Die Mütter-Mafia Bd.1 (ePub)
Roman
Deutschland sucht die Super-Mami! Es gibt sie, die perfekten Mamis und Bilderbuch-Mütter, die sich nur über Kochrezepte, Klavierlehrer und Kinderfrauen austauschen. Doch eigentlich sind sie der Albtraum jeder Vorstadtsiedlung. Dagegen hilft
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Mütter-Mafia Bd.1 (ePub)“
Deutschland sucht die Super-Mami! Es gibt sie, die perfekten Mamis und Bilderbuch-Mütter, die sich nur über Kochrezepte, Klavierlehrer und Kinderfrauen austauschen. Doch eigentlich sind sie der Albtraum jeder Vorstadtsiedlung. Dagegen hilft
nur eins. Sich zusammenrotten und eine kreative Gegenbewegung gründen: die "Mütter-Mafia"! Ab jetzt müssen sich alle braven Muttertiere warm anziehen ...
nur eins. Sich zusammenrotten und eine kreative Gegenbewegung gründen: die "Mütter-Mafia"! Ab jetzt müssen sich alle braven Muttertiere warm anziehen ...
Lese-Probe zu „Die Mütter-Mafia Bd.1 (ePub)“
Die Mütter-Mafia von Kerstin GierI
Die Mütter-Mafia
Willkommen auf der Homepage der Mütter-Society, dem Netzwerk für Frauen mit Kindern. Ob Karrierefrau oder »nur« Hausfrau, hier tauschen wir uns über Schwangerschaft und Geburt, Erziehung, Ehe, Job, Haushalt und Hobbys aus und unterstützen uns gegenseitig liebevoll. Zutritt zum Forum nur für Mitglieder
22. Januar
Wie versprochen hier mein Rezept für den viel gelobten schnellen Apfelkuchen von unserem letzten Clubnachmittag: Das Rezept hat meine Mutti noch von ihrer Mutti! Ein Teig aus 250 Gramm Butter, 180 Gramm Zucker, 3 Eiern, etwas Vollmilch, 600 Gramm Mehl und einem Päckchen Backpulver zusammenrühren, die sämige Masse in eine Springform füllen, klein geschnittene Äpfel darauf verteilen und eindrücken, das Ganze im Ofen bei 180 Grad Umluft eine Stunde backen - fertig.
Zur Erinnerung: Dienstag kommender Woche beginnt mein Kurs Knüpfen mit Kleinkindern im Familienbildungswerk. Bisher haben sich leider noch nicht genug Teilnehmer angemeldet. Was ist mit euch? Wir wollen einen Wäschesack knüpfen, den man im Badezimmer von der Decke hängen lassen kann. Das spart viel Platz und sieht schön aus.
Mami Gitti
... mehr
22. Januar
Nichts für ungut, Gitti, aber keiner, der auf seine Linie achtet, würde diese Fett-und Zuckerbombe nachbacken. Außerdem heißt es nicht »Ein Teig ... zusammenrühren«, sondern »Einen Teig«, weil der Teig in diesem Fall das Objekt darstellt. Immer daran denken: Wir müssen ein Vorbild für unsere Kinder sein. Was den selbst geknüpften Wäschesack angeht: Mein Mann würde Zustände bekommen, wenn wir so ein Teil in unser Designerbad hängen würden. Ich hätte aber sowieso keine Zeit gehabt, bin augenblicklich beruflich wahnsinnig eingespannt.
Frau Porschke, unsere Kinderfrau, hat uns heute mitgeteilt, dass sie nur noch bis zum Sommer bei uns arbeiten kann, da sie wegen der Versetzung ihres Mannes umziehen werden. Natürlich sind wir traurig darüber, denn Frau Porschke hat ein goldenes Herz, sie liebt unsere Mäuse wirklich abgöttisch und kann hervorragend bügeln, aber ich hatte ja von Anfang an meine Zweifel, ob jemand ohne Schulabschluss der richtige Umgang für zwei so aufgeweckte Mädchen ist. Auf jeden Fall brauchen wir ab August eine neue Betreuungslösung, gern auch weniger kostenintensiv. Wer von euch hat Erfahrung mit Au-pair- Mädchen oder -Jungen? Muss Schluss machen, habe morgen wichtiges Meeting, danach zwei Tage Tagung in Berlin, muss noch vorkochen, Beine epilieren (wegen Spa-Bereich in 5-Sterne- Tagungshotel) und Koffer packen. Sabine
23. Januar
Wir hatten nach Sophies Geburt zwei Jahre lang Au-pairs, insgesamt fünf Mädchen aus fünf Nationen, damit ich sofort wieder Teilzeit, später wieder voll arbeiten konnte. Ich wollte auf keinen Fall den Anschluss im Job verlieren, na ja, ihr kennt das ja: Wenn man mit dem ersten Kind schwanger ist, denkt man noch, dass alles bleibt, wie es ist, und dass man problemlos weiter Karriere machen kann. Jedenfalls hielt ich Au- pair für eine gute Lösung, weil ich leider keine gute Freundin hatte, die mich gewarnt hat. Erst, als ich mitten in der Misere steckte,kamen sie alle an mit ihren Horrormeldungen. Aber da war es schon zu spät. Deshalb hier meine Frühwarnung: Nimm bloß keine Polin, Lettin oder Russin! Die können zwar in der Regel gut kochen und jammern auch nicht über zu viel Arbeit, aber insgeheim sind diese Osteuropäerinnen doch nur scharf auf einen deutschen Mann, und da machen sie auch vor deinem nicht Halt. Und was haben deine Kinder schon davon, so eine überflüssige Sprache wie Polnisch, Russisch oder Lettisch zu lernen? Spanierinnen und Italienerinnen kannst du allerdings ebenfalls vergessen, die sind viel zu verwöhnt, mäkeln ständig am Essen rum und wissen nicht, dass man Kleider in einem Schrank aufbewahrt, gebügelt und gefaltet. Wenn man ihnen Glauben schenken will, liegen in Spanien und Italien die Klamotten allesamt in Haufen auf dem Fußboden herum. Ebenso das Kinderspielzeug. Meine Freundin Susanne hatte schon eine Belgierin, die in ihrem Zimmer fortlaufend Hasch geraucht hat, und eine Französin marrokanischer Herkunft, die für viertausend Euro im Monat nach Hause telefoniert hat. Ich weiß auch aus erster Hand, dass Südafrikanerinnen und Argentinierinnen mindestens genauso heikel sind. Für ihr englisches Au-pair musste Susanne ein Jahr lang eine komplizierte Diät kochen, weil sie gegen Gluten allergisch war, was ja praktisch überall drin ist. Ekelhaft: Irinnen rasieren sich das Schamhaar in der Dusche, und du musst ihre Wolle hinterher aus dem Siphon pulen.
So billig ist das Ganze auch nicht, die Aupairs zocken nämlich unverhältnismäßig viel Taschengeld ab, und du spielst den ganzen Tag den Chauffeur, weil die meisten keinen Führerschein haben und ständig in die Disko wollen. Ich hätte ja gern vergleichshalber mit einem männlichen Au-pair experimentiert, aber die sind leider sehr schwer zu bekommen. Am besten vergisst du diese Au-pair-Sache also ganz schnell wieder. An deiner Stelle würde ich mir wieder so eine liebe, fleißige Kinderfrau wie deine Frau Porschke suchen. Bei der musst du wenigstens keine Angst haben, dass sie dir deinen Mann ausspannt. Wenn ich jemanden wie Frau Porschke gefunden hätte, dann hätte ich meinen Job ganz sicher nicht wieder an den Nagel hängen müssen. Aber man braucht ein absolut perfekt funktionierendes häusliches System, um als Mutter wieder arbeiten gehen zu können, nicht an schlechtem Gewissen zugrunde zu gehen und trotzdem eine gute Ehe zu führen. Mit Au-pairs kannst du das vergessen: Wenn du mal früher nach Hause kommst, sitzt deine zweijährige Tochter vor dem Fernseher, und dein Mann liegt mit dem Au-pair im Ehebett. Willst du das? Sonja
24. Januar
An alle Mamis: Jubel! Der Frauenarzt hat heute meine Schwangerschaft bestätigt! Danke für den Kissen-unter-den-Po-schieben-und-liegenbleiben- Tipp, Frauke! Ich bin supi-glücklich und freue mich schon supi-doll auf die morgendliche Übelkeit! Es passt auch ganz genau: Übernächste Woche geht mein verlängerter Erziehungsurlaub zu Ende, und wenn ich meiner Chefin sage, dass ich wieder schwanger bin, brauche ich wahrscheinlich gar nicht erst wiederzukommen. Sie weiß noch vom letzten Mal, dass meinetwegen ständig das Klo besetzt war, hihi, und sie (kinderlos!) hält Schwangere grundsätzlich für gehirnamputiert. Ich hoffe nur, sie lässt mich bei vollem Lohnausgleich zu Hause bleiben. Ich persönlich finde ja, dass eine Mami wenigstens in den ersten Jahren auf ihre Karriere verzichten und bei ihren Kindern bleiben sollte, ganz gleich, wie gut eine Kinderfrau auch sein mag. Aber das muss natürlich jeder selber wissen. Ich war übrigens auch mal Au-pair, in den USA, und ich kann deine Vorurteile absolut nicht bestätigen, Sonja. Ich war kein einziges Mal in der Disko, habe gegessen, was auf den Tisch kam, und den Herrn des Hauses hätte ich nicht mal mit der Zange angefasst. Wie wär's also mit einem deutschen Au-pair-Mädchen, Sabine? Damit kannst du garantiert nichts falsch machen. Mami (demnächst zweifach!) Ellen
P. S. Hat dein Mann tatsächlich was mit eurem Au-pair angefangen, Sonja? Ich finde es unter diesen Umständen sehr heroisch von dir, dass ihr noch zusammen seid.
