Himmlische Träume (ePub)
Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat"
Vianne Rocher lebt mit ihren Töchtern auf einem Hausboot in Paris. Noch immer verzaubern ihre Schokoladenkreationen die Menschen. Eines Tages erhält sie einen Brief. Ihre alte Freundin Armande bittet sie, zurück nach Lansquenet zu kommen. Das Städtchen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Himmlische Träume (ePub)“
Vianne Rocher lebt mit ihren Töchtern auf einem Hausboot in Paris. Noch immer verzaubern ihre Schokoladenkreationen die Menschen. Eines Tages erhält sie einen Brief. Ihre alte Freundin Armande bittet sie, zurück nach Lansquenet zu kommen. Das Städtchen braucht ihre Hilfe ...
Der Duft von Pfirsichen und ein verheißungsvoller Wind treiben Vianne in Richtung Süden. Und wirklich, der kleine Ort ist zutiefst zerstritten, und ausgerechnet der Priester Reynaud scheint hinter allem zu stecken.
Der Duft von Pfirsichen und ein verheißungsvoller Wind treiben Vianne in Richtung Süden. Und wirklich, der kleine Ort ist zutiefst zerstritten, und ausgerechnet der Priester Reynaud scheint hinter allem zu stecken.
Lese-Probe zu „Himmlische Träume (ePub)“
Himmlische Träume von Joanne Harris1
Jemand hat mir mal erzählt, dass allein in Frankreich jedes Jahr eine Viertelmillion Briefe an Tote verschickt werden. Unerwähnt blieb dabei, dass die Toten manchmal zurückschreiben.
2
Dienstag, 10. August
Es begann mit dem Wind des Ramadan. Wovon ich natürlich keine Ahnung hatte. Paris ist windig im August, und der Staub bildet kleine Derwische, die über den Gehweg wirbeln und funkelnde Flöckchen auf Lider und Gesicht streuen. Die Sonne starrt wie ein blindes weißes Auge auf alles herab, und niemand hat Lust, etwas zu essen. Paris ist im Moment so gut wie tot, kein Mensch ist hier außer den Touristen und Leuten wie uns, die sich keinen Urlaub leisten können. Der Fluss stinkt, nirgends gibt es Schatten, und man hat eigentlich nur einen Wunsch: Man will irgendwo barfuß über eine Wiese laufen. oder im Wald unter einem Baum sitzen.
Klar - Roux weiß, wie es ist. Roux ist nicht für das Leben in der Großstadt geschaffen. Rosette macht gern Quatsch, wenn sie sich langweilt, und ich mache Pralinen, die keiner kauft. Anouk sitzt im Internetcafé in der Rue de la Paix, um sich bei Facebook mit ihren Freundinnen zu unterhalten, oder sie geht zum Friedhof Montmartre und beobachtet die wilden Katzen, die inmitten der Häuser der Toten herumstreunen, und die Sonne brennt zwischen den Schattensplittern, schneidend scharf wie eine Guillotine.
Anouk ist fünfzehn. Wo geht die Zeit hin? Wie Parfum, das sich heimlich verflüchtigt, auch wenn man die Flasche noch so sorgfältig verschließt - schraubt man später den Deckel auf, um nachzusehen, ist da nur noch ein wohlduftender, schmieriger Rest, während vorher mehr als genug vorhanden war.
... mehr
Wie alt bist du, meine kleine Anouk? Was geschieht in deiner fremden kleinen Welt? Bist du glücklich? Unruhig? Zufrieden? Wie viele solche Tage haben wir noch, bevor du meine Umlaufbahn endgültig verlässt und davonsaust wie ein abtrünniger Satellit, der zwischen den Sternen verschwindet?
