Die Schmetterlingsinsel / Ullstein eBooks (ePub)
Roman | Ein Roman voller Düfte, Farben und Geheimnisse von der Bestsellerautorin der »Löwenhof-Saga«
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Die Schmetterlingsinsel von Corina Bomann15. FEBRUAR 1888
Liebste Grace,
ich weiß nicht, ob Du mir inzwischen verziehen hast. Ich nehme an, das ist nicht der Fall. Doch ich kann nicht anders und schreibe Dir trotzdem.
Vor meinem geistigen Auge sitzt Du jetzt am Fenster Deines Zimmers, blickst hinaus auf den nebelverhangenen Park und haderst mit der Art und Weise, wie alles gekommen ist. Zu Recht, und ich kann nur sagen, dass es mir von Herzen leidtut.
Die Dinge hier sind anders geworden, seit Du fort bist. Du fehlst mir so sehr! Und ich glaube, Papa auch, wenngleich er es nicht zugeben würde. Stundenlang verschwindet er in seinem Arbeitszimmer und ist für niemanden zu sprechen. Mutter befürchtet bereits, er würde verwildern. (Du kennst ihre Übertreibungen!) Sie selbst ist in hektische Betriebsamkeit verfallen und organisiert ein Fest, um Papa aufzumuntern. In Wahrheit will sie wohl nur wissen, inwiefern sich der Skandal ausgewirkt hat.
Wahrscheinlich lächelst Du jetzt bitter, wenn Du den Brief überhaupt liest und ihn nicht gleich dem Kaminfeuer überantwortest. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Du mir eine Chance gibst, denn ich habe eine Nachricht, die Dir vielleicht Hoffnung machen wird.
Kurz nach Deiner Abreise ist er vor meinem Fenster aufgetaucht und hat mir erklärt, dass er schon bald zu Dir kommen wird. Als Unterpfand hat er mir etwas gegeben, das ich für Dich aufbewahren soll, da er jetzt keine feste Behausung mehr hat. Bestimmt wird er Dich ganz wie im Märchen aus dem alten Gemäuer entführen, und dann werdet Ihr Euer Glück finden.
Liebste Schwester, ich verspreche, dass ich immer für Dich und die Deinen da sein werde, egal, was geschieht. Solltet Ihr in Not geraten, wird meine Tür Euch offen stehen, das bin ich Euch allen schuldig.
In innigster Liebe Victoria
Prolog
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TREMAYNE HOUSE
1945
Die junge Frau tauchte an einem verregneten Oktobernachmittag vor dem alten Herrenhaus auf. Nebel hüllte den Park ein und ließ die Trauerweiden, deren Äste Regentropfen weinten, noch trostloser wirken. Verwittertes Herbstlaub säumte die vormals gepflegten Wege und hing wie Fusseln in dem Gras, das schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gemäht worden war.
Mit angespannter Miene, ihr abgezehrtes Spiegelbild ignorierend, spähte die Fremde durch die geteilte Scheibe der Eingangstür. Zweimal hatte sie bereits geläutet, doch niemand ließ sich blicken. Dabei waren die Menschen im Innern des Hauses deutlich zu hören. Offenbar hielt sie die hektische Betriebsamkeit davon ab, zur Tür zu gehen.
Nachdem sie ein drittes Mal vergeblich die Klingel gedrückt hatte, wollte sie sich schon umwenden und gehen. Da ertönten Schritte, und wenig später erschien eine Frau in Dienstmädchenuniform, auf deren Namensschild der Name Linda stand. Streng maß sie den Neuankömmling, der denselben Anblick bot wie viele Frauen, die der Krieg in Not gebracht hatte. Verfilzte schwarze Haare, blasse Wangen. Die blauen Schatten unter ihren Augen ein Zeugnis von Hunger und Entbehrungen. Die groben Arbeiterschuhe, die ihr einige Nummern zu groß waren, klafften an den Seiten auf. Unter den schmutzigen Kleidern und dem löchrigen Trenchcoat wölbte sich ein kleiner Bauch.
