Ficken sag ich selten / Ullstein eBooks (ePub)
Mein Leben mit Tourette
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Ficken sag ich selten - Mein Leben mit Tourette von Olaf BlumbergKAPITEL 1 Die erste Welle
Der Tag, an dem mein bisheriges Leben zu Ende ging, war ein wunderschöner Sonntag im Spätsommer. Als ich an jenem Morgen aufwachte und einen Blick aus dem Fenster warf, war ich froh, dass ich am Vorabend gegen das unausgesprochene Studentengesetz verstoßen hatte und nicht mit den anderen feiern gewesen war. Der Himmel war mit Schönwetterwolken durchwirkt, stellenweise azurblau, und das Licht war angenehm mild. Perfektes Joggingwetter. Gut gelaunt schwang ich mich aus den Federn. Training war angesagt. Immerhin studierte ich an der Uni Bochum neben Germanistik auch Sport. Da gehörte eine gewisse Fitness einfach dazu.
Geschwind suchte ich die Laufklamotten zusammen, was in meinem Zehn-Quadratmeter-Zimmer nicht allzu lange dauerte. Als ich im Trainingsanzug steckte, trat ich in den Gang des Ghettohauses, wie das Studentenwohnheim von allen genannt wurde. Während mein Zimmer hell und lichtdurchflutet war, weil es im vierten Stock lag, wirkten weite Teile des Gebäudes eher wie eine heruntergekommene Bahnhofsabsteige. Dunkel, hässlich und verlottert. Ich betrat den zerbeulten Lift, in dem es wie immer nach Urin roch, und schickte ihn abwärts. Als ich ins Freie trat, dröhnte mir Verkehrslärm entgegen. Das Studentenwohnheim, ein Plattenbau aus den Siebzigern mit blätternder Fassade, liegt direkt an einer Bundesstraße. Ich musste mit der Straßenbahn bis zur Endhaltestelle fahren, um in eine Gegend mit ansehnlichen Straßenzügen und Parks zu gelangen, die sonntags morgens leer und somit gut zum Joggen geeignet waren.
Als ich aus der Tram ausstieg, versetzte ich mich in ein gemächliches Lauftempo. Langsam anfangen, langsam steigern. Alles cool. Dann geschah es.
... mehr
Plötzlich bemerkte ich ein Kribbeln irgendwo in der Mitte meines Körpers. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde jemand mit dem Finger den Musikantenknochen rubbeln, wie eine Art Niesreiz - allerdings nicht in der Nase, sondern im Bereich des Sonnengeflechts. Ziemlich unangenehm. Und sehr fremdartig. Ich ignorierte das Kribbeln und lief weiter. Doch es wurde immer stärker. Als ob ich einen Mückenschwarm verschluckt hätte, der nun abrupt zum Leben erwachte.
Ich hatte dieses Kribbeln in mir durchaus schon öfter wahrgenommen und als beunruhigend empfunden - meistens dann, wenn ich alleine war und meine Wahrnehmung ganz auf meinen Körper oder meine Atmung richtete. Aber es war nie auch nur annähernd so heftig gewesen wie jetzt. Ich bekam Angst.
Als ich zu einem Zwischenspurt ansetzte und mein Puls beschleunigte, wurde der Druck mit einem Mal so stark, dass ich einen bellartigen Laut ausstieß. Einfach so. Ohne nachzudenken. Es passierte ganz unwillkürlich. Erst dachte ich, ich hätte mich verhört. Doch dann geschah es noch einmal. Lauter als beim ersten Mal. Und dann wieder. Noch lauter. Dieses Bellgeräusch war mein erster ernstzunehmender vokaler Tic und ist mir bis heute treu geblieben. Irgendwie habe ich ihn inzwischen liebgewonnen.