Der Gedanke ist alles andere als neu für mich. Wie ein Schatten begleitet mich die angst seit Anouks Geburt. Doch in diesem Sommer ist meine angst noch gewachsen, wild blüht sie in der Hitze. Vielleicht wegen der Mutter, die ich verloren habe - und wegen der Mutter, die ich vor vier Jahren gefunden habe. oder vielleicht ist es auch die Erinnerung an Zozie de l'alba, die Räuberin der Herzen, die mir um ein Haar alles gestohlen hätte und mir vorgeführt hat, wie zerbrechlich unser Leben ist, wie schnell beim kleinsten Windhauch das Kartenhaus in sich zusammenfallen kann.
Fünfzehn. Fünfzehn. In Anouks alter hatte ich schon die ganze Welt bereist. Meine Mutter lag im Sterben. Das Wort »Zuhause« galt für jeden Ort, an dem wir mehr als eine Nacht verbrachten. Ich habe mit niemandem richtig Freundschaft geschlossen. Und die Liebe - tja, die Liebe war wie die Fackeln, die abends an den Terrassen der Cafés brennen. Eine Quelle flüchtiger Wärme, eine Berührung, ein Gesicht, das man im Schein der Flammen nur kurz erblickt.
Anouk ist da hoffentlich anders. Sie ist schon jetzt wunderschön, auch wenn sie es selbst noch nicht weiß. Eines Tages wird sie sich verlieben. Was passiert dann mit uns? noch haben wir Zeit, sage ich mir. Der einzige Junge in ihrem Leben ist bis jetzt ihr Freund Jean-Loup Rimbault. normalerweise sind die beiden unzertrennlich, aber diesen Monat musste Jean-Loup ins Krankenhaus, um sich noch einmal operieren zu lassen. Er ist mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen. Anouk spricht nicht darüber, aber ich verstehe ihre Angst. Sie ist wie meine eigene, ein kriechender Schatten, die Gewissheit, dass nichts von Dauer ist.
Anouk redet immer noch von Lansquenet. Sie ist hier in Paris zwar ganz glücklich und zufrieden, aber die Metropole ist für sie doch eher eine Durchgangsstation und nicht die Heimat, in die sie immer zurückkehren wird. natürlich ist ein Hausboot kein Haus, ein Boot besitzt nicht die gleiche Überzeugungskraft wie Mörtel und Stein. Mit der seltsamen Nostalgie sehr junger Menschen erinnert sich Anouk in den rosigsten Farben an die Chocolaterie gegenüber von der Kirche, an unseren kleinen Laden mit der gestreiften Markise und dem handgemalten Schild. Und ihr Blick wird ganz wehmütig, wenn sie von den Freunden spricht, die sie zurückgelassen hat, Jeannot Drou und Luc Clairmont, oder von den engen Straßen, in denen man ohne Angst nachts im Dunkeln herumlaufen kann, und von den Haustüren, die nie abgeschlossen werden.
Ich sollte mich nicht so anstellen, ich weiß. Meine kleine Anouk ist zwar verschlossen, aber im Gegensatz zu vielen ihrer Freundinnen verbringt sie immer noch gern Zeit mit ihrer Mutter. Uns geht es gut miteinander. Wir amüsieren uns immer noch. nur wir zwei, ins Bett gekuschelt, Pantoufle ein undeutlicher Schatten am Rand, und über den Bildschirm des tragbaren Fernsehers flackern geheimnisvolle Bilder, die sich in den dunklen Fenstern spiegeln, während Rosette mit Roux draußen auf dem Deck sitzt und in der stillen Seine Sterne angelt.
Roux hat am Vatersein Gefallen gefunden. Das hätte ich so nicht erwartet. aber Rosette - acht Jahre alt und ihm wie aus dem Gesicht geschnitten - holt etwas aus Roux heraus, was weder Anouk noch ich vorhersehen konnten. Ja, es gibt sogar Zeiten, da denke ich, Rosette gehört mehr zu Roux als zu sonst jemandem. Die beiden haben eine Geheimsprache - sie hupen, tröten, pfeifen -, in der sie sich stundenlang unterhalten können und an der niemand sonst teilhat, nicht einmal ich.