24. Januar
Das sollte doch nur ein Beispiel sein! Natürlich ist das nicht mir passiert, aber der Freundin meiner Freundin. Mit einer Lettin. Übrigens meine allerherzlichsten Glückwünsche zur Schwangerschaft, Ellen. Du hast so ein Glück, dass du dir die Pfunde vom letzten Mal noch nicht runter- gehungert hast, sonst wäre das jetzt alles für die Katz.
Sonja
25. Januar
Zurück aus Berlin (berauschendes Weltstadtfeeling, hatte zwischendurch sogar Zeit für einen Einkaufsbummel, Armani lässt grüßen) und irritiert über deine Aussage, Ellen. Wir von der Mütter-Society wollen uns doch gerade von der leidigen Diskussion darüber, wer nun die bessere Mutter ist, »Nur-Hausfrau« oder »Karrierefrau«, distanzieren. Eine zufriedene Mutter ist eine gute Mutter, das ist ja wissenschaftlich nun wirklich hinlänglich bewiesen. Allerdings würde es mir auch leichterfallen, auf meine »Karriere« zu verzichten, wenn ich Zahnarzthelferin wäre.
Meine allerherzlichsten Glückwünsche zu deiner Schwangerschaft bei vollem Lohnausgleich! (Deine Chefin wäre gehirnamputiert, wenn sie das macht!)
Sabine
26. Januar
Es liegen mir immer noch nicht alle Anmeldungen für die Farbberatung nächste Woche vor. Frau Merkenich ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet; ich bin sehr stolz, sie für die Mütter-Society gewonnen zu haben. Ihre Beratung kann Leben verändern, es lohnt sich also vor allem für diejenigen von uns, die immer noch glauben, dass ihnen Lila steht.
Frauke
1. Kapitel
Julius und ich fuhren erster Klasse im ICE von Hamburg nach Köln. Weil nämlich der Spartarif erster Klasse billiger war als der Normaltarif zweiter Klasse, was ich zwar nicht verstand, aber ich war noch nie gut im Rechnen gewesen. Außerdem soll man nehmen, was man kriegen kann, wie meine Mutter immer sagt. In der ersten Klasse haben die Sitze hübschere Polster, und man hat mehr Platz für die Beine. Allerdings hatten wir keine Platzreservierung, und die einzigen nebeneinanderliegenden, nicht reservierten Plätze lagen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, und statt auf den eingebauten Bildschirm in der Rückenlehne des Vordersitzes schauten wir in die Gesichter von Herrn und Frau Meyer »met Ypsilon aus Offebach bei Frankfott, ei, der Klee is aber süß, wie alt issen der?«, die ebenfalls in Hamburg eingestiegen waren und aus einem unerschöpflichen Vorrat Salamistullen verzehrten. Beides, Salamigeruch und verkehrte Sitzposition, verursachen Übelkeit bei mir, und Julius hatte das wohl von mir geerbt, wie wir nun feststellen konnten. Kurz vor Bielefeld erbrach er sich ohne vorherige Ankündigung über den Tisch, der uns vom Ehepaar Meyer trennte.
Die Zeitschriften, die die Meyers bis jetzt noch nicht gelesen hatten und nun wohl auch nicht mehr lesen würden, wurden mit Julius' Frühstück und den drei Päckchen »Hohes C« getränkt, die sie dem Jungen zuvor förmlich aufgedrängt hatten. »Kleine Kinder brauchen Vitamine, trink nur, des is gesund.«
Das hatten sie jetzt davon.
»Kommt noch mehr?«, fragte ich Julius, während ich hektisch unsere Papiertaschentücher auffaltete und gar nicht wusste, wo ich mit dem Aufwischen beginnen sollte.
»Ich glaube nicht«, sagte Julius vorsichtig.
Herr Meyer entfernte sich diskret, während Frau Meyer rührig aufsprang und aus ihrem Gepäck eine Packung Feuchttücher hervorzauberte, so wie ich sie immer mit mir herumgeschleppt hatte, als Julius noch Windeln trug.
Mit den Tüchern wurde alles ganz schnell wieder sauber. Frau Meyer ließ sie mit den Zeitschriften in einem ebenfalls herbeigezauberten Müllbeutel verschwinden. Zum Schluss öffnete sie das Fenster, strahlte mich an und sagte: »Des hätte mer geschafft!«
Ich entschuldigte und bedankte mich ungefähr tausendmal.
»Des muss Ihne doch net peinlisch sein, Kindsche«, versicherte Frau Meyer und streichelte Julius über den Kopf. »So sin Kinder nu mal, die habens oft mittem Magen, da muss man dorsch! Des is so ein lieber kleiner Kerl, gell, so vernünftisch für seine vier Jahre, und Sie sind eine ganz sympathische, patente junge Mutti, wecklisch, das muss Ihne gar net peinlisch sein.«
Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, mich an Frau Meyers Brust zu werfen und sie zu fragen, ob sie mich nicht adoptieren wolle. Es war lange her, dass jemand etwas so Nettes zu mir gesagt hatte. Leider hatte Frau Meyer aber schon jede Menge Töchter und Söhne und Enkelkinder und daher vermutlich kein Interesse an einer Adoption. Außerdem - wenn sie mich näher kennen lernte, würde sie das mit der »patenten Mutti« sicher schnell zurücknehmen. Sympathisch ja, patent nein. Mein eigener Mann hatte mich vor nicht allzu langer Zeit als das »am schlechtesten organisierte, lebensuntüchtigste Weibsstück, das ich kenne« bezeichnet und kurz darauf die Scheidung eingereicht. Und wirklich jung war ich auch nicht mehr. Ich meine, mit fünfunddreißig kann man sich zwar wie zwanzig fühlen, aber man sieht nicht mehr so aus. Gerade deswegen schloss ich Frau Meyer für immer in mein Herz.
Leider mussten wir in Köln Hauptbahnhof aussteigen und sahen die Meyers nie wieder. Ich zerrte unsere Koffer und Julius auf den Bahnsteig und kollidierte dabei mit einem circa einen Meter neunzig großen himmelblauen Hasen mit einer Bierfahne. Noch während ich mir vor Schreck ans Herz griff, rülpste der Hase ein »Hoppla« und hoppelte weiter. Jetzt erst sah ich, dass er einer ganzen Gruppe pastellfarbener Nagetiere angehörte, die voller Begeisterung um die Abfalleimer herumhopsten und dabei »Bier her, Bier her« sangen. Ein Flickenclown, der einen Reisekoffer schleppte, und eine Frau mit blauer Lockenperücke, die sich etwas wackelig, aber energisch an seinen freien Arm klammerte, hielten mit »Mer losse de Dom in Kölle« dagegen.
Es war Karneval in Köln.
An einem Karnevalssonntag nach Köln zu kommen, nachdem man sieben Wochen auf der winterlich- verschlafenen Watteninsel Pellworm verbracht hat, ist in etwa so, wie mit einem Raumschiff auf einem fremden Planeten zu landen, allerdings ohne dass die Außerirdischen großartig von einem Notiz nehmen. Ich sah mich nach Lorenz um, meinem zukünftigen Exmann, dem Vater meiner Kinder. Aber von Lorenz war keine Spur zu sehen, obwohl ich ihm die Ankunftszeit mehrfach telefonisch durchgegeben hatte. Ich hatte auch nicht wirklich mit seinem Erscheinen gerechnet. Seit das Scheidungsverfahren lief, fühlte er sich in keiner Weise mehr für mich verantwortlich, und das bedeutete in diesem Fall wohl, dass wir die S-Bahn nehmen mussten.
Ich griff fester nach Julius' Hand und bahnte mir einen Weg durch das Getümmel. Auf dem Weg von Gleis fünf nach Gleis elf sahen wir nur wenige Menschen, die nicht verkleidet und/oder betrunken waren, und selbst eine Gruppe Japaner - echte, unverkleidete Japaner - schien von dem Treiben völlig eingeschüchtert zu sein. Eng aneinandergedrängt schauten sie sich verunsichert um, und nicht einer von ihnen fotografierte.