»Tut mir leid, wir sind überfüllt«, murmelte Linda kühl.
Die blasse Gestalt streckte ihr daraufhin einen abgegriffenen, mit Schmutzschlieren bedeckten Umschlag entgegen. »Geben Sie das bitte der Hausherrin.« Ihre Worte klangen hölzern, da sie es nicht gewohnt war, englisch zu sprechen. Dennoch lag eine Bestimmtheit in ihrer Forderung, die nicht zu jemandem passte, der sich damit abgefunden hatte, ein Leben auf der Straße zu führen. Linda sah die Frau, die irgendwie fremdartig wirkte, prüfend an, doch da sie ihre Bitte nicht zurücknahm und den Blick des Hausmädchens beinahe trotzig erwiderte, nahm sie den Umschlag an sich.
»Einen Moment bitte.«
Aus einem Moment wurden viele, doch die Frau blieb vor der Tür stehen, als sei sie zu Stein geworden. Weder trat sie von einem Bein aufs andere, noch setzte sie sich, obwohl das niedrige steinerne Geländer Gelegenheit dazu bot. Sie streichelte sich nur sanft über den Bauch, der ihren wertvollsten Schatz barg. Das Kind, das in ihr heranwuchs, war jede Strapaze, jede Erniedrigung wert.
Anstelle des Hausmädchens erschienen zwei Frauen, eine schätzungsweise um die fünfzig und dunkelblond, die andere etwa in ihrem Alter, mit rotblondem Haar. Obwohl der Krieg auch von ihnen Opfer gefordert hatte, schien es ihnen verhältnismäßig gut zu gehen, wie ihre gesunde Gesichtsfarbe und die gerundeten Züge bewiesen.
»Sie sind Beatrice? Beatrice Jungblut?«
Die junge Frau nickte. »Ja, die Tochter von Helena. Sie sind die Stanwicks, nicht wahr?«
»Ich bin Deidre Stanwick, das ist meine Tochter Emmely Woodhouse«, antwortete die ältere der beiden Frauen, der ihre Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Beatrice nickte ihnen beklommen zu, denn sie spürte, dass sie nicht willkommen war. Doch eine andere Möglichkeit blieb ihr nicht. Ihr eigenes Leben interessierte sie nicht, mittlerweile war es so oft in Gefahr geraten, dass der Tod seinen Schrecken verloren hatte. Das Kind sollte jedoch die Möglichkeit haben, die Sonne zu sehen und den Frieden, der erst seit ein paar Monaten bestand, zu genießen.
Nachdem sie sich vielsagend angesehen hatten, fragte die Ältere: »Wo ist Helena?«
»Sie ist bei einem Angriff umgekommen, genauso wie mein Mann«, antwortete die Frau.
»Und du?«, fragte Emmely erschüttert.
»Ich konnte mich verstecken.« Schützend legte sie die Hände vor den Bauch. »Meine Mutter sagte mir, dass ich, sollte ihr etwas passieren, mich an euch wenden soll.«
Wieder sahen sich die beiden an, dann fragte Deidre: »Hast du Papiere, die deine Identität beweisen?«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Die sind verbrannt, als uns die Tiefflieger beschossen haben.«
Das war es, dachte sie. Jetzt schicken sie mich fort. Welchen Grund sollten sie auch haben, mir zu vertrauen? Es ist alles sinnlos und das Papier in meiner Hand nichts weiter als ein leeres Versprechen, das längst vergessen ist.
»Nun gut, komm erst einmal rein, dann reden wir.«
Der Geruch von Karbol und Tod schlug der Schwangeren entgegen, als sie den beiden Hausherrinnen durch einen langen Gang folgte. Schwärende Wunden schienen hier auf Medikamentennotstand und mangelhafte Desinfektion zu treffen.