Ansonsten spricht meine kleine Rosette nicht besonders viel. Mit niemandem. Sie mag die Gebärdensprache lieber, die sie als kleines Kind gelernt hat und perfekt beherrscht. Sie zeichnet gern, sie mag Zahlen, das Sudoku hinten auf Le Monde löst sie im Handumdrehen, und sie kann lange Zahlenreihen addieren, ohne sie aufzuschreiben. Wir haben versucht, sie in die Schule zu schicken, aber nur ein einziges Mal, und das war ein Fehlschlag. Die Schulen hier sind zu groß und zu unpersönlich, um mit einem Sonderfall wie Rosette entsprechend umgehen zu können. Jetzt unterrichtet Roux sie. Sein Lehrplan ist eigenwillig, die Betonung liegt auf Kunst, Vogelstimmen und Zahlenspielen, und Rosette gefällt das sehr. Sie hat natürlich keine Freunde - außer Bam -, und manchmal sehe ich, wie sie den Kindern, die auf dem Schulweg hier vorbeikommen, neugierig und zugleich sehnsüchtig nachschaut. aber insgesamt ist Paris gut für uns, gerade mit seiner Anonymität. an Tagen wie heute spüre ich allerdings, dass ich, genau wie Anouk, genau wie Rosette, mir irgendwie mehr wünsche. Mehr als ein Boot auf einem Fluss, der stinkt, mehr als einen großen Kessel voll abgestandener Luft, mehr als einen Dschungel aus Hochhäusern und Türmen. Mehr als die winzige Bordküche, in der ich meine Pralinen mache.
Mehr. ach, dieses Wort. Dieses trügerische Wort. Dieser Lebensfresser. Die Unzufriedenheit, die einem den letzten Nerv raubt. Ein Verlangen nach - ja, wonach eigentlich?
Dabei gefällt mir mein Leben. Ich bin glücklich mit dem Mann, den ich liebe. Ich habe zwei wunderbare Töchter und einen Beruf, für den ich wie geschaffen bin. Das Geld ist nicht üppig, aber was ich verdiene, reicht, um den Anlegeplatz zu bezahlen. Roux arbeitet als Maurer und Zimmermann, und damit kommen wir vier ganz gut über die Runden. alle meine Freunde vom Montmartre sind hier: Alice und Nico, Madame Luzeron, Laurent vom kleinen Café, Jean-Louis und Paupaul, die Maler. Ich habe sogar meine Mutter in der Nähe, die Mutter, die ich so viele Jahre verloren glaubte.
Was soll ich mir sonst noch wünschen?
Angefangen hat es vor ein paar Tagen in der Bordküche. Ich machte gerade Trüffel. In der Hitze kann man außer Trüffeln nichts machen, bei allen anderen Pralinen droht die Schokolade zu verderben, entweder durch die Kühlung oder von der Hitze, die überall hinkommt. Die Kuvertüre auf dem Blech vorbereiten, sie auf der Herdplatte sanft erhitzen, Gewürze dazugeben, Vanille und Kardamom. Den perfekten Moment abwarten, der diesen einfachen Vorgang in Zauberei verwandelt.
Was könnte ich mir sonst noch wünschen?
Na ja, vielleicht ein bisschen frische Luft, eine leichte Brise - wie ein gehauchter Kuss im Nacken, wo meine Haare, zu einem improvisierten Knoten zusammengesteckt, mich schon piksen in der Sommerhitze.
Nur eine Minibrise. Was kann sie schon schaden?
Und schon habe ich den Wind gerufen - nur ganz leise. Einen warmen, verspielten, leichten Wind, der die Katzen aufscheucht und die Wolken jagt.
V'là l'bon vent, v'là l'joli vent, V'là l'bon vent, ma mie m'appelle -
Es war nicht viel, nur dieser Windhauch und ein Glitzern, wie ein Lächeln in der Luft, das den fernen Duft von Pollen und Gewürzen und Honigkuchen mit sich bringt. Eigentlich wollte ich nur die Wolken vom Sommerhimmel bürsten und das Aroma anderer Gegenden in meinen Winkel der Welt locken.