»Mir ist schlecht«, sagte Julius.
Alarmiert ließ ich den Koffer fallen und schubste einen langhaarigen Vampir vom nächsten Abfallbehälter. Ich musste Julius hochheben, damit er in die Öffnung spucken konnte, und der Vampir machte mich zu spät darauf aufmerksam, dass es sich hier nicht um Restmüll, sondern um Papiermüll handelte. Aber an einem Tag wie heute, an dem halb Köln in die Papierkörbe reiherte, konnte er mir damit kein schlechtes Gewissen machen.
Neben dem Vampir lungerte ein vermutlich männliches Wesen mit einer Gerhard-Schröder-Maske herum, das, dem strengen Geruch nach zu urteilen, schrecklich unter dem Latex zu schwitzen schien.
»Willste 'n Bier mit uns trinken kommen?«, fragte er mich.
Julius spuckte. Offenbar war immer noch genug »Hohes C« in seinem Magen gewesen.
»Is ja ekelhaft«, sagte der Vampir. »Ist das deiner?«
»Kleine Kinder haben es nun mal mit dem Magen«, sagte ich, ganz wie Frau Meyer mit Y, und streichelte Julius über den Kopf. »Des muss uns net peinlisch sein. Da müsse mer dorsch.«
»Iiiih, 'ne Hessensau«, sagte Gerhard Schröder. »Und mit der wollte ich ein Bier trinken.«
»Trotzdem, geiler Arsch«, sagte der Vampir.
»Helau«, sagte ich. Langsam machte ich mir Sorgen. Möglicherweise hatte Julius doch nicht nur meine Reaktion auf Rückwärtsfahrten und Salamigeruch geerbt, sondern einen Magen-Darm- Infekt erwischt. Er gehörte sicherheitshalber mit einer Vomex ins Bett.
Ich studierte den Fahrplan. In sieben Minuten kam unsere S-Bahn, das war zu überleben.
Ein Rentner mit einem gelb getupften Hütchen auf der Glatze rempelte mir seinen Ellenbogen in die Rippen und sagte unfreundlich: »Gleis 10, Giesela, und damit basta! Wie oft willst du denn noch nachgucken? «
Mittlerweile war meine Stimmung auch ziemlich gereizt.
Ich rempelte dem Renter meinerseits den Ellenbogen in den Bierbauch und erwiderte: »Auch wenn du mir die Rippen brichst, Karl-Heinz, ich nehme den Zug von Gleis 11.«
Der Rentner starrte mich verwundert an. Ich kannte ihn nicht, wusste aber gleich, dass er zu der Sorte alter Männer gehörte, die sich nie entschuldigen und vorm Supermarkt auf dem Mutter-Kind-Parkplatz parken. Hinter ihm stand eine sehr dicke, kleine Frau um die siebzig, verkleidet mit einer Lamettaperücke und einer pinkfarbenen Herz-Brille. Giesela, wie ich annahm.
»Hier bin ich, Heinrich«, sagte sie mit hoher Fistelstimme und klopfte dem Rentner auf die Schulter. Heinrich. Da hatte ich mit Karl-Heinz ja gar nicht so falsch gelegen.
Heinrich schaute eine Weile zwischen mir und Lametta-Giesela hin und her und kratzte sich an seinem jecken Hütchen. Dann sagte er: »Isch hab euch eben verwechselt, dat kann ja mal passieren, oder nit?«
Oder nit???
Ich schaute mir Giesela genau an und hoffte sehr, dass Heinrich den grauen Star hatte, und zwar in weit fortgeschrittenem Stadium.
Die S-Bahn fuhr ein und öffnete seufzend ihre Türen.
»Mir ist schlecht«, sagte Julius. Leider konnte Heinrich nicht mehr rechtzeitig beiseitespringen.
»Dat kann ja mal passieren«, sagte ich.
Wir wohnten im ersten Stock eines raffiniert sanierten Altbaus. Niemand, der von außen zu den Fenstern hochsah, konnte vermuten, dass hier eine Wohnung mit den Ausmaßen eines Fußballfeldes Platz hatte. Lorenz und ich hatten die Wohnung gekauft, als Lorenz vor zehn Jahren zum Staatsanwalt berufen worden war. Das heißt, Lorenz hatte sie gekauft, ich war nur mit eingezogen.
Lorenz war sieben Jahre älter als ich. Als wir uns kennen gelernt hatten, war ich gerade mal zwanzig gewesen, im zweiten Semester meines Psychologie- Studiums und immer noch völlig verloren in der großen Stadt. Vor allem das Straßenbahn-und U-Bahnnetz war mir nicht geheuer. Seit ich auf dem Weg zu der Lerngruppe bei einer Kommilitonin, die nur zwei Bahnstationen entfernt wohnte, verloren gegangen und ohne Brieftasche in einem geheimnisvollen Ort namens Zülpich-Ülpenich gelandet war, fuhr ich nur noch mit dem Fahrrad, egal wie weit es auch sein mochte. Im Fahrradfahren war ich gut. Ich bin auf der Nordseeinsel Pellworm geboren und aufgewachsen. Meine Eltern haben dort einen Bauernhof, überwiegend Milchkühe. Eigentlich hätte ich ein Junge werden und den Hof später mal übernehmen sollen. Mit Mädchen können meine Eltern bis heute nichts anfangen.
»Natürlich haben wir dich trotzdem lieb, Constanze«, sagt mein Vater immer, aber als drei Jahre nach mir mein Bruder geboren wurde, haben sie, glaube ich, ernsthaft darüber nachgedacht, das überflüssige Kind, also mich, zur Adoption freizugeben. Wenn ich das meinen Eltern sage - und manchmal sage ich es ihnen heute noch -, verdrehen sie nur die Augen und sagen, das sei wieder mal typisch Mädchen, und ich solle endlich erwachsen werden.
Dass die zvs mich damals ausgerechnet nach Köln geschickt hatte, hat meinen Eltern aber auch nicht gefallen. Sie meinten, ich wäre noch nicht reif für die Großstadt. Leider hatten sie Recht. Ich wäre lieber nach Hamburg gegangen, das war näher an zu Hause und hatte ein übersichtlicheres öffentliches Verkehrsnetz. Die Rheinländer sind meiner Erfahrung nach auch höchstens halb so offen und herzlich, wie man ihnen nachsagt: Ohne einen Cent in Zülpich-Ülpenich - das war kein Vergnügen gewesen. Niemand wollte mir sein Fahrrad leihen oder mir Geld für die Rückfahrt geben oder mich auch nur telefonieren lassen. Von rheinischer Herzlichkeit keine Spur. Der Taxifahrer, der mich schließlich nach Hause brachte, kam aus der Türkei.
Wie gesagt, ich hatte es schwer, mich in Köln einzuleben. Ich sah sehr friesisch aus, groß, hellblond und schlaksig, mit überproportional großen Füßen und Händen. Ich trug eine Nickelbrille, kaute Fingernägel und stotterte, wenn ich aufgeregt war. Um kleiner zu wirken, ließ ich meine Schultern nach vorne fallen, und aus demselben Grund hatte ich mir einen schlurfenden Gang angewöhnt. Um den Neuanfang und meinen Erwachsenenstatus zu demonstrieren, hatte ich in Köln gleich als Erstes einen Friseur aufgesucht, der meinen meterlangen Zopf abgeschnitten und mir eine - nach eigener Auskunft - »pfiffige Kurzhaarfrisur« verpasst hatte. Aber die Frisur war nicht pfiffig, ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es überhaupt eine Frisur war. Immerhin war sie unauffällig und schmucklos und passte so hervorragend zu meinen vorwiegend in Grau und Dunkelblau gehaltenen Klamotten. Ich trug meistens Jeans zu sackähnlichen Oberteilen, bequeme Gesundheitstreter und kein Make-up. Mit diesem Outfit fiel ich im Psychologie- Seminar auch kein bisschen aus dem Rahmen. Um mein Zugehörigkeitsgefühl noch mehr zu stärken, unterhielt ich ein unglückliches Liebesverhältnis mit einem der Jungs aus meiner WG, Jan Kröllmann. Aus falscher Scham hatte ich Jan nicht verraten, dass er der Erste für mich gewesen war, was wiederum keine gute Basis für unsere Beziehung darstellte. Ich war so verschüchtert und verklemmt, dass Jan mich nur nackt sehen durfte, wenn es stockdunkel im Raum war - also gar nicht. Er betrog mich auch recht bald mit der Freundin einer anderen Mitbewohnerin, die, wie er sagte, das bequemere Bett hatte. Da die beiden es aber nicht nur im Bett miteinander trieben, sondern auch auf dem Teppich im Flur, in der Badewanne und auf dem Küchentisch, vermutete ich ganz stark, dass sie außer dem Bett auch noch andere Vorteile mir gegenüber hatte. Aus lauter Angst, über die beiden zu stolpern, wagte ich mich kaum mehr aus meinem Zimmer und verbrachte unverhältnismäßig viel Zeit in der Uni-Bibliothek. Die Tatsache, dass ein weiterer WG-Bewohner sich hartnäckig anbot, Jans Nachfolge bei mir anzutreten, machte die Sache auch nicht gerade unkomplizierter, zumal dieser WG-Bewohner einen Kopf kleiner war als ich und einen durchdringenden Eigengeruch besaß. Ich war kurz davor, mein Studium hinzuschmeißen und zurück nach Pellworm zu gehen, um dort bis an mein Lebensende Kühe zu melken. Glücklicherweise lernte ich genau zu diesem Zeitpunkt Lorenz kennen und überdachte die Sache noch einmal.