Als ich mir jedoch an diesem schönen Morgen dabei zuhörte, wie ich in aller Öffentlichkeit zu kläffen anfing wie ein tollwütiger Terrier, dachte ich, ich drehe durch. Ich fühlte Panik in mir aufsteigen und zwang mich, ruhig und gleichmäßig weiterzulaufen. Doch das Kribbeln ließ nicht nach, im Gegenteil, es wurde immer stärker. Bald bellte und schrie ich so laut in den Straßen des Bochumer Außenbezirks herum, dass es von den Häuserwänden widerhallte. Ich gab Geräusche von mir wie ein Urviech oder wie ein Pferd, dem die Haut abgezogen wird. So laut, so erschreckend, so über die Maßen befremdlich, als hätte eine unbekannte Macht Besitz von mir ergriffen.
Fenster öffneten sich, verschlafene Gesichter blickten auf mich herab. Das Bellen und die Schreie, die sich wie Gewehrsalven aus mir entluden, unterbrachen meinen Atemrhythmus, und ich bekam Seitenstechen. Doch ich konnte nicht stehen bleiben. Ich war vollkommen panisch, wollte mich verstecken, unter den nächsten Busch kriechen, aber da war kein Versteck, also rannte ich immer weiter, fort von den Häusern und den Gesichtern.
Als ich schließlich eine kleine, von hohen Hecken umgebene Parkanlage erreichte, hielt ich an, setzte mich auf eine Bank und versuchte, mich zu beruhigen. Nach einer Weile ging mein Puls nach unten, und es gelang mir, mich ein wenig zu entspannen. Auch das Kribbeln ließ nach und mit ihm der Drang, Tierlaute zu produzieren.
Was sollte ich tun? Ich hatte keinen blassen Schimmer, was gerade mit mir passierte, alles, was ich wusste, war: Ich musste dringend an einen Ort, an dem mich niemand sehen und hören konnte, wenn es wieder losging. Ansonsten würde ich schneller in der Klapsmühle landen, als ich bis drei zählen konnte, denn anscheinend war ich gerade dabei, verrückt zu werden. Zumindest war ich in diesem Moment felsenfest davon überzeugt.
Meine übliche Route verlief ungefähr kreisförmig und endete an derselben Tramstation, von der ich gestartet war. Ich schätzte, dass ich ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Es half also nichts, irgendwie musste ich auch die zweite Hälfte hinter mich bringen.
Ich stand auf und trabte weiter. Der Rückweg zur Haltestelle glich einem Spießrutenlauf. Sobald meine Pulsfrequenz auch nur minimal anstieg, nahm auch das Kribbeln wieder zu, und ich bellte, was das Zeug hielt. Dazu kamen nun auch Zuckungen im Gesicht. Zum Glück waren nach wie vor nur wenige Menschen unterwegs. Jene jedoch, die meinen Weg kreuzten, starrten mich an, als wäre ich ein Mitglied der Addams-Family, und machten einen großen Bogen um mich. Zwar war das Bellen höchstens halb so laut wie meine vokalen Tics heute, dennoch war ich mir sicher, aufzufallen wie ein Junkie mit Spritze im Arm auf einem Anti-Drogen-Kongress. Alle paar Sekunden vergewisserte ich mich, ob ich bereits von der Polizei, von Männern in weißen Kitteln oder einem wütenden Mob verfolgt wurde. Als ich schließlich vollkommen erschöpft an der Haltestelle ankam, war ich mit den Nerven am Ende. Was mir vor zwei Stunden noch wie ein schöner, milder Sonntag erschienen war, hatte sich in einen Horrorfilm mit mir in der Hauptrolle verwandelt.
Es ist eine Sache, mit dem Tourette-Syndrom seit Jahren zu leben, die Krankheit zu akzeptieren, sich auf sie einzustellen und sich halbwegs selbstbewusst durch die Gegend zu bewegen. So, wie ich es heute tue. Es ist aber eine ganz andere Sache, den Namen Tourette noch nie gehört zu haben, bellend durch die Gegend zu joggen und zu denken, man wäre von Dämonen besessen. Und genau das dachte ich damals, als es mit Tourette so richtig losging und ich den ersten Schub erlebte. Ich dachte, böse Geister hätten von mir Besitz ergriffen, und erwog zwischendurch ernsthaft, zu einem Exorzisten in die Sprechstunde zu gehen.