V'là l'bon vent, v'là l'joli vent -
Überall an der Rive Gauche flatterten die Schokoriegelpapiere durch die Luft wie Schmetterlinge, und der verspielte Wind zupfte am Rock einer Frau, die gerade den Pont des Arts überquerte, eine Muslima mit einem Gesichtsschleier, einem Niqab, wie es heute so viele gibt. Ich sah einen Farbschimmer unter dem langen schwarzen Gewand, und einen Moment lang glaubte ich, in der heißen Luft ein Flirren zu sehen, während die Schatten der im Wind wehenden Bäume verrückte Muster auf das staubige Wasser kritzelten.
V'là l'bon vent, v'là l'joli vent -
Die Frau schaute von der Brücke zu mir herunter. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur die schwarz umrandeten Augen unter dem Niqab. Eine Sekunde lang schien sie mich zu mustern - kannte ich sie von irgendwoher? Ich hob die Hand und winkte ihr zu. Zwischen uns die Seine und der Schokoladengeruch, der aus dem offenen Küchenfenster drang.
Probier mich. Versuch mich. Fast erwartete ich, sie würde meinen Gruß erwidern. aber sie senkte den Blick und wandte sich ab. Dann war sie am Ende der Brücke angelangt und verschwand im Wind des Ramadan, eine Frau ohne Gesicht, ganz in Schwarz gekleidet.
3
Freitag, 13. August
Einen Brief aus dem Totenreich erhält man nicht oft. Es war ein Brief aus Lansquenet-sous-Tannes, genauer gesagt ein Brief in einem Brief, der in unserem Postfach lag (auf einem Hausboot bekommt man die Post ja nicht zugestellt), wo Roux ihn fand, weil er jeden Tag dort vorbeischaut, wenn er Brot holen geht.
»Es ist nur ein Brief«, sagte er mit einem Achselzucken. »Muss nicht unbedingt etwas bedeuten.«
Aber den ganzen Tag und die ganze Nacht hatte der Wind geweht, und wir misstrauen dem Wind. Schon immer. Es waren richtige Böen, aus dauernd wechselnden Richtungen. Der Wind malte wilde kleine Satzzeichen in die stille Seine. Rosette war zappelig, übte Hüpfen am Flussufer und spielte mit Bam am Wasser. Bam ist Rosettes unsichtbarer Freund, der allerdings nicht immer unsichtbar ist. Jedenfalls nicht für uns. Und an Tagen wie diesem können auch manche Kunden ihn sehen. Sie sehen ihn, wie er von der Brücke aus alles beobachtet oder am Schwanz von einem Baum herabhängt. Rosette sieht ihn selbstverständlich die ganze Zeit - aber sie ist ja auch anders als die anderen.
»Es ist nur ein Brief«, wiederholte Roux. »Warum machst du ihn nicht einfach auf und siehst nach?«
Ich war dabei, die letzten Trüffel zu rollen, bevor ich sie alle in Schachteln packte. Es ist ja schon schwierig genug, die Schokolade auf der richtigen Temperatur zu halten, und in einer Schiffsküche hat man wenig Platz, also konzentriert man sich am besten auf die elementaren Dinge. Trüffel gehen ganz leicht, und dadurch, dass man sie in Kakaopulver rollt, bekommt die Schokolade garantiert keinen weißlichen Belag. Ich lagere sie unter der arbeitsplatte, neben den Kästen mit dem alten, rostigen Werkzeug - Schraubenschlüssel und Zangen, Muttern und Krimskrams -, und die Trüffel sehen so echt aus, dass man schwören könnte, sie seien real und nicht aus Schokolade.
»Es ist acht Jahre her, dass wir von dort weggegangen sind«, sagte ich und ließ eine Trüffel über meine Handfläche rollen. »Von wem ist der Brief überhaupt? Ich kenne die Handschrift gar nicht.«
Roux öffnete den Umschlag. Er tut immer das Nächstliegende, ist immer ganz im Hier und Jetzt, Spekulationen sind ihm fremd.
