Die Spur der verlorenen Kinder (ePub)
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Die Spur der verlorenen Kinder von T.J. MacGregorTeil eins
DER KORRIDOR
Eins
Das verblassende Nachmittagslicht haftete am westlichen
Horizont wie Blut auf Stoff. Mira Morales schoss zwei weitere
Fotos ihrer Tochter, ein Umriss vor dem wunderbaren Juni-
licht, während sie den Strand entlangspazierte und noch einen
Eimer voll Muscheln sammelte, den sie mit nach Hause nehmen
wollte.
»Hey, Annie«, rief sie. »Lass uns das Boot packen.«
»Noch fünf Minuten, Mom«, rief Annie zurück.
Noch fünf Minuten, jetzt nicht, ich bin noch nicht so weit:
Die Leier einer dreizehnjährigen Aufschieberin. Aber es lagen
knapp fünfundzwanzig Kilometer offenes Wasser zwischen
Little Horse Key, einem unbewohnten Inselchen im Golf von
Mexiko, wo sie den Tag verbracht hatten, und Tango Key, der
Insel, auf der sie lebten. Die Vorstellung, im Dunkeln zurückzufahren
in einem winzigen Bötchen mit einem noch winzigeren
Außenbordmotor, war Mira ausgesprochen unangenehm.
Sie sammelte eilig Handtücher, Sonnenschirme, Sonnencreme,
Taschenbücher und das ganze restliche Zeug zusammen,
das um die Kühlbox und das Boot herum verstreut lag. Es
sah aus, als wären sie mehrere Wochen hier gewesen, nicht bloß
einen Tag. Sie bezweifelte, dass es ihr jemals gelingen würde,
nur wenig einzupacken. Aber wie konnte man auch das Haus
verlassen ohne reichlich Mineralwasser, Essen, Snacks, ihr
Handy und ihren Pocket-PC? Und es war einfach unmöglich,
an den Strand zu gehen, ohne etwas zum Lesen mitzunehmen,
am besten eine kleine Auswahl aus den gut zehn Vorabausgaben,
die jede Woche in ihrem Buchladen eintrafen. Sie hatte
zudem ein neues Tarot-Spiel mitgenommen, das ein Anbieter
ihr geschickt hatte, mit einem Design aus Der Herr der Ringe.
... mehr
Und die Digitalkamera, die Shep ihr letzte Weihnachten geschenkt
hatte, natürlich auch.
Annie lief über den Sand, um Mira die Muscheln zu zeigen,
die sie gesammelt hatte. Ihre Begeisterung über etwas so einfaches
war eine erfreuliche Abwechslung von der Düsternis, die
sie im letzten Jahr befallen zu haben schien. Obwohl sie ein
paar Freunde gefunden hatte, seit sie vor drei Jahren nach
Tango Key gezogen waren, hatte sie keine einzige enge Freundin,
niemanden, den sie jeden Abend anrief, um mit ihm zu
tratschen oder mit dem sie ihre größten Geheimnisse teilen
konnte. Mit dreizehn stellte es ein ziemlich großes Vakuum
dar, wenn es keine beste Freundin gab.
Die paar Male, die Mira versucht hatte, sich auf Annie einzustellen,
konnte sie nicht über die Wellen schierer Einsamkeit
und Isolation hinwegkommen. Vor Jahren hatte Miras Großmutter
Nadine sie davor gewarnt zu versuchen, in jemandem
zu lesen, den sie liebte, denn die Wahrheit würde sie schockieren.
In unserem tiefsten Innersten sind die meisten von uns trotz
allem immer Fremde. Damals hatte Mira die Bemerkung zynisch
gefunden. Jetzt wurde ihr klar, dass Nadine in Wahrheit
gesagt hatte, manche Dinge musste man eben allein durchstehen.
Mira konnte für Annie da sein, sie konnte sie unterstützen
und ihr Rat anbieten, aber sie konnte den Schmerz ihrer Tochter
nicht vertreiben. Sie konnte nicht für sie die Pubertät
durchleben. Und aus all diesen Gründen hatten sie den Tag auf
der kleinen Insel verbracht, wo sie mit ihrer Tochter geschwommen
war und in der Sonne gelegen hatte. Mom, die
Ersatzfreundin.
»Ich habe eine Menge tote Krabben am Strand gesehen,
Mom.« Annie schüttete ihre neuesten Muscheln in eine kleine
Kühlbox. »Glaubst du, das hat etwas mit dem schwarzen Wasser
dort draußen zu tun?«
»Nein. Das Feld liegt achtzig Kilometer vor der Küste.«
Das Feld, von dem Annie sprach, war vor etwa acht Monaten
von einigen Fischern entdeckt worden. Sie beschrieben es
als einen großen Bereich schwarzen Wassers, an dessen Oberfläche
glibberiges Zeug schwamm. Fischer, die seit fünfzig Jahren
das Wasser des Golfs durchpflügten, behaupteten, so etwas
noch nie gesehen zu haben. Obwohl das Feld keine toten Fische
zurückließ - im Gegensatz zur Roten Tide - fand man in
dem schwarzen Wasser allerdings auch keine lebenden Fische.
Zu Beginn hatten Satellitenfotos gezeigt, dass das schwarze
Wasser etwa knapp 2000 Quadratkilometer bedeckte, ungefähr
die Größe des Lake Okeechobee.
Obwohl das Feld sich mittlerweile in mehrere kleinere Abschnitte
geteilt hatte, sorgten sich Umweltschützer über die
Folgen für die Meeresfauna und -flora und das Korallenriff, das
einzige lebende Wallriff der USA. Meeresbiologen aus ganz Florida
hatten seit dem Auftauchen Proben entnommen und eine
Menge Theorien entwickelt. Eine von ihnen bestand darin,
dass das schwarze Wasser auf Umweltverschmutzungseinflüsse
zurückzuführen sei. Andere Theorien schrieben es einer Unterwasserexplosion
von Algen oder Plankton zu, einem Ansteigen
der Meerestemperatur oder des Salzgehalts oder dem nitrogenhaltigen
Abwasser der Zuckerrohrfelder in Südflorida. Aber
bislang hatte niemand genau herausfinden können, was es
wirklich war oder wodurch es verursacht wurde.
»Letzte Woche lag es achtzig Kilometer vor der Küste«, sagte
Annie. »Heute Morgen habe ich in den Nachrichten gehört,
dass sich der größte Teil nur ein paar Kilometer südlich von
hier befindet.«
Wenn Annie mit solcher Klarheit sprach, erinnerte sie Mira
an ihren Vater, dieselbe Leidenschaft in ihren dunklen Augen,
dieselben geweiteten Nasenflügel, das stolze Heben des Kinns.
Sie war ein ungewöhnlich hübsches Mädchen - obwohl Annie
selbst das natürlich nicht glaubte - mit der schönen Haut und
den hohen Wangenknochen ihres kubanischen Vaters. Tom war
an Annies drittem Geburtstag ermordet worden, und in Augenblicken
wie diesem sehnte sich Mira schmerzhaft nach dem Leben,
das Tom, Annie und sie niemals gemeinsam haben würden.
Finde dich damit ab und mach weiter, dachte sie. Es ist zehn
Jahre her.
»Es gibt keine Berichte von toten Fischen in diesen Feldern«,
sagte Mira. »Hey, geh mal auf die andere Seite des Bootes, dann
kann ich noch ein Foto von dir machen, bevor wir fahren.«
»Weißt du, es ist auch in Ordnung, wenn es schon dunkel ist,
wenn wir nach Tango zurückfahren, Mom. Wir werden nicht
gleich kentern und ertrinken.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Aber gedacht.«
Annie grinste frech und sprang über das kleine Boot. Sie
drückte ihre rechte Hüfte heraus, legte eine Hand darauf und
schob mit der anderen ihr langes dunkles Haar von den Schultern.
Mira machte ein paar Fotos. Ihre Tochter machte immer
Witze darüber, dass Miras Angst, sich im Dunkeln auf dem
Wasser zu befinden, vermutlich auf ein anderes Leben zurückzuführen
sei, in dem sie nachts ertrunken war. Mira lachte
meist, wenn sie das sagte, vermutete aber insgeheim, dass An-
nie recht hatte. Eines der Probleme damit, eine übersinnlich
begabte Tochter großzuziehen, bestand darin, dass Annies Fähigkeiten
oft über ihre eigenen hinausgingen.
Seit vielen Generationen waren stets die erstgeborenen Mädchen
der Familie mit seherischen Fähigkeiten zur Welt gekommen.
Mira benannte es selbst selten so, denn es klang so antiquiert.