»Wir haben seit gut drei Jahren ein Lazarett im Haus«, erklärte Emmely, der das Schweigen offensichtlich unangenehm war. »Die Räume bersten aus allen Nähten. Bitte nimm es Linda nicht krumm, dass sie dich wegschicken wollte. Im Moment werden wir von Kriegsheimkehrern und Hungernden regelrecht überrannt.«
Beatrice blickte verlegen auf ihre schmutzigen Schuhe. »Das tut mir leid.«
»Wir kommen schon zurecht«, meinte Emmely gütig, während sie ihren Arm kurz auf Beatrices Schulter legte. »Du bist hier am richtigen Ort.«
Bei diesen Worten wurde Beatrice schwindelig. Gab es überhaupt einen richtigen Ort für sie und ihr Kind? Das, was sie Heimat genannt hatte, war gerade in Blut und Trümmern versunken.
Obgleich die Küche recht groß war, herrschte hier ziemlicher Platzmangel, denn jeder Zentimeter freier Boden wurde als Stellraum für Kisten, Schränke und andere Möbel genutzt. Wenn es gefahrlos möglich war, standen mehrere Stücke übereinander. In der Mitte blieb lediglich Platz für den Herd und einen Tisch mit vier Stühlen.
»Schreckliche Zustände, aber man gewöhnt sich dran«, seufzte Deidre, während sie drei Tassen vom Bord nahm. »Früher hatte ich Bedienstete hierfür, aber der Krieg nimmt einem nicht nur die Freiheit, sondern auch sämtliche Privilegien. Jetzt essen wir mit unseren Dienstboten, die eigentlich gar nicht mehr für uns arbeiten, an einem Tisch.«
Nur schwach erinnerte sich Beatrice daran, dass ihre Familie ebenfalls ein Hausmädchen gehabt hatte. Das Aussehen ihres Hauses, ihres Zimmers und der Kleider, die sie einst trug, waren so stark mit dem Leid, das sie erlebt hatte, übertüncht, dass sie kaum noch wusste, wie ihr Leben damals gewesen war, bevor der Wahnsinn begann.
»Was ist mit der Frau, die die Tür geöffnet hat?«, fragte Beatrice, während sie sich langsam auf dem angebotenen Platz niederließ.
»Linda ist mein Hausmädchen, trägt ihre Uniform aber nur noch pro forma, denn sie wird im Lazarett gebraucht. Meine Tochter und ich helfen ebenfalls so gut mit, wie wir können.« Deidres Blick streifte ihren Bauch.
»Ich könnte ebenfalls mithelfen«, bot sich Beatrice an, doch ihre Tante schüttelte den Kopf.
»Bestenfalls könntest du in der Küche helfen, aber nicht bei den Kranken. Du würdest Gefahr laufen, dein Kind zu verlieren, wenn du dich mit irgendwelchen Keimen ansteckst.«
Der unangemessen heftige Tonfall ließ Beatrice zurückschrecken und die Zweifel zurückkehren. Dass sie dir erlaubt haben, mit ihnen in einer mit Gerümpel vollgestellten Küche zu sitzen, heißt noch lange nicht, dass du schon zur Familie gehörst.
Als Deidre weitersprechen wollte, stieß der Kessel auf dem Herd hinter ihr ein schrilles Pfeifen aus. Sie erhob sich und setzte eine Kanne Tee an. Der würzige Duft hatte eine sehr beruhigende Wirkung auf Beatrice. Schon immer hatte sie ihn als angenehm empfunden, auch im Flüchtlingslager, in das sie nach der Überquerung der Oder gekommen war, hatte er ihr ein Gefühl von Heimat gegeben. Für Augenblicke war es ihr dadurch möglich gewesen, sich nach Hause zu träumen, in den Rosengarten ihrer Großmutter Grace, das kleine Gewächshaus, in dem diese versuchte, exotische Blumen zu ziehen. Und in dem sie manchmal stundenlang saß und abwesend einen Frangipani-Busch betrachtete, in der Hand einen kleinen Zettel, von dem ihre Mutter immer behauptet hatte, es sei ein Horoskop.
»Ein erbärmlicher Assam ist das, aber wir haben leider nichts anderes«, riss Deidre sie aus ihren Gedanken und stellte die Teetasse vor ihr ab. Der Farbstoff des Tees hatte die feinen Risse in der Glasur sichtbar gemacht, so dass sie sich wie dunkle Adern über das Innere der Tasse zogen.