Ich überfuhr Lorenz ganz romantisch mit meinem Fahrrad. Er stand mitten auf dem Radweg. Bis zum letzten Augenblick dachte ich, er würde zur Seite springen, denn ich klingelte wie verrückt und machte scheuchende Handbewegungen, außerdem schimpfte ich ziemlich laut über ignorante Fußgänger auf Radwegen. Aber Lorenz war so sehr in seine Akten vertieft, dass er mich weder hörte noch sah. Ich wich im letzten Augenblick auf den Gehweg aus, aber dort kam mir ein anderer Radfahrer entgegen, der Lorenz ebenfalls hatte ausweichen wollen. Wir kollidierten alle drei miteinander, es gab einen ziemlichen Lärm, und es dauerte eine Weile, bis wir unsere Gliedmaßen und Fahrräder wieder voneinander getrennt hatten. Es war ein Wunder, dass sich niemand ernstlich verletzt hatte, von den Schürfwunden, die ich davontrug, mal abgesehen. Lorenz sah freundlicherweise auch fast sofort ein, dass er an dem Unfall die Hauptschuld trug. Er wartete, bis der andere Radfahrer fluchend weitergefahren war, dann lud er mich zum Essen ein. Heute denke ich, dass es purer Zufall war, dass er mich eingeladen hat: Wäre der andere Radfahrer eine Frau und besser aussehend gewesen als ich, dann wäre Lorenz vermutlich heute mit ihr verheiratet. Er hatte damals nämlich beschlossen, dass es nun Zeit sei, sich ernsthaft zu binden, und wenn Lorenz sich einmal zu etwas entschlossen hatte, dann war er davon auch nicht mehr abzubringen. Er war ein aufstrebender junger Rechts-Referendar mit genau definierten Zukunftsplänen, und mir kam er vor wie ein Geschenk vom lieben Gott. Jan Kröllmann war ein Nichts gegen Lorenz Wischnewski, das war mir sofort klar.
Rückblickend denke ich, dass wirklich nicht viel dazu gehörte, mich verliebt zu machen. Der Einfachheit halber verliebte ich mich immer in den Erstbesten, der mir über den Weg lief.
Lorenz war aber der erste Mann, der erkannte, dass ich eigentlich gar kein hässliches junges Entlein war, sondern ein Schwan. Unter seiner Regie musterte ich meine sackähnlichen Oberteile aus, kaufte mir eng anliegende T-Shirts, fand Gefallen an Pumps in Schuhgröße einundvierzigeinhalb und tauschte schließlich sogar die Nickelbrille gegen farbige Kontaktlinsen. Derart verwandelt - drei Wochen nach unserem Kennenlernen hätte mich zu Hause auf Pellworm wohl nur noch der Hund wiedererkannt - stellte mich Lorenz ganz stolz zuerst seinen Freunden und dann seiner Mutter vor.
Dass er mich der Öffentlichkeit erst nach meiner Typveränderung präsentierte, hätte mich misstrauisch stimmen müssen, aber ich war verliebt. Es gab keinen Grund mehr, die Schultern nach vorne fallen zu lassen und zu schlurfen, denn Lorenz war auch dann noch größer als ich, wenn ich Pumps trug. Endlich mal ein Mann, der wusste, was er wollte - nämlich mich! Ich konnte gar nicht schnell genug aus meiner WG aus-und bei Lorenz einziehen.
Fast genauso beeilte ich mich damit, schwanger zu werden.
Das allerdings war keine Absicht. Als meine Periode ausblieb, geriet ich in Panik. Schwanger! Ausgerechnet jetzt, wo sich mein Leben so wunderbar entwickelte! Lorenz - der erste Mann, der mich nackt gesehen hatte - würde mich achtkantig wieder aus seiner Wohnung schmeißen, meine Eltern würden mich umbringen, auf Pellworm würde ich mich nie wieder blicken lassen dürfen. Noch im Wartezimmer des Frauenarztes betete ich darum, eine schreckliche, gerne auch unheilbare Krankheit zu haben, bitte, bitte, ich habe doch immer gewissenhaft jeden Tag um dieselbe Zeit meine Pille genommen, bitte, lass mich krank sein, eine heimtückische Zyste, ein bösartiges Myom, alles, alles, nur keine Schwangerschaft.
Mein Gebet wurde nicht erhört. Nachdem ich das Baby auf dem Ultraschall gesehen hatte, war ich dann auch ganz froh darüber, dass ich noch nicht sterben musste.
Und ich hatte mich getäuscht, sowohl in Lorenz als auch in meinen Eltern. Als Lorenz von der Schwangerschaft erfuhr, warf er mich nicht aus seiner Wohnung, sondern machte mir einen Heiratsantrag. Und als meine Eltern von dem Heiratsantrag hörten, luden sie uns beide nach Pellworm ein, um Lorenz den Nachbarn vorzustellen und die Auswahl des Kinderwagenmodells zu diskutieren.
Ungefähr acht Monate später wurde unsere Tochter Nelly geboren, später Julius, und für vierzehn Jahre war alles in bester Ordnung. Ich hatte das Studium an den Nagel gehängt, meine Kinder großgezogen und mich bemüht, mein Leben mit den richtigen Dingen auszufüllen: den richtigen Büchern zum richtigen Party-Smalltalk, den richtigen Schuhen zum richtigen Kleid, den richtigen Urlaubszielen mit den richtigen Freunden, den richtigen Gerichten zum richtigen Anlass und dem richtigen Umgang mit der richtigen Putzfrau. Von allen Dingen war Letzteres am schwierigsten für mich gewesen. Es hatte ein paar Jahre gedauert, bis ich kapiert hatte, dass es nicht sinnvoll ist, mit der Frau, die den Dreck für einen wegmacht, befreundet sein zu wollen. Am Ende sitzt man die ganze Zeit mit der neuen »Freundin« bei einem Kaffee, hört sich ihre schlimmen Ehegeschichten an und gibt gute Ratschläge, die niemals befolgt werden. Jeden Mittag gibt man der Freundin beim Abschied das vereinbarte Geld, um sich dann selber auf die Hausarbeit zu stürzen. Merkwürdigerweise halten solche Freundschaften nur so lange, bis man sich entscheidet, jemand anderen zum Putzen einzustellen, damit man mehr Zeit für die Eheprobleme der Freundin hat. Der Ehemann bezeichnet einen nicht zu Unrecht als selten doofes Schaf - jedenfalls war das bei mir so. Aber ich war sehr jung und in solchen Sachen absolut unerfahren (meine Mutter hatte selbstredend niemals eine Putzfrau gehabt), und deshalb musste ich aus der Erfahrung lernen. Immerhin: Frau Klapko, die erste Zugehfrau, mit der ich mich nicht duzte, putzte, bügelte und staubsaugte nun schon seit fünf Jahren für uns, und dank ihr sah unsere Wohnung immer so sauber und aufgeräumt aus wie für ein Einrichtungs-Magazin fotografiert.
Bei uns lief also alles richtig. Bis mein Mann vor vier Monaten plötzlich und unerwartet die Scheidung verlangt hatte.
Ich war damals aus allen Wolken gefallen. Der Abend hatte wie so viele andere begonnen: Lorenz hatte Überstunden gemacht, ich hatte die Kinder ohne ihn ins Bett gebracht, ihm dann sein Abendessen aufgewärmt und bei einem Glas Rotwein mit ihm über den Tag geplaudert.
Und mittendrin hatte er ohne weitere Einleitung verkündet: »Conny, ich möchte, dass wir uns scheiden lassen.«
Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre vom Stuhl gerutscht.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte ich.
»Natürlich nicht. Über so eine ernste Sache würde ich wohl kaum Witze reißen«, antwortete Lorenz streng.
Fassungslos starrte ich ihn an und überlegte, welchen Teil des Films ich wohl verpasst hatte. Hallo? Hört mich jemand?