Mir fehlte jede vernünftige Erklärung für die fremde Kraft in meinem Innern, die plötzlich zum Leben erwacht war, die Kontrolle über meinen Körper übernahm und mir das Gefühl gab, als würde ein Tsunami über mich hinwegrollen und mich mit sich fortreißen.
Ich muss dazu sagen, dass ich auf eine Art immer schon »geticct« habe, auch wenn in meiner Kindheit nie jemand auf den Gedanken gekommen ist, mein etwas auffälliges Verhalten als Krankheit aufzufassen. Zudem waren meine Tics damals sehr dezent, zumindest im Vergleich zu heute. Sie waren auch vorwiegend motorischer Natur, drückten sich also zum Beispiel in übertriebenem Nasehochziehen oder Augenzwinkern aus, nur selten in Form von Lauten. Die Dämonen jedoch, mit denen ich es nun zu tun bekam, betrafen plötzlich auch massiv meine Stimme und große Teile meines Körpers.
In den Tagen nach dem ersten Anfall setzte ich alles daran, niemanden merken zu lassen, dass etwas mit mir nicht stimmte, und entwickelte eine erstaunliche Kreativität dabei, meine Tics zu kaschieren. Ich bellte oder schrie zum Beispiel immer nur dann, wenn die Straßenbahn einfuhr und das Quietschen der Bremsen meine Geräusche übertönen konnte. Wenn mein Kopf zucken wollte, sah ich mich am Straßenrand ruckartig nach links und rechts um, so dass die Leute glauben mussten, ich hielte Ausschau nach herannahenden Autos. So zu tun, als würde ich laut lachen, während ich das Handy an mein Ohr drückte, obwohl gar keiner dran war, funktionierte auch ganz gut. Diese Form der Tic-Kontrolle war zwar ziemlich anstrengend, aber immerhin erlaubte sie es mir am Anfang, meinen gewohnten Alltag bis zu einem gewissen Grad beizubehalten.
Ich ging weiterhin zu Seminaren und Vorlesungen an die Uni, zumindest zu solchen mit Anwesenheitspflicht. Da mein Lehramtsstudium ziemlich straff durchgetaktet war, konnte ich es mir nicht erlauben, einfach nicht mehr aufzutauchen. Also gab ich mein Bestes, den Anschein des fleißigen Studenten aufrechtzuerhalten. Von den Lehrinhalten bekam ich allerdings kaum noch etwas mit, da meine ganze Konzentration nach innen gerichtet war, um die kleinen Teufel in mir im Zaum zu halten und ja nicht vor meinen Kommilitonen zu ticcen.
Natürlich ging das nicht lange gut. Denn die Dämonen hatten sich anscheinend vorgenommen, mein Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Und sie hatten ganz offensichtlich etwas dagegen, dass ich meine Zeit mit Dingen verbrachte, bei denen kein Platz für sie war. So beschlossen sie eines Tages, ihrem Begehr ein wenig mehr Nachdruck zu verleihen.
Der Tag begann wie immer. Mein Radiowecker weckte mich mit nervtötendem Gedudel, ich schaltete ihn wieder ab. Als ich das nächste Mal wach wurde, war ich spät dran, sprang nur kurz unter die Dusche und schlang meine Kellogg's hinunter, bevor ich durch ein kleines, vermülltes Wäldchen Richtung Uni trabte.
Die Ruhr-Uni in Bochum, dieser Stadt mit dem ganz eigenen Industrieromantik-Flair, ist ein Sammelsurium riesiger Betonklötze, die innen genauso verlottert aussehen, wie man von außen vermuten würde. Mit seinen fast vierzigtausend Studenten kam mir der Campus manchmal vor wie eine kleine Stadt. Es gibt sogar ein richtiges Einkaufszentrum.
