Sterben kann ich morgen noch (ePub)
Roman
„Zuerst will ich von dir wissen, ob ich mich auf dich verlassen kann. Du hast eines meiner Bücher gelesen, Mike. Also müsstest du doch begriffen haben, wie wichtig es mir ist, am Ende meines Lebens noch einmal etwas Sinnvolles zu tun. Nach dem Mist der...
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Produktinformationen zu „Sterben kann ich morgen noch (ePub)“
„Zuerst will ich von dir wissen, ob ich mich auf dich verlassen kann. Du hast eines meiner Bücher gelesen, Mike. Also müsstest du doch begriffen haben, wie wichtig es mir ist, am Ende meines Lebens noch einmal etwas Sinnvolles zu tun. Nach dem Mist der letzten Jahre ist das das Einzige, das ich noch erleben möchte. Sterben kann ich morgen noch.“
Im Altenheim „Sunset Valley’s Senior Rest“ könnte Ruhe und Frieden herrschen – gäbe es da nicht Frank Logan: Der knurrige 70-jährige Schriftsteller gilt als Schrecken des Pflegepersonals. Nur zum schüchternen Michael fasst er Vertrauen und bittet ihn um Hilfe: Er will ein letztes Mal an den Schauplatz seines wichtigsten Romans zurückkehren. Bevor Michael recht weiß, wie ihm geschieht, packt ihn eine nie gekannte Abenteuerlust. Wenig später findet er sich in einem klapprigen Auto auf dem Highway wieder. Unterwegs lernen die ungleichen Reisegefährten eine schöne Anhalterin kennen. Michael ist sofort bis über beide Ohren in Sally verliebt. Noch weiß er nicht, dass sie gerade erst ihren Freund verlassen hat. Dass sie ihn um 20.000 Dollar erleichtert hat. Und dass ihr deswegen zwei zu allem entschlossene Killer auf den Fersen sind …
Humorvoll und melancholisch, abenteuerlich und berührend: Die Geschichte eines Mannes, der keine Zeit zu verlieren hat.
Im Altenheim „Sunset Valley’s Senior Rest“ könnte Ruhe und Frieden herrschen – gäbe es da nicht Frank Logan: Der knurrige 70-jährige Schriftsteller gilt als Schrecken des Pflegepersonals. Nur zum schüchternen Michael fasst er Vertrauen und bittet ihn um Hilfe: Er will ein letztes Mal an den Schauplatz seines wichtigsten Romans zurückkehren. Bevor Michael recht weiß, wie ihm geschieht, packt ihn eine nie gekannte Abenteuerlust. Wenig später findet er sich in einem klapprigen Auto auf dem Highway wieder. Unterwegs lernen die ungleichen Reisegefährten eine schöne Anhalterin kennen. Michael ist sofort bis über beide Ohren in Sally verliebt. Noch weiß er nicht, dass sie gerade erst ihren Freund verlassen hat. Dass sie ihn um 20.000 Dollar erleichtert hat. Und dass ihr deswegen zwei zu allem entschlossene Killer auf den Fersen sind …
Humorvoll und melancholisch, abenteuerlich und berührend: Die Geschichte eines Mannes, der keine Zeit zu verlieren hat.
Lese-Probe zu „Sterben kann ich morgen noch (ePub)“
PrologNoch vor zwei Jahren war die Welt für mich eine völlig andere gewesen, eine, in der es feste Regeln, Gesetze und Verhaltensmuster gab. Ich dachte, sie würden auch für mich gelten, und tat alles, um nicht aufzufallen und nicht durch die Maschen des Netzes der Gesellschaft zu fallen. Alles, was ich damals wollte, war ein bescheidenes Auskommen, ein Dach über dem Kopf und so viel Selbständigkeit, dass mir am Ende des Monats noch etwas Geld übrig blieb.
Du bist intelligent, Junge – also mach was aus deinem Leben, hatte mir mein Vater schon frühzeitig geraten. Wäre es nach ihm gegangen, dann säße ich jetzt wahrscheinlich in einer schicken Anwaltskanzlei und hätte den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als mich um mehr oder weniger uninteressante Fälle zu kümmern.
Mein Vater sah diese Dinge jedoch anders. Geld stinkt nicht, Michael, hatte er mehr als einmal zu mir gesagt. Man muss heutzutage sehen, wo man bleibt und wie man am besten über die Runden kommt. Und wenn du dich gewaltig auf den Hosenboden setzt, dann wirst du es auch eines Tages zu etwas bringen. Du musst nur Jura studieren, dann stehen dir alle Türen offen. Glaub mir das! Du bist doch ein Garrison.
Sein Appell an die Familienehre hatte mich jedoch nicht überzeugt. Aber das war ja auch kein Wunder, denn ich musste mir seine Sprüche schon als Kind anhören und stellte mich deshalb mit der Zeit taub. Das machte ihn noch wütender, und er nannte mich einen Nichtsnutz, der eines Tages in der Gosse landen würde. Und dann würde er mir nicht mehr helfen, hatte er mit erhobenem Zeigefinger gedroht.
In solchen Momenten hatte ich immer wieder zu meiner Mutter geschaut und auf ihre Unterstützung gehofft. Aber schließlich hatte ich begreifen müssen, dass Mutter gar nichts unternahm. Erst als ich achtzehn war und nicht mehr zu Hause lebte, begriff ich, dass sie
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sich von diesem Macho hatte unterdrücken lassen.
Nachdem ich ausgezogen war und auch die Stadt verlassen hatte, die bis zu diesem Zeitpunkt der Mittelpunkt meines Lebens gewesen war, sah ich viele Dinge in einem anderen Licht, und das machte mich stark.
Ich ging nach New York, schlug mich dort die nächsten zwei Jahre mit allen möglichen Gelegenheitsjobs durch und fand schließlich eine Stelle im Memorial Hospital, wo ich eine Ausbildung zum Altenpfleger machte. Anderen Menschen zu helfen und für sie da zu sein, empfand ich als positiv, und deshalb erledigte ich diesen Job zur Zufriedenheit meiner Vorgesetzten.
Auf eigenen Wunsch wechselte ich sechs Jahre später zum Sunset Valley Senior’s Rest in Southampton auf Staten Island. Das war ein Altersheim ganz besonderer Art, in der Form nämlich, dass von den Insassen (die man ruhig als solche bezeichnen konnte) kaum einer mehr so richtig mitbekam, was um ihn herum eigentlich passierte. Die meisten dämmerten einfach vor sich hin oder murmelten den ganzen Tag wirres Zeug, das keiner verstand.
Aber ein freundliches Lächeln hatten diese alten Menschen immer für mich übrig – auch wenn es wahrscheinlich jemand anderem galt. Vielleicht den Söhnen, Töchtern oder Enkeln, auf deren Besuch sie jeden Tag aufs Neue hofften. Aber dieser Wunsch erfüllte sich meistens nicht oder nur sehr selten. Einmal aufs soziale Abstellgleis geschoben, blieb für diese Leute nur noch eins übrig: auf den Tod zu warten und zu hoffen, dass sie davon nichts mehr mitbekamen.
Das war meine in sich geschlossene Welt, in der ich lebte, arbeitete und meinen Job so gut wie möglich machte. Ab und zu gingen meine Gedanken auf Wanderschaft und beschäftigten sich mit dem Wunsch, vielleicht doch noch Medizin zu studieren. Aber je länger ich daran dachte, umso deutlicher wurde mir bewusst, dass dieser Zug für mich abgefahren war. Aus eigenen Mitteln hätte ich kein Studium finanzieren können – es sei denn, ich hätte meinen Vater um Hilfe gebeten. Aber der Kontakt zu ihm und meiner Mutter beschränkte sich auf gelegentliche Telefonate und den obligatorischen Besuch zu Weihnachten. Mehr wollte ich nicht, denn ich erkannte mit jedem weiteren Jahr, wie weit ich mich eigentlich schon von der Umgebung entfernt hatte, die meine Kindheit dominiert und geprägt hatte.
Dass mein Leben einmal in ganz anderen Bahnen verlaufen sollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das änderte sich am 4. Juli 2001. An diesem Tag begegnete ich Frank Logan zum ersten Mal, und ich sollte bald erkennen, dass sich mein Leben von nun an grundlegend verändern würde.
Kapitel 1
Ein Rebell im Sunset Valley
»Der hat sie doch nicht mehr alle!«, schimpfte mein Kollege Toby Chester und tippte sich mit dem rechten Zeigefinger gegen die Schläfe. »Wenn der Kerl glaubt, dass er eine Extrabehandlung bekommt, dann hat er sich getäuscht.«
»Von wem redest du eigentlich?«, fragte ich ihn und wunderte mich im Stillen darüber, dass er so wütend war. Normalerweise war er ein ruhiger und recht resoluter Zeitgenosse, den man so schnell nicht unterbuttern konnte. Er besaß genau die Kaltschnäuzigkeit, die man in diesem Job eigentlich brauchte, um nichts an sich herankommen zu lassen. So weit war ich noch lange nicht, und wahrscheinlich würde das bei mir auch nie so sein. Denn die Menschen, die hier lebten, besaßen noch eine Würde, die auch das Pflegepersonal zu achten hatte.
Allerdings wäre es vergebliche Mühe und erst recht verschwendete Zeit gewesen, das Toby zu erklären. Er sah die Dinge mehr von der praktischen Seite und benahm sich so, als sei er der Herr über eine Gruppe von willenlosen Menschen, die nach seiner Pfeife zu tanzen hatten. Diejenigen, die noch nicht ganz das Stadium der geistigen Umnachtung erreicht hatten, hatte er schon so weit eingeschüchtert, dass sie jede seiner Anweisungen kommentarlos befolgten. Deshalb war ich umso erstaunter, dass es überhaupt jemand geschafft hatte, ihm zu widersprechen, und meine Neugier wuchs.
»Der Kerl ist erst zwei Stunden hier und glaubt schon, wir müssten ihm den roten Teppich ausrollen!«, wetterte er weiter. »Weißt du, was er von mir verlangt hat, Mike?« »Du wirst es mir sicher gleich sagen.«
»Ein Bier soll ich ihm bringen. Anscheinend verwechselt dieser Mensch ein Altersheim mit einer Bar.«
»Wie hast du darauf reagiert?«
»Ich habe ihm gesagt, dass er einen Pfefferminztee haben kann – oder Sodawasser.«
»Und wahrscheinlich wollte er das nicht, oder?«
»Nein«, knurrte Toby. »Er hat gesagt, dass ich das Zeug selbst trinken soll, wenn ich darauf Lust habe. Ich habe ihm dann klargemacht, wo er hier eigentlich ist und dass er sich damit abfinden soll, dass hier einiges anders läuft. Daraufhin nannte er mich eine gelbgestreifte Ratte, die es nicht wert wäre, seine Stiefel zu putzen. Mensch, Mike, am liebsten hätte ich dem Kerl eine aufs Maul gegeben. Ich bin jetzt fast zehn Jahre hier, aber so rüpelhaft hat sich noch keiner von den Alten benommen. Ich werde mit Dr. Kane darüber sprechen.
Wahrscheinlich muss man den Typen erst mal die nächsten Tage ruhigstellen.«
Das, wovon er da sprach, war eine gängige Praxis. Wer ins Sunset Valley Senior’s Rest kam und Probleme hatte, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, bekam erst einmal entsprechende Sedativa verabreicht, damit sich die Aufregung allmählich legte. Ich hatte Fälle erlebt, dass Menschen zusammengebrochen waren, als ihre Kinder sie hier zurückgelassen und ihnen beim Gehen freundlich lächelnd zugewunken hatten. Dann halfen oft nur Medikamente, und meistens ging es danach besser. Manchmal musste man für das Ertragen der Einsamkeit einen hohen Preis zahlen. »Ich habe gar nicht mitbekommen, dass wir einen Neuen haben«, sagte ich zu Toby. »Wie heißt er?« »Frank Logan«, kam prompt seine Antwort. »Er ist siebzig, sieht aber jünger aus. Aber ich sag dir eins, Mike: Der Kerl ist völlig neben der Rolle. Wenn du zu ihm ins Zimmer gehst, dann pass auf. Dem traue ich sogar zu, dass er dich angreift. Wenn das der Fall sein sollte, dann musst du es sofort melden, klar?«
»Natürlich«, versicherte ich ihm. »Wo kämen wir denn hin, wenn hier jeder macht, was er will?« In Wirklichkeit war ich aber sehr neugierig auf diesen Frank Logan. Einer, der es schaffte, einen groben Klotz wie Toby aus der Fassung zu bringen, musste wirklich ein besonderer Mensch sein.
»Er ist im Westflügel untergebracht, in Zimmer zwei-null-fünf«, sagte Toby. »Also pass auf, ja?«
»Toby, ich mache diesen Job auch nicht erst seit gestern«, antwortete ich in sprödem Tonfall. »Ich bekomme das schon hin – zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Du klingst ja fast so, als hätten wir hier einen gemeingefährlichen Verbrecher untergebracht.«
»Der tickt nicht richtig«, brummte er und vollführte mit der rechten Hand eine entsprechende Geste. »Aber du wirst schon noch erkennen, dass ich recht habe. Bis später dann.« Er nickte mir kurz zu, drehte sich um und ging weiter.
»Michael!«, erklang jetzt eine Stimme, die mich von einer Sekunde auf die andere aus meinen Gedanken riss. Ich drehte mich um und sah Harold Marsh aus einem Zimmer kommen. »Gehen Sie ins Zimmer von Mrs. Whitcomb, und helfen Sie der Dame. Sie möchte hinaus in den Park bei diesem schönen Wetter.«
»Natürlich, Mister Marsh«, erwiderte ich und beeilte mich, der Anweisung des Heimleiters nachzukommen.
Harold Marsh achtete mit Argusaugen darauf, dass der Betrieb niemals ins Stocken geriet. Dem Pflegepersonal erzählte er bei solchen Gelegenheiten immer etwas von der Wichtigkeit des ständigen Workflows und dass man mehr als nur zu 100 Prozent hinter seinem Job stehen müsse. An ihm war wirklich ein Motivationstrainer verlorengegangen. Immer bestrebt, den Arbeitsablauf zu optimieren und das Leben der Bewohner zu verbessern.
Einigen meiner Kollegen ging er damit ziemlich auf den Geist, aber ich hatte mich an seine Ansichten mittlerweile gewöhnt und nahm sie in Kauf. Im Grunde genommen stimmte es ja, was er sagte.
***
Mrs. Whitcombs Zimmer befand sich ebenfalls im westlichen Teil des Sunset Valley Senior’s Rest – nur ein Stockwerk tiefer. Als ich das Treppenhaus passierte, glaubte ich für einen winzigen Moment, irgendwo von dort oben hitzige Stimmen zu hören. Aber nur wenige Sekunden später war schon wieder alles still. Wahrscheinlich war es Mr. Connor gewesen, der wieder einmal auf dem langen Flur umherirrte und verzweifelt nach seinem Sohn Richard suchte. Er fragte jeden, der vorbeikam, nach ihm.
Mr. Connors Sohn war aus dem Golfkrieg nicht mehr zurückgekehrt, und dieses einschneidende und erschütternde Erlebnis hatte in ihm etwas zerbrechen lassen. Sein Geist hatte sich in eine Region zurückgezogen, zu der nur er den Zugang kannte. Deshalb war er hier, weil seine Frau die andauernden Anfälle und Ausraster allein nicht mehr bewältigen konnte.
Traurige Kapitel dieser Art gab es in diesem Heim sehr viele. Deshalb hatte ich mir schon von Anfang an zu eigen gemacht, diese Schicksale nicht zu nah an mich herankommen zu lassen. Das war ein gutgemeinter Ratschlag vieler Kollegen gewesen, die genau wussten, wovon sie sprachen. Mittlerweile hatte ich erkannt, dass es richtig war, sich so zu verhalten.
Ich erreichte Mrs. Whitcombs Zimmer und klopfte kurz an. Sekunden später forderte mich eine heisere Stimme zum Eintreten auf.
Mrs. Whitcomb hatte sich schon wieder so schick zurechtgemacht, als wolle sie die Metropolitan Opera in New York besuchen. Sie trug ein Kleid, das jedem Ball Ehre gemacht hätte. Für ihr Alter von 75 Jahren wirkte sie noch sehr rüstig, nur mit dem Treppensteigen und Laufen klappte es nicht mehr so. Deshalb war sie auf einen Rollstuhl angewiesen, wenn sie größere Wege zurücklegen wollte.
»Da sind Sie ja schon, Michael«, begrüßte sie mich freundlich. »Schön, dass Sie Zeit für mich haben. Bei diesem Wetter muss man raus ins Freie. Finden Sie nicht auch?«
»Stimmt«, pflichtete ich ihr bei und half ihr, im Rollstuhl Platz zu nehmen.
Mrs. Whitcomb war seit zehn Jahren Witwe. Sie hatte – soweit ich wusste – noch eine Tochter, die in Chicago lebte. Aber Besuch von ihr hatte sie noch nie bekommen. Dass sie trotzdem noch lächeln konnte, zeugte von unerschütterlichem Optimismus und Lebenswillen.
Ich schob Mrs. Whitcomb aus dem Zimmer und erreichte kurze Zeit später den Fahrstuhl. Die alte Frau schwieg und schien ganz in ihren Gedanken versunken. Das änderte sich erst wieder, als wir den Fahrstuhl verließen und die Tür passierten, die hinaus in den Park führte.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits überschritten, aber es war angenehm warm, und ein lauer Wind sorgte für Erfrischung.
»Fahren Sie mich dort hinten zur Bank«, bat sie mich. »Das ist mein Lieblingsplatz.«
Auf dem Weg dorthin begegnete ich einigen Pflegern, die genau das Gleiche taten wie ich. Einige der Bewohner mussten jedoch besonders intensiv beaufsichtigt werden, wenn sie sich im Freien aufhielten. Einer von ihnen war Mr. Davis, der wieder mal eine Chance witterte und die – seiner Meinung nach – unaufmerksamen Pfleger austricksen wollte. Er schlug sich in die Büsche und wollte dort untertauchen. Aber einer meiner Kollegen hatte das zum Glück noch rechtzeitig bemerkt und lief ihm sofort nach.
»Er hat wohl wieder den Fliegeralarm gehört«, seufzte Mrs. Whitcomb, als sie bemerkte, wie mein Kollege den heftig zitternden Mr. Davis aus den Büschen holte. Sein Gesicht war kreidebleich. »Ich kann das gut verstehen, Michael. Krieg ist immer eine hässliche Sache.«
»Ich war noch nicht im Krieg, Ma’am«, antwortete ich. »Ich kenne das alles nur aus dem Fernsehen, und das soll auch so bleiben, wenn es nach mir geht.«
»Seien Sie froh darüber«, sagte Mrs. Whitcomb. »Ich habe die schlechten Zeiten noch miterlebt. Glauben Sie mir, damals in Oklahoma war das alles gar nicht so einfach. Wir lebten mitten in der Dustbowl. Waren Sie schon mal in Oklahoma, Mike?«
»Nein, Ma’am«, erwiderte ich wahrheitsgemäß und richtete mich insgeheim schon darauf ein, dass die alte Dame heute ausgeprägten Gesprächsbedarf hatte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als ihr einfach zuzuhören. Das war meiner Meinung nach nämlich eine weitaus wirksamere Therapie, als die alten und einsamen Leute mit Medikamenten vollzustopfen.
»Als ich ein Kind war, gab es noch die großen Camps für die durchziehenden Landarbeiter«, klärte sie mich auf. »Manche von ihnen kamen mitsamt ihren Familien von Texas herauf, weil es dort unten keine Arbeit mehr gab. Es war ein armseliges Leben …«
»Ich habe darüber gelesen, Ma’am«, sagte ich und erzählte ihr auch von einem Film, den ich einmal gesehen hatte. Er hieß Früchte des Zorns nach einem Roman von John Steinbeck. Ein sehr junger Henry Fonda hatte darin eine großartige Rolle gespielt. Als Mrs. Whitcomb das hörte, begannen ihre Augen vor Freude zu strahlen. Natürlich kannte sie diesen Film, und sie bestätigte mir, dass das alles sehr authentisch gewesen war.
Was sie sonst noch zu sagen hatte, nahm ich aber nur mit halbem Ohr wahr, denn in diesem Moment kam meine Kollegin Linda Cosgrove vorbei. Sie schenkte mir ein Lächeln, das ich natürlich erwiderte.
»Ein hübsches Mädchen, nicht wahr?« Mrs. Whitcomb deutete meinen Blick richtig, und ich wurde verlegen. Linda zog so manchen Blick der männlichen Kollegen auf sich, und das wusste sie ganz genau.
»Sie sollten einmal mit ihr ausgehen, Michael«, schlug mir Mrs. Whitcomb vor. »Sie sind doch ein netter und gutaussehender junger Mann. Fragen Sie sie, bevor es ein anderer tut. Sonst kommen Sie wirklich zu spät. Bei solchen Dingen darf man nicht zu lange warten.«
Einerseits hatte Mrs. Whitcomb die Wahrheit gesagt, andererseits wusste ich aber nicht, ob ich Linda wirklich nach einem Date fragen sollte. Sie war ganz anders als ich. Sie flirtete gern und genoss das Leben, ich dagegen ging nicht oft aus – und wenn es einmal der Fall war, dann reichte es gerade, um mit zwei oder drei Kollegen nach der Arbeit einen Drink zu nehmen. Das war aber auch schon alles. Ein Partyliebhaber war ich nicht, und Bekanntschaften auf Teufel komm raus zu schließen, gehörte auch nicht zu meinen Charakterzügen.
»Ich bleibe ein bisschen hier und genieße die Sonne«, riss mich die Stimme der alten Dame aus meinen Gedanken. »Keine Sorge«, fügte sie rasch hinzu. »Ich werde Ihnen schon nicht davonlaufen. Nutzen Sie die Zeit, und gehen Sie einen Kaffee trinken. Ich bin sicher, dass Linda das Gleiche vorhat. Worauf warten Sie noch? Oder sind Sie wirklich so schüchtern?«
Der Gedanke, dass ausgerechnet Mrs. Whitcomb mich mit aller Macht verkuppeln wollte, hatte etwas Skurriles an sich. Deshalb musste ich schmunzeln, als ich ihr versprach, ihre Ratschläge zu befolgen. Wenn die Menschen im Sunset Valley Senior’s Rest alle so optimistisch und unkompliziert gewesen wären wie Mrs. Whitcomb, dann hätten wir es leichter gehabt.
***
Ich hielt mich kurz in der Cafeteria auf, wagte es dann aber doch nicht, auf Linda zuzugehen und mit ihr ein zwangloses Gespräch anzufangen. Sie saß nämlich nicht allein am Tisch. Ausgerechnet Dr. Jeffries leistete ihr Gesellschaft und schaute sie auf eine Art und Weise an, die mehr sagte als Worte.
Ich hatte von anderen Kollegen bereits gehört, dass Curt Jeffries zu der Sorte Männer gehörte, die ihre Machtposition ausnutzten und Druck auf weibliche Angestellte ausübten, damit sie zum Ziel kamen. Dieses Mal schien er es auf Linda abgesehen zu haben – aber aus ihren Blicken schloss ich, dass ihr das gar nicht unangenehm zu sein schien.
Jedem das Seine, dachte ich, trank meinen Kaffee aus und ging wieder hinaus zu Mrs. Whitcomb, die unter einem schattenspendenden Baum saß und das schöne Wetter genoss. Sie wirkte ganz entspannt und zufrieden in ihrer kleinen Welt und lächelte mir zu.
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte sie sofort und blickte ganz erstaunt drein, als ich ihr mit einem kurzen Kopfschütteln zu verstehen gab, dass das nicht der Fall war. »Ja, aber warum denn nicht, Michael? Das wäre doch eine passende Gelegenheit gewesen und …«
»Es hat eben nicht gepasst, Mrs. Whitcomb«, erwiderte ich rasch. »Zerbrechen Sie sich am besten nicht weiter den Kopf darüber. Ich komme schon klar, und Sie müssen mich nicht verkuppeln.«
Sie sagte nichts mehr, weil sie spürte, dass mir das unangenehm war. Also lenkte sie das Gespräch auf ein anderes Thema und plauderte zwanglos mit mir über ganz alltägliche Dinge. Ich hörte ihr zu und tat das, was man von mir erwartete – nämlich sich Zeit zu nehmen für die alten Leute und ihnen dadurch das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht ganz so allein waren in dieser sich immer rascher verändernden Gesellschaft. Nur hier im Sunset Valley Senior’s Rest schien die Zeit etwas langsamer voranzuschreiten. Ein Gefühl, das von vielen Bewohnern sogar als angenehm empfunden wurde.
Eine gute Stunde später bat mich Mrs. Whitcomb, sie wieder zurück in ihr Zimmer zu bringen. Die Sonne war mittlerweile ein gutes Stück weiter nach Westen gewandert, und ein frischer Wind vom Atlantik sorgte für eine spürbare Kühle. Deshalb schob ich die alte Dame wieder zurück ins Innere des Gebäudekomplexes, brachte sie hinauf in ihr Zimmer und verabschiedete mich von ihr mit einem freundlichen Lächeln.
Als ich die Tür hinter mir schloss und mich dem Treppenhaus näherte, hörte ich plötzlich laute Stimmen von oberhalb, gefolgt von einem dumpfen Poltern und erregten Rufen.
»Verdammt noch mal!«, hörte ich Toby Chesters wütende Stimme. »Das geht so nicht. Nehmen Sie doch endlich Vernunft an!«
»Mit mir macht man so was nicht!«, rief jemand. »Ich bin keiner von diesen Schwachköpfen,die ihr mit Tabletten und Spritzen ruhigstellt. Komm nur näher, du Mistkerl!«
Warum ich jetzt die Treppenstufen nach oben eilte, um mir Gewissheit darüber zu verschaffen, was dort vor sich ging, konnte ich hinterher selbst nicht erklären. Ich wusste nur, dass es wichtig war, und sputete mich deshalb. Weil ich nämlich schon ahnte, was ein Stockwerk höher passiert war.
Wenige Augenblicke später hatte ich die beiden Treppen hinter mich gebracht und erreichte jetzt den Trakt, der in den Westflügel führte. Die Tür stand offen – und deshalb hatte ich die lauten Stimmen klar und deutlich hören können. Und nicht nur das. Ich sah auch, dass einige Bewohner dieses Bereichs aus ihren Zimmern gekommen waren und beobachteten, was sich da auf dem Flur abspielte.
Toby war gerade dabei, einen älteren Mann mit eisgrauen Haaren und einem struppigen Vollbart am Oberarm zu packen und mit sich zu zerren. Sein Gesicht war eine Mischung aus Wut und Ungeduld, weil der Mann offensichtlich nicht so reagierte, wie er es von ihm erwartete.
»Jetzt kommen Sie endlich mit. Es ist doch nur ein Routinecheck. Warum in Dreiteufelsnamen wehren Sie sich denn dagegen? Es ist doch nur zu Ihrem Besten …«
»Wenn du mich nicht gleich loslässt, dann kannst du was erleben«, nörgelte der alte Mann aufs Neue. »Ihr Verbrecher könnt mich nicht gegen meinen Willen zu etwas zwingen.«
Einer von den neugierigen Bewohnern, die diese Auseinandersetzung beobachteten, klatschte jetzt zögernd Beifall, und andere fassten dies als Zeichen auf, ebenfalls lautstark Zustimmung zu geben. Toby fluchte laut und deutlich, weil die ganze Sache auszuufern begann.
Jetzt sah er mich am Eingang des Gebäudetrakts stehen und winkte mir aufgebracht, näher zu kommen.
»Hilf mir mal, Michael! Wir müssen diesen störrischen Esel hier endlich zur Vernunft bringen. Er muss dringend untersucht werden, weil …«
Der alte Mann mit den grauen Haaren entzog sich währenddessen Tobys Zugriff und stieß mit seinem Knie gegen eine Stelle, wo es besonders weh tat. Toby wurde auf einmal ganz bleich im Gesicht, krümmte sich und fiel zu Boden. Er presste beide Hände auf die schmerzende Stelle im Unterleib, wimmerte leise vor sich hin und war nicht imstande, irgendetwas zu tun. Also blieb mir notgedrungen nichts anderes übrig, als einzugreifen, bevor die ganze Situation eskalierte. »Bleib, wo du bist, sonst bekommst du auch einen Tritt verpasst, Junge!«, warnte mich der Grauhaarige. »Ich bin zwar ein alter Mann, aber ich kann mich noch wehren, so gut es irgendwie geht. Das hat dieser Hühnerdieb da zu spüren bekommen …«
Während er das sagte, schaute er verächtlich auf den am Boden liegenden Toby, der immer noch nicht so recht begriffen hatte, was hier eigentlich geschehen war und dass ihn ein alter Herr auf so gemeine Weise ausgetrickst hatte. Jemand, von dem er das niemals erwartet hätte.
»Mr. Logan, ich will keinen Streit mit Ihnen«, sprach ich den Mann mit ruhiger Stimme an und näherte mich ihm vorsichtig.
»Woher weißt du, wer ich bin?«, entgegnete Logan. »Wir sind uns bisher noch nicht begegnet. Wie heißt du?«
»Michael Garrison«, erwiderte ich immer noch ganz ruhig, obwohl mir in diesen Sekunden Dutzende unterschiedlicher Gedanken durch den Kopf gingen. Weil ich nämlich ganz genau wusste, was geschehen würde, wenn Harold Marsh erfuhr, was hier im Westflügel vor sich ging. »Bleiben Sie ganz ruhig, und lassen Sie uns vernünftig miteinander reden, Mr. Logan. Ich bin sicher, dass wir eine Lösung für dieses Problem finden werden.«
»Ich habe kein Problem, Junge«, erwiderte Logan in barschem Ton. »Aber du bekommst mit Sicherheit eins, wenn du das Gleiche mit mir versuchst wie dieser Schlappschwanz da.« »Michael – du musst sofort Marsh informieren!«, keuchte Toby, während er aufzustehen versuchte. »Hol ihn – jetzt gleich …«
Er zuckte zusammen, als er Logans zornigen Blick auf sich gerichtet sah, und wich ihm aus. Seltsamerweise unternahm ich aber gar nichts, sondern verhielt mich nach wie vor ruhig und konzentrierte mich stattdessen einzig und allein auf Frank Logan. Der bemerkte natürlich, dass ich meinem Kollegen nicht zu Hilfe eilen wollte und auch seine Bitte ignorierte. Das wiederum schien sein Interesse zu wecken, und er musterte mich von Kopf bis Fuß in einer Mischung aus Misstrauen und Wachsamkeit.
»Sei still, Toby«, sagte ich und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem alten Mann. »Ich bin sicher, dass wir diese Sache hier ohne größeres Aufsehen beenden werden. Nicht wahr, Mr. Logan?« »Aber nur, wenn dieser Kerl verschwindet«, knurrte der Alte. »Dem traue ich nicht über den Weg.« »Du hast gehört, was Mr. Logan gesagt hat, Toby. Geh und lass uns allein. Ich kümmere mich um alles Weitere. Hast du verstanden?«
»Ja, aber …«
»Nichts aber!«, unterbrach ich ihn. »Nun mach schon. Und kein Wort zu Mr. Marsh. Ist das klar?« »Herrgott, ja«, erwiderte Toby, der wieder auf den Beinen stand, aber wohl noch Schmerzen hatte. Er war blass im Gesicht, hütete sich aber davor, seine Wut auf Logan und diese unerwartete Niederlage zu zeigen. »Aber man muss etwas unternehmen«, fügte er trotzig hinzu. »Ich habe Blutspuren in seiner Toilette entdeckt. Da stimmt was nicht. Wir müssen die ärztliche Leitung informieren, noch heute.«
Als ich das hörte, schaute ich zu Logan und entdeckte, dass es in seinen Augen nervös zu flackern begann. Aber nur ganz kurz, dann hatte er sich schon wieder unter Kontrolle.
»Wir reden später darüber, Toby«, sagte ich und bemerkte, dass sich Logan bei diesen Worten wieder beruhigte. »Mr. Logan wird sich von nun an ruhig verhalten, nicht wahr?«
Ich sah, wie er nickte, und Toby gab sich damit zufrieden. Zumindest vorerst. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, drehte sich hastig um und verließ dann den Gebäudetrakt so schnell wie möglich.
»Der hat den Schwanz eingezogen – und das im wahrsten Sinne des Wortes.« Logan lachte. »Hoffentlich hat er seine Lehren daraus gezogen. Ich bin ein Mensch mit Würde – und so möchte ich auch behandelt werden. Wie war gleich noch einmal dein Name, Junge?«
»Michael Garrison«, wiederholte ich. »Ich kann mich um Sie kümmern, wenn Sie das wollen, Mr. Logan. Aber dann müssen Sie schon etwas besser mit uns zusammenarbeiten.«
»Ich will nichts als meine Ruhe«, verteidigte sich der alte Mann. »Ist das vielleicht zu viel verlangt?«
»Die bekommen Sie auch«, versprach ich ihm. »Aber jetzt sollten Sie besser das tun, was man von Ihnen hier erwartet. Und das mindeste, was man verlangen kann, ist ordentliches Benehmen.«
»Warum?«, fragte er mich. »Ihr kassiert doch ohnehin nur Geld vom Staat dafür, dass ihr uns zu Tode pflegt. Dann lasst uns wenigstens unsere Würde. Ist das denn zu viel verlangt?«
Die Art und Weise, wie er das sagte, überraschte mich – und ich ahnte, dass da irgendetwas war, was Frank Logan unbedingt für sich behalten wollte. Und es schien etwas mit Tobys Entdeckung zu tun zu haben. Blut in der Toilette bei einem Menschen seines Alters verhieß nichts Gutes. Er wusste, dass ich mir darüber jetzt den Kopf zerbrach, und deshalb lenkte er rasch ein. »Wir reden darüber, okay?«, sagte er und wartete ab, bis ich nickte. »Gut«, fuhr er fort. »Aber nicht hier, wo das alle hören können. Am besten in meinem Zimmer.«
»Einverstanden«, sagte ich und folgte ihm, nachdem ich den übrigen Bewohnern nahegelegt hatte, zurück in ihre Zimmer zu gehen und sich keine Sorgen zu machen. »Glaubst du, dass dein Kollege dichthält?«, fragte mich Logan, nachdem ich ihm ins Zimmer gefolgt war und die Tür hinter mir geschlossen hatte.
»Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich die Hand für ihn ins Feuer lege«, antwortete ich seufzend. »Toby ist manchmal sehr impulsiv, und er hat einen ausgesprochenen Dickkopf. Was hat seine Anmerkung zu bedeuten, Mr. Logan? Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, darüber zu reden.«
»Wahrscheinlich«, erwiderte er und nahm in einem altertümlichen Sessel Platz, der direkt neben dem Fenster stand. Aber für das weite parkähnliche Areal, das man von hier oben aus sehen konnte, hatte er keinen Blick übrig. Stattdessen zog er die unterste Schublade der unter der Fensterbank stehenden Kommode auf und holte zu meiner Überraschung eine Flasche hervor, deren Etikett mir weiteres Kopfzerbrechen bereitete. Denn ich erkannte den Schriftzug Jack Daniel’s sofort.
»Das ist guter, ordentlicher Tennessee-Whiskey, Junge«, meinte Logan. »Willst du auch einen Schluck?«
»Woher haben Sie das?«, fragte ich. »Sie wissen doch genau, dass es verboten ist, Alkohol im Zimmer zu haben und …«
»Jack Daniel’s ist kein Alkohol«, winkte er ab und goss sich ein Glas ein. »In manchen Fällen hilft er sogar besser als Medizin. Zum Glück konnte ich einen kleinen Vorrat davon mitnehmen, bevor ich hierherkam. Und wie ich gesehen habe, gibt’s in einer halben Meile Entfernung einen Liquor Store, den man bequem zu Fuß erreichen kann. Was ist jetzt? Willst du auch ein Glas? Dann redet es sich besser.«
Ich stimmte schließlich zu, weil ich wusste, dass dies ein wichtiger Schritt war, um weiter auf Frank Logan zuzugehen und mehr über ihn zu erfahren. Alles sah danach aus, als wenn der alte Mann Vertrauen zu mir gefasst hatte und mit mir reden wollte. Und wenn ich ihm in dieser Situation helfen sollte, dann musste ich eben mehr wissen.
Er zeigte auf das zweite Glas, das er mittlerweile gefüllt hatte, verschloss die Flasche und forderte mich auf, mit ihm anzustoßen. Ich muss zugeben, dass ich nie ein großer Freund von Whiskey gewesen bin, deshalb verzog ich das Gesicht, als ich einen Schluck nahm. Logan dagegen trank das Glas in einem Zug aus, als wäre es Wasser, und grinste zufrieden, während er sich gleichzeitig über meine Abneigung amüsierte.
»Ich nehme noch einen«, sagte er. »Auf einem Bein steht man nicht besonders gut. Ist eine alte Binsenweisheit, Mike. Ich weiß, wovon ich rede. Nun schau doch nicht so entsetzt drein«, sagte er, während er sich ein zweites Glas eingoss. »Wenn ich mich gut dabei fühle, ist doch alles in Ordnung …«
»Nichts ist in Ordnung, Mr. Logan«, widersprach ich ihm. Obwohl ich erleichtert war, als er die Flasche wieder in der Schublade der Kommode verstaute, verstärkte sich das mulmige Gefühl in meinem Magen mit jeder weiteren Sekunde. »Und das wissen Sie ganz genau. Also – was hat Toby gemeint, als er sagte, er hätte Blut in Ihrer Toilette gesehen?«
»Herrgott, ich habe nur ein kleines Problem«, versuchte er zu beschwichtigen, trank den Rest Whiskey und stellte das Glas ab. »Darüber muss man keine Grundsatzdiskussion führen.« »Und was für ein Problem ist das genau?«, erkundigte ich mich. »Sind Sie krank? Dann sollte vielleicht einmal ein Arzt nach Ihnen sehen.«
»Ich bin nicht krank – und ich bin auch noch nicht hilflos!«, brauste er auf. »Alles andere habe ich im Griff. Da musst du dir ganz sicher nicht den Kopf darüber zerbrechen. Reden wir lieber über was anderes, okay?«
»Wie Sie meinen«, antwortete ich, als mir klarwurde, dass ich an eine unsichtbare Mauer gestoßen war. »Aber wenn es schlimmer wird, dann müssen Sie uns das sagen.«
»Hör mal gut zu«, sagte Logan mit erhobenem Zeigerfinger und wirkte jetzt wie ein emeritierter Universitätsprofessor, der einem jungen Studenten einige wichtige Dinge erklären wollte, nach denen er sich zukünftig zu richten hatte. »Ich habe mich nicht danach gesehnt, hierherzukommen. Jetzt muss ich es aber wohl so akzeptieren, wie es eben ist. Manchmal bleibt einem eben keine andere Chance mehr.«
»Haben Sie Kinder oder Verwandte?«
»Nein«, kam seine schroffe Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Und das ist auch gut so. Ich will keinem zur Last fallen. Alles, was ich noch besitze, befindet sich in diesen vier Wänden. Die Welt um mich herum ist nur ein bisschen kleiner geworden. Aber vielleicht ist das auch gut so.«
Während er das sagte, ließ ich meinen Blick schweifen. Das große Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand war mir natürlich schon beim Betreten des Zimmers aufgefallen:
Hardcover, Taschenbücher und Paperbacks in verschiedenen Größen.
»Liest du Bücher?«, fragte er mich.
»Bisweilen schon.«
»Und was?«
»Na ja, die üblichen Mainstream-Sachen eben. Stephen King, Dan Brown, Cody McFadyen und so was in der Art.«
Als er das hörte, verzog er das Gesicht. »Damit habe ich nichts am Hut«, brummte er und beobachtete, wie ich mich erhob und ihn dabei fragend anblickte. »Schau dir das mal ruhig an, wenn du willst. Aber geh vorsichtig mit den Büchern um. Für mich sind sie wertvolle Erinnerungen.«
Ich nickte und trat an das Regal heran. Kurze Zeit später erkannte ich, dass es sich bei Logans Bibliothek um Sachbücher und Romane handelte, die sich alle nur um ein bestimmtes Thema drehten – nämlich um die amerikanische Pioniergeschichte.
»Das sind historische Westernromane«, sagte er. »Sagt dir Terry C. Johnston was?«
»Ich fürchte, nein«, antwortete ich. »Muss ich ihn kennen?«
»Er hat mehr als dreißig Bücher über die Zeit der Mountain Men und der Siouxkriege geschrieben«, informierte er mich. »Neulich ist er auf dem Höhepunkt seines Erfolgs an einer tückischen Krankheit gestorben. Seine Bücher beinhalteten jede Menge an historischen Informationen. Da konnte man noch was über diese Epoche lernen.«
Er bemerkte aufgrund meines Gesichtsausdrucks, dass ich mich nicht wirklich für das interessierte, was er mir gerade begreiflich zu machen versuchte. Aber ich tat ihm den Gefallen und stöberte trotzdem noch ein wenig im Buchregal herum. Eine Reihe von Paperbacks stach mir ins Auge – oder besser gesagt der Name, der auf dem Buchrücken stand: Frank Logan.
»Du wirst nicht krank davon, wenn du eines der Bücher in die Hand nimmst, Junge«, hörte ich seine amüsierte Stimme. »Nun mach schon – ich erlaube es dir.«
Ich griff mir eines der besagten Taschenbücher und warf einen kurzen Blick darauf. Es zeigte eine Gruppe von Indianern, die von einer Anhöhe aus einen Siedlertreck beobachteten. Dakota Ambush lautete der Titel des Buchs, geschrieben von einem gewissen Frank Logan.
Neugierig geworden, drehte ich es um und warf einen Blick auf die Rückseite. Dort war ein Foto des Autors zu sehen, zusammen mit einigen persönlichen Daten. Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass es sich dabei um den Mann handelte, der drüben am Fenster saß. Auch wenn er auf dem Foto um etliche Jahre jünger wirkte und noch dunkle Haare hatte.
»Kaum zu glauben, aber es stimmt tatsächlich«, ergriff er wieder das Wort, weil er sofort gesehen hatte, dass ich nicht wusste, wie ich meine Gedanken in Worte kleiden sollte. »Das ist zwanzig Jahre her. Ich vermute, du hast noch nie von mir gehört.«
»Ich habe noch nie einen Western gelesen, Mr. Logan«, antwortete ich. »Vermutlich könnte mein Vater mehr dazu sagen. Er hat zu Hause einige Bücher dieser Art.«
»So was in der Art habe ich mir schon gedacht.« Logans Blick wurde auf einmal sehr kritisch. »Ihr jungen Kerle wollt mehr Action, nicht wahr? Egal, ob das nun historisch richtig ist oder nicht.«
»Darüber mache ich mir beim Lesen keine Gedanken«, erwiderte ich und fühlte mich bei diesen Worten unwillkürlich wie jemand, der unschuldig auf einer Anklagebank saß und nun das flammende Plädoyer eines Staatsanwalts über sich ergehen lassen musste. »Lesen ist für mich reine Unterhaltung, Abschalten vom Alltag. Können Sie das akzeptieren?«
»Und was weißt du über die Geschichte unseres Landes?«, bohrte Logan weiter, und ich fühlte mich zusehends unwohler mit der Richtung, in die das Gespräch jetzt verlief. »Jeder Amerikaner sollte etwas über seine Wurzeln wissen – und über das Land, in dem er aufgewachsen ist.«
»Ich habe bisher an der Ostküste gelebt«, verteidigte ich mich. »In großen Städten gibt es wichtigere Dinge, als sich über solche Sachen Gedanken zu machen.«
»Damit stellt sich deine Generation ein großes Armutszeugnis aus, Junge«, sagte Logan. »Na ja, vermutlich habe ich zu viel von dir erwartet und etwas in dir gesehen, was gar nicht da ist. Am besten gehst du jetzt wieder. Ich bin müde und möchte mich etwas ausruhen.«
»Warum sind Sie hier, Mr. Logan?«, startete ich noch einen letzten Versuch. »Jemand, der Bücher geschrieben und bei solchen Verlagen wie Bantam Books veröffentlicht hat, der braucht kein Dasein in einem Seniorenheim zu fristen.«
»So, meinst du also, ja?«, lautete seine beleidigte Antwort. »Es gibt immer einen Grund, warum das Leben ungerecht zu einem sein kann, Mike. Hast du eine Familie? Weißt du, was Verantwortung bedeutet?«
»Ich bin nicht verheiratet. Über Familienplanung habe ich