Währenddessen unterbreitete mir Lorenz seine Pläne, mein und sein weiteres Leben betreffend: »Selbstverständlich bleiben die Kinder bei dir, dafür behalte ich die Wohnung, allein schon wegen der Nähe zum Gericht. Ulfi wird den ganzen Finanzkram für uns regeln, darüber müssen wir uns nicht den Kopf zerbrechen, aber ich dachte, dass es schön wäre, wenn du und die Kinder im Haus meiner Mutter leben würdet. Die Kinder hätten einen Garten, und ihr hättet sogar noch mehr Platz als hier. Außerdem ist es mein Elternhaus, und es an Fremde zu verkaufen fände ich irgendwie nicht richtig. Was hältst du davon, Conny?«
Hallo? Hallo? Ich funkte immer noch Hilferufe in den Weltraum. Aber niemand antwortete.
»Conny?«
»Hm?« Ich stand ganz klar unter Schock. Vermutlich lief mir Spucke übers Kinn oder so. Ich versuchte, einzelne Bruchstücke von dem, was Lorenz sagte, zu einem logischen Ganzen zusammenzusetzen, aber
Copyright © 2005 by Autorin und Bastei Lübbe AG, Köln
22. Januar
Nichts für ungut, Gitti, aber keiner, der auf seine Linie achtet, würde diese Fett-und Zuckerbombe nachbacken. Außerdem heißt es nicht »Ein Teig ... zusammenrühren«, sondern »Einen Teig«, weil der Teig in diesem Fall das Objekt darstellt. Immer daran denken: Wir müssen ein Vorbild für unsere Kinder sein. Was den selbst geknüpften Wäschesack angeht: Mein Mann würde Zustände bekommen, wenn wir so ein Teil in unser Designerbad hängen würden. Ich hätte aber sowieso keine Zeit gehabt, bin augenblicklich beruflich wahnsinnig eingespannt.
Frau Porschke, unsere Kinderfrau, hat uns heute mitgeteilt, dass sie nur noch bis zum Sommer bei uns arbeiten kann, da sie wegen der Versetzung ihres Mannes umziehen werden. Natürlich sind wir traurig darüber, denn Frau Porschke hat ein goldenes Herz, sie liebt unsere Mäuse wirklich abgöttisch und kann hervorragend bügeln, aber ich hatte ja von Anfang an meine Zweifel, ob jemand ohne Schulabschluss der richtige Umgang für zwei so aufgeweckte Mädchen ist. Auf jeden Fall brauchen wir ab August eine neue Betreuungslösung, gern auch weniger kostenintensiv. Wer von euch hat Erfahrung mit Au-pair- Mädchen oder -Jungen? Muss Schluss machen, habe morgen wichtiges Meeting, danach zwei Tage Tagung in Berlin, muss noch vorkochen, Beine epilieren (wegen Spa-Bereich in 5-Sterne- Tagungshotel) und Koffer packen. Sabine
23. Januar
Wir hatten nach Sophies Geburt zwei Jahre lang Au-pairs, insgesamt fünf Mädchen aus fünf Nationen, damit ich sofort wieder Teilzeit, später wieder voll arbeiten konnte. Ich wollte auf keinen Fall den Anschluss im Job verlieren, na ja, ihr kennt das ja: Wenn man mit dem ersten Kind schwanger ist, denkt man noch, dass alles bleibt, wie es ist, und dass man problemlos weiter Karriere machen kann. Jedenfalls hielt ich Au- pair für eine gute Lösung, weil ich leider keine gute Freundin hatte, die mich gewarnt hat. Erst, als ich mitten in der Misere steckte,kamen sie alle an mit ihren Horrormeldungen. Aber da war es schon zu spät. Deshalb hier meine Frühwarnung: Nimm bloß keine Polin, Lettin oder Russin! Die können zwar in der Regel gut kochen und jammern auch nicht über zu viel Arbeit, aber insgeheim sind diese Osteuropäerinnen doch nur scharf auf einen deutschen Mann, und da machen sie auch vor deinem nicht Halt. Und was haben deine Kinder schon davon, so eine überflüssige Sprache wie Polnisch, Russisch oder Lettisch zu lernen? Spanierinnen und Italienerinnen kannst du allerdings ebenfalls vergessen, die sind viel zu verwöhnt, mäkeln ständig am Essen rum und wissen nicht, dass man Kleider in einem Schrank aufbewahrt, gebügelt und gefaltet. Wenn man ihnen Glauben schenken will, liegen in Spanien und Italien die Klamotten allesamt in Haufen auf dem Fußboden herum. Ebenso das Kinderspielzeug. Meine Freundin Susanne hatte schon eine Belgierin, die in ihrem Zimmer fortlaufend Hasch geraucht hat, und eine Französin marrokanischer Herkunft, die für viertausend Euro im Monat nach Hause telefoniert hat. Ich weiß auch aus erster Hand, dass Südafrikanerinnen und Argentinierinnen mindestens genauso heikel sind. Für ihr englisches Au-pair musste Susanne ein Jahr lang eine komplizierte Diät kochen, weil sie gegen Gluten allergisch war, was ja praktisch überall drin ist. Ekelhaft: Irinnen rasieren sich das Schamhaar in der Dusche, und du musst ihre Wolle hinterher aus dem Siphon pulen.
So billig ist das Ganze auch nicht, die Aupairs zocken nämlich unverhältnismäßig viel Taschengeld ab, und du spielst den ganzen Tag den Chauffeur, weil die meisten keinen Führerschein haben und ständig in die Disko wollen. Ich hätte ja gern vergleichshalber mit einem männlichen Au-pair experimentiert, aber die sind leider sehr schwer zu bekommen. Am besten vergisst du diese Au-pair-Sache also ganz schnell wieder. An deiner Stelle würde ich mir wieder so eine liebe, fleißige Kinderfrau wie deine Frau Porschke suchen. Bei der musst du wenigstens keine Angst haben, dass sie dir deinen Mann ausspannt. Wenn ich jemanden wie Frau Porschke gefunden hätte, dann hätte ich meinen Job ganz sicher nicht wieder an den Nagel hängen müssen. Aber man braucht ein absolut perfekt funktionierendes häusliches System, um als Mutter wieder arbeiten gehen zu können, nicht an schlechtem Gewissen zugrunde zu gehen und trotzdem eine gute Ehe zu führen. Mit Au-pairs kannst du das vergessen: Wenn du mal früher nach Hause kommst, sitzt deine zweijährige Tochter vor dem Fernseher, und dein Mann liegt mit dem Au-pair im Ehebett. Willst du das? Sonja
24. Januar
An alle Mamis: Jubel! Der Frauenarzt hat heute meine Schwangerschaft bestätigt! Danke für den Kissen-unter-den-Po-schieben-und-liegenbleiben- Tipp, Frauke! Ich bin supi-glücklich und freue mich schon supi-doll auf die morgendliche Übelkeit! Es passt auch ganz genau: Übernächste Woche geht mein verlängerter Erziehungsurlaub zu Ende, und wenn ich meiner Chefin sage, dass ich wieder schwanger bin, brauche ich wahrscheinlich gar nicht erst wiederzukommen. Sie weiß noch vom letzten Mal, dass meinetwegen ständig das Klo besetzt war, hihi, und sie (kinderlos!) hält Schwangere grundsätzlich für gehirnamputiert. Ich hoffe nur, sie lässt mich bei vollem Lohnausgleich zu Hause bleiben. Ich persönlich finde ja, dass eine Mami wenigstens in den ersten Jahren auf ihre Karriere verzichten und bei ihren Kindern bleiben sollte, ganz gleich, wie gut eine Kinderfrau auch sein mag. Aber das muss natürlich jeder selber wissen. Ich war übrigens auch mal Au-pair, in den USA, und ich kann deine Vorurteile absolut nicht bestätigen, Sonja. Ich war kein einziges Mal in der Disko, habe gegessen, was auf den Tisch kam, und den Herrn des Hauses hätte ich nicht mal mit der Zange angefasst. Wie wär's also mit einem deutschen Au-pair-Mädchen, Sabine? Damit kannst du garantiert nichts falsch machen. Mami (demnächst zweifach!) Ellen
P. S. Hat dein Mann tatsächlich was mit eurem Au-pair angefangen, Sonja? Ich finde es unter diesen Umständen sehr heroisch von dir, dass ihr noch zusammen seid.
24. Januar
Das sollte doch nur ein Beispiel sein! Natürlich ist das nicht mir passiert, aber der Freundin meiner Freundin. Mit einer Lettin. Übrigens meine allerherzlichsten Glückwünsche zur Schwangerschaft, Ellen. Du hast so ein Glück, dass du dir die Pfunde vom letzten Mal noch nicht runter- gehungert hast, sonst wäre das jetzt alles für die Katz.