Assam, Darjeeling, Ceylon. Auf einmal sah sie wieder die ordentlichen Beschriftungen der Behältnisse in Großmutters Küche vor sich. Liebevoll hatte sie die Buchstaben zu Papier gebracht, sie mit einer kleinen Vignette verziert, die stilisierte Teeblätter und Blüten darstellten. Mittlerweile waren sie wohl ebenso wie das Kapitänshaus an der Ostsee, der Garten und das Gewächshaus zu Trümmern vergangen.
Schweigend saßen die Frauen beim Tee, jede in Gedanken woanders. Deidres Blick wirkte auf einmal in der Ferne verloren, als suche sie etwas, Emmely versank in die Betrachtung Beatrices, die vorgab, diese zu ignorieren, während vor ihrem geistigen Auge das Gesicht der Großmutter erschien.
Seltsam, dass ich mich jetzt an sie erinnere und nicht an Mutter, dachte sie, während sie im Geiste die feinen Linien auf dem Gesicht nachzog, ihren Blick über das sattrote Haar streichen ließ, das ihr schottisches Erbe war, und die weiße, zu Sommersprossen neigende Haut betrachtete. Wie neidisch war sie als Kind auf ihre strahlende, helle Großmutter gewesen! Ihre Mutter Helena und sie selbst waren eher dunkle Typen, mit schwarzen Locken und fremdartig geschnittenen Augen, die Großmutter als Erbe der Familie ihres Mannes bezeichnet hatte. Leider war ihr Großvater, der Kapitän, bereits vor ihrer Geburt verstorben.
»Für heute bleibst du erst einmal hier«, beschied Deidre, als sie aus der gedanklichen Ferne zurückgekehrt war. »Du wirst im Zimmer meiner Tochter schlafen, Emmely schläft heute Nacht bei mir.«
»Aber ...«, begann Emmely, der es offensichtlich lieber gewesen wäre, sich das Zimmer mit dem Neuankömmling zu teilen.
...
TREMAYNE HOUSE
1945
Die junge Frau tauchte an einem verregneten Oktobernachmittag vor dem alten Herrenhaus auf. Nebel hüllte den Park ein und ließ die Trauerweiden, deren Äste Regentropfen weinten, noch trostloser wirken. Verwittertes Herbstlaub säumte die vormals gepflegten Wege und hing wie Fusseln in dem Gras, das schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gemäht worden war.
Mit angespannter Miene, ihr abgezehrtes Spiegelbild ignorierend, spähte die Fremde durch die geteilte Scheibe der Eingangstür. Zweimal hatte sie bereits geläutet, doch niemand ließ sich blicken. Dabei waren die Menschen im Innern des Hauses deutlich zu hören. Offenbar hielt sie die hektische Betriebsamkeit davon ab, zur Tür zu gehen.
Nachdem sie ein drittes Mal vergeblich die Klingel gedrückt hatte, wollte sie sich schon umwenden und gehen. Da ertönten Schritte, und wenig später erschien eine Frau in Dienstmädchenuniform, auf deren Namensschild der Name Linda stand. Streng maß sie den Neuankömmling, der denselben Anblick bot wie viele Frauen, die der Krieg in Not gebracht hatte. Verfilzte schwarze Haare, blasse Wangen. Die blauen Schatten unter ihren Augen ein Zeugnis von Hunger und Entbehrungen. Die groben Arbeiterschuhe, die ihr einige Nummern zu groß waren, klafften an den Seiten auf. Unter den schmutzigen Kleidern und dem löchrigen Trenchcoat wölbte sich ein kleiner Bauch.
»Tut mir leid, wir sind überfüllt«, murmelte Linda kühl.
