Milano Criminale / Ullstein eBooks (ePub)
Roman
Der 27. Februar 1958: Ein ganz normaler Tag in der Via Osoppo, mitten in Mailand. Aus dem Nichts tauchen sieben Bewaffnete auf. Sie rauben vor aller Augen einen Geldtransporter aus. Und landen den größten Coup in der Geschichte Italiens. Unter den...
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Produktinformationen zu „Milano Criminale / Ullstein eBooks (ePub)“
Der 27. Februar 1958: Ein ganz normaler Tag in der Via Osoppo, mitten in Mailand. Aus dem Nichts tauchen sieben Bewaffnete auf. Sie rauben vor aller Augen einen Geldtransporter aus. Und landen den größten Coup in der Geschichte Italiens. Unter den Zuschauern befinden sich auch zwei Jungen, Roberto und Antonio. Angesichts dieser unglaublichen Tat trifft jeder für sich eine Wahl, die sein Leben für immer verändern wird: Roberto wird einer der meistgesuchten Gangster Italiens. Eine Legende.Antonio wird Polizist. Ein Jäger, der die größten Verbrecher Italiens - auch Roberto - fassen und dafür alles riskieren wird.
Der 27. Februar 1958: Ein ganz normaler Tag in der Via Osoppo, mitten in Mailand. Aus dem Nichts tauchen sieben Bewaffnete auf. Sie rauben vor Aller Augen einen Geldtransporter aus. Und landen den größten Coup in der Geschichte Italiens. Die Menschen feuern die Räuber an. In diesen Zeiten, in denen Armut und Hunger herrschen, sind die Männer Helden, weil sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Unter den Zuschauern befinden sich zwei Jungen, Roberto und Antonio. Angesichts dieser unglaublichen Tat trifft jeder für sich eine Wahl, die sein Leben für immer verändern wird. Ihre Geschichte beginnt in diesem einen Moment. Roberto wird einer der meistgesuchten Gangster Italiens. Eine Legende. Antonio wird Polizist. Ein Jäger, der die größten Verbrecher Italiens - auch Roberto - fassen und dafür alles riskieren wird. Milano Criminale ist ein großer Roman, geschrieben mit Coolness und Raffinesse.
Der 27. Februar 1958: Ein ganz normaler Tag in der Via Osoppo, mitten in Mailand. Aus dem Nichts tauchen sieben Bewaffnete auf. Sie rauben vor Aller Augen einen Geldtransporter aus. Und landen den größten Coup in der Geschichte Italiens. Die Menschen feuern die Räuber an. In diesen Zeiten, in denen Armut und Hunger herrschen, sind die Männer Helden, weil sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Unter den Zuschauern befinden sich zwei Jungen, Roberto und Antonio. Angesichts dieser unglaublichen Tat trifft jeder für sich eine Wahl, die sein Leben für immer verändern wird. Ihre Geschichte beginnt in diesem einen Moment. Roberto wird einer der meistgesuchten Gangster Italiens. Eine Legende. Antonio wird Polizist. Ein Jäger, der die größten Verbrecher Italiens - auch Roberto - fassen und dafür alles riskieren wird. Milano Criminale ist ein großer Roman, geschrieben mit Coolness und Raffinesse.
Lese-Probe zu „Milano Criminale / Ullstein eBooks (ePub)“
Milano Criminale von Paolo Roversi Aus dem Italienischen von Esther Hansen
ERSTER TEIL
Das Ende der Ligera
Kapitel 1
Seitenwahl
Der Mann schlendert am Straßenrand entlang. Seine Schuhe sind staubbedeckt, seine Haltung strahlt Ruhe aus, als hätte er alle Zeit der Welt. Manchmal sieht er sich wie zufällig um, geht weiter, im Gürtel einen Totschläger und eine 9 mm.
Einige Meter entfernt ein paar Männer im Overall auf einem grauen Lieferwagen. Sie schweigen, niemand schenkt ihnen Beachtung, erst recht nicht den Maschinenpistolen auf ihren Knien.
In der Nähe ein Herr, graumeliertes Haar und Zigarette im Mundwinkel, er blättert in einer Zeitung. Langsam, viel zu viel Zeit pro Seite, um glaubwürdig zu wirken. Er sitzt in einem schwarzen Fiat 1400, und in seinen rechten Oberschenkel drückt sich ein Schießeisen.
Neben dem Auto steht ein Junge. Reglos. Mit ausgebeulter Jacke: auch er bewaffnet.
Sie alle tragen den klassischen Arbeiter-Blaumann. Die perfekte Verkleidung, um in dieser Gegend mit ihren unzähligen Fabriken und Manufakturen nicht aufzufallen.
Ein erfahrenes Auge hätte gewusst, was Sache ist. Hätte vorhergesehen, was passieren würde. Aber es war kein erfahrenes Auge in der Nähe.
Der Tanz beginnt, als der Geldtransporter um die Ecke biegt. Die Zweigstelle der Banca Popolare ist keine fünfhundert Meter entfernt. Die erste auf der Tour.
Fuß vom Gas, und aufgepasst für die drei Männer im Wagen: den Fahrer, einen Polizeibeamten und einen Bankangestellten.
Der Bandenboss zwingt sich zur Ruhe. Er kann nicht sehen, was passiert, doch ein Blick auf die Uhr genügt ihm. Alles ist auf die Sekunde genau geplant, und wenn er die Augen schließt, weiß er zu jeder Zeit, was passiert.
... mehr
In Gedanken versunken sitzt er im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis am anderen Ende von Mailand. Das hier ist sein Alibi, und ein gutes Alibi wird er brauchen, wenn die Bullen nach vollbrachter Tat unverzüglich bei ihm aufkreuzen. Er braucht glaubwürdige Zeugen, andere als die, die er sonst anschleppen könnte, seine Kumpane aus dem Stadtteil Ticinese.
Bei dem Gedanken will er unwillkürlich lächeln, verkneift es sich aber. Er muss schreckliche Zahnschmerzen vortäuschen, das erfordert höchste Konzentration. Er hat schwarzes, gewelltes Haar und trägt einen schwarzen Anzug mit einer weißen Rose im Knopfloch: Daran wird sich jeder erinnern. Der Plan sieht vor, sich möglichst auffällig zu verhalten, deshalb bricht er in regelmäßigen Abständen in lautes Gewimmer aus.
Er ist ein akribischer, besonnener Mensch. Für ihren Coup hat er extra diesen einen Tag des Monats abgewartet.
»Wir nehmen den 27., Tag des heiligen Salärius, ciula«, hat er seinen Leuten bis zum Abwinken gepredigt, »dann schwimmen die im Geld, um die Löhne auszuzahlen.«
Zweimal schon hatten sie es probiert, doch jedes Mal war etwas dazwischengekommen. Ein Versuch pro Monat. Heute Morgen würden sie den Sack endlich zumachen. Das spürte er.
›Heute packen wir es‹, sagt er sich, während die Arzthelferin ihn ins Behandlungszimmer führt.
Kaum sieht der Mann im Fiat 1400 den weißen Transporter im Rückspiegel aufblitzen, wirft er die Zeitung beiseite und gibt Gas. Der Wagen fädelt sich ein und schießt in Richtung Fahrbahnmitte.
Antonio steht vor der Haustür, sein Fahrrad hat er an die Wand gelehnt, mit dem Blick verfolgt er fasziniert den schwarzen Wagen, der den Geldtransporter röhrend überholt hat und nun Schlangenlinien vor ihm vollführt.
»Quel lì l'è matt, vollkommen wahnsinnig, der Kerl!«, schreit der Fahrer des Geldtransporters. Der Polizist tastet mit der Hand nach dem Knauf seiner Dienstwaffe.
Ohne auch nur andeutungsweise abzubremsen, schert der Wahnsinnige nach links aus und rast holpernd über den Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen. Die Fahrt endet mit einem dumpfen Schlag an der Mauer auf der anderen Straßenseite. Der Fahrer kommt ohne jeden Kratzer davon; blitzschnell springt er aus dem Wagen und sucht das Weite, während ein Haufen Schaulustiger sich um das Auto schart. Auch der Fahrer des Geldtransporters bremst, um zu sehen, was da passiert ist. Der Polizeibeamte entspannt sich wieder. Und tut nicht gut daran, denn während alle Köpfe sich nach hinten drehen, kommt ihnen aus der anderen Richtung ein weiteres Auto entgegen, ein Kleinlaster OM Leoncino, flink wie auf Schienen, und rast voller Wucht in den Geldtransporter. Die Männer im Innenraum stoßen sich gewaltig die Köpfe.
Es ist Vormittag, und viele Leute sind unterwegs. Alle hören den Aufprall - und die Schüsse.
Dem Leoncino entsteigt ein Mann mit vermummtem Gesicht und Pistole. Brüllend rennt er auf den Geldtransporter zu und richtet die Knarre auf das Gesicht des Fahrers, der mit erhobenen Händen erstarrt.
Hinter ihnen kommt mit quietschenden Reifen der graue Lieferwagen zum Stehen: Fluchtweg abgeschnitten.
Der Polizist, der aus einer Wunde an der Stirn blutet, will eingreifen, doch da zersplittert das Seitenfenster neben ihm. Der Totschläger, den der Mann auf dem Bürgersteig im Gürtel stecken hatte, tut seinen Dienst. Das Glas zerbirst in tausend Scherben, und der Wachmann hat plötzlich den Lauf einer .38 Special im Mund.
»Spiel bloß nicht den Helden«, hört er es knurren. Ein Ratschlag, den er prompt befolgt.
In der Zwischenzeit räumen drei maskierte Männer den Geldtransporter aus und verteilen die Geldsäcke auf den grauen Lieferwagen und eine Giulietta Sprint, auch sie wie aus dem Nichts aufgetaucht. Auch der Bankangestellte verspürt wenig Lust, sich eine Kugel einzufangen, und bleibt reglos sitzen, während die Penunzen vor seiner Nase weggetragen werden.
Sie arbeiten in höchster Eile, es dauert keine zwei Minuten, in denen einer der Banditen alle Umstehenden mit seiner Maschinenpistole in Schach hält. Die Operation verläuft exakt nach Plan.
Schließlich rast der Lieferwagen mit quietschenden Reifen davon, dicht gefolgt von dem Alfa, aus dessen Fenster einer der Banditen den Schaulustigen höhnisch zuwinkt. Und einige winken sogar zurück.
Kapitel 2
Als die sechs maskierten Männer in ihren Autos davonjagen, verzieht Antonio keine Miene, fassungslos starrt er weiter auf den Ort des Geschehens: auf den ausgeräumten Geldtransporter und den Leoncino, dessen Motor noch läuft. Und genau in diesem Moment begreift er, dass sein Schicksal vor gezeichnet ist. Das Datum, das er auf einer weggeworfenen Zeitung im Rinnstein liest, brennt sich in sein Gedächtnis ein, der 27. Februar 1958: der Tag, der für alle anderen Mailänder als der ›Tag des Bankraubs‹ in die Stadtchronik eingehen wird, ist für ihn der Tag seiner Berufung. Er ist noch keine vierzehn, und doch hat er soeben entschieden, was er später einmal werden will: Bulle. Nicht Anwalt, wie sein Vater es gerne sähe, oder Arzt, wovon seine Mutter träumt. Nein, er - der schmächtige Teenager mit den schmal geschnittenen Augen - möchte diesen Männern, die die Via Osoppo in Angst und Schrecken versetzt haben, nicht nacheifern, er möchte ihnen das Handwerk legen.
Die drei Burschen hingegen, die auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig herumlungern, scheinen darüber ganz anders zu denken. Es sind drei Ligera, unbewaffnete Kleinkriminelle, die auf Handtaschenraub und Wohnungseinbrüche spezialisiert sind. Sie kommen aus einem der ärmsten und gefährlichsten Stadtteile Mailands, dem Giambellino ganz in der Nähe, und haben aufgeregt alles mitverfolgt. Es ist noch zu früh am Tag, um mit den anderen Jungs aus dem Viertel in dem kleinen Park auf der Piazza Tripoli lippa zu spielen, deshalb sind sie hier und wollen einen Zeitschriftenkiosk überfallen. Mit einem Ball oder Stein die Fensterscheibe einwerfen, um den Inhaber abzulenken, schon greift einer von ihnen in die Holzschublade mit den Sammelbildchen und dann nichts wie weg.
Drei kleine Rüpel, nicht älter als zehn. Der jüngste, Roberto, mit widerspenstigen Locken über der Stirn und grünen Augen, die in dich hineinzusehen scheinen, spielt sich als Anführer auf.
Er lächelt versonnen, trotz seines jungen Alters weiß er seit langem, auf welcher Seite der Barrikade er steht: auf der anderen. Diese Gangster werden augenblicklich seine Helden. Und er verliert keine Zeit zu beweisen, dass auch er nicht aus Pappe ist, dass er Mumm hat genau wie sie: Noch am selben Abend, in Lambrate, wo er manchmal bei seiner Tante übernachtet, zieht er ein richtig tolles Ding ab.
Auf der Wiese neben den Eisenbahngleisen hat der Zirkus Medini gerade seine weiß-blauen Zelte aufgeschlagen. Der Schriftzug aus Sperrholz über dem Eingang, behängt mit blinkenden Lichterketten, verkündet die Attraktionen: Akrobaten, Clowns und Raubtiere. Letztere sind es, die den kleinen Roberto interessieren, insbesondere die Tiger. Diese erweisen sich allerdings als Flop: Sie sehen aus wie Lebenslängliche, reglos und mit dem erloschenen Blick der Besiegten. Als der Wachmann einen Moment nicht aufpasst, beschließt der Junge, sie freizulassen.Träge tappen die Tiere aus ihren Zellen.
Der Bubenstreich dauert nur eine Nacht.
»Niemand sollte im Käfig eingesperrt sein«, erklärt Robertino dem Maresciallo, der ihm am nächsten Morgen die Ohren langzieht.
Die Tiger werden wieder eingefangen, und er landet im zarten Alter von acht Jahren zum ersten Mal im Beccaria, der Jugendstrafanstalt Mailands.
Kapitel 3
Auf der Straße wimmelt es von Uniformierten. Als seien sämtliche Bullen der Stadt an den Ort des Überfalls gehastet. Für den bald zwei Worte reichen: der Bankraub. Zwei Stunden sind vergangen, und das Ding ist schon zum Banküberfall schlechthin geworden. Schnell kennen alle die erbeutete Summe, der fassungslose Bankangestellte wiederholt sie wie ein Mantra, und die Schaulustigen verbreiten sie von Ohr zu Ohr: sechshundert Millionen Lire in bar, plus Zirkularschecks und Inhaberpapiere.
›Was für ein Wahnsinnscoup‹, denkt Antonio. Sein Vater, Ennio Santi, der beim Maschinenbaubetrieb Breda am Fließband steht und jeden Morgen lustlos den Blaumann überstreift, verdient fünfundzwanzigtausend Lire im Monat. Zu viert leben sie davon: er, die Eltern und der Bruder. Und nicht einmal schlecht.
Während immer noch Horden von Journalisten, Fotografen und Schaulustigen hinzuströmen, rechnet der Junge eifrig weiter: Um so viel Geld nach Hause zu tragen, müsste sein Vater zweitausend Jahre arbeiten. Zweitausend! Und dann ist er auch noch vor ein paar Monaten mit den Fingern in diese blöde Presse geraten ...
Mit solchen Gedanken steht Antonio reglos in seinem Hauseingang und betrachtet fasziniert das Spektakel nach dem Bankraub. Was da vor seinen Blicken abläuft, ist viel spannender als jeder Film, den sie im Filmtheater zeigen.
Die drei Ligera hingegen haben ziemlich schnell die Biege gemacht, Uniformierte können sie gar nicht leiden.
Leiter der Ermittlungen ist ein kleiner, rappeldürrer Glatzkopf: Commissario Nicolosi. Antonio kennt ihn. Alle kennen ihn. Sein Vater sagt immer, dieser Polizist habe Eier aus Stahl: 1946 nahm er Rina Fort fest, die Bestie aus der Via San Gregorio, jene Frau, die sich ihren Spitznamen dadurch verdiente, dass sie in besagter Mailänder Straße Ehefrau und Kinder ihres sizilianischen Liebhabers niedermetzelte, um ihn für sich allein zu haben. Seitdem ist der Polizeibeamte zu einer Art Stadtmythos geworden. Jetzt steht Nicolosi nur zwei Schritte von ihm entfernt. Mit gepflegtem Schnurrbart und schwarzen, flinken Augen, denen nichts entgeht.
»Was starrst du denn so, Jungchen?«, wendet er sich plötzlich zu ihm hin, als er seinen Blick spürt. »Geh nach Hause, Schularbeiten machen, hier gibt es absolut nichts zu sehen.«
»Aber ich habe sie gesehen!«, erwidert Antonio. Vielleicht ein wenig zu leise.
Der Commissario hört nicht hin. Ein herankommender Beamter ruft ihn.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
In Gedanken versunken sitzt er im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis am anderen Ende von Mailand. Das hier ist sein Alibi, und ein gutes Alibi wird er brauchen, wenn die Bullen nach vollbrachter Tat unverzüglich bei ihm aufkreuzen. Er braucht glaubwürdige Zeugen, andere als die, die er sonst anschleppen könnte, seine Kumpane aus dem Stadtteil Ticinese.
Bei dem Gedanken will er unwillkürlich lächeln, verkneift es sich aber. Er muss schreckliche Zahnschmerzen vortäuschen, das erfordert höchste Konzentration. Er hat schwarzes, gewelltes Haar und trägt einen schwarzen Anzug mit einer weißen Rose im Knopfloch: Daran wird sich jeder erinnern. Der Plan sieht vor, sich möglichst auffällig zu verhalten, deshalb bricht er in regelmäßigen Abständen in lautes Gewimmer aus.
Er ist ein akribischer, besonnener Mensch. Für ihren Coup hat er extra diesen einen Tag des Monats abgewartet.
»Wir nehmen den 27., Tag des heiligen Salärius, ciula«, hat er seinen Leuten bis zum Abwinken gepredigt, »dann schwimmen die im Geld, um die Löhne auszuzahlen.«
Zweimal schon hatten sie es probiert, doch jedes Mal war etwas dazwischengekommen. Ein Versuch pro Monat. Heute Morgen würden sie den Sack endlich zumachen. Das spürte er.
›Heute packen wir es‹, sagt er sich, während die Arzthelferin ihn ins Behandlungszimmer führt.
Kaum sieht der Mann im Fiat 1400 den weißen Transporter im Rückspiegel aufblitzen, wirft er die Zeitung beiseite und gibt Gas. Der Wagen fädelt sich ein und schießt in Richtung Fahrbahnmitte.
Antonio steht vor der Haustür, sein Fahrrad hat er an die Wand gelehnt, mit dem Blick verfolgt er fasziniert den schwarzen Wagen, der den Geldtransporter röhrend überholt hat und nun Schlangenlinien vor ihm vollführt.
»Quel lì l'è matt, vollkommen wahnsinnig, der Kerl!«, schreit der Fahrer des Geldtransporters. Der Polizist tastet mit der Hand nach dem Knauf seiner Dienstwaffe.
Ohne auch nur andeutungsweise abzubremsen, schert der Wahnsinnige nach links aus und rast holpernd über den Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen. Die Fahrt endet mit einem dumpfen Schlag an der Mauer auf der anderen Straßenseite. Der Fahrer kommt ohne jeden Kratzer davon; blitzschnell springt er aus dem Wagen und sucht das Weite, während ein Haufen Schaulustiger sich um das Auto schart. Auch der Fahrer des Geldtransporters bremst, um zu sehen, was da passiert ist. Der Polizeibeamte entspannt sich wieder. Und tut nicht gut daran, denn während alle Köpfe sich nach hinten drehen, kommt ihnen aus der anderen Richtung ein weiteres Auto entgegen, ein Kleinlaster OM Leoncino, flink wie auf Schienen, und rast voller Wucht in den Geldtransporter. Die Männer im Innenraum stoßen sich gewaltig die Köpfe.
Es ist Vormittag, und viele Leute sind unterwegs. Alle hören den Aufprall - und die Schüsse.
Dem Leoncino entsteigt ein Mann mit vermummtem Gesicht und Pistole. Brüllend rennt er auf den Geldtransporter zu und richtet die Knarre auf das Gesicht des Fahrers, der mit erhobenen Händen erstarrt.
Hinter ihnen kommt mit quietschenden Reifen der graue Lieferwagen zum Stehen: Fluchtweg abgeschnitten.
Der Polizist, der aus einer Wunde an der Stirn blutet, will eingreifen, doch da zersplittert das Seitenfenster neben ihm. Der Totschläger, den der Mann auf dem Bürgersteig im Gürtel stecken hatte, tut seinen Dienst. Das Glas zerbirst in tausend Scherben, und der Wachmann hat plötzlich den Lauf einer .38 Special im Mund.
»Spiel bloß nicht den Helden«, hört er es knurren. Ein Ratschlag, den er prompt befolgt.
In der Zwischenzeit räumen drei maskierte Männer den Geldtransporter aus und verteilen die Geldsäcke auf den grauen Lieferwagen und eine Giulietta Sprint, auch sie wie aus dem Nichts aufgetaucht. Auch der Bankangestellte verspürt wenig Lust, sich eine Kugel einzufangen, und bleibt reglos sitzen, während die Penunzen vor seiner Nase weggetragen werden.
Sie arbeiten in höchster Eile, es dauert keine zwei Minuten, in denen einer der Banditen alle Umstehenden mit seiner Maschinenpistole in Schach hält. Die Operation verläuft exakt nach Plan.
Schließlich rast der Lieferwagen mit quietschenden Reifen davon, dicht gefolgt von dem Alfa, aus dessen Fenster einer der Banditen den Schaulustigen höhnisch zuwinkt. Und einige winken sogar zurück.
Kapitel 2
Als die sechs maskierten Männer in ihren Autos davonjagen, verzieht Antonio keine Miene, fassungslos starrt er weiter auf den Ort des Geschehens: auf den ausgeräumten Geldtransporter und den Leoncino, dessen Motor noch läuft. Und genau in diesem Moment begreift er, dass sein Schicksal vor gezeichnet ist. Das Datum, das er auf einer weggeworfenen Zeitung im Rinnstein liest, brennt sich in sein Gedächtnis ein, der 27. Februar 1958: der Tag, der für alle anderen Mailänder als der ›Tag des Bankraubs‹ in die Stadtchronik eingehen wird, ist für ihn der Tag seiner Berufung. Er ist noch keine vierzehn, und doch hat er soeben entschieden, was er später einmal werden will: Bulle. Nicht Anwalt, wie sein Vater es gerne sähe, oder Arzt, wovon seine Mutter träumt. Nein, er - der schmächtige Teenager mit den schmal geschnittenen Augen - möchte diesen Männern, die die Via Osoppo in Angst und Schrecken versetzt haben, nicht nacheifern, er möchte ihnen das Handwerk legen.
Die drei Burschen hingegen, die auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig herumlungern, scheinen darüber ganz anders zu denken. Es sind drei Ligera, unbewaffnete Kleinkriminelle, die auf Handtaschenraub und Wohnungseinbrüche spezialisiert sind. Sie kommen aus einem der ärmsten und gefährlichsten Stadtteile Mailands, dem Giambellino ganz in der Nähe, und haben aufgeregt alles mitverfolgt. Es ist noch zu früh am Tag, um mit den anderen Jungs aus dem Viertel in dem kleinen Park auf der Piazza Tripoli lippa zu spielen, deshalb sind sie hier und wollen einen Zeitschriftenkiosk überfallen. Mit einem Ball oder Stein die Fensterscheibe einwerfen, um den Inhaber abzulenken, schon greift einer von ihnen in die Holzschublade mit den Sammelbildchen und dann nichts wie weg.
Drei kleine Rüpel, nicht älter als zehn. Der jüngste, Roberto, mit widerspenstigen Locken über der Stirn und grünen Augen, die in dich hineinzusehen scheinen, spielt sich als Anführer auf.
Er lächelt versonnen, trotz seines jungen Alters weiß er seit langem, auf welcher Seite der Barrikade er steht: auf der anderen. Diese Gangster werden augenblicklich seine Helden. Und er verliert keine Zeit zu beweisen, dass auch er nicht aus Pappe ist, dass er Mumm hat genau wie sie: Noch am selben Abend, in Lambrate, wo er manchmal bei seiner Tante übernachtet, zieht er ein richtig tolles Ding ab.
Auf der Wiese neben den Eisenbahngleisen hat der Zirkus Medini gerade seine weiß-blauen Zelte aufgeschlagen. Der Schriftzug aus Sperrholz über dem Eingang, behängt mit blinkenden Lichterketten, verkündet die Attraktionen: Akrobaten, Clowns und Raubtiere. Letztere sind es, die den kleinen Roberto interessieren, insbesondere die Tiger. Diese erweisen sich allerdings als Flop: Sie sehen aus wie Lebenslängliche, reglos und mit dem erloschenen Blick der Besiegten. Als der Wachmann einen Moment nicht aufpasst, beschließt der Junge, sie freizulassen.Träge tappen die Tiere aus ihren Zellen.
Der Bubenstreich dauert nur eine Nacht.
»Niemand sollte im Käfig eingesperrt sein«, erklärt Robertino dem Maresciallo, der ihm am nächsten Morgen die Ohren langzieht.
Die Tiger werden wieder eingefangen, und er landet im zarten Alter von acht Jahren zum ersten Mal im Beccaria, der Jugendstrafanstalt Mailands.
Kapitel 3
Auf der Straße wimmelt es von Uniformierten. Als seien sämtliche Bullen der Stadt an den Ort des Überfalls gehastet. Für den bald zwei Worte reichen: der Bankraub. Zwei Stunden sind vergangen, und das Ding ist schon zum Banküberfall schlechthin geworden. Schnell kennen alle die erbeutete Summe, der fassungslose Bankangestellte wiederholt sie wie ein Mantra, und die Schaulustigen verbreiten sie von Ohr zu Ohr: sechshundert Millionen Lire in bar, plus Zirkularschecks und Inhaberpapiere.
›Was für ein Wahnsinnscoup‹, denkt Antonio. Sein Vater, Ennio Santi, der beim Maschinenbaubetrieb Breda am Fließband steht und jeden Morgen lustlos den Blaumann überstreift, verdient fünfundzwanzigtausend Lire im Monat. Zu viert leben sie davon: er, die Eltern und der Bruder. Und nicht einmal schlecht.
Während immer noch Horden von Journalisten, Fotografen und Schaulustigen hinzuströmen, rechnet der Junge eifrig weiter: Um so viel Geld nach Hause zu tragen, müsste sein Vater zweitausend Jahre arbeiten. Zweitausend! Und dann ist er auch noch vor ein paar Monaten mit den Fingern in diese blöde Presse geraten ...
Mit solchen Gedanken steht Antonio reglos in seinem Hauseingang und betrachtet fasziniert das Spektakel nach dem Bankraub. Was da vor seinen Blicken abläuft, ist viel spannender als jeder Film, den sie im Filmtheater zeigen.
Die drei Ligera hingegen haben ziemlich schnell die Biege gemacht, Uniformierte können sie gar nicht leiden.
Leiter der Ermittlungen ist ein kleiner, rappeldürrer Glatzkopf: Commissario Nicolosi. Antonio kennt ihn. Alle kennen ihn. Sein Vater sagt immer, dieser Polizist habe Eier aus Stahl: 1946 nahm er Rina Fort fest, die Bestie aus der Via San Gregorio, jene Frau, die sich ihren Spitznamen dadurch verdiente, dass sie in besagter Mailänder Straße Ehefrau und Kinder ihres sizilianischen Liebhabers niedermetzelte, um ihn für sich allein zu haben. Seitdem ist der Polizeibeamte zu einer Art Stadtmythos geworden. Jetzt steht Nicolosi nur zwei Schritte von ihm entfernt. Mit gepflegtem Schnurrbart und schwarzen, flinken Augen, denen nichts entgeht.
»Was starrst du denn so, Jungchen?«, wendet er sich plötzlich zu ihm hin, als er seinen Blick spürt. »Geh nach Hause, Schularbeiten machen, hier gibt es absolut nichts zu sehen.«
»Aber ich habe sie gesehen!«, erwidert Antonio. Vielleicht ein wenig zu leise.
Der Commissario hört nicht hin. Ein herankommender Beamter ruft ihn.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
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Autoren-Porträt von Paolo Roversi
Paolo Roversi, geboren 1975, ist Journalist und lebt in Mailand. Für seinen Kriminalroman Die linke Hand des Teufels erhielt er den Premio Camaiore, einen renommierten Preis für Kriminalliteratur. Er gehört zu einer neuen Generation italienischer Kriminalautoren und wird von der Presse hoch gelobt. In Frankreich ist Milano Criminale für den Prix Polar nominiert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Paolo Roversi
- 2013, 1. Auflage, 464 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Esther Hansen
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843705186
- ISBN-13: 9783843705189
- Erscheinungsdatum: 08.03.2013
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 3.16 MB
- Ohne Kopierschutz
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