Sonja
25. Januar
Zurück aus Berlin (berauschendes Weltstadtfeeling, hatte zwischendurch sogar Zeit für einen Einkaufsbummel, Armani lässt grüßen) und irritiert über deine Aussage, Ellen. Wir von der Mütter-Society wollen uns doch gerade von der leidigen Diskussion darüber, wer nun die bessere Mutter ist, »Nur-Hausfrau« oder »Karrierefrau«, distanzieren. Eine zufriedene Mutter ist eine gute Mutter, das ist ja wissenschaftlich nun wirklich hinlänglich bewiesen. Allerdings würde es mir auch leichterfallen, auf meine »Karriere« zu verzichten, wenn ich Zahnarzthelferin wäre.
Meine allerherzlichsten Glückwünsche zu deiner Schwangerschaft bei vollem Lohnausgleich! (Deine Chefin wäre gehirnamputiert, wenn sie das macht!)
Sabine
26. Januar
Es liegen mir immer noch nicht alle Anmeldungen für die Farbberatung nächste Woche vor. Frau Merkenich ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet; ich bin sehr stolz, sie für die Mütter-Society gewonnen zu haben. Ihre Beratung kann Leben verändern, es lohnt sich also vor allem für diejenigen von uns, die immer noch glauben, dass ihnen Lila steht.
Frauke
1. Kapitel
Julius und ich fuhren erster Klasse im ICE von Hamburg nach Köln. Weil nämlich der Spartarif erster Klasse billiger war als der Normaltarif zweiter Klasse, was ich zwar nicht verstand, aber ich war noch nie gut im Rechnen gewesen. Außerdem soll man nehmen, was man kriegen kann, wie meine Mutter immer sagt. In der ersten Klasse haben die Sitze hübschere Polster, und man hat mehr Platz für die Beine. Allerdings hatten wir keine Platzreservierung, und die einzigen nebeneinanderliegenden, nicht reservierten Plätze lagen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, und statt auf den eingebauten Bildschirm in der Rückenlehne des Vordersitzes schauten wir in die Gesichter von Herrn und Frau Meyer »met Ypsilon aus Offebach bei Frankfott, ei, der Klee is aber süß, wie alt issen der?«, die ebenfalls in Hamburg eingestiegen waren und aus einem unerschöpflichen Vorrat Salamistullen verzehrten. Beides, Salamigeruch und verkehrte Sitzposition, verursachen Übelkeit bei mir, und Julius hatte das wohl von mir geerbt, wie wir nun feststellen konnten. Kurz vor Bielefeld erbrach er sich ohne vorherige Ankündigung über den Tisch, der uns vom Ehepaar Meyer trennte.
Die Zeitschriften, die die Meyers bis jetzt noch nicht gelesen hatten und nun wohl auch nicht mehr lesen würden, wurden mit Julius' Frühstück und den drei Päckchen »Hohes C« getränkt, die sie dem Jungen zuvor förmlich aufgedrängt hatten. »Kleine Kinder brauchen Vitamine, trink nur, des is gesund.«
Das hatten sie jetzt davon.
»Kommt noch mehr?«, fragte ich Julius, während ich hektisch unsere Papiertaschentücher auffaltete und gar nicht wusste, wo ich mit dem Aufwischen beginnen sollte.
»Ich glaube nicht«, sagte Julius vorsichtig.
Herr Meyer entfernte sich diskret, während Frau Meyer rührig aufsprang und aus ihrem Gepäck eine Packung Feuchttücher hervorzauberte, so wie ich sie immer mit mir herumgeschleppt hatte, als Julius noch Windeln trug.
Mit den Tüchern wurde alles ganz schnell wieder sauber. Frau Meyer ließ sie mit den Zeitschriften in einem ebenfalls herbeigezauberten Müllbeutel verschwinden. Zum Schluss öffnete sie das Fenster, strahlte mich an und sagte: »Des hätte mer geschafft!«
Ich entschuldigte und bedankte mich ungefähr tausendmal.
»Des muss Ihne doch net peinlisch sein, Kindsche«, versicherte Frau Meyer und streichelte Julius über den Kopf. »So sin Kinder nu mal, die habens oft mittem Magen, da muss man dorsch! Des is so ein lieber kleiner Kerl, gell, so vernünftisch für seine vier Jahre, und Sie sind eine ganz sympathische, patente junge Mutti, wecklisch, das muss Ihne gar net peinlisch sein.«
Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, mich an Frau Meyers Brust zu werfen und sie zu fragen, ob sie mich nicht adoptieren wolle. Es war lange her, dass jemand etwas so Nettes zu mir gesagt hatte. Leider hatte Frau Meyer aber schon jede Menge Töchter und Söhne und Enkelkinder und daher vermutlich kein Interesse an einer Adoption. Außerdem - wenn sie mich näher kennen lernte, würde sie das mit der »patenten Mutti« sicher schnell zurücknehmen. Sympathisch ja, patent nein. Mein eigener Mann hatte mich vor nicht allzu langer Zeit als das »am schlechtesten organisierte, lebensuntüchtigste Weibsstück, das ich kenne« bezeichnet und kurz darauf die Scheidung eingereicht. Und wirklich jung war ich auch nicht mehr. Ich meine, mit fünfunddreißig kann man sich zwar wie zwanzig fühlen, aber man sieht nicht mehr so aus. Gerade deswegen schloss ich Frau Meyer für immer in mein Herz.
Leider mussten wir in Köln Hauptbahnhof aussteigen und sahen die Meyers nie wieder. Ich zerrte unsere Koffer und Julius auf den Bahnsteig und kollidierte dabei mit einem circa einen Meter neunzig großen himmelblauen Hasen mit einer Bierfahne. Noch während ich mir vor Schreck ans Herz griff, rülpste der Hase ein »Hoppla« und hoppelte weiter. Jetzt erst sah ich, dass er einer ganzen Gruppe pastellfarbener Nagetiere angehörte, die voller Begeisterung um die Abfalleimer herumhopsten und dabei »Bier her, Bier her« sangen. Ein Flickenclown, der einen Reisekoffer schleppte, und eine Frau mit blauer Lockenperücke, die sich etwas wackelig, aber energisch an seinen freien Arm klammerte, hielten mit »Mer losse de Dom in Kölle« dagegen.
Es war Karneval in Köln.
An einem Karnevalssonntag nach Köln zu kommen, nachdem man sieben Wochen auf der winterlich- verschlafenen Watteninsel Pellworm verbracht hat, ist in etwa so, wie mit einem Raumschiff auf einem fremden Planeten zu landen, allerdings ohne dass die Außerirdischen großartig von einem Notiz nehmen. Ich sah mich nach Lorenz um, meinem zukünftigen Exmann, dem Vater meiner Kinder. Aber von Lorenz war keine Spur zu sehen, obwohl ich ihm die Ankunftszeit mehrfach telefonisch durchgegeben hatte. Ich hatte auch nicht wirklich mit seinem Erscheinen gerechnet. Seit das Scheidungsverfahren lief, fühlte er sich in keiner Weise mehr für mich verantwortlich, und das bedeutete in diesem Fall wohl, dass wir die S-Bahn nehmen mussten.
Ich griff fester nach Julius' Hand und bahnte mir einen Weg durch das Getümmel. Auf dem Weg von Gleis fünf nach Gleis elf sahen wir nur wenige Menschen, die nicht verkleidet und/oder betrunken waren, und selbst eine Gruppe Japaner - echte, unverkleidete Japaner - schien von dem Treiben völlig eingeschüchtert zu sein. Eng aneinandergedrängt schauten sie sich verunsichert um, und nicht einer von ihnen fotografierte.
»Mir ist schlecht«, sagte Julius.
Alarmiert ließ ich den Koffer fallen und schubste einen langhaarigen Vampir vom nächsten Abfallbehälter. Ich musste Julius hochheben, damit er in die Öffnung spucken konnte, und der Vampir machte mich zu spät darauf aufmerksam, dass es sich hier nicht um Restmüll, sondern um Papiermüll handelte. Aber an einem Tag wie heute, an dem halb Köln in die Papierkörbe reiherte, konnte er mir damit kein schlechtes Gewissen machen.
Neben dem Vampir lungerte ein vermutlich männliches Wesen mit einer Gerhard-Schröder-Maske herum, das, dem strengen Geruch nach zu urteilen, schrecklich unter dem Latex zu schwitzen schien.
»Willste 'n Bier mit uns trinken kommen?«, fragte er mich.
Julius spuckte. Offenbar war immer noch genug »Hohes C« in seinem Magen gewesen.
»Is ja ekelhaft«, sagte der Vampir. »Ist das deiner?«
»Kleine Kinder haben es nun mal mit dem Magen«, sagte ich, ganz wie Frau Meyer mit Y, und streichelte Julius über den Kopf. »Des muss uns net peinlisch sein. Da müsse mer dorsch.«
»Iiiih, 'ne Hessensau«, sagte Gerhard Schröder. »Und mit der wollte ich ein Bier trinken.«
»Trotzdem, geiler Arsch«, sagte der Vampir.