»Er ist von Luc Clairmont.«
»Vom kleinen Luc?« Ich sah ihn vor mir: einen unbeholfenen Teenager, der oft wie gelähmt war, weil er stotterte. Und dann erschrak ich, weil mir schlagartig bewusst wurde, dass Luc inzwischen ja längst ein junger Mann war. Roux faltete das Blatt auseinander und begann zu lesen:
Liebe Vianne, liebe Anouk, es ist schon so lang her. Ich hoffe, Ihr erhaltet diesen Brief. Ihr wisst ja, dass meine Großmutter mir alles vererbt hat, als sie gestorben ist, das Haus, ihr ganzes Geld und außerdem einen Umschlag, den ich aber nicht vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag öffnen sollte. Dieser Geburtstag war im April, und in dem Umschlag habe ich den Brief hier gefunden. Er ist an Dich adressiert, Vianne.
Roux las nicht weiter. Ich schaute ihn an. Er hielt einen Umschlag hoch, einen schlichten weißen Umschlag, etwas zerknittert nach all den Jahren und mit Spuren lebendiger Hände auf dem toten Papier. Und da stand in schwarzblauer Tinte mein Name, geschrieben von Armande - arthritisch, herrisch, exakt.
»Armande«, sagte ich.
Meine liebe alte Freundin. Wie seltsam, wie traurig, jetzt von
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Wie alt bist du, meine kleine Anouk? Was geschieht in deiner fremden kleinen Welt? Bist du glücklich? Unruhig? Zufrieden? Wie viele solche Tage haben wir noch, bevor du meine Umlaufbahn endgültig verlässt und davonsaust wie ein abtrünniger Satellit, der zwischen den Sternen verschwindet?
Der Gedanke ist alles andere als neu für mich. Wie ein Schatten begleitet mich die angst seit Anouks Geburt. Doch in diesem Sommer ist meine angst noch gewachsen, wild blüht sie in der Hitze. Vielleicht wegen der Mutter, die ich verloren habe - und wegen der Mutter, die ich vor vier Jahren gefunden habe. oder vielleicht ist es auch die Erinnerung an Zozie de l'alba, die Räuberin der Herzen, die mir um ein Haar alles gestohlen hätte und mir vorgeführt hat, wie zerbrechlich unser Leben ist, wie schnell beim kleinsten Windhauch das Kartenhaus in sich zusammenfallen kann.
Fünfzehn. Fünfzehn. In Anouks alter hatte ich schon die ganze Welt bereist. Meine Mutter lag im Sterben. Das Wort »Zuhause« galt für jeden Ort, an dem wir mehr als eine Nacht verbrachten. Ich habe mit niemandem richtig Freundschaft geschlossen. Und die Liebe - tja, die Liebe war wie die Fackeln, die abends an den Terrassen der Cafés brennen. Eine Quelle flüchtiger Wärme, eine Berührung, ein Gesicht, das man im Schein der Flammen nur kurz erblickt.
Anouk ist da hoffentlich anders. Sie ist schon jetzt wunderschön, auch wenn sie es selbst noch nicht weiß. Eines Tages wird sie sich verlieben. Was passiert dann mit uns? noch haben wir Zeit, sage ich mir. Der einzige Junge in ihrem Leben ist bis jetzt ihr Freund Jean-Loup Rimbault. normalerweise sind die beiden unzertrennlich, aber diesen Monat musste Jean-Loup ins Krankenhaus, um sich noch einmal operieren zu lassen. Er ist mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen. Anouk spricht nicht darüber, aber ich verstehe ihre Angst. Sie ist wie meine eigene, ein kriechender Schatten, die Gewissheit, dass nichts von Dauer ist.