Vor den geisteswissenschaftlichen Gebäuden befanden sich immerhin ein paar Grünflächen. Bis vor kurzem hatte ich mich hier immer mit meinen Kommilitonen getroffen, um gemeinsam in den Tag zu starten. Inzwischen ging ich Menschen und Gesprächen allerdings zunehmend aus dem Weg. Hielt ich mich in der Öffentlichkeit auf, waren die Dämonen und der Tic-Drang nämlich viel stärker, als wenn ich mich allein in meinem Zimmer befand. Und die Vorstellung, vor anderen wie ein Hund zu bellen oder in wilde Zuckungen zu verfallen, erschien mir so peinlich und bedrohlich, dass ich es vorzog, nicht unbedingt notwendige Begegnungen mit meinen Mitmenschen möglichst zu vermeiden.
Also machte ich einen großen Bogen um die Grüppchen auf dem Rasen und folgte den Strebern, die lange vor Beginn des Seminars die Plätze in den vordersten Reihen besetzten, in das Labyrinth aus Gängen, Treppen und Fluren.
In dem schmuck- und fensterlosen Seminarraum angekommen, suchte ich mir einen Platz in der hintersten Reihe, möglichst außerhalb des Sichtfeldes der Dozentin. Das Seminar in meinem Hauptfach Germanistik beschäftigte sich mit dem IPA, dem Internationalen Phonetischen Alphabet. Alleiniger Inhalt war, Wörter in Lautschrift und Lautschrift in Wörter zu transkribieren. Gott alleine weiß, was das mit dem Beruf des Deutschlehrers zu tun hat, den ich damals noch anstrebte. Zugegeben, als die Teilnahme an der Veranstaltung für mich noch nicht bedeutete, neunzig Minuten angespannt dazusitzen und zu versuchen, das innere Feuer unter Kontrolle zu halten, hatte ich dem Ganzen hin und wieder auch etwas abgewinnen können. Nun jedoch wollte ich einfach nur meine Unterschrift auf die Anwesenheitsliste setzen, das Seminar irgendwie überstehen, ohne aufzufallen, und mich schleunigst wieder vom Acker machen.
Nach und nach füllte sich der Seminarraum, und es wurde eng, laut und stickig. Ich spürte, wie es in meinem Sonnengeflecht zu kribbeln begann, doch ich riss mich zusammen und atmete tief ein und aus. Schließlich betrat die Dozentin den Raum, begrüßte uns kurz und bat uns, den Text herauszuholen, den es zu transkribieren galt. Dann fing sie an, fremde Glyphen, sogenannte Lautbuchstaben, an die Tafel zu kritzeln.
Ich hatte den fraglichen Text nicht dabei, geschweige denn etwas zu schreiben. Meine ganze Aufmerksamkeit galt in diesen Tagen schließlich dem Ziel, meine Teufelchen in Schach zu halten. Rings um mich herum hingegen beugten sich die Studenten über ihre Pulte und pinselten die seltsamen Zeichen von der Tafel ab. Konzentrierte Stille senkte sich über den Raum.
Das war nicht gut. Gar nicht gut. Wenn es etwas gibt, was Tourette-Dämonen so richtig anstachelt, dann ist es Ruhe, die es auf keinen Fall zu stören gilt.