»Helau«, sagte ich. Langsam machte ich mir Sorgen. Möglicherweise hatte Julius doch nicht nur meine Reaktion auf Rückwärtsfahrten und Salamigeruch geerbt, sondern einen Magen-Darm- Infekt erwischt. Er gehörte sicherheitshalber mit einer Vomex ins Bett.
Ich studierte den Fahrplan. In sieben Minuten kam unsere S-Bahn, das war zu überleben.
Ein Rentner mit einem gelb getupften Hütchen auf der Glatze rempelte mir seinen Ellenbogen in die Rippen und sagte unfreundlich: »Gleis 10, Giesela, und damit basta! Wie oft willst du denn noch nachgucken? «
Mittlerweile war meine Stimmung auch ziemlich gereizt.
Ich rempelte dem Renter meinerseits den Ellenbogen in den Bierbauch und erwiderte: »Auch wenn du mir die Rippen brichst, Karl-Heinz, ich nehme den Zug von Gleis 11.«
Der Rentner starrte mich verwundert an. Ich kannte ihn nicht, wusste aber gleich, dass er zu der Sorte alter Männer gehörte, die sich nie entschuldigen und vorm Supermarkt auf dem Mutter-Kind-Parkplatz parken. Hinter ihm stand eine sehr dicke, kleine Frau um die siebzig, verkleidet mit einer Lamettaperücke und einer pinkfarbenen Herz-Brille. Giesela, wie ich annahm.
»Hier bin ich, Heinrich«, sagte sie mit hoher Fistelstimme und klopfte dem Rentner auf die Schulter. Heinrich. Da hatte ich mit Karl-Heinz ja gar nicht so falsch gelegen.
Heinrich schaute eine Weile zwischen mir und Lametta-Giesela hin und her und kratzte sich an seinem jecken Hütchen. Dann sagte er: »Isch hab euch eben verwechselt, dat kann ja mal passieren, oder nit?«
Oder nit???
Ich schaute mir Giesela genau an und hoffte sehr, dass Heinrich den grauen Star hatte, und zwar in weit fortgeschrittenem Stadium.
Die S-Bahn fuhr ein und öffnete seufzend ihre Türen.
»Mir ist schlecht«, sagte Julius. Leider konnte Heinrich nicht mehr rechtzeitig beiseitespringen.
»Dat kann ja mal passieren«, sagte ich.
Wir wohnten im ersten Stock eines raffiniert sanierten Altbaus. Niemand, der von außen zu den Fenstern hochsah, konnte vermuten, dass hier eine Wohnung mit den Ausmaßen eines Fußballfeldes Platz hatte. Lorenz und ich hatten die Wohnung gekauft, als Lorenz vor zehn Jahren zum Staatsanwalt berufen worden war. Das heißt, Lorenz hatte sie gekauft, ich war nur mit eingezogen.
Lorenz war sieben Jahre älter als ich. Als wir uns kennen gelernt hatten, war ich gerade mal zwanzig gewesen, im zweiten Semester meines Psychologie- Studiums und immer noch völlig verloren in der großen Stadt. Vor allem das Straßenbahn-und U-Bahnnetz war mir nicht geheuer. Seit ich auf dem Weg zu der Lerngruppe bei einer Kommilitonin, die nur zwei Bahnstationen entfernt wohnte, verloren gegangen und ohne Brieftasche in einem geheimnisvollen Ort namens Zülpich-Ülpenich gelandet war, fuhr ich nur noch mit dem Fahrrad, egal wie weit es auch sein mochte. Im Fahrradfahren war ich gut. Ich bin auf der Nordseeinsel Pellworm geboren und aufgewachsen. Meine Eltern haben dort einen Bauernhof, überwiegend Milchkühe. Eigentlich hätte ich ein Junge werden und den Hof später mal übernehmen sollen. Mit Mädchen können meine Eltern bis heute nichts anfangen.
»Natürlich haben wir dich trotzdem lieb, Constanze«, sagt mein Vater immer, aber als drei Jahre nach mir mein Bruder geboren wurde, haben sie, glaube ich, ernsthaft darüber nachgedacht, das überflüssige Kind, also mich, zur Adoption freizugeben. Wenn ich das meinen Eltern sage - und manchmal sage ich es ihnen heute noch -, verdrehen sie nur die Augen und sagen, das sei wieder mal typisch Mädchen, und ich solle endlich erwachsen werden.
Dass die zvs mich damals ausgerechnet nach Köln geschickt hatte, hat meinen Eltern aber auch nicht gefallen. Sie meinten, ich wäre noch nicht reif für die Großstadt. Leider hatten sie Recht. Ich wäre lieber nach Hamburg gegangen, das war näher an zu Hause und hatte ein übersichtlicheres öffentliches Verkehrsnetz. Die Rheinländer sind meiner Erfahrung nach auch höchstens halb so offen und herzlich, wie man ihnen nachsagt: Ohne einen Cent in Zülpich-Ülpenich - das war kein Vergnügen gewesen. Niemand wollte mir sein Fahrrad leihen oder mir Geld für die Rückfahrt geben oder mich auch nur telefonieren lassen. Von rheinischer Herzlichkeit keine Spur. Der Taxifahrer, der mich schließlich nach Hause brachte, kam aus der Türkei.
Wie gesagt, ich hatte es schwer, mich in Köln einzuleben. Ich sah sehr friesisch aus, groß, hellblond und schlaksig, mit überproportional großen Füßen und Händen. Ich trug eine Nickelbrille, kaute Fingernägel und stotterte, wenn ich aufgeregt war. Um kleiner zu wirken, ließ ich meine Schultern nach vorne fallen, und aus demselben Grund hatte ich mir einen schlurfenden Gang angewöhnt. Um den Neuanfang und meinen Erwachsenenstatus zu demonstrieren, hatte ich in Köln gleich als Erstes einen Friseur aufgesucht, der meinen meterlangen Zopf abgeschnitten und mir eine - nach eigener Auskunft - »pfiffige Kurzhaarfrisur« verpasst hatte. Aber die Frisur war nicht pfiffig, ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es überhaupt eine Frisur war. Immerhin war sie unauffällig und schmucklos und passte so hervorragend zu meinen vorwiegend in Grau und Dunkelblau gehaltenen Klamotten. Ich trug meistens Jeans zu sackähnlichen Oberteilen, bequeme Gesundheitstreter und kein Make-up. Mit diesem Outfit fiel ich im Psychologie- Seminar auch kein bisschen aus dem Rahmen. Um mein Zugehörigkeitsgefühl noch mehr zu stärken, unterhielt ich ein unglückliches Liebesverhältnis mit einem der Jungs aus meiner WG, Jan Kröllmann. Aus falscher Scham hatte ich Jan nicht verraten, dass er der Erste für mich gewesen war, was wiederum keine gute Basis für unsere Beziehung darstellte. Ich war so verschüchtert und verklemmt, dass Jan mich nur nackt sehen durfte, wenn es stockdunkel im Raum war - also gar nicht. Er betrog mich auch recht bald mit der Freundin einer anderen Mitbewohnerin, die, wie er sagte, das bequemere Bett hatte. Da die beiden es aber nicht nur im Bett miteinander trieben, sondern auch auf dem Teppich im Flur, in der Badewanne und auf dem Küchentisch, vermutete ich ganz stark, dass sie außer dem Bett auch noch andere Vorteile mir gegenüber hatte. Aus lauter Angst, über die beiden zu stolpern, wagte ich mich kaum mehr aus meinem Zimmer und verbrachte unverhältnismäßig viel Zeit in der Uni-Bibliothek. Die Tatsache, dass ein weiterer WG-Bewohner sich hartnäckig anbot, Jans Nachfolge bei mir anzutreten, machte die Sache auch nicht gerade unkomplizierter, zumal dieser WG-Bewohner einen Kopf kleiner war als ich und einen durchdringenden Eigengeruch besaß. Ich war kurz davor, mein Studium hinzuschmeißen und zurück nach Pellworm zu gehen, um dort bis an mein Lebensende Kühe zu melken. Glücklicherweise lernte ich genau zu diesem Zeitpunkt Lorenz kennen und überdachte die Sache noch einmal.