Die blasse Gestalt streckte ihr daraufhin einen abgegriffenen, mit Schmutzschlieren bedeckten Umschlag entgegen. »Geben Sie das bitte der Hausherrin.« Ihre Worte klangen hölzern, da sie es nicht gewohnt war, englisch zu sprechen. Dennoch lag eine Bestimmtheit in ihrer Forderung, die nicht zu jemandem passte, der sich damit abgefunden hatte, ein Leben auf der Straße zu führen. Linda sah die Frau, die irgendwie fremdartig wirkte, prüfend an, doch da sie ihre Bitte nicht zurücknahm und den Blick des Hausmädchens beinahe trotzig erwiderte, nahm sie den Umschlag an sich.
»Einen Moment bitte.«
Aus einem Moment wurden viele, doch die Frau blieb vor der Tür stehen, als sei sie zu Stein geworden. Weder trat sie von einem Bein aufs andere, noch setzte sie sich, obwohl das niedrige steinerne Geländer Gelegenheit dazu bot. Sie streichelte sich nur sanft über den Bauch, der ihren wertvollsten Schatz barg. Das Kind, das in ihr heranwuchs, war jede Strapaze, jede Erniedrigung wert.
Anstelle des Hausmädchens erschienen zwei Frauen, eine schätzungsweise um die fünfzig und dunkelblond, die andere etwa in ihrem Alter, mit rotblondem Haar. Obwohl der Krieg auch von ihnen Opfer gefordert hatte, schien es ihnen verhältnismäßig gut zu gehen, wie ihre gesunde Gesichtsfarbe und die gerundeten Züge bewiesen.
»Sie sind Beatrice? Beatrice Jungblut?«
Die junge Frau nickte. »Ja, die Tochter von Helena. Sie sind die Stanwicks, nicht wahr?«
»Ich bin Deidre Stanwick, das ist meine Tochter Emmely Woodhouse«, antwortete die ältere der beiden Frauen, der ihre Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Beatrice nickte ihnen beklommen zu, denn sie spürte, dass sie nicht willkommen war. Doch eine andere Möglichkeit blieb ihr nicht. Ihr eigenes Leben interessierte sie nicht, mittlerweile war es so oft in Gefahr geraten, dass der Tod seinen Schrecken verloren hatte. Das Kind sollte jedoch die Möglichkeit haben, die Sonne zu sehen und den Frieden, der erst seit ein paar Monaten bestand, zu genießen.
Nachdem sie sich vielsagend angesehen hatten, fragte die Ältere: »Wo ist Helena?«
»Sie ist bei einem Angriff umgekommen, genauso wie mein Mann«, antwortete die Frau.
»Und du?«, fragte Emmely erschüttert.
»Ich konnte mich verstecken.« Schützend legte sie die Hände vor den Bauch. »Meine Mutter sagte mir, dass ich, sollte ihr etwas passieren, mich an euch wenden soll.«
Wieder sahen sich die beiden an, dann fragte Deidre: »Hast du Papiere, die deine Identität beweisen?«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Die sind verbrannt, als uns die Tiefflieger beschossen haben.«
Das war es, dachte sie. Jetzt schicken sie mich fort. Welchen Grund sollten sie auch haben, mir zu vertrauen? Es ist alles sinnlos und das Papier in meiner Hand nichts weiter als ein leeres Versprechen, das längst vergessen ist.
»Nun gut, komm erst einmal rein, dann reden wir.«
Der Geruch von Karbol und Tod schlug der Schwangeren entgegen, als sie den beiden Hausherrinnen durch einen langen Gang folgte. Schwärende Wunden schienen hier auf Medikamentennotstand und mangelhafte Desinfektion zu treffen.
»Wir haben seit gut drei Jahren ein Lazarett im Haus«, erklärte Emmely, der das Schweigen offensichtlich unangenehm war. »Die Räume bersten aus allen Nähten. Bitte nimm es Linda nicht krumm, dass sie dich wegschicken wollte. Im Moment werden wir von Kriegsheimkehrern und Hungernden regelrecht überrannt.«
Beatrice blickte verlegen auf ihre schmutzigen Schuhe. »Das tut mir leid.«
»Wir kommen schon zurecht«, meinte Emmely gütig, während sie ihren Arm kurz auf Beatrices Schulter legte. »Du bist hier am richtigen Ort.«
Bei diesen Worten wurde Beatrice schwindelig. Gab es überhaupt einen richtigen Ort für sie und ihr Kind? Das, was sie Heimat genannt hatte, war gerade in Blut und Trümmern versunken.