Anouk redet immer noch von Lansquenet. Sie ist hier in Paris zwar ganz glücklich und zufrieden, aber die Metropole ist für sie doch eher eine Durchgangsstation und nicht die Heimat, in die sie immer zurückkehren wird. natürlich ist ein Hausboot kein Haus, ein Boot besitzt nicht die gleiche Überzeugungskraft wie Mörtel und Stein. Mit der seltsamen Nostalgie sehr junger Menschen erinnert sich Anouk in den rosigsten Farben an die Chocolaterie gegenüber von der Kirche, an unseren kleinen Laden mit der gestreiften Markise und dem handgemalten Schild. Und ihr Blick wird ganz wehmütig, wenn sie von den Freunden spricht, die sie zurückgelassen hat, Jeannot Drou und Luc Clairmont, oder von den engen Straßen, in denen man ohne Angst nachts im Dunkeln herumlaufen kann, und von den Haustüren, die nie abgeschlossen werden.
Ich sollte mich nicht so anstellen, ich weiß. Meine kleine Anouk ist zwar verschlossen, aber im Gegensatz zu vielen ihrer Freundinnen verbringt sie immer noch gern Zeit mit ihrer Mutter. Uns geht es gut miteinander. Wir amüsieren uns immer noch. nur wir zwei, ins Bett gekuschelt, Pantoufle ein undeutlicher Schatten am Rand, und über den Bildschirm des tragbaren Fernsehers flackern geheimnisvolle Bilder, die sich in den dunklen Fenstern spiegeln, während Rosette mit Roux draußen auf dem Deck sitzt und in der stillen Seine Sterne angelt.
Roux hat am Vatersein Gefallen gefunden. Das hätte ich so nicht erwartet. aber Rosette - acht Jahre alt und ihm wie aus dem Gesicht geschnitten - holt etwas aus Roux heraus, was weder Anouk noch ich vorhersehen konnten. Ja, es gibt sogar Zeiten, da denke ich, Rosette gehört mehr zu Roux als zu sonst jemandem. Die beiden haben eine Geheimsprache - sie hupen, tröten, pfeifen -, in der sie sich stundenlang unterhalten können und an der niemand sonst teilhat, nicht einmal ich.
Ansonsten spricht meine kleine Rosette nicht besonders viel. Mit niemandem. Sie mag die Gebärdensprache lieber, die sie als kleines Kind gelernt hat und perfekt beherrscht. Sie zeichnet gern, sie mag Zahlen, das Sudoku hinten auf Le Monde löst sie im Handumdrehen, und sie kann lange Zahlenreihen addieren, ohne sie aufzuschreiben. Wir haben versucht, sie in die Schule zu schicken, aber nur ein einziges Mal, und das war ein Fehlschlag. Die Schulen hier sind zu groß und zu unpersönlich, um mit einem Sonderfall wie Rosette entsprechend umgehen zu können. Jetzt unterrichtet Roux sie. Sein Lehrplan ist eigenwillig, die Betonung liegt auf Kunst, Vogelstimmen und Zahlenspielen, und Rosette gefällt das sehr. Sie hat natürlich keine Freunde - außer Bam -, und manchmal sehe ich, wie sie den Kindern, die auf dem Schulweg hier vorbeikommen, neugierig und zugleich sehnsüchtig nachschaut. aber insgesamt ist Paris gut für uns, gerade mit seiner Anonymität. an Tagen wie heute spüre ich allerdings, dass ich, genau wie Anouk, genau wie Rosette, mir irgendwie mehr wünsche. Mehr als ein Boot auf einem Fluss, der stinkt, mehr als einen großen Kessel voll abgestandener Luft, mehr als einen Dschungel aus Hochhäusern und Türmen. Mehr als die winzige Bordküche, in der ich meine Pralinen mache.
Mehr. ach, dieses Wort. Dieses trügerische Wort. Dieser Lebensfresser. Die Unzufriedenheit, die einem den letzten Nerv raubt. Ein Verlangen nach - ja, wonach eigentlich?