Ich überfuhr Lorenz ganz romantisch mit meinem Fahrrad. Er stand mitten auf dem Radweg. Bis zum letzten Augenblick dachte ich, er würde zur Seite springen, denn ich klingelte wie verrückt und machte scheuchende Handbewegungen, außerdem schimpfte ich ziemlich laut über ignorante Fußgänger auf Radwegen. Aber Lorenz war so sehr in seine Akten vertieft, dass er mich weder hörte noch sah. Ich wich im letzten Augenblick auf den Gehweg aus, aber dort kam mir ein anderer Radfahrer entgegen, der Lorenz ebenfalls hatte ausweichen wollen. Wir kollidierten alle drei miteinander, es gab einen ziemlichen Lärm, und es dauerte eine Weile, bis wir unsere Gliedmaßen und Fahrräder wieder voneinander getrennt hatten. Es war ein Wunder, dass sich niemand ernstlich verletzt hatte, von den Schürfwunden, die ich davontrug, mal abgesehen. Lorenz sah freundlicherweise auch fast sofort ein, dass er an dem Unfall die Hauptschuld trug. Er wartete, bis der andere Radfahrer fluchend weitergefahren war, dann lud er mich zum Essen ein. Heute denke ich, dass es purer Zufall war, dass er mich eingeladen hat: Wäre der andere Radfahrer eine Frau und besser aussehend gewesen als ich, dann wäre Lorenz vermutlich heute mit ihr verheiratet. Er hatte damals nämlich beschlossen, dass es nun Zeit sei, sich ernsthaft zu binden, und wenn Lorenz sich einmal zu etwas entschlossen hatte, dann war er davon auch nicht mehr abzubringen. Er war ein aufstrebender junger Rechts-Referendar mit genau definierten Zukunftsplänen, und mir kam er vor wie ein Geschenk vom lieben Gott. Jan Kröllmann war ein Nichts gegen Lorenz Wischnewski, das war mir sofort klar.
Rückblickend denke ich, dass wirklich nicht viel dazu gehörte, mich verliebt zu machen. Der Einfachheit halber verliebte ich mich immer in den Erstbesten, der mir über den Weg lief.
Lorenz war aber der erste Mann, der erkannte, dass ich eigentlich gar kein hässliches junges Entlein war, sondern ein Schwan. Unter seiner Regie musterte ich meine sackähnlichen Oberteile aus, kaufte mir eng anliegende T-Shirts, fand Gefallen an Pumps in Schuhgröße einundvierzigeinhalb und tauschte schließlich sogar die Nickelbrille gegen farbige Kontaktlinsen. Derart verwandelt - drei Wochen nach unserem Kennenlernen hätte mich zu Hause auf Pellworm wohl nur noch der Hund wiedererkannt - stellte mich Lorenz ganz stolz zuerst seinen Freunden und dann seiner Mutter vor.
Dass er mich der Öffentlichkeit erst nach meiner Typveränderung präsentierte, hätte mich misstrauisch stimmen müssen, aber ich war verliebt. Es gab keinen Grund mehr, die Schultern nach vorne fallen zu lassen und zu schlurfen, denn Lorenz war auch dann noch größer als ich, wenn ich Pumps trug. Endlich mal ein Mann, der wusste, was er wollte - nämlich mich! Ich konnte gar nicht schnell genug aus meiner WG aus-und bei Lorenz einziehen.
Fast genauso beeilte ich mich damit, schwanger zu werden.
Das allerdings war keine Absicht. Als meine Periode ausblieb, geriet ich in Panik. Schwanger! Ausgerechnet jetzt, wo sich mein Leben so wunderbar entwickelte! Lorenz - der erste Mann, der mich nackt gesehen hatte - würde mich achtkantig wieder aus seiner Wohnung schmeißen, meine Eltern würden mich umbringen, auf Pellworm würde ich mich nie wieder blicken lassen dürfen. Noch im Wartezimmer des Frauenarztes betete ich darum, eine schreckliche, gerne auch unheilbare Krankheit zu haben, bitte, bitte, ich habe doch immer gewissenhaft jeden Tag um dieselbe Zeit meine Pille genommen, bitte, lass mich krank sein, eine heimtückische Zyste, ein bösartiges Myom, alles, alles, nur keine Schwangerschaft.
Mein Gebet wurde nicht erhört. Nachdem ich das Baby auf dem Ultraschall gesehen hatte, war ich dann auch ganz froh darüber, dass ich noch nicht sterben musste.
Und ich hatte mich getäuscht, sowohl in Lorenz als auch in meinen Eltern. Als Lorenz von der Schwangerschaft erfuhr, warf er mich nicht aus seiner Wohnung, sondern machte mir einen Heiratsantrag. Und als meine Eltern von dem Heiratsantrag hörten, luden sie uns beide nach Pellworm ein, um Lorenz den Nachbarn vorzustellen und die Auswahl des Kinderwagenmodells zu diskutieren.
Ungefähr acht Monate später wurde unsere Tochter Nelly geboren, später Julius, und für vierzehn Jahre war alles in bester Ordnung. Ich hatte das Studium an den Nagel gehängt, meine Kinder großgezogen und mich bemüht, mein Leben mit den richtigen Dingen auszufüllen: den richtigen Büchern zum richtigen Party-Smalltalk, den richtigen Schuhen zum richtigen Kleid, den richtigen Urlaubszielen mit den richtigen Freunden, den richtigen Gerichten zum richtigen Anlass und dem richtigen Umgang mit der richtigen Putzfrau. Von allen Dingen war Letzteres am schwierigsten für mich gewesen. Es hatte ein paar Jahre gedauert, bis ich kapiert hatte, dass es nicht sinnvoll ist, mit der Frau, die den Dreck für einen wegmacht, befreundet sein zu wollen. Am Ende sitzt man die ganze Zeit mit der neuen »Freundin« bei einem Kaffee, hört sich ihre schlimmen Ehegeschichten an und gibt gute Ratschläge, die niemals befolgt werden. Jeden Mittag gibt man der Freundin beim Abschied das vereinbarte Geld, um sich dann selber auf die Hausarbeit zu stürzen. Merkwürdigerweise halten solche Freundschaften nur so lange, bis man sich entscheidet, jemand anderen zum Putzen einzustellen, damit man mehr Zeit für die Eheprobleme der Freundin hat. Der Ehemann bezeichnet einen nicht zu Unrecht als selten doofes Schaf - jedenfalls war das bei mir so. Aber ich war sehr jung und in solchen Sachen absolut unerfahren (meine Mutter hatte selbstredend niemals eine Putzfrau gehabt), und deshalb musste ich aus der Erfahrung lernen. Immerhin: Frau Klapko, die erste Zugehfrau, mit der ich mich nicht duzte, putzte, bügelte und staubsaugte nun schon seit fünf Jahren für uns, und dank ihr sah unsere Wohnung immer so sauber und aufgeräumt aus wie für ein Einrichtungs-Magazin fotografiert.
Bei uns lief also alles richtig. Bis mein Mann vor vier Monaten plötzlich und unerwartet die Scheidung verlangt hatte.
Ich war damals aus allen Wolken gefallen. Der Abend hatte wie so viele andere begonnen: Lorenz hatte Überstunden gemacht, ich hatte die Kinder ohne ihn ins Bett gebracht, ihm dann sein Abendessen aufgewärmt und bei einem Glas Rotwein mit ihm über den Tag geplaudert.
Und mittendrin hatte er ohne weitere Einleitung verkündet: »Conny, ich möchte, dass wir uns scheiden lassen.«
Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre vom Stuhl gerutscht.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte ich.
»Natürlich nicht. Über so eine ernste Sache würde ich wohl kaum Witze reißen«, antwortete Lorenz streng.
Fassungslos starrte ich ihn an und überlegte, welchen Teil des Films ich wohl verpasst hatte. Hallo? Hört mich jemand?
Währenddessen unterbreitete mir Lorenz seine Pläne, mein und sein weiteres Leben betreffend: »Selbstverständlich bleiben die Kinder bei dir, dafür behalte ich die Wohnung, allein schon wegen der Nähe zum Gericht. Ulfi wird den ganzen Finanzkram für uns regeln, darüber müssen wir uns nicht den Kopf zerbrechen, aber ich dachte, dass es schön wäre, wenn du und die Kinder im Haus meiner Mutter leben würdet. Die Kinder hätten einen Garten, und ihr hättet sogar noch mehr Platz als hier. Außerdem ist es mein Elternhaus, und es an Fremde zu verkaufen fände ich irgendwie nicht richtig. Was hältst du davon, Conny?«
Hallo? Hallo? Ich funkte immer noch Hilferufe in den Weltraum. Aber niemand antwortete.
»Conny?«
»Hm?« Ich stand ganz klar unter Schock. Vermutlich lief mir Spucke übers Kinn oder so. Ich versuchte, einzelne Bruchstücke von dem, was Lorenz sagte, zu einem logischen Ganzen zusammenzusetzen, aber
Copyright © 2005 by Autorin und Bastei Lübbe AG, Köln
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Autoren-Porträt von Kerstin Gier
Kerstin Gier lebt in einem Dorf in der Nähe von Köln. Sie schreibt mit sensationellem Erfolg Romane und ist eine der beliebtesten deutschsprachigen Autor:innen. Ihre MÜTTER-MAFIA-Romane haben so auch eine riesige Fangemeinde. Sie wurden dank Mundpropaganda zu Bestsellern und sind inzwischen Kult.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kerstin Gier
- Altersempfehlung: Ab 16 Jahre
- 2009, 1. Aufl. 2009, Deutsch
- Verlag: Lübbe
- ISBN-10: 383870066X
- ISBN-13: 9783838700663
- Erscheinungsdatum: 17.03.2009
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