Obgleich die Küche recht groß war, herrschte hier ziemlicher Platzmangel, denn jeder Zentimeter freier Boden wurde als Stellraum für Kisten, Schränke und andere Möbel genutzt. Wenn es gefahrlos möglich war, standen mehrere Stücke übereinander. In der Mitte blieb lediglich Platz für den Herd und einen Tisch mit vier Stühlen.
»Schreckliche Zustände, aber man gewöhnt sich dran«, seufzte Deidre, während sie drei Tassen vom Bord nahm. »Früher hatte ich Bedienstete hierfür, aber der Krieg nimmt einem nicht nur die Freiheit, sondern auch sämtliche Privilegien. Jetzt essen wir mit unseren Dienstboten, die eigentlich gar nicht mehr für uns arbeiten, an einem Tisch.«
Nur schwach erinnerte sich Beatrice daran, dass ihre Familie ebenfalls ein Hausmädchen gehabt hatte. Das Aussehen ihres Hauses, ihres Zimmers und der Kleider, die sie einst trug, waren so stark mit dem Leid, das sie erlebt hatte, übertüncht, dass sie kaum noch wusste, wie ihr Leben damals gewesen war, bevor der Wahnsinn begann.
»Was ist mit der Frau, die die Tür geöffnet hat?«, fragte Beatrice, während sie sich langsam auf dem angebotenen Platz niederließ.
»Linda ist mein Hausmädchen, trägt ihre Uniform aber nur noch pro forma, denn sie wird im Lazarett gebraucht. Meine Tochter und ich helfen ebenfalls so gut mit, wie wir können.« Deidres Blick streifte ihren Bauch.
»Ich könnte ebenfalls mithelfen«, bot sich Beatrice an, doch ihre Tante schüttelte den Kopf.
»Bestenfalls könntest du in der Küche helfen, aber nicht bei den Kranken. Du würdest Gefahr laufen, dein Kind zu verlieren, wenn du dich mit irgendwelchen Keimen ansteckst.«
Der unangemessen heftige Tonfall ließ Beatrice zurückschrecken und die Zweifel zurückkehren. Dass sie dir erlaubt haben, mit ihnen in einer mit Gerümpel vollgestellten Küche zu sitzen, heißt noch lange nicht, dass du schon zur Familie gehörst.
Als Deidre weitersprechen wollte, stieß der Kessel auf dem Herd hinter ihr ein schrilles Pfeifen aus. Sie erhob sich und setzte eine Kanne Tee an. Der würzige Duft hatte eine sehr beruhigende Wirkung auf Beatrice. Schon immer hatte sie ihn als angenehm empfunden, auch im Flüchtlingslager, in das sie nach der Überquerung der Oder gekommen war, hatte er ihr ein Gefühl von Heimat gegeben. Für Augenblicke war es ihr dadurch möglich gewesen, sich nach Hause zu träumen, in den Rosengarten ihrer Großmutter Grace, das kleine Gewächshaus, in dem diese versuchte, exotische Blumen zu ziehen. Und in dem sie manchmal stundenlang saß und abwesend einen Frangipani-Busch betrachtete, in der Hand einen kleinen Zettel, von dem ihre Mutter immer behauptet hatte, es sei ein Horoskop.
»Ein erbärmlicher Assam ist das, aber wir haben leider nichts anderes«, riss Deidre sie aus ihren Gedanken und stellte die Teetasse vor ihr ab. Der Farbstoff des Tees hatte die feinen Risse in der Glasur sichtbar gemacht, so dass sie sich wie dunkle Adern über das Innere der Tasse zogen.
Assam, Darjeeling, Ceylon. Auf einmal sah sie wieder die ordentlichen Beschriftungen der Behältnisse in Großmutters Küche vor sich. Liebevoll hatte sie die Buchstaben zu Papier gebracht, sie mit einer kleinen Vignette verziert, die stilisierte Teeblätter und Blüten darstellten. Mittlerweile waren sie wohl ebenso wie das Kapitänshaus an der Ostsee, der Garten und das Gewächshaus zu Trümmern vergangen.