Aber es war die beste Möglichkeit, eine Intuition zu
beschreiben, die, soweit sie zurückdenken konnte, ein Teil ihres
Lebens gewesen war. Sie hatte den Tod ihres Mannes mehrere
Jahre, bevor er eingetreten war, vorhergesehen. Das Hellsehen
hatte den Mord an Tom nicht verhindern können, aber fünf
Jahre danach hatte sie immerhin auf diese Weise Wayne Sheppard,
damals Polizist in Fort Lauderdale, mit genug Hinweisen
ausstatten können, um den Mörder zu finden. Diese Fähigkeit
war ihr Lebenselixier, ihre Leidenschaft, ihr größter Fluch und
ihr wundervollstes Geschenk. Es war ebenso wichtig für sie wie
ihr eigen Fleisch und Blut. Aber oft, wenn sie ungebeten ir-
gendwelche Eindrücke wahrnahm, wünschte sie, dass ihre innere
Stimme einfach den Mund halten und sie in Ruhe lassen
würde. Im Augenblick zum Beispiel.
Seit einer geraumen Weile war sie sich eines wachsenden unangenehmen
Gefühls knapp unterhalb ihres Brustbeins bewusst,
einer intensiven Hitze, die sich ausbreitete wie geschmolzenes
Wachs. Als sie sich auf das Gefühl konzentrierte, um es
deutlicher wahrzunehmen, vergrößerte sich die Hitze, sie sah
aber keine Bilder. Vielleicht war es bloß Sodbrennen von dem
ganzen Junkfood, das Annie und sie am Strand gegessen hatten.
»Okay, jetzt mache ich mal ein paar Bilder von dir, Mom.«
Sie tauschten die Plätze, und während Annie überlegte, ob
sie sich hinknien und das Foto im Hoch- oder im Querformat
machen sollte, wählte Mira Sheps Handynummer. Sein Handy
war immer an. Es war sein einziges Telefon.
»Agent Sheppard.«
»Hellseherin Morales.«
Er lachte. »Seit ihr zwei auf dem Rückweg?«
»Gleich. Wir machen nur noch ein paar Fotos. Wo bist du?«
»Nadine und ich sitzen in der Küche und trinken Bier. Sie
hat einen Shrimps-Auflauf im Ofen.«
»Wir müssten in weniger als einer Stunde da sein.«
»Hast du Lust, einen Film zu gucken?«
»Aber ich will erst essen. Was schwebt dir so vor?«
»Ein Video bei mir.«
»Klingt gut.«
Eine Nacht allein mit Sheppard klang sogar sehr gut. Vor
zwei Jahren wäre ihr das noch nicht so gegangen. Kurz nach
dem Ende der Ermittlungen, die sie zusammengeführt hatten,
erbte Sheppard Geld von einer Tante, kündigte seinen Job
beim Sheriff 's Department und ging sechs Monate auf Reisen.
Als er zurückkehrte, lebte sie auf Tango Key, und ihre Beziehung
war unregelmäßig, undefiniert und wurde zudem durch
die Entfernung verkompliziert. Er versuchte, sich zu überlegen,
was er als Nächstes im Leben machen wollte, und sie versuchte,
sich zu überlegen, ob er überhaupt Platz in ihrem Leben hatte.
Dann bekam er ein Angebot seines ehemaligen Chefs beim
FBI, für das er fünf Jahre lang gearbeitet hatte, bevor er zum
Broward County Sheriff's Department gegangen war. Sheppard
ging ein zweites Mal zum FBI, zog nach Tango, und seitdem
blühte ihre Beziehung auf.
»Oh, Nadine sagt, du sollst Annie sagen, das Mädchen, das
am Ende der Straße wohnt, hat angerufen«, fuhr Sheppard fort.
»Sie wollte wissen, ob Annie Lust hat, bei ihr zu übernachten.«
»Hey, Annie«, sagte Mira und hielt die Sprechmuschel zu.
»Christina hat angerufen und gefragt, ob du bei ihr übernachten
willst.«
Falls sie gehofft hatte, die Nachricht würde Annie freuen -
falsch geraten. Ihre Tochter zuckte mit den Achseln - mir
egal -, was ihre aktuelle Beziehungslage präzise wiedergab.
»Christina ist eine Nervensäge, Mom.«
»Das heißt wohl Nein.«
»Ich rufe sie an, wenn wir zu Hause sind. Komm jetzt, stell
dich ein bisschen nach links.«
»Ich muss aufhören. Georgia O'Keefe macht ein Foto von
mir. Wir sehen uns bald«, sagte Mira zu Sheppard.
»Hey, sag Annie, sie hat drei Katzen, die sie lieben«, sagte er.
»Ich glaube nicht, dass das ein großer Trost ist, aber ich sage
es ihr. Wir sehen uns bald.«
Sie legte auf, und Annie sagte: »Okay, Hand auf die Hüfte.«
Mira legte die Hand auf die Hüfte, und Annie machte zwei
Aufnahmen.
»Was gibt's zum Abendessen?«
»Shrimps-Auflauf.«
Annie zog die Nase kraus. »Ich hasse Shrimps, Mom.«
»Du kannst Salat und kaltes Hühnchen haben.«
Annie war wählerisch. Sie hasste Shrimps, liebte jedoch
Fisch. Sie hatte noch nie einen Hamburger gegessen oder Limonade
getrunken, konsumierte aber Danone-Kaffeejoghurt
mit der Begeisterung einer echten Koffeinabhängigen.
»Hey, Mom?«, fragte Annie und ließ die Kamera sinken. »Da
kommt ein Mann an den Strand.«
Mira sah sich um, sie hob eine Hand über die Augen, um sie
vor der untergehenden Sonne zu schützen. Der Mann zog ein
kleines Boot auf den Sand und schien damit seine liebe Not zu
haben. Sie konnte sehen, dass einer seiner Arme in einem Gips
steckte. Er beugte sich über den Außenbordmotor und schlug
mit etwas darauf, das Scheppern hallte bis zu ihnen herüber.
»Wenn er Hilfe braucht, wird er schon fragen. Komm, packen
wir unsere Sachen, Schatz. Wir müssen los.«
Sie fing an, ihre Habseligkeiten ins Boot zu laden. Die Sonne
flimmerte und begann, im Golf zu versinken, das Licht loderte
auf der Wasseroberfläche. Eine leichte Brise war aufgekommen,
und in der Luft lag der Duft von Salz und Sand, eine Wüste aus
Wasser. Dicht am Ufer huschte ein Fischschwarm vorbei, eine
glitzernde silbrige Masse, die schnell wieder verschwand. Mira
fiel auf, dass das Scheppern aufgehört hatte, und sie schaute
wieder den Strand entlang. Der Mann trottete über den Sand
und winkte ihr zu.
»Hey, hallo«, rief er. »Mein Motor hat schlappgemacht. Können
Sie mir helfen?«
Mira winkte zurück. Sie wollte nicht länger hierbleiben,
konnte aber auch jemanden, der gestrandet war, ihre Hilfe
nicht verweigern. »Mal sehen, was er braucht.« Sie entfernte
sich von ihrem Boot, um sich auf halbem Weg mit dem Mann
zu treffen.
Das unangenehme Gefühl von vorhin, knapp unter ihrem
Brustbein, kehrte jetzt zurück. Sie presste zwei Finger darauf
und rieb sanft. Das war bestimmt kein Sodbrennen. Dieses Gefühl,
dachte sie, bezog sich auf ihre Angst, im Dunkeln noch auf
dem Wasser zu sein, was jetzt immer wahrscheinlicher wurde.
»Tut mir wirklich leid, Sie zu stören«, sagte der Mann und
deutete mit seinem Gipsarm auf sein Boot. Ein Unterarmgips.
»Der verdammte Motor ist mir vierhundert Meter vor dem
Ufer verreckt, und ich habe weder Werkzeug noch ein Handy.«
»Ich habe ein paar Werkzeuge. Sie können sie gerne benutzen.
«
»Vielen Dank. Die Vorstellung, fünfundzwanzig Kilometer
nach Hause rudern zu müssen, und dann auch noch im Dunkeln,
begeistert mich nicht.«
Sie lächelte. »Ja, ich weiß, wie es Ihnen geht.«
Er sah nicht schlecht aus mit seinem wettergegerbten Gesicht,
das zeigte, dass er viel Zeit im Freien verbrachte, und
Augen in derselben Farbe wie das Wasser in der Dämmerung,
Bleifarben umgeben von einem dunklen Blau. Die Sonne hatte
sein Haar gebleicht, und er fuhr immer wieder mit den Fingern
hindurch, als wollte er das Salz herausbürsten. Er hatte sich einen
Rucksack über die rechte Schulter geworfen.
»Der Motor hat schon Ärger gemacht, als ich angelte. Hat
gestottert. Da hätte ich wohl besser umkehren sollen.«
Sie gingen jetzt auf Annie zu, die neben dem Boot wartete.
»Leben Sie auf Tango?«, fragte sie.
»Key West, und Sie?«
»Tango.«
»Sind Sie einfach hier rausgefahren?«
»Meine Tochter und ich haben einen Tagesausflug gemacht.
«
»Ich heiße Pete«, sagte er.
»Ich bin Mira, das ist Annie.«
»Hey«, sagte Annie. »Mom, du musst mir helfen, diese Kühlbox
ins Boot zu stellen. Die ist zu schwer für mich.«
»Ja, klar. Lass mich bloß das Werkzeug für Pete raussuchen.