Dabei gefällt mir mein Leben. Ich bin glücklich mit dem Mann, den ich liebe. Ich habe zwei wunderbare Töchter und einen Beruf, für den ich wie geschaffen bin. Das Geld ist nicht üppig, aber was ich verdiene, reicht, um den Anlegeplatz zu bezahlen. Roux arbeitet als Maurer und Zimmermann, und damit kommen wir vier ganz gut über die Runden. alle meine Freunde vom Montmartre sind hier: Alice und Nico, Madame Luzeron, Laurent vom kleinen Café, Jean-Louis und Paupaul, die Maler. Ich habe sogar meine Mutter in der Nähe, die Mutter, die ich so viele Jahre verloren glaubte.
Was soll ich mir sonst noch wünschen?
Angefangen hat es vor ein paar Tagen in der Bordküche. Ich machte gerade Trüffel. In der Hitze kann man außer Trüffeln nichts machen, bei allen anderen Pralinen droht die Schokolade zu verderben, entweder durch die Kühlung oder von der Hitze, die überall hinkommt. Die Kuvertüre auf dem Blech vorbereiten, sie auf der Herdplatte sanft erhitzen, Gewürze dazugeben, Vanille und Kardamom. Den perfekten Moment abwarten, der diesen einfachen Vorgang in Zauberei verwandelt.
Was könnte ich mir sonst noch wünschen?
Na ja, vielleicht ein bisschen frische Luft, eine leichte Brise - wie ein gehauchter Kuss im Nacken, wo meine Haare, zu einem improvisierten Knoten zusammengesteckt, mich schon piksen in der Sommerhitze.
Nur eine Minibrise. Was kann sie schon schaden?
Und schon habe ich den Wind gerufen - nur ganz leise. Einen warmen, verspielten, leichten Wind, der die Katzen aufscheucht und die Wolken jagt.
V'là l'bon vent, v'là l'joli vent, V'là l'bon vent, ma mie m'appelle -
Es war nicht viel, nur dieser Windhauch und ein Glitzern, wie ein Lächeln in der Luft, das den fernen Duft von Pollen und Gewürzen und Honigkuchen mit sich bringt. Eigentlich wollte ich nur die Wolken vom Sommerhimmel bürsten und das Aroma anderer Gegenden in meinen Winkel der Welt locken.
V'là l'bon vent, v'là l'joli vent -
Überall an der Rive Gauche flatterten die Schokoriegelpapiere durch die Luft wie Schmetterlinge, und der verspielte Wind zupfte am Rock einer Frau, die gerade den Pont des Arts überquerte, eine Muslima mit einem Gesichtsschleier, einem Niqab, wie es heute so viele gibt. Ich sah einen Farbschimmer unter dem langen schwarzen Gewand, und einen Moment lang glaubte ich, in der heißen Luft ein Flirren zu sehen, während die Schatten der im Wind wehenden Bäume verrückte Muster auf das staubige Wasser kritzelten.
V'là l'bon vent, v'là l'joli vent -
Die Frau schaute von der Brücke zu mir herunter. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur die schwarz umrandeten Augen unter dem Niqab. Eine Sekunde lang schien sie mich zu mustern - kannte ich sie von irgendwoher? Ich hob die Hand und winkte ihr zu. Zwischen uns die Seine und der Schokoladengeruch, der aus dem offenen Küchenfenster drang.
Probier mich. Versuch mich. Fast erwartete ich, sie würde meinen Gruß erwidern. aber sie senkte den Blick und wandte sich ab. Dann war sie am Ende der Brücke angelangt und verschwand im Wind des Ramadan, eine Frau ohne Gesicht, ganz in Schwarz gekleidet.
3
Freitag, 13. August
Einen Brief aus dem Totenreich erhält man nicht oft. Es war ein Brief aus Lansquenet-sous-Tannes, genauer gesagt ein Brief in einem Brief, der in unserem Postfach lag (auf einem Hausboot bekommt man die Post ja nicht zugestellt), wo Roux ihn fand, weil er jeden Tag dort vorbeischaut, wenn er Brot holen geht.
»Es ist nur ein Brief«, sagte er mit einem Achselzucken. »Muss nicht unbedingt etwas bedeuten.«
Aber den ganzen Tag und die ganze Nacht hatte der Wind geweht, und wir misstrauen dem Wind. Schon immer. Es waren richtige Böen, aus dauernd wechselnden Richtungen. Der Wind malte wilde kleine Satzzeichen in die stille Seine. Rosette war zappelig, übte Hüpfen am Flussufer und spielte mit Bam am Wasser. Bam ist Rosettes unsichtbarer Freund, der allerdings nicht immer unsichtbar ist. Jedenfalls nicht für uns. Und an Tagen wie diesem können auch manche Kunden ihn sehen. Sie sehen ihn, wie er von der Brücke aus alles beobachtet oder am Schwanz von einem Baum herabhängt. Rosette sieht ihn selbstverständlich die ganze Zeit - aber sie ist ja auch anders als die anderen.
»Es ist nur ein Brief«, wiederholte Roux. »Warum machst du ihn nicht einfach auf und siehst nach?«
Ich war dabei, die letzten Trüffel zu rollen, bevor ich sie alle in Schachteln packte. Es ist ja schon schwierig genug, die Schokolade auf der richtigen Temperatur zu halten, und in einer Schiffsküche hat man wenig Platz, also konzentriert man sich am besten auf die elementaren Dinge. Trüffel gehen ganz leicht, und dadurch, dass man sie in Kakaopulver rollt, bekommt die Schokolade garantiert keinen weißlichen Belag. Ich lagere sie unter der arbeitsplatte, neben den Kästen mit dem alten, rostigen Werkzeug - Schraubenschlüssel und Zangen, Muttern und Krimskrams -, und die Trüffel sehen so echt aus, dass man schwören könnte, sie seien real und nicht aus Schokolade.
»Es ist acht Jahre her, dass wir von dort weggegangen sind«, sagte ich und ließ eine Trüffel über meine Handfläche rollen. »Von wem ist der Brief überhaupt? Ich kenne die Handschrift gar nicht.«
Roux öffnete den Umschlag. Er tut immer das Nächstliegende, ist immer ganz im Hier und Jetzt, Spekulationen sind ihm fremd.
»Er ist von Luc Clairmont.«
»Vom kleinen Luc?« Ich sah ihn vor mir: einen unbeholfenen Teenager, der oft wie gelähmt war, weil er stotterte. Und dann erschrak ich, weil mir schlagartig bewusst wurde, dass Luc inzwischen ja längst ein junger Mann war. Roux faltete das Blatt auseinander und begann zu lesen:
Liebe Vianne, liebe Anouk, es ist schon so lang her. Ich hoffe, Ihr erhaltet diesen Brief. Ihr wisst ja, dass meine Großmutter mir alles vererbt hat, als sie gestorben ist, das Haus, ihr ganzes Geld und außerdem einen Umschlag, den ich aber nicht vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag öffnen sollte. Dieser Geburtstag war im April, und in dem Umschlag habe ich den Brief hier gefunden. Er ist an Dich adressiert, Vianne.
Roux las nicht weiter. Ich schaute ihn an. Er hielt einen Umschlag hoch, einen schlichten weißen Umschlag, etwas zerknittert nach all den Jahren und mit Spuren lebendiger Hände auf dem toten Papier. Und da stand in schwarzblauer Tinte mein Name, geschrieben von Armande - arthritisch, herrisch, exakt.
»Armande«, sagte ich.
Meine liebe alte Freundin. Wie seltsam, wie traurig, jetzt von
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Autoren-Porträt von Joanne Harris
Joanne Harris arbeitete fünfzehn Jahre lang als Lehrerin, bevor ihr mit <em>Chocolat</em> der Durchbruch gelang. Sie ist heute eine der erfolgreichsten und einflussreichsten englischen Autorinnen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joanne Harris
- 2013, 496 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Adelheid Zöfel
- Verlag: Ullstein eBooks
- ISBN-10: 3843704260
- ISBN-13: 9783843704267
- Erscheinungsdatum: 08.03.2013
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 3.75 MB
- Ohne Kopierschutz
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