Ich räusperte mich, dann schniefte ich, dann räusperte ich mich wieder. An sich unauffällig. Allerdings nicht, wenn man es in einer Tour wiederholt und dazu auch noch irgendwann anfängt zu schnaufen wie ein Mops im Hochsommer. Nach einiger Zeit beugte sich eine Kommilitonin zu mir herüber und fragte mich flüsternd, ob ich ein Taschentuch bräuchte. Was sie meinte, war: »Kannst du mal bitte mit diesen nervtötenden Schnaufgeräuschen aufhören?«
Ich sagte: »Ja, danke.« Was auch sonst? Hätte ich ihr gesagt, was mir wirklich durch den Kopf ging, hätte das ungefähr so geklungen: »Hör mal, Baby, ich weiß selber nicht, was auf einmal mit mir los ist. Irgendwas zwingt mich dazu, Geräusche wie ein Industriestaubsauger zu machen. Und wenn so eine Schnepfe wie du mich auch noch darauf aufmerksam macht, dann wird es höchstens schlimmer!«
Ich nahm das Taschentuch entgegen, schneuzte mich brav und verstummte. Kurze Zeit später ging das Geschnaufe wieder los. Die Studentin war nun sichtlich genervt und zischte: »Kannst du bitte mit dieser Scheiße aufhören? Das stört mich, und dieser Stoff ist prüfungsrelevant!«
Mein erster Impuls war, ihr den Becher Kaffee ins Gesicht zu schütten, der vor ihr auf ihrem Pult stand. Dann überlegte ich, auf die Toilette zu gehen, um wenigstens einen Moment Ruhe zu haben. Schließlich entschuldigte ich mich und nuschelte etwas von wegen Pollenallergie. Sie seufzte und wandte sich ab.
Copyright © Ullstein Verlag.
Plötzlich bemerkte ich ein Kribbeln irgendwo in der Mitte meines Körpers. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde jemand mit dem Finger den Musikantenknochen rubbeln, wie eine Art Niesreiz - allerdings nicht in der Nase, sondern im Bereich des Sonnengeflechts. Ziemlich unangenehm. Und sehr fremdartig. Ich ignorierte das Kribbeln und lief weiter. Doch es wurde immer stärker. Als ob ich einen Mückenschwarm verschluckt hätte, der nun abrupt zum Leben erwachte.
Ich hatte dieses Kribbeln in mir durchaus schon öfter wahrgenommen und als beunruhigend empfunden - meistens dann, wenn ich alleine war und meine Wahrnehmung ganz auf meinen Körper oder meine Atmung richtete. Aber es war nie auch nur annähernd so heftig gewesen wie jetzt. Ich bekam Angst.
Als ich zu einem Zwischenspurt ansetzte und mein Puls beschleunigte, wurde der Druck mit einem Mal so stark, dass ich einen bellartigen Laut ausstieß. Einfach so. Ohne nachzudenken. Es passierte ganz unwillkürlich. Erst dachte ich, ich hätte mich verhört. Doch dann geschah es noch einmal. Lauter als beim ersten Mal. Und dann wieder. Noch lauter. Dieses Bellgeräusch war mein erster ernstzunehmender vokaler Tic und ist mir bis heute treu geblieben. Irgendwie habe ich ihn inzwischen liebgewonnen.
Als ich mir jedoch an diesem schönen Morgen dabei zuhörte, wie ich in aller Öffentlichkeit zu kläffen anfing wie ein tollwütiger Terrier, dachte ich, ich drehe durch. Ich fühlte Panik in mir aufsteigen und zwang mich, ruhig und gleichmäßig weiterzulaufen. Doch das Kribbeln ließ nicht nach, im Gegenteil, es wurde immer stärker. Bald bellte und schrie ich so laut in den Straßen des Bochumer Außenbezirks herum, dass es von den Häuserwänden widerhallte. Ich gab Geräusche von mir wie ein Urviech oder wie ein Pferd, dem die Haut abgezogen wird. So laut, so erschreckend, so über die Maßen befremdlich, als hätte eine unbekannte Macht Besitz von mir ergriffen.
Fenster öffneten sich, verschlafene Gesichter blickten auf mich herab. Das Bellen und die Schreie, die sich wie Gewehrsalven aus mir entluden, unterbrachen meinen Atemrhythmus, und ich bekam Seitenstechen. Doch ich konnte nicht stehen bleiben. Ich war vollkommen panisch, wollte mich verstecken, unter den nächsten Busch kriechen, aber da war kein Versteck, also rannte ich immer weiter, fort von den Häusern und den Gesichtern.
Als ich schließlich eine kleine, von hohen Hecken umgebene Parkanlage erreichte, hielt ich an, setzte mich auf eine Bank und versuchte, mich zu beruhigen. Nach einer Weile ging mein Puls nach unten, und es gelang mir, mich ein wenig zu entspannen. Auch das Kribbeln ließ nach und mit ihm der Drang, Tierlaute zu produzieren.