Er hat Probleme mit dem Motor.«
Sie öffnete die Klappe der Anglerkiste und zog eine Werkzeugtasche
hervor. »Ich hoffe, es ist etwas dabei, was Ihnen
hilft. Kann ich jemanden für Sie anrufen?«
»Ich hasse es, Freunde zu belästigen.« Er öffnete die Werkzeugtasche
und nickte vor sich hin. »Es ist ganz schön weit
hierher.«
Das unangenehme Gefühl, das sie bislang empfunden hatte,
explodierte jetzt zu einem starken Schmerz, der sie scharf den
Atem einziehen ließ. »Behalten Sie das Werkzeug, Pete. Wir
müssen los und die Fahrt hinter uns bringen, bevor es ganz
dunkel ist. Sind Sie sicher, dass Sie nicht wollen, dass ich jemand
anrufe?«
»Danke, ich bin sicher.«
Dann löste er seinen Blick von dem Werkzeug, und eine
zweite Schmerzexplosion ließ sie beinahe in die Knie gehen. In
einem entsetzlichen Augenblick wurde ihr klar, dass er die Ursache
des Schmerzes war. Sie trat einen Schritt zurück, versuchte
zu lächeln und ihr Entsetzen zu verbergen.
»Viel Glück. Nimm das Tau, Annie. Ich nehme die ...«
Er richtete sich auf, lächelte immer noch, und donnerte ihr
seinen Gips seitlich gegen den Kopf. Schmerz durchfuhr ihre
Knochen, Sterne bildeten sich vor ihren Augen, Blut rauschte
durch ihre Ohren. Sie taumelte zur Seite, sie schüttelte den
Kopf, um wieder klar sehen zu können, der metallische Geschmack
vom Blut erfüllte ihren Mund, und sie kreischte:
»Lauf, Annie, la...«
Der zweite Schlag traf sie am Hinterkopf. Sie hörte den Gips
brechen, hörte Annie schreien. Das Meer rauschte in ihrem
Schädel. Schon als sie vornüberfiel und ihre Arme vorschossen,
um sich abzustützen, wurde ihr schwarz vor Augen. Der Mann
warf sich auf sie, und sie knallte auf den Strand.
Sand drang in ihre Nasenlöcher, in ihren Mund. Sie spuckte
und rollte sich auf den Rücken, zog die Beine an, trat ihn mit
ihren nackten Füßen in den Bauch. Er taumelte, stürzte aber
nicht. Als sie sich wieder aufrichtete, rutschten der Strand, das
Licht, das Wasser, einfach alles, nach rechts. Sie stürzte sich auf
ihn, aber sie war so ungeschickt, so schwach, dass er einfach
nach links auswich und sie vornüberkippte wie eine Betrunkene;
ihr Blickfeld verschwamm im Dunkel.
Dann schlug er sie erneut. Und noch im Fallen wusste sie,
dass sie das Bewusstsein verlieren würde, bevor sie auf den Boden
auftraf.
Zwei
In dem Moment, in dem ihre Mutter rief, dass sie davonlaufen
sollte, hastete Annie auch schon den Strand entlang; der Sand
stob auf und stach in ihre Hacken, die Arme hatte sie eng an ihren
Körper gepresst. Sie schaute nur einmal zurück und sah,
wie ihre Mutter schließlich stürzte, wie sie im Sand landete und
nicht wieder aufstand.
Dann kam der Mann hinter ihr her, seine langen Beine fraßen
den Abstand zwischen ihnen.
Annie bog scharf in Richtung der Bäume ab, ein paar hohe
Pinien und ein Mangrovensumpf. Ihr Entsetzen, so klar und
gewaltig, erfüllte sie wie Helium, und sie rannte um ihr Leben,
Atem und Schluchzen schossen gleichzeitig aus ihrem Mund.
Es war jetzt beinahe dunkel. Wenn sie es zwischen die
Bäume schaffte, würde er sie nie finden. Sie würde verschwinden.
Sie würde notfalls zurück nach Tango schwimmen. Ohne
meine Mom?
Nie.
Oh Gott, oh Gott ... schneller.
Sie zwinkerte Schweiß aus ihren Augen. Ihre Beinmuskeln
fühlten sich angespannt wie Klaviersaiten. Sie fürchtete, das
Tempo nicht mehr lange halten zu können.
Die dunklen Mangroven zeichneten sich vor ihr ab. Ich
schaffe das, ich schaffe, ich schaffe ...
Annie schaute noch einmal zurück. Großer Fehler. Er kam
näher wie der Wind. Sekunden später erreichte sie die Mangroven
und stolperte prompt über etwas, eine hervorstehende
Wurzel, einen Ast, sie konnte nicht genau sagen, was es war,
aber sie verlor ihr Gleichgewicht. Sie stürzte auf Hände und
Knie. Ihre Hände versanken bis zu den Handgelenken im
Matsch - dicker, tiefer Schlamm, verrottende Blätter, totes
Zeug. Der Matsch drückte sich unter ihre Fingernägel, zwischen
ihre Zehen und stank wie verfaulte Eier.
Sie riss ihre Hände heraus, schoss hoch, aber der Schlamm
sog an ihren Füßen, hielt sie gefangen. Voller Angst drehte sie
sich kraftvoll zur Seite, sie griff in der Dunkelheit panisch nach
einem Halt, einem Hebel. Ihre Finger fanden einen Ast, und
sie packte ihn und zog ihren linken Fuß aus dem Matsch, dann
brach der Ast, und sie taumelte nach vorn. Jetzt konnte sie ihn
hören, ein Riese brach durch die Mangroven, er atmete schwer.
Dann stürzte er sich auf sie, seine kräftigen Arme schlangen
sich um sie und zogen sie aus dem Schlamm, als wäre sie bloß
ein Ästchen. Annie schrie, trat, wand sich und biss ihm in den
Handrücken. Sie hielt durch, biss tiefer, schmeckte Blut. Er
gab ein tiefes, entsetzliches Tiergeräusch von sich, und einige
Sekunden lockerte sich sein Griff, sodass sie mit den Ellbogen
nach hinten stoßen konnte. Sie wusste nicht genau, wo sie ihn
getroffen hatte, aber es musste genau die richtige Stelle gewesen
sein, denn plötzlich ließ er sie los.
Annie rannte davon, der Schlamm sog an ihren Füßen, Äste
peitschten ihr Gesicht, ihre Arme, Insekten flitzten ihre Beine
hoch. Sie bog nach links, nach rechts, wieder nach links, sie
versuchte zu einem möglichst schwierigen Ziel zu werden, aber
es war so dunkel, dass sie nichts sehen konnte. Sie lief gegen einen
Baum und taumelte zurück, die gesamte rechte Seite ihres
Gesichts brannte vor Schmerz. Dann packte er sie erneut, und
sie stürzten zur Seite und fielen ins Wasser. Gestank und
Schlamm drangen ihr in die Nase, Panik erfüllte sie.
Er riss sie an den Haaren hoch, packte von hinten ihr Shirt
und trug sie daran aus den Mangroven heraus, wie ein Gepäckstück.
Sie schrie und trat, sie versuchte, sich zu befreien. Er riss
an ihrem Haar, und sie wurde fast ohnmächtig vor Schmerz.
»Pass auf«, sagte er mit eigenartig sanfter, ruhiger Stimme.
»Wenn du dich wehrst, muss ich dir wehtun. Ich will dir nicht
wehtun.«
Sie sagte nichts. Sie hörte auf, sich zu wehren. Er trug sie mit
dem Gesicht nach unten. Davon wurde ihr schwindelig, und
sie schloss die Augen. Er lockerte den Griff in ihrem Haar, und
Augenblicke später erreichten sie den Strand, den trockenen
Sand. Er ließ sie auf ihren Hintern fallen, hielt ihr Haar aber
weiter fest. Wenn sie den Kopf bewegte, wenn sie sich überhaupt
irgendwie rührte, dann würde er ihr eine Handvoll
Haare mitsamt Wurzeln ausreißen, das wusste sie.
Rede mit ihm. Sollte man das nicht in solchen Situationen
tun? Denk nach, Annie, benutz dein blödes Hirn. »Was ... was
wollen Sie?« Du musst mit ihm eine Beziehung eingehen. Dann
fällt es ihm schwerer, dich zu töten.
»Ich möchte, dass du aufstehst und wir den Strand entlanggehen.
« Er legte ihr eine Handschelle um das Handgelenk, das
andere Ende hing an seinem Handgelenk.
Annie bemerkte, dass er den Gips nicht mehr am Arm hatte.
»Ist meine Mutter...«
»Sie lebt.«
»Der Gips war falsch.«
»Ja.«
»Um uns reinzulegen.«
»Damit ich nicht bedrohlich wirke.«
»Ted Bundy hat das so gemacht.«
»Da hast du recht.« Er klang überrascht. »Du bist ein kluges
Mädchen. Ich wette, du hast bloß Einsen in der Schule.«
»Ich bin in der Begabtenförderung.«
»Ich wusste, dass du intelligent bist.«
»Woher zum Teufel sollten Sie das wissen?«
»Fluche nicht.«
Härte in seiner Stimme. Das machte ihr Angst.