Schweigend saßen die Frauen beim Tee, jede in Gedanken woanders. Deidres Blick wirkte auf einmal in der Ferne verloren, als suche sie etwas, Emmely versank in die Betrachtung Beatrices, die vorgab, diese zu ignorieren, während vor ihrem geistigen Auge das Gesicht der Großmutter erschien.
Seltsam, dass ich mich jetzt an sie erinnere und nicht an Mutter, dachte sie, während sie im Geiste die feinen Linien auf dem Gesicht nachzog, ihren Blick über das sattrote Haar streichen ließ, das ihr schottisches Erbe war, und die weiße, zu Sommersprossen neigende Haut betrachtete. Wie neidisch war sie als Kind auf ihre strahlende, helle Großmutter gewesen! Ihre Mutter Helena und sie selbst waren eher dunkle Typen, mit schwarzen Locken und fremdartig geschnittenen Augen, die Großmutter als Erbe der Familie ihres Mannes bezeichnet hatte. Leider war ihr Großvater, der Kapitän, bereits vor ihrer Geburt verstorben.
»Für heute bleibst du erst einmal hier«, beschied Deidre, als sie aus der gedanklichen Ferne zurückgekehrt war. »Du wirst im Zimmer meiner Tochter schlafen, Emmely schläft heute Nacht bei mir.«
»Aber ...«, begann Emmely, der es offensichtlich lieber gewesen wäre, sich das Zimmer mit dem Neuankömmling zu teilen.
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Autoren-Interview mit Corina Bomann
Interview mit Corina BomannWo schreiben Sie am liebsten?
Im Sommer in meinem Gartenhaus, mitten in der Natur, wo sich hin und wieder Bienen oder Schmetterlinge durch die offene Tür verirren. Im Winter in meinem Arbeitszimmer bei einer leckeren Tasse Tee und dem Blick aus dem Giebelfenster auf meinen uralten Kastanienbaum. Ansonsten kann ich eigentlich überall schreiben, wo ich warten muss und mich die Muse vor Langeweile bewahren möchte, und das können manchmal Orte sein wie Bibliotheken, Wartezimmer, Cafés, U-Bahn, Züge etc.
Was tun Sie am liebsten, wenn Sie nicht gerade schreiben?
Nähen! Ich liebe schöne Stoffe und finde es sehr entspannend, daraus Kleider oder Dinge fürs Haus zu nähen. Ein besonderes Faible habe ich für historische Kostüme, die ich dann auch mutig auf Burgfesten und Mittelaltermärkten trage. Außerdem erkunde ich sehr gern meine Umgebung mit dem Fahrrad und gehe auf die Jagd nach schönen Motiven für meine Fotokamera, die mich dann beim Schreiben inspirieren oder einfach nur mein Herz erfreuen.
Welche Figur aus Ihrem Roman würden Sie gern einmal treffen?
Zum ersten Wikrama, den schönen Tamilen mit der kämpferischen Natur und der geheimnisvollen Herkunft. Ich bin fasziniert von der tamilischen Kampfkunst Kalarippayyat, die er beherrscht, und würde ihm gern einmal bei einem Übungskampf zusehen. Und mir von ihm Tamilisch beibringen lassen, eine nicht ganz einfache Sprache mit einer sehr kunstvollen Schrift. Und dann auch Grace, von der ich sicher bin, dass sie mir noch nicht alle spannenden Episoden aus ihrem Leben erzählt hat. Vielleicht könnten wir bei einer guten Tasse Ceylon darüber reden.
Wer sind Ihre liebsten Romanhelden/- heldinnen?
Schwer zu sagen. Ich mag Romanfiguren, die sehr
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facettenreich und manchmal auch ambivalent sind. Der Capitan Alatriste (aus „Alatriste" von A. PerezReverte) ist so eine oder Athos aus den „Drei Musketieren". Bei den weiblichen Charakteren haben es mir Layla de Solis (aus „Mondlaub") und Griet (aus „Das Mädchen mit den Perlenohrringen") angetan.