Was sollte ich tun? Ich hatte keinen blassen Schimmer, was gerade mit mir passierte, alles, was ich wusste, war: Ich musste dringend an einen Ort, an dem mich niemand sehen und hören konnte, wenn es wieder losging. Ansonsten würde ich schneller in der Klapsmühle landen, als ich bis drei zählen konnte, denn anscheinend war ich gerade dabei, verrückt zu werden. Zumindest war ich in diesem Moment felsenfest davon überzeugt.
Meine übliche Route verlief ungefähr kreisförmig und endete an derselben Tramstation, von der ich gestartet war. Ich schätzte, dass ich ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Es half also nichts, irgendwie musste ich auch die zweite Hälfte hinter mich bringen.
Ich stand auf und trabte weiter. Der Rückweg zur Haltestelle glich einem Spießrutenlauf. Sobald meine Pulsfrequenz auch nur minimal anstieg, nahm auch das Kribbeln wieder zu, und ich bellte, was das Zeug hielt. Dazu kamen nun auch Zuckungen im Gesicht. Zum Glück waren nach wie vor nur wenige Menschen unterwegs. Jene jedoch, die meinen Weg kreuzten, starrten mich an, als wäre ich ein Mitglied der Addams-Family, und machten einen großen Bogen um mich. Zwar war das Bellen höchstens halb so laut wie meine vokalen Tics heute, dennoch war ich mir sicher, aufzufallen wie ein Junkie mit Spritze im Arm auf einem Anti-Drogen-Kongress. Alle paar Sekunden vergewisserte ich mich, ob ich bereits von der Polizei, von Männern in weißen Kitteln oder einem wütenden Mob verfolgt wurde. Als ich schließlich vollkommen erschöpft an der Haltestelle ankam, war ich mit den Nerven am Ende. Was mir vor zwei Stunden noch wie ein schöner, milder Sonntag erschienen war, hatte sich in einen Horrorfilm mit mir in der Hauptrolle verwandelt.
Es ist eine Sache, mit dem Tourette-Syndrom seit Jahren zu leben, die Krankheit zu akzeptieren, sich auf sie einzustellen und sich halbwegs selbstbewusst durch die Gegend zu bewegen. So, wie ich es heute tue. Es ist aber eine ganz andere Sache, den Namen Tourette noch nie gehört zu haben, bellend durch die Gegend zu joggen und zu denken, man wäre von Dämonen besessen. Und genau das dachte ich damals, als es mit Tourette so richtig losging und ich den ersten Schub erlebte. Ich dachte, böse Geister hätten von mir Besitz ergriffen, und erwog zwischendurch ernsthaft, zu einem Exorzisten in die Sprechstunde zu gehen.
Mir fehlte jede vernünftige Erklärung für die fremde Kraft in meinem Innern, die plötzlich zum Leben erwacht war, die Kontrolle über meinen Körper übernahm und mir das Gefühl gab, als würde ein Tsunami über mich hinwegrollen und mich mit sich fortreißen.
Ich muss dazu sagen, dass ich auf eine Art immer schon »geticct« habe, auch wenn in meiner Kindheit nie jemand auf den Gedanken gekommen ist, mein etwas auffälliges Verhalten als Krankheit aufzufassen. Zudem waren meine Tics damals sehr dezent, zumindest im Vergleich zu heute. Sie waren auch vorwiegend motorischer Natur, drückten sich also zum Beispiel in übertriebenem Nasehochziehen oder Augenzwinkern aus, nur selten in Form von Lauten. Die Dämonen jedoch, mit denen ich es nun zu tun bekam, betrafen plötzlich auch massiv meine Stimme und große Teile meines Körpers.