»Ich mag es nicht, wenn Kinder fluchen. Das ist die erste Regel.«
Regel? Was sollte das heißen? Bring ihn dazu weiterzureden.
Sie würde ihn weiterreden lassen und auf eine Gelegenheit warten,
ihn in die Eier zu treten. »Okay.« Sie würde ihm genau das
sagen, was er hören wollte. »Woher wissen Sie, ob ich intelli-
gent oder blöd bin?«
»Ich habe dich beobachtet.«
Auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut. Denk nicht darüber
nach. Aber schon während sie das dachte, durchzuckte es sie.
Wann hatte er sie beobachtet? Wann? Als sie zur Schule ging,
nach Hause kam? Finde alles raus, was du kannst.
Er zog eine Taschenlampe aus seiner hinteren Hosentasche
und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl erreichte ihre Mutter, die
immer noch im Sand lag. Sie sah aus, als schliefe sie. Annie
konnte kaum sprechen, weil sie einen Kloß im Hals hatte. »Atmet
... atmet sie?«
»Natürlich. Berühre ihren Hals seitlich. Dann kannst du ihren
Puls fühlen.«
Er schien zu begreifen, wie wichtig das für sie war; er ging in
die Hocke, damit sie sich hinkauern konnte. Sie hielt zwei Finger
an den Hals ihrer Mutter, an die Halsschlagader, und spürte
den starken, regelmäßigen Puls. Sie spürte auch die Wärme der
Haut ihrer Mutter und inhalierte ihren Duft, eine Mischung
aus Salz, Sonnenbrand, Schweiß und etwas anderem, etwas
Angenehmem, beinahe Süßem, das sie nicht benennen konnte.
»Mami«, flüsterte sie.
»Nein, sie muss schlafen.«
Er erhob sich eilig, und die Handschelle schnitt in ihr Handgelenk
und zwang sie ebenfalls auf die Beine. »Bitte«, flüsterte
sie und begann zu weinen, sie drückte ihre Knöchel fest auf
ihre Augen. »Bitte lassen Sie mich hier bei meiner Mom bleiben.
« Sie nahm die Hände von ihren Augen. »Ich ... ich verspreche
auch, nichts zu erzählen. Ich ... ich verspreche ...«
»Das geht leider nicht. Komm jetzt, gehen wir zu meinem
Boot.«
Er begann schnell den Strand entlangzugehen und zwang
sie, mit ihm Schritt zu halten. Sie taumelte, ging zu Boden,
griff sich eine Handvoll Sand. In dem Moment, in dem er sie
wieder in den Stand riss, warf sie ihm den Sand ins Gesicht und
trat ihm zwischen die Beine. Er kreischte, diesmal war es ein
anderes Tiergeräusch, ein erschreckender Laut, und krümmte
sich. Er rang nach Atem und wischte sich panisch die Augen.
Er sackte auf den Knien in den Sand, und Annie versuchte verzweifelt,
die Taschenlampe zu erreichen, die er fallen gelassen
hatte. Damit könnte sie ihn ohnmächtig schlagen, dann würde
sie den Schlüssel der Handschellen suchen.
Aber die Handschellen schnitten in die weiche Unterseite ihres
Handgelenks, und der Mann - Peter, er hieß Peter -
kreischte jetzt nicht mehr. Er stöhnte noch, kreischte aber nicht
mehr. Sie reckte sich, ihre Finger hatten die Taschenlampe beinahe
erreicht, konnten sie fast berühren, da riss der Mann an
der Handschelle, und es fühlte sich an, als würde er ihre Hand
direkt am Handgelenk abhacken.
Annie schrie, drehte sich und trat ihm gegen die Brust. Er
packte einen ihrer nackten Füße, dann den anderen, und zog
sie durch den Sand zu sich heran. Sie trat und schrie und ergriff
noch eine Handvoll Sand. Sie warf sie nach ihm, musste aber
sein Gesicht verfehlt haben, denn er zog immer weiter an ihren
Füßen. Er zerrte sie durch den Sand. Und als sie direkt neben
ihm lag, zischte er: »Das war wirklich schlimm, Annie«, und er
drückte sie in den Sand, er fixierte ihre Arme mit seinem Körper.
»Ich will bloß, dass du ein Teil meiner Familie bist. Das ist
nicht böse. Das ist nicht schlimm. Aber dein Verhalten ist sehr
schlimm. Und schlimmes Verhalten fordert ein Opfer.«
Dann klatschte er ihr etwas Feuchtes auf Nase und Mund,
und sie erkannte den Geruch, denselben süßlichen Duft, den
sie bei ihrer Mutter wahrgenommen hatte, denselben Duft,
den sie eingeatmet hatte, als man ihr die Mandeln entfernt
hatte. Chloroform, oh Gott, nein. Nicht atmen. Bleib ganz ruhig.
Dann glaubt er, du hättest schon genug davon.
Aber irgendwann konnte sie den Atem nicht mehr länger anhalten
und musste einatmen, sie musste Luft in ihre Lungen
saugen, und der Duft erfüllte ihren Mund, ihren Hals, ihre
Lungen. Sie sank hinab in eine weiche, samtige Dunkelheit.
Drei
Patrick Wheaton hob das Mädchen hoch, erfreut darüber, wie
leicht sie war. Ihr langes Haar fiel über seinen Unterarm, eine
dunkle, verworrene Kaskade, und ihr Gesicht sah merkwürdig
friedlich aus. Sie war wirklich ein hübsches kleines Ding, ein
Hingucker, genau wie ihre Mutter.
Er wollte die Locken berühren, die an den Seiten ihres Gesichts
klebten, wollte ihrer Form mit der Spitze seines Zeigefingers
nachfahren ...
Wie Evies Haar im Sommer, wenn die Hitze dafür sorgte,
dass sich ihr blondes Haar lockte. Evie, Evie, bitte bleib ...
Wheaton schüttelte die Erinnerung ab und schaute hinunter
auf die Handschelle, die immer noch um Annies Handgelenk
lag. Sie baumelte an ihrer Hand herunter wie ein Extrafinger.
Bald musste er sie an das Boot fesseln, aber daran wollte
er jetzt noch nicht denken. An die Reise zurück durch den Korridor.
Jede Reise wurde schwieriger und körperlich anstrengender.
Er trug Annie über den Sand auf sein Boot zu, er fand es
schade, dass er sie hatte chloroformieren müssen. Er hatte gehofft,
sie würde bereitwilliger sein, würde die Situation akzeptieren.
Aber vielleicht war gerade dieses Störrische gut für ihr
Überleben nach der Reise durch den Korridor. Er hoffte es.
Von den vier Kindern, die er bislang geholt hatte, hatte nur eines
überlebt.
Wheaton ließ Annie vorsichtig in den Sand gleiten, dann
legte er ihr das Stofftuch auf Nase und Mund, damit sie nicht
aufwachte, und schließlich nahm er das Handy ihrer Mutter
und warf es ins Wasser. »Klingel doch«, murmelte er und überlegte,
ob er dasselbe mit der Kamera tun sollte, entschied sich
dann aber dagegen. Sie hatten keine Fotos von ihm gemacht,
und vielleicht würden die letzten Bilder von Annie, wie sie
Spaß am Strand hatte, Mira und ihrer Großmutter in den vor
ihnen liegenden Tagen wenigstens ein bisschen Trost bieten. Er
war schließlich nicht ganz gefühllos.
Er zog ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche und öffnete
mit seiner Hilfe den Deckel der Kühlbox. Es war nicht mehr
viel übrig, ein paar Äpfel, mehrere Flaschen Wasser, ein Sandwich
in einer Plastiktüte. Er stopfte einen Apfel in eine Tasche
seiner Shorts und trank eine halbe Flasche Wasser. Den Rest
spritzte er sich ins Gesicht, dann drehte er die Flasche in den
Sand und wischte seine Fingerabdrücke ab. Sollten die Bullen
doch sehen, was sie damit anfingen.
Das letzte Licht klammerte sich an den Himmel im Westen
und ließ ihn taubengrau mit gelben Streifen erscheinen. Er
musste los. Er nahm das Mädchen, auf dessen Nase und Mund
noch der Lappen lag, und eilte den Strand entlang zu seinem
Boot. Er war nichts besonderes, sein kleines Gefährt, aber genau
das war der Sinn. Große Boote erregten Aufmerksamkeit.
Der Motor allerdings war leistungsstark und neu und würde
ihn dorthin bringen, wohin er wollte.
Die vielen Monate der Planung hatten sich ausgezahlt, er
hatte, wofür er gekommen war. Monatelang hatte er sie beobachtet,
in der Schule, beim Radfahren, im Buchladen, wie sie
Bücher wegsortierte, Kunden half. Er hatte sie in vielen Verkleidungen
im Auge behalten - als Mann mit dunklem Haar,
grauem Haar, blondem Haar, mit Bart und ohne, mit und
ohne Brille. Er kannte ihren Stundenplan, und da Ferien waren,
wusste er auch, wie sie ihre Freizeit verbrachte. Er hatte herausgefunden,
dass sie nicht viele Freunde hatte, dass sie meist
allein blieb.