Welches Buch hätten Sie gern geschrieben?
„Der Fechtmeister", mein absolutes Lieblingsbuch. Allerdings wäre dann vielleicht etwas anderes dabei herausgekommen. Nein, eigentlich würde ich dieses Buch gar nicht umschreiben wollen, ich verwirkliche lieber meine eigenen Ideen.
Wer sind Ihre Lieblingsautoren?
Am liebsten lese ich Bücher von Audrey Niffenegger, Arturo Perez-Reverte, Kate Morton, Rose Tremain, Alexandre Dumas und Jane Austen. Und noch von vielen anderen Autoren mehr.
Über welches Lob haben Sie sich am meisten gefreut?
Ich kann nicht sagen, welches Lob mich am meisten gefreut hat, denn ich freue mich riesig über jedes Lob. Zuletzt hat mich das Lob meiner Lektorin der „Schmetterlingsinsel" sehr gefreut, habe ich es doch geschafft, sie mit dem Ende des Romans zu überraschen. Da sie meine erste Leserin ist, war es schon sehr schön zu hören, dass es ihr gefallen hat.
Was ist Ihre Lieblingstugend?
Ehrlichkeit, denn sie ist nicht nur das Fundament guter Partnerschaft sondern auch guter Zusammenarbeit. Nur wenn man mit offenen Karten spielt erreicht man, dass andere für einen kämpfen.
Was führt Sie in Versuchung?
Die schönen braunen Augen und das Lächeln eines Mannes, ein Buchladen, Erdbeertorte und strahlende Sonnenuntergänge. Wenn das alles noch zusammenkommt - ein perfekter Moment, dem ich mich gern hingebe.
Welches Buch hätten Sie gern geschrieben?
„Der Fechtmeister", mein absolutes Lieblingsbuch. Allerdings wäre dann vielleicht etwas anderes dabei herausgekommen. Nein, eigentlich würde ich dieses Buch gar nicht umschreiben wollen, ich verwirkliche lieber meine eigenen Ideen.
Wer sind Ihre Lieblingsautoren?
Am liebsten lese ich Bücher von Audrey Niffenegger, Arturo Perez-Reverte, Kate Morton, Rose Tremain, Alexandre Dumas und Jane Austen. Und noch von vielen anderen Autoren mehr.
Über welches Lob haben Sie sich am meisten gefreut?
Ich kann nicht sagen, welches Lob mich am meisten gefreut hat, denn ich freue mich riesig über jedes Lob. Zuletzt hat mich das Lob meiner Lektorin der „Schmetterlingsinsel" sehr gefreut, habe ich es doch geschafft, sie mit dem Ende des Romans zu überraschen. Da sie meine erste Leserin ist, war es schon sehr schön zu hören, dass es ihr gefallen hat.
Was ist Ihre Lieblingstugend?
Ehrlichkeit, denn sie ist nicht nur das Fundament guter Partnerschaft sondern auch guter Zusammenarbeit. Nur wenn man mit offenen Karten spielt erreicht man, dass andere für einen kämpfen.
Was führt Sie in Versuchung?
Die schönen braunen Augen und das Lächeln eines Mannes, ein Buchladen, Erdbeertorte und strahlende Sonnenuntergänge. Wenn das alles noch zusammenkommt - ein perfekter Moment, dem ich mich gern hingebe.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Corina Bomann
- 2012, 1. Auflage, 560 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843702446
- ISBN-13: 9783843702447
- Erscheinungsdatum: 09.03.2012
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 1.53 MB
- Ohne Kopierschutz
Pressezitat
"Eine wundervolle und kurzweilige Lektüre, die man gern in einem Rutsch wegliest.", Kwick.de, 26.08.2012
Family Sharing
eBooks und Audiobooks (Hörbuch-Downloads) mit der Familie teilen und gemeinsam genießen. Mehr Infos hier.
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