In den Tagen nach dem ersten Anfall setzte ich alles daran, niemanden merken zu lassen, dass etwas mit mir nicht stimmte, und entwickelte eine erstaunliche Kreativität dabei, meine Tics zu kaschieren. Ich bellte oder schrie zum Beispiel immer nur dann, wenn die Straßenbahn einfuhr und das Quietschen der Bremsen meine Geräusche übertönen konnte. Wenn mein Kopf zucken wollte, sah ich mich am Straßenrand ruckartig nach links und rechts um, so dass die Leute glauben mussten, ich hielte Ausschau nach herannahenden Autos. So zu tun, als würde ich laut lachen, während ich das Handy an mein Ohr drückte, obwohl gar keiner dran war, funktionierte auch ganz gut. Diese Form der Tic-Kontrolle war zwar ziemlich anstrengend, aber immerhin erlaubte sie es mir am Anfang, meinen gewohnten Alltag bis zu einem gewissen Grad beizubehalten.
Ich ging weiterhin zu Seminaren und Vorlesungen an die Uni, zumindest zu solchen mit Anwesenheitspflicht. Da mein Lehramtsstudium ziemlich straff durchgetaktet war, konnte ich es mir nicht erlauben, einfach nicht mehr aufzutauchen. Also gab ich mein Bestes, den Anschein des fleißigen Studenten aufrechtzuerhalten. Von den Lehrinhalten bekam ich allerdings kaum noch etwas mit, da meine ganze Konzentration nach innen gerichtet war, um die kleinen Teufel in mir im Zaum zu halten und ja nicht vor meinen Kommilitonen zu ticcen.
Natürlich ging das nicht lange gut. Denn die Dämonen hatten sich anscheinend vorgenommen, mein Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Und sie hatten ganz offensichtlich etwas dagegen, dass ich meine Zeit mit Dingen verbrachte, bei denen kein Platz für sie war. So beschlossen sie eines Tages, ihrem Begehr ein wenig mehr Nachdruck zu verleihen.
Der Tag begann wie immer. Mein Radiowecker weckte mich mit nervtötendem Gedudel, ich schaltete ihn wieder ab. Als ich das nächste Mal wach wurde, war ich spät dran, sprang nur kurz unter die Dusche und schlang meine Kellogg's hinunter, bevor ich durch ein kleines, vermülltes Wäldchen Richtung Uni trabte.
Die Ruhr-Uni in Bochum, dieser Stadt mit dem ganz eigenen Industrieromantik-Flair, ist ein Sammelsurium riesiger Betonklötze, die innen genauso verlottert aussehen, wie man von außen vermuten würde. Mit seinen fast vierzigtausend Studenten kam mir der Campus manchmal vor wie eine kleine Stadt. Es gibt sogar ein richtiges Einkaufszentrum.
Vor den geisteswissenschaftlichen Gebäuden befanden sich immerhin ein paar Grünflächen. Bis vor kurzem hatte ich mich hier immer mit meinen Kommilitonen getroffen, um gemeinsam in den Tag zu starten. Inzwischen ging ich Menschen und Gesprächen allerdings zunehmend aus dem Weg. Hielt ich mich in der Öffentlichkeit auf, waren die Dämonen und der Tic-Drang nämlich viel stärker, als wenn ich mich allein in meinem Zimmer befand. Und die Vorstellung, vor anderen wie ein Hund zu bellen oder in wilde Zuckungen zu verfallen, erschien mir so peinlich und bedrohlich, dass ich es vorzog, nicht unbedingt notwendige Begegnungen mit meinen Mitmenschen möglichst zu vermeiden.
Also machte ich einen großen Bogen um die Grüppchen auf dem Rasen und folgte den Strebern, die lange vor Beginn des Seminars die Plätze in den vordersten Reihen besetzten, in das Labyrinth aus Gängen, Treppen und Fluren.