Außerdem leistete diese Annie Morales auf ihre Art Widerstand,
sie verzichtete auf die übliche Mode zugunsten von
Shorts oder Jeans, die sie zu Sandalen und Baumwollhemden
trug. Unabhängig. Und obwohl keine dieser Eigenschaften ihr
Überleben sichern würde, verhalfen ihr alle zu einem Vorteil,
den sie brauchen würde, und aufgrund dessen sie seiner Bemühungen
wert war.
Obwohl mehrere Wochen Feinarbeit vor ihm lagen und er
vorsichtig sein musste, war dies ein ausgezeichneter Anfang.
Er legte das Mädchen auf eine Decke, die er auf dem Boden
des Bootes ausgebreitet hatte, und befestigte das andere Ende
der Handschelle an dem Metallgriff an der inneren linken
Bootswand. Wenn sie auf der Fahrt zu sich kam, was wahrscheinlich
war, dann konnte sie mit einer einzelnen freien Hand nicht allzu viel
Schaden anrichten.
Und die Digitalkamera, die Shep ihr letzte Weihnachten geschenkt
hatte, natürlich auch.
Annie lief über den Sand, um Mira die Muscheln zu zeigen,
die sie gesammelt hatte. Ihre Begeisterung über etwas so einfaches
war eine erfreuliche Abwechslung von der Düsternis, die
sie im letzten Jahr befallen zu haben schien. Obwohl sie ein
paar Freunde gefunden hatte, seit sie vor drei Jahren nach
Tango Key gezogen waren, hatte sie keine einzige enge Freundin,
niemanden, den sie jeden Abend anrief, um mit ihm zu
tratschen oder mit dem sie ihre größten Geheimnisse teilen
konnte. Mit dreizehn stellte es ein ziemlich großes Vakuum
dar, wenn es keine beste Freundin gab.
Die paar Male, die Mira versucht hatte, sich auf Annie einzustellen,
konnte sie nicht über die Wellen schierer Einsamkeit
und Isolation hinwegkommen. Vor Jahren hatte Miras Großmutter
Nadine sie davor gewarnt zu versuchen, in jemandem
zu lesen, den sie liebte, denn die Wahrheit würde sie schockieren.
In unserem tiefsten Innersten sind die meisten von uns trotz
allem immer Fremde. Damals hatte Mira die Bemerkung zynisch
gefunden. Jetzt wurde ihr klar, dass Nadine in Wahrheit
gesagt hatte, manche Dinge musste man eben allein durchstehen.
Mira konnte für Annie da sein, sie konnte sie unterstützen
und ihr Rat anbieten, aber sie konnte den Schmerz ihrer Tochter
nicht vertreiben. Sie konnte nicht für sie die Pubertät
durchleben. Und aus all diesen Gründen hatten sie den Tag auf
der kleinen Insel verbracht, wo sie mit ihrer Tochter geschwommen
war und in der Sonne gelegen hatte. Mom, die
Ersatzfreundin.
»Ich habe eine Menge tote Krabben am Strand gesehen,
Mom.« Annie schüttete ihre neuesten Muscheln in eine kleine
Kühlbox. »Glaubst du, das hat etwas mit dem schwarzen Wasser
dort draußen zu tun?«
»Nein. Das Feld liegt achtzig Kilometer vor der Küste.«
Das Feld, von dem Annie sprach, war vor etwa acht Monaten
von einigen Fischern entdeckt worden. Sie beschrieben es
als einen großen Bereich schwarzen Wassers, an dessen Oberfläche
glibberiges Zeug schwamm. Fischer, die seit fünfzig Jahren
das Wasser des Golfs durchpflügten, behaupteten, so etwas
noch nie gesehen zu haben. Obwohl das Feld keine toten Fische
zurückließ - im Gegensatz zur Roten Tide - fand man in
dem schwarzen Wasser allerdings auch keine lebenden Fische.
Zu Beginn hatten Satellitenfotos gezeigt, dass das schwarze
Wasser etwa knapp 2000 Quadratkilometer bedeckte, ungefähr
die Größe des Lake Okeechobee.
Obwohl das Feld sich mittlerweile in mehrere kleinere Abschnitte
geteilt hatte, sorgten sich Umweltschützer über die
Folgen für die Meeresfauna und -flora und das Korallenriff, das
einzige lebende Wallriff der USA. Meeresbiologen aus ganz Florida
hatten seit dem Auftauchen Proben entnommen und eine
Menge Theorien entwickelt. Eine von ihnen bestand darin,
dass das schwarze Wasser auf Umweltverschmutzungseinflüsse
zurückzuführen sei. Andere Theorien schrieben es einer Unterwasserexplosion
von Algen oder Plankton zu, einem Ansteigen
der Meerestemperatur oder des Salzgehalts oder dem nitrogenhaltigen
Abwasser der Zuckerrohrfelder in Südflorida. Aber
bislang hatte niemand genau herausfinden können, was es
wirklich war oder wodurch es verursacht wurde.
»Letzte Woche lag es achtzig Kilometer vor der Küste«, sagte
Annie. »Heute Morgen habe ich in den Nachrichten gehört,
dass sich der größte Teil nur ein paar Kilometer südlich von
hier befindet.«
Wenn Annie mit solcher Klarheit sprach, erinnerte sie Mira
an ihren Vater, dieselbe Leidenschaft in ihren dunklen Augen,
dieselben geweiteten Nasenflügel, das stolze Heben des Kinns.
Sie war ein ungewöhnlich hübsches Mädchen - obwohl Annie
selbst das natürlich nicht glaubte - mit der schönen Haut und
den hohen Wangenknochen ihres kubanischen Vaters. Tom war
an Annies drittem Geburtstag ermordet worden, und in Augenblicken
wie diesem sehnte sich Mira schmerzhaft nach dem Leben,
das Tom, Annie und sie niemals gemeinsam haben würden.
Finde dich damit ab und mach weiter, dachte sie. Es ist zehn
Jahre her.
»Es gibt keine Berichte von toten Fischen in diesen Feldern«,
sagte Mira. »Hey, geh mal auf die andere Seite des Bootes, dann
kann ich noch ein Foto von dir machen, bevor wir fahren.«
»Weißt du, es ist auch in Ordnung, wenn es schon dunkel ist,
wenn wir nach Tango zurückfahren, Mom. Wir werden nicht
gleich kentern und ertrinken.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Aber gedacht.«
Annie grinste frech und sprang über das kleine Boot. Sie
drückte ihre rechte Hüfte heraus, legte eine Hand darauf und
schob mit der anderen ihr langes dunkles Haar von den Schultern.
Mira machte ein paar Fotos. Ihre Tochter machte immer
Witze darüber, dass Miras Angst, sich im Dunkeln auf dem
Wasser zu befinden, vermutlich auf ein anderes Leben zurückzuführen
sei, in dem sie nachts ertrunken war. Mira lachte
meist, wenn sie das sagte, vermutete aber insgeheim, dass An-
nie recht hatte. Eines der Probleme damit, eine übersinnlich
begabte Tochter großzuziehen, bestand darin, dass Annies Fähigkeiten
oft über ihre eigenen hinausgingen.
Seit vielen Generationen waren stets die erstgeborenen Mädchen
der Familie mit seherischen Fähigkeiten zur Welt gekommen.
Mira benannte es selbst selten so, denn es klang so antiquiert.
Aber es war die beste Möglichkeit, eine Intuition zu
beschreiben, die, soweit sie zurückdenken konnte, ein Teil ihres
Lebens gewesen war. Sie hatte den Tod ihres Mannes mehrere
Jahre, bevor er eingetreten war, vorhergesehen. Das Hellsehen
hatte den Mord an Tom nicht verhindern können, aber fünf
Jahre danach hatte sie immerhin auf diese Weise Wayne Sheppard,
damals Polizist in Fort Lauderdale, mit genug Hinweisen
ausstatten können, um den Mörder zu finden. Diese Fähigkeit
war ihr Lebenselixier, ihre Leidenschaft, ihr größter Fluch und
ihr wundervollstes Geschenk. Es war ebenso wichtig für sie wie
ihr eigen Fleisch und Blut. Aber oft, wenn sie ungebeten ir-
gendwelche Eindrücke wahrnahm, wünschte sie, dass ihre innere
Stimme einfach den Mund halten und sie in Ruhe lassen
würde. Im Augenblick zum Beispiel.
Seit einer geraumen Weile war sie sich eines wachsenden unangenehmen
Gefühls knapp unterhalb ihres Brustbeins bewusst,
einer intensiven Hitze, die sich ausbreitete wie geschmolzenes
Wachs. Als sie sich auf das Gefühl konzentrierte, um es
deutlicher wahrzunehmen, vergrößerte sich die Hitze, sie sah
aber keine Bilder. Vielleicht war es bloß Sodbrennen von dem
ganzen Junkfood, das Annie und sie am Strand gegessen hatten.
»Okay, jetzt mache ich mal ein paar Bilder von dir, Mom.«
Sie tauschten die Plätze, und während Annie überlegte, ob
sie sich hinknien und das Foto im Hoch- oder im Querformat
machen sollte, wählte Mira Sheps Handynummer. Sein Handy
war immer an. Es war sein einziges Telefon.
»Agent Sheppard.«
»Hellseherin Morales.«
Er lachte. »Seit ihr zwei auf dem Rückweg?«
»Gleich. Wir machen nur noch ein paar Fotos. Wo bist du?«
»Nadine und ich sitzen in der Küche und trinken Bier. Sie
hat einen Shrimps-Auflauf im Ofen.«
»Wir müssten in weniger als einer Stunde da sein.«
»Hast du Lust, einen Film zu gucken?«
»Aber ich will erst essen. Was schwebt dir so vor?«
»Ein Video bei mir.«
»Klingt gut.«
Eine Nacht allein mit Sheppard klang sogar sehr gut. Vor
zwei Jahren wäre ihr das noch nicht so gegangen. Kurz nach
dem Ende der Ermittlungen, die sie zusammengeführt hatten,
erbte Sheppard Geld von einer Tante, kündigte seinen Job
beim Sheriff 's Department und ging sechs Monate auf Reisen.
Als er zurückkehrte, lebte sie auf Tango Key, und ihre Beziehung
war unregelmäßig, undefiniert und wurde zudem durch
die Entfernung verkompliziert. Er versuchte, sich zu überlegen,
was er als Nächstes im Leben machen wollte, und sie versuchte,
sich zu überlegen, ob er überhaupt Platz in ihrem Leben hatte.
Dann bekam er ein Angebot seines ehemaligen Chefs beim
FBI, für das er fünf Jahre lang gearbeitet hatte, bevor er zum
Broward County Sheriff's Department gegangen war. Sheppard
ging ein zweites Mal zum FBI, zog nach Tango, und seitdem
blühte ihre Beziehung auf.
»Oh, Nadine sagt, du sollst Annie sagen, das Mädchen, das
am Ende der Straße wohnt, hat angerufen«, fuhr Sheppard fort.
»Sie wollte wissen, ob Annie Lust hat, bei ihr zu übernachten.«
»Hey, Annie«, sagte Mira und hielt die Sprechmuschel zu.
»Christina hat angerufen und gefragt, ob du bei ihr übernachten
willst.«
Falls sie gehofft hatte, die Nachricht würde Annie freuen -
falsch geraten. Ihre Tochter zuckte mit den Achseln - mir
egal -, was ihre aktuelle Beziehungslage präzise wiedergab.
»Christina ist eine Nervensäge, Mom.«
»Das heißt wohl Nein.«
»Ich rufe sie an, wenn wir zu Hause sind. Komm jetzt, stell
dich ein bisschen nach links.«
»Ich muss aufhören. Georgia O'Keefe macht ein Foto von
mir. Wir sehen uns bald«, sagte Mira zu Sheppard.
»Hey, sag Annie, sie hat drei Katzen, die sie lieben«, sagte er.
»Ich glaube nicht, dass das ein großer Trost ist, aber ich sage
es ihr. Wir sehen uns bald.«
Sie legte auf, und Annie sagte: »Okay, Hand auf die Hüfte.«
Mira legte die Hand auf die Hüfte, und Annie machte zwei
Aufnahmen.
»Was gibt's zum Abendessen?«
»Shrimps-Auflauf.«
Annie zog die Nase kraus. »Ich hasse Shrimps, Mom.«
»Du kannst Salat und kaltes Hühnchen haben.«
Annie war wählerisch. Sie hasste Shrimps, liebte jedoch
Fisch. Sie hatte noch nie einen Hamburger gegessen oder Limonade
getrunken, konsumierte aber Danone-Kaffeejoghurt
mit der Begeisterung einer echten Koffeinabhängigen.
»Hey, Mom?«, fragte Annie und ließ die Kamera sinken. »Da
kommt ein Mann an den Strand.«
Mira sah sich um, sie hob eine Hand über die Augen, um sie
vor der untergehenden Sonne zu schützen. Der Mann zog ein
kleines Boot auf den Sand und schien damit seine liebe Not zu
haben. Sie konnte sehen, dass einer seiner Arme in einem Gips
steckte. Er beugte sich über den Außenbordmotor und schlug
mit etwas darauf, das Scheppern hallte bis zu ihnen herüber.
»Wenn er Hilfe braucht, wird er schon fragen. Komm, packen
wir unsere Sachen, Schatz. Wir müssen los.«
Sie fing an, ihre Habseligkeiten ins Boot zu laden. Die Sonne
flimmerte und begann, im Golf zu versinken, das Licht loderte
auf der Wasseroberfläche. Eine leichte Brise war aufgekommen,
und in der Luft lag der Duft von Salz und Sand, eine Wüste aus
Wasser. Dicht am Ufer huschte ein Fischschwarm vorbei, eine
glitzernde silbrige Masse, die schnell wieder verschwand. Mira
fiel auf, dass das Scheppern aufgehört hatte, und sie schaute
wieder den Strand entlang. Der Mann trottete über den Sand
und winkte ihr zu.
»Hey, hallo«, rief er. »Mein Motor hat schlappgemacht. Können
Sie mir helfen?«
Mira winkte zurück. Sie wollte nicht länger hierbleiben,
konnte aber auch jemanden, der gestrandet war, ihre Hilfe
nicht verweigern. »Mal sehen, was er braucht.« Sie entfernte
sich von ihrem Boot, um sich auf halbem Weg mit dem Mann
zu treffen.
Das unangenehme Gefühl von vorhin, knapp unter ihrem
Brustbein, kehrte jetzt zurück. Sie presste zwei Finger darauf
und rieb sanft. Das war bestimmt kein Sodbrennen. Dieses Gefühl,
dachte sie, bezog sich auf ihre Angst, im Dunkeln noch auf
dem Wasser zu sein, was jetzt immer wahrscheinlicher wurde.
»Tut mir wirklich leid, Sie zu stören«, sagte der Mann und
deutete mit seinem Gipsarm auf sein Boot. Ein Unterarmgips.
»Der verdammte Motor ist mir vierhundert Meter vor dem
Ufer verreckt, und ich habe weder Werkzeug noch ein Handy.«
»Ich habe ein paar Werkzeuge. Sie können sie gerne benutzen.
«
»Vielen Dank. Die Vorstellung, fünfundzwanzig Kilometer
nach Hause rudern zu müssen, und dann auch noch im Dunkeln,
begeistert mich nicht.«
Sie lächelte. »Ja, ich weiß, wie es Ihnen geht.«
Er sah nicht schlecht aus mit seinem wettergegerbten Gesicht,
das zeigte, dass er viel Zeit im Freien verbrachte, und
Augen in derselben Farbe wie das Wasser in der Dämmerung,
Bleifarben umgeben von einem dunklen Blau. Die Sonne hatte
sein Haar gebleicht, und er fuhr immer wieder mit den Fingern
hindurch, als wollte er das Salz herausbürsten. Er hatte sich einen
Rucksack über die rechte Schulter geworfen.
»Der Motor hat schon Ärger gemacht, als ich angelte. Hat
gestottert. Da hätte ich wohl besser umkehren sollen.«
Sie gingen jetzt auf Annie zu, die neben dem Boot wartete.
»Leben Sie auf Tango?«, fragte sie.
»Key West, und Sie?«
»Tango.«
»Sind Sie einfach hier rausgefahren?«
»Meine Tochter und ich haben einen Tagesausflug gemacht.
«
»Ich heiße Pete«, sagte er.
»Ich bin Mira, das ist Annie.«
»Hey«, sagte Annie. »Mom, du musst mir helfen, diese Kühlbox
ins Boot zu stellen. Die ist zu schwer für mich.«
»Ja, klar. Lass mich bloß das Werkzeug für Pete raussuchen.
Er hat Probleme mit dem Motor.«
Sie öffnete die Klappe der Anglerkiste und zog eine Werkzeugtasche
hervor. »Ich hoffe, es ist etwas dabei, was Ihnen
hilft. Kann ich jemanden für Sie anrufen?«
»Ich hasse es, Freunde zu belästigen.« Er öffnete die Werkzeugtasche
und nickte vor sich hin. »Es ist ganz schön weit
hierher.«
Das unangenehme Gefühl, das sie bislang empfunden hatte,
explodierte jetzt zu einem starken Schmerz, der sie scharf den
Atem einziehen ließ. »Behalten Sie das Werkzeug, Pete. Wir
müssen los und die Fahrt hinter uns bringen, bevor es ganz
dunkel ist. Sind Sie sicher, dass Sie nicht wollen, dass ich jemand
anrufe?«
»Danke, ich bin sicher.«
Dann löste er seinen Blick von dem Werkzeug, und eine
zweite Schmerzexplosion ließ sie beinahe in die Knie gehen. In
einem entsetzlichen Augenblick wurde ihr klar, dass er die Ursache
des Schmerzes war. Sie trat einen Schritt zurück, versuchte
zu lächeln und ihr Entsetzen zu verbergen.
»Viel Glück. Nimm das Tau, Annie. Ich nehme die ...«
Er richtete sich auf, lächelte immer noch, und donnerte ihr
seinen Gips seitlich gegen den Kopf. Schmerz durchfuhr ihre
Knochen, Sterne bildeten sich vor ihren Augen, Blut rauschte
durch ihre Ohren. Sie taumelte zur Seite, sie schüttelte den
Kopf, um wieder klar sehen zu können, der metallische Geschmack
vom Blut erfüllte ihren Mund, und sie kreischte:
»Lauf, Annie, la...«
Der zweite Schlag traf sie am Hinterkopf. Sie hörte den Gips
brechen, hörte Annie schreien. Das Meer rauschte in ihrem
Schädel. Schon als sie vornüberfiel und ihre Arme vorschossen,
um sich abzustützen, wurde ihr schwarz vor Augen. Der Mann
warf sich auf sie, und sie knallte auf den Strand.
Sand drang in ihre Nasenlöcher, in ihren Mund. Sie spuckte
und rollte sich auf den Rücken, zog die Beine an, trat ihn mit
ihren nackten Füßen in den Bauch. Er taumelte, stürzte aber
nicht. Als sie sich wieder aufrichtete, rutschten der Strand, das
Licht, das Wasser, einfach alles, nach rechts. Sie stürzte sich auf
ihn, aber sie war so ungeschickt, so schwach, dass er einfach
nach links auswich und sie vornüberkippte wie eine Betrunkene;
ihr Blickfeld verschwamm im Dunkel.
Dann schlug er sie erneut. Und noch im Fallen wusste sie,
dass sie das Bewusstsein verlieren würde, bevor sie auf den Boden
auftraf.
Zwei
In dem Moment, in dem ihre Mutter rief, dass sie davonlaufen
sollte, hastete Annie auch schon den Strand entlang; der Sand
stob auf und stach in ihre Hacken, die Arme hatte sie eng an ihren
Körper gepresst. Sie schaute nur einmal zurück und sah,
wie ihre Mutter schließlich stürzte, wie sie im Sand landete und
nicht wieder aufstand.
Dann kam der Mann hinter ihr her, seine langen Beine fraßen
den Abstand zwischen ihnen.
Annie bog scharf in Richtung der Bäume ab, ein paar hohe
Pinien und ein Mangrovensumpf. Ihr Entsetzen, so klar und
gewaltig, erfüllte sie wie Helium, und sie rannte um ihr Leben,
Atem und Schluchzen schossen gleichzeitig aus ihrem Mund.
Es war jetzt beinahe dunkel. Wenn sie es zwischen die
Bäume schaffte, würde er sie nie finden. Sie würde verschwinden.
Sie würde notfalls zurück nach Tango schwimmen. Ohne
meine Mom?
Nie.
Oh Gott, oh Gott ... schneller.
Sie zwinkerte Schweiß aus ihren Augen. Ihre Beinmuskeln
fühlten sich angespannt wie Klaviersaiten. Sie fürchtete, das
Tempo nicht mehr lange halten zu können.
Die dunklen Mangroven zeichneten sich vor ihr ab. Ich
schaffe das, ich schaffe, ich schaffe ...
Annie schaute noch einmal zurück. Großer Fehler. Er kam
näher wie der Wind. Sekunden später erreichte sie die Mangroven
und stolperte prompt über etwas, eine hervorstehende
Wurzel, einen Ast, sie konnte nicht genau sagen, was es war,
aber sie verlor ihr Gleichgewicht. Sie stürzte auf Hände und
Knie. Ihre Hände versanken bis zu den Handgelenken im
Matsch - dicker, tiefer Schlamm, verrottende Blätter, totes
Zeug. Der Matsch drückte sich unter ihre Fingernägel, zwischen
ihre Zehen und stank wie verfaulte Eier.
Sie riss ihre Hände heraus, schoss hoch, aber der Schlamm
sog an ihren Füßen, hielt sie gefangen. Voller Angst drehte sie
sich kraftvoll zur Seite, sie griff in der Dunkelheit panisch nach
einem Halt, einem Hebel. Ihre Finger fanden einen Ast, und
sie packte ihn und zog ihren linken Fuß aus dem Matsch, dann
brach der Ast, und sie taumelte nach vorn. Jetzt konnte sie ihn
hören, ein Riese brach durch die Mangroven, er atmete schwer.
Dann stürzte er sich auf sie, seine kräftigen Arme schlangen
sich um sie und zogen sie aus dem Schlamm, als wäre sie bloß
ein Ästchen. Annie schrie, trat, wand sich und biss ihm in den
Handrücken. Sie hielt durch, biss tiefer, schmeckte Blut. Er
gab ein tiefes, entsetzliches Tiergeräusch von sich, und einige
Sekunden lockerte sich sein Griff, sodass sie mit den Ellbogen
nach hinten stoßen konnte. Sie wusste nicht genau, wo sie ihn
getroffen hatte, aber es musste genau die richtige Stelle gewesen
sein, denn plötzlich ließ er sie los.
Annie rannte davon, der Schlamm sog an ihren Füßen, Äste
peitschten ihr Gesicht, ihre Arme, Insekten flitzten ihre Beine
hoch. Sie bog nach links, nach rechts, wieder nach links, sie
versuchte zu einem möglichst schwierigen Ziel zu werden, aber
es war so dunkel, dass sie nichts sehen konnte. Sie lief gegen einen
Baum und taumelte zurück, die gesamte rechte Seite ihres
Gesichts brannte vor Schmerz. Dann packte er sie erneut, und
sie stürzten zur Seite und fielen ins Wasser. Gestank und
Schlamm drangen ihr in die Nase, Panik erfüllte sie.
Er riss sie an den Haaren hoch, packte von hinten ihr Shirt
und trug sie daran aus den Mangroven heraus, wie ein Gepäckstück.
Sie schrie und trat, sie versuchte, sich zu befreien. Er riss
an ihrem Haar, und sie wurde fast ohnmächtig vor Schmerz.
»Pass auf«, sagte er mit eigenartig sanfter, ruhiger Stimme.
»Wenn du dich wehrst, muss ich dir wehtun. Ich will dir nicht
wehtun.«
Sie sagte nichts. Sie hörte auf, sich zu wehren. Er trug sie mit
dem Gesicht nach unten. Davon wurde ihr schwindelig, und
sie schloss die Augen. Er lockerte den Griff in ihrem Haar, und
Augenblicke später erreichten sie den Strand, den trockenen
Sand. Er ließ sie auf ihren Hintern fallen, hielt ihr Haar aber
weiter fest. Wenn sie den Kopf bewegte, wenn sie sich überhaupt
irgendwie rührte, dann würde er ihr eine Handvoll
Haare mitsamt Wurzeln ausreißen, das wusste sie.
Rede mit ihm. Sollte man das nicht in solchen Situationen
tun? Denk nach, Annie, benutz dein blödes Hirn. »Was ... was
wollen Sie?« Du musst mit ihm eine Beziehung eingehen. Dann
fällt es ihm schwerer, dich zu töten.
»Ich möchte, dass du aufstehst und wir den Strand entlanggehen.
« Er legte ihr eine Handschelle um das Handgelenk, das
andere Ende hing an seinem Handgelenk.
Annie bemerkte, dass er den Gips nicht mehr am Arm hatte.
»Ist meine Mutter...«
»Sie lebt.«
»Der Gips war falsch.«
»Ja.«
»Um uns reinzulegen.«
»Damit ich nicht bedrohlich wirke.«
»Ted Bundy hat das so gemacht.«
»Da hast du recht.« Er klang überrascht. »Du bist ein kluges
Mädchen. Ich wette, du hast bloß Einsen in der Schule.«
»Ich bin in der Begabtenförderung.«
»Ich wusste, dass du intelligent bist.«
»Woher zum Teufel sollten Sie das wissen?«
»Fluche nicht.«
Härte in seiner Stimme. Das machte ihr Angst.
»Ich mag es nicht, wenn Kinder fluchen. Das ist die erste Regel.«
Regel? Was sollte das heißen? Bring ihn dazu weiterzureden.
Sie würde ihn weiterreden lassen und auf eine Gelegenheit warten,
ihn in die Eier zu treten. »Okay.« Sie würde ihm genau das
sagen, was er hören wollte. »Woher wissen Sie, ob ich intelli-
gent oder blöd bin?«
»Ich habe dich beobachtet.«
Auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut. Denk nicht darüber
nach. Aber schon während sie das dachte, durchzuckte es sie.
Wann hatte er sie beobachtet? Wann? Als sie zur Schule ging,
nach Hause kam? Finde alles raus, was du kannst.
Er zog eine Taschenlampe aus seiner hinteren Hosentasche
und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl erreichte ihre Mutter, die
immer noch im Sand lag. Sie sah aus, als schliefe sie. Annie
konnte kaum sprechen, weil sie einen Kloß im Hals hatte. »Atmet
... atmet sie?«
»Natürlich. Berühre ihren Hals seitlich. Dann kannst du ihren
Puls fühlen.«
Er schien zu begreifen, wie wichtig das für sie war; er ging in
die Hocke, damit sie sich hinkauern konnte. Sie hielt zwei Finger
an den Hals ihrer Mutter, an die Halsschlagader, und spürte
den starken, regelmäßigen Puls. Sie spürte auch die Wärme der
Haut ihrer Mutter und inhalierte ihren Duft, eine Mischung
aus Salz, Sonnenbrand, Schweiß und etwas anderem, etwas
Angenehmem, beinahe Süßem, das sie nicht benennen konnte.
»Mami«, flüsterte sie.
»Nein, sie muss schlafen.«
Er erhob sich eilig, und die Handschelle schnitt in ihr Handgelenk
und zwang sie ebenfalls auf die Beine. »Bitte«, flüsterte
sie und begann zu weinen, sie drückte ihre Knöchel fest auf
ihre Augen. »Bitte lassen Sie mich hier bei meiner Mom bleiben.
« Sie nahm die Hände von ihren Augen. »Ich ... ich verspreche
auch, nichts zu erzählen. Ich ... ich verspreche ...«
»Das geht leider nicht. Komm jetzt, gehen wir zu meinem
Boot.«
Er begann schnell den Strand entlangzugehen und zwang
sie, mit ihm Schritt zu halten. Sie taumelte, ging zu Boden,
griff sich eine Handvoll Sand. In dem Moment, in dem er sie
wieder in den Stand riss, warf sie ihm den Sand ins Gesicht und
trat ihm zwischen die Beine. Er kreischte, diesmal war es ein
anderes Tiergeräusch, ein erschreckender Laut, und krümmte
sich. Er rang nach Atem und wischte sich panisch die Augen.
Er sackte auf den Knien in den Sand, und Annie versuchte verzweifelt,
die Taschenlampe zu erreichen, die er fallen gelassen
hatte. Damit könnte sie ihn ohnmächtig schlagen, dann würde
sie den Schlüssel der Handschellen suchen.
Aber die Handschellen schnitten in die weiche Unterseite ihres
Handgelenks, und der Mann - Peter, er hieß Peter -
kreischte jetzt nicht mehr. Er stöhnte noch, kreischte aber nicht
mehr. Sie reckte sich, ihre Finger hatten die Taschenlampe beinahe
erreicht, konnten sie fast berühren, da riss der Mann an
der Handschelle, und es fühlte sich an, als würde er ihre Hand
direkt am Handgelenk abhacken.
Annie schrie, drehte sich und trat ihm gegen die Brust. Er
packte einen ihrer nackten Füße, dann den anderen, und zog
sie durch den Sand zu sich heran. Sie trat und schrie und ergriff
noch eine Handvoll Sand. Sie warf sie nach ihm, musste aber
sein Gesicht verfehlt haben, denn er zog immer weiter an ihren
Füßen. Er zerrte sie durch den Sand. Und als sie direkt neben
ihm lag, zischte er: »Das war wirklich schlimm, Annie«, und er
drückte sie in den Sand, er fixierte ihre Arme mit seinem Körper.
»Ich will bloß, dass du ein Teil meiner Familie bist. Das ist
nicht böse. Das ist nicht schlimm. Aber dein Verhalten ist sehr
schlimm. Und schlimmes Verhalten fordert ein Opfer.«
Dann klatschte er ihr etwas Feuchtes auf Nase und Mund,
und sie erkannte den Geruch, denselben süßlichen Duft, den
sie bei ihrer Mutter wahrgenommen hatte, denselben Duft,
den sie eingeatmet hatte, als man ihr die Mandeln entfernt
hatte. Chloroform, oh Gott, nein. Nicht atmen. Bleib ganz ruhig.
Dann glaubt er, du hättest schon genug davon.
Aber irgendwann konnte sie den Atem nicht mehr länger anhalten
und musste einatmen, sie musste Luft in ihre Lungen
saugen, und der Duft erfüllte ihren Mund, ihren Hals, ihre
Lungen. Sie sank hinab in eine weiche, samtige Dunkelheit.
Drei
Patrick Wheaton hob das Mädchen hoch, erfreut darüber, wie
leicht sie war. Ihr langes Haar fiel über seinen Unterarm, eine
dunkle, verworrene Kaskade, und ihr Gesicht sah merkwürdig
friedlich aus. Sie war wirklich ein hübsches kleines Ding, ein
Hingucker, genau wie ihre Mutter.
Er wollte die Locken berühren, die an den Seiten ihres Gesichts
klebten, wollte ihrer Form mit der Spitze seines Zeigefingers
nachfahren ...
Wie Evies Haar im Sommer, wenn die Hitze dafür sorgte,
dass sich ihr blondes Haar lockte. Evie, Evie, bitte bleib ...
Wheaton schüttelte die Erinnerung ab und schaute hinunter
auf die Handschelle, die immer noch um Annies Handgelenk
lag. Sie baumelte an ihrer Hand herunter wie ein Extrafinger.
Bald musste er sie an das Boot fesseln, aber daran wollte
er jetzt noch nicht denken. An die Reise zurück durch den Korridor.
Jede Reise wurde schwieriger und körperlich anstrengender.
Er trug Annie über den Sand auf sein Boot zu, er fand es
schade, dass er sie hatte chloroformieren müssen. Er hatte gehofft,
sie würde bereitwilliger sein, würde die Situation akzeptieren.
Aber vielleicht war gerade dieses Störrische gut für ihr
Überleben nach der Reise durch den Korridor. Er hoffte es.
Von den vier Kindern, die er bislang geholt hatte, hatte nur eines
überlebt.
Wheaton ließ Annie vorsichtig in den Sand gleiten, dann
legte er ihr das Stofftuch auf Nase und Mund, damit sie nicht
aufwachte, und schließlich nahm er das Handy ihrer Mutter
und warf es ins Wasser. »Klingel doch«, murmelte er und überlegte,
ob er dasselbe mit der Kamera tun sollte, entschied sich
dann aber dagegen. Sie hatten keine Fotos von ihm gemacht,
und vielleicht würden die letzten Bilder von Annie, wie sie
Spaß am Strand hatte, Mira und ihrer Großmutter in den vor
ihnen liegenden Tagen wenigstens ein bisschen Trost bieten. Er
war schließlich nicht ganz gefühllos.
Er zog ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche und öffnete
mit seiner Hilfe den Deckel der Kühlbox. Es war nicht mehr
viel übrig, ein paar Äpfel, mehrere Flaschen Wasser, ein Sandwich
in einer Plastiktüte. Er stopfte einen Apfel in eine Tasche
seiner Shorts und trank eine halbe Flasche Wasser. Den Rest
spritzte er sich ins Gesicht, dann drehte er die Flasche in den
Sand und wischte seine Fingerabdrücke ab. Sollten die Bullen
doch sehen, was sie damit anfingen.
Das letzte Licht klammerte sich an den Himmel im Westen
und ließ ihn taubengrau mit gelben Streifen erscheinen. Er
musste los. Er nahm das Mädchen, auf dessen Nase und Mund
noch der Lappen lag, und eilte den Strand entlang zu seinem
Boot. Er war nichts besonderes, sein kleines Gefährt, aber genau
das war der Sinn. Große Boote erregten Aufmerksamkeit.
Der Motor allerdings war leistungsstark und neu und würde
ihn dorthin bringen, wohin er wollte.
Die vielen Monate der Planung hatten sich ausgezahlt, er
hatte, wofür er gekommen war. Monatelang hatte er sie beobachtet,
in der Schule, beim Radfahren, im Buchladen, wie sie
Bücher wegsortierte, Kunden half. Er hatte sie in vielen Verkleidungen
im Auge behalten - als Mann mit dunklem Haar,
grauem Haar, blondem Haar, mit Bart und ohne, mit und
ohne Brille. Er kannte ihren Stundenplan, und da Ferien waren,
wusste er auch, wie sie ihre Freizeit verbrachte. Er hatte herausgefunden,
dass sie nicht viele Freunde hatte, dass sie meist
allein blieb.
Außerdem leistete diese Annie Morales auf ihre Art Widerstand,
sie verzichtete auf die übliche Mode zugunsten von
Shorts oder Jeans, die sie zu Sandalen und Baumwollhemden
trug. Unabhängig. Und obwohl keine dieser Eigenschaften ihr
Überleben sichern würde, verhalfen ihr alle zu einem Vorteil,
den sie brauchen würde, und aufgrund dessen sie seiner Bemühungen
wert war.
Obwohl mehrere Wochen Feinarbeit vor ihm lagen und er
vorsichtig sein musste, war dies ein ausgezeichneter Anfang.
Er legte das Mädchen auf eine Decke, die er auf dem Boden
des Bootes ausgebreitet hatte, und befestigte das andere Ende
der Handschelle an dem Metallgriff an der inneren linken
Bootswand. Wenn sie auf der Fahrt zu sich kam, was wahrscheinlich
war, dann konnte sie mit einer einzelnen freien Hand nicht allzu viel
Schaden anrichten.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: T. J. MacGregor
- 2013, 325 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 3863656962
- ISBN-13: 9783863656966
- Erscheinungsdatum: 01.03.2013
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 8.17 MB
- Ohne Kopierschutz
- Vorlesefunktion
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