plötzlich vor Schmerzen das Gesicht verzogen, hätte sie ihm noch viel mehr an den Kopf geworfen. Allerdings war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu streiten. Charlotte rappelte sich auf, lüpfte den Rock und riss Stoffstreifen vom Saum ihres Unterrocks ab. Keiner von ihnen sprach ein Wort, während sie die Wunde verband. Edwin war wütend auf sie, aber vermutlich auch auf sich selbst, weil er so unvorsichtig gewesen war. »Warte hier, ich hole die Pferde«, sagte Charlotte, als sich Edwin mühsam aufrappelte. »Ich bin kein Krüppel, ich kann selbst gehen.« Doch er zuckte zusammen, sobald er das verletzte Bein belastete. »Tu, was du nicht lassen kannst«, entgegnete Charlotte. Wenn er unbedingt leiden wollte, würde sie ihn nicht daran hindern. Während ihr Bruder unter Schmerzen den Hügel hinunterhumpelte, marschierte sie davon, um die beiden Stuten zu suchen. Es hätte wohl kaum einen ungeeigneteren Moment geben können, um zur Farm zurückzukehren. Auf dem Hof hinter dem Haus wimmelte es von Menschen, denn die gesamte Familie hatte sich dort versammelt. Der Vater, Ann und George, Sarah und ihre beiden Söhne, dazu Isobel scharten sich um Ben und Letitia Steele, die offenbar gerade eingetroffen waren und alle mit ihrem Sohn Richard bekannt machten. Zumindest nahm Charlotte an, dass es sich bei dem Fremden um Richard handelte. Einer nach dem anderen drehte sich um, als die beiden Pferde auf den Hof getrabt kamen, und musterten erschrocken Charlottes blutbespritztes Kleid und Edwins behelfsmäßig verbundenes Bein. Das Geplauder verstummte. Sarah wurde kreidebleich. Ann schlug mit einem leisen Aufschrei die Hände vor den Mund. George wirkte verdattert, und Isobel zog nur die Augenbrauen hoch. John Blake betrachtete seine blutüberströmte Tochter mit unverhohlenem Entsetzen. Edwins verletztes Bein schien er noch gar nicht bemerkt zu haben. Der fünfjährige Arthur brach zuerst das Schweigen. »Schau, Mama«, verkündete er sachlich. »Papa hat sich wehgetan.« Arthurs Bemerkung riss alle aus ihrer Erstarrung. John schob sich an George vorbei und half seinem Sohn aus dem Sattel. »Was ist passiert, Edwin? Bist du vom Pferd gefallen?« Edwin schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht, als er das verletzte Bein über den Rücken des Pferdes schwang. »Nein, ich habe mich mit einem Wildschwein angelegt und den Kürzeren gezogen.« John warf Charlotte einen raschen Blick zu. Offenbar überlegte er, wie sie in einen solchen Zustand hatte geraten können. Dann wandte er sich wieder an seinen Sohn. »Muss die Wunde genäht werden, Edwin?« »Muss sie«, erwiderte dieser. Arthur riss sich von der Hand seiner Mutter los und lief zu seinem Vater hinüber. »Darf ich zuschauen?« »Nein«, entgegnete Edwin streng. »Geh sofort zurück zu deiner Mutter.« »Mir wird schwindelig«, verkündete ebendiese Mutter. Alle setzten sich in Bewegung, als Ben Steele und George Sarah geschickt an den Armen fassten und sie, gefolgt von Ann und Letitia, ins Haus führten. »Warum darf ich nicht zuschauen?«, beharrte Arthur. »Darum«, antwortete John und versetzte seinem Enkel einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil. »Und jetzt ab mit dir ins Haus.« Arthur war vernünftig genug, den Rückzug anzutreten. »Soll ich den Arzt holen?«, fragte John Edwin, der offenbar starke Schmerzen litt. »Das schaffen wir auch ohne ihn«, stöhnte dieser. »Bist du sicher?«, hakte John besorgt nach. »Ich habe einige Erfahrung im Nähen von Wunden«, mischte sich nun der Nachbarssohn in ruhigem Ton ein und hielt Edwin die Hand hin. »Mein Name ist Richard Steele. Ich kümmere mich gern um Ihre Verletzung, falls Sie sich mir anvertrauen wollen.« Edwin drückte kurz seine Hand und nickte. »Vielen Dank, Kapitän Steele. Ich würde mich über Ihre Hilfe freuen. Wenn Sie mich einen Moment entschuldigen wollen, ich möchte gern nach meiner Frau sehen«, erwiderte er und hinkte zum Haus. John blickte ihm nach und drehte sich dann zu seiner Tochter um, die noch im Herrensitz auf ihrem Pferd saß. »Nach dem Blut auf deinem Kleid zu urteilen, ist Edwin offenbar schwerer verletzt, als er zugibt«, sagte er leise. Charlotte schüttelte angeekelt den Kopf. »Das ist nicht Edwins Blut, sondern das des Wildschweins.« John starrte sie an. »Du warst bei Edwin, als das Wildschwein angegriffen hat?« »Nein. Ja. Nein ... das heißt ...« Sie schloss die Augen. In ihrem Kopf drehte es sich, und ihr war flau im Magen. Sie wollte nur das widerliche blutige Kleid loswerden und sich ausweinen. Bess und Duke waren beide tot. Edwin hatte sich den verwundeten Hund angesehen und ihn trotz ihres Flehens erschossen. Als John bemerkte, dass sie schwankte, hielt er sie fest. »Mir ist übel«, verkündete sie und rutschte unbeholfen aus dem Sattel. Dann übergab sie sich vor aller Augen. »Ach herrje, das ist aber kein guter Anfang, John«, stellte Isobel fest, als John seine Tochter am Arm fasste. John maß seine Schwester mit einem finsteren Blick, während Richard sie neugierig musterte. Kein guter Anfang? Was zum Teufel mochte sie wohl damit meinen? John Blake hatte einen guten Riecher dafür, wenn der Haussegen in seiner Familie schief hing. Deshalb war ihm schon wenige Minuten, nachdem Edwin und Charlotte auf den Hof geritten waren, klar geworden, dass es zwischen den beiden einen heftigen Streit gegeben hatte. Was auch immer der Anlass gewesen sein mochte wahrscheinlich hatte es mit dem Wildschwein zu tun , sie kochten beide noch immer vor Wut. Obwohl er unbedingt erfahren wollte, was sich zugetragen hatte, hielt er es im Moment nicht für ratsam nachzufragen. Er wünschte die Ereignisse im engsten Familienkreis zu besprechen, weshalb er sich bei Edwin nicht nach den Einzelheiten erkundigte, so lange die Steeles im Haus waren. Doch vor etwa einer Viertelstunde waren sie aufgebrochen und hatten Johns Einladung zum Essen ausgeschlagen. Sie ahnten wohl, dass Gäste den Blakes an diesem Abend eher ungelegen kamen. John ließ den Blick über den Tisch schweifen, an dem sich seine Familie versammelt hatte. Nur die beiden Enkel fehlten, denn sie hatten bereits gegessen und waren früher als sonst zu Bett geschickt worden. Edwin hatte Schmerzen, was zu erwarten war. Charlotte wirkte zwar ein wenig erhitzt, schien aber sonst wieder die Alte zu sein. Sarah schien etwas besorgt, vermutlich wegen Edwins Bein, denn bei Wunden wie dieser musste man immer mit einer Entzündung rechnen. John senkte den Kopf und schloss die Augen. »Wir danken dir, Herr, für dieses Mahl und für unsere Gesundheit. Amen.« Auf das Tischgebet folgte die übliche Betriebsamkeit, als Sarah den Lammbraten verteilte und dampfende Terrinen mit Gemüse herumgereicht wurden. »Schon wieder Rosmarin.« John beugte sich vor und schnupperte missbilligend an dem Fleisch auf seinem Teller. »Warum muss Mrs. Hall immer den Geschmack der Speisen verfälschen? Wenn Lamm nach etwas anderem schmecken sollte als nach Lamm, hätte der liebe Gott es sicher so erschaffen.« Kopfschüttelnd streckte er die Hand aus. »Könntest du mir bitte das Salz reichen, Isobel?« »Hat der Allmächtige dir das Lamm nicht ausreichend gewürzt?«, entgegnete diese spöttisch und schob ihm den Salzstreuer hinüber. »Ich brauche das Salz«, erwiderte John im gleichen Tonfall, »um den Rosmaringeschmack zu überdecken.« »Salz soll ja gut fürs Blut sein«, merkte George an. »Rosmarin ist bestimmt zu gar nichts gut«, murmelte John und bestreute ausgiebig seine Fleischportion mit Salz. »Laut Cupeper hilft Rosmarin gegen Verdauungsstörungen«, verkündete Isobel. »Und deshalb gibt Mrs. Hall ihn vermutlich ans Fleisch«, fügte Sarah hinzu, während sie den Deckel der Terrine mit den Karotten gerade rückte. John schnaubte verächtlich. »Ich habe keine Verdauungsstörungen.« »Es freut mich, das zu hören«, antwortete Sarah. »Allerdings sitzen auch Menschen am Tisch, die daran leiden. Ich zum Beispiel.« Sarahs Verdauungsstörungen wurden wie ihre Rückenschmerzen mindestens einmal täglich erwähnt. John stellte den Salzstreuer weg und begann, das Fleisch zu zerschneiden.
Die neuseeländische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel The Sea Between bei HarperCollins, New Zealand.
Copyright der Originalausgabe © 2009 by Carol Thomas Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg This German language edition is published by arrangement with HarperCollins Publishers, New Zealand. Übersetzung: Karin Dufner Koordination und Bearbeitung: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Kirchheim-Heimstetten Umschlaggestaltung: zeichenpool, München Umschlagmotiv: Shutterstock (© kwest; © Robyn Butler; © MikeE); Masterfile, Düsseldorf Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice Printed in the EU ISBN 978-3-86800-300-0 2013 2012 2011 2010 Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
Die neuseeländische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel The Sea Between bei HarperCollins, New Zealand.
Copyright der Originalausgabe © 2009 by Carol Thomas Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg This German language edition is published by arrangement with HarperCollins Publishers, New Zealand. Übersetzung: Karin Dufner Koordination und Bearbeitung: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Kirchheim-Heimstetten Umschlaggestaltung: zeichenpool, München Umschlagmotiv: Shutterstock (© kwest; © Robyn Butler; © MikeE); Masterfile, Düsseldorf Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice Printed in the EU ISBN 978-3-86800-300-0 2013 2012 2011 2010 Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
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Autoren-Porträt von CAROL THOMAS
Carol Thomas zog vor 25 Jahren mit ihrem Mann von England nach Neuseeland. Als ihre Kinder älter wurden, wandte sie sich dem Schreiben zu. Die fernen Sterne der Liebe ist ihr dritter Roman und der erste, der auf Deutsch erscheint. Carol Thomas arbeitet als wissenschaftliche Bibliothekarin.
Bibliographische Angaben
- Autor: CAROL THOMAS
- 2013, 300 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863658787
- ISBN-13: 9783863658786
- Erscheinungsdatum: 17.04.2013
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 0.72 MB
- Ohne Kopierschutz
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