In dem schmuck- und fensterlosen Seminarraum angekommen, suchte ich mir einen Platz in der hintersten Reihe, möglichst außerhalb des Sichtfeldes der Dozentin. Das Seminar in meinem Hauptfach Germanistik beschäftigte sich mit dem IPA, dem Internationalen Phonetischen Alphabet. Alleiniger Inhalt war, Wörter in Lautschrift und Lautschrift in Wörter zu transkribieren. Gott alleine weiß, was das mit dem Beruf des Deutschlehrers zu tun hat, den ich damals noch anstrebte. Zugegeben, als die Teilnahme an der Veranstaltung für mich noch nicht bedeutete, neunzig Minuten angespannt dazusitzen und zu versuchen, das innere Feuer unter Kontrolle zu halten, hatte ich dem Ganzen hin und wieder auch etwas abgewinnen können. Nun jedoch wollte ich einfach nur meine Unterschrift auf die Anwesenheitsliste setzen, das Seminar irgendwie überstehen, ohne aufzufallen, und mich schleunigst wieder vom Acker machen.
Nach und nach füllte sich der Seminarraum, und es wurde eng, laut und stickig. Ich spürte, wie es in meinem Sonnengeflecht zu kribbeln begann, doch ich riss mich zusammen und atmete tief ein und aus. Schließlich betrat die Dozentin den Raum, begrüßte uns kurz und bat uns, den Text herauszuholen, den es zu transkribieren galt. Dann fing sie an, fremde Glyphen, sogenannte Lautbuchstaben, an die Tafel zu kritzeln.
Ich hatte den fraglichen Text nicht dabei, geschweige denn etwas zu schreiben. Meine ganze Aufmerksamkeit galt in diesen Tagen schließlich dem Ziel, meine Teufelchen in Schach zu halten. Rings um mich herum hingegen beugten sich die Studenten über ihre Pulte und pinselten die seltsamen Zeichen von der Tafel ab. Konzentrierte Stille senkte sich über den Raum.
Das war nicht gut. Gar nicht gut. Wenn es etwas gibt, was Tourette-Dämonen so richtig anstachelt, dann ist es Ruhe, die es auf keinen Fall zu stören gilt.
Ich räusperte mich, dann schniefte ich, dann räusperte ich mich wieder. An sich unauffällig. Allerdings nicht, wenn man es in einer Tour wiederholt und dazu auch noch irgendwann anfängt zu schnaufen wie ein Mops im Hochsommer. Nach einiger Zeit beugte sich eine Kommilitonin zu mir herüber und fragte mich flüsternd, ob ich ein Taschentuch bräuchte. Was sie meinte, war: »Kannst du mal bitte mit diesen nervtötenden Schnaufgeräuschen aufhören?«
Ich sagte: »Ja, danke.« Was auch sonst? Hätte ich ihr gesagt, was mir wirklich durch den Kopf ging, hätte das ungefähr so geklungen: »Hör mal, Baby, ich weiß selber nicht, was auf einmal mit mir los ist. Irgendwas zwingt mich dazu, Geräusche wie ein Industriestaubsauger zu machen. Und wenn so eine Schnepfe wie du mich auch noch darauf aufmerksam macht, dann wird es höchstens schlimmer!«
Ich nahm das Taschentuch entgegen, schneuzte mich brav und verstummte. Kurze Zeit später ging das Geschnaufe wieder los. Die Studentin war nun sichtlich genervt und zischte: »Kannst du bitte mit dieser Scheiße aufhören? Das stört mich, und dieser Stoff ist prüfungsrelevant!«
Mein erster Impuls war, ihr den Becher Kaffee ins Gesicht zu schütten, der vor ihr auf ihrem Pult stand. Dann überlegte ich, auf die Toilette zu gehen, um wenigstens einen Moment Ruhe zu haben. Schließlich entschuldigte ich mich und nuschelte etwas von wegen Pollenallergie. Sie seufzte und wandte sich ab.
Copyright © Ullstein Verlag.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Olaf Blumberg
- 2013, 1. Auflage, 224 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706239
- ISBN-13: 9783843706230
- Erscheinungsdatum: 11.10.2013
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 0.79 MB
- Ohne Kopierschutz
Pressezitat
"Olaf Blumberg hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben.", NDR Klassik à la Carte, 08.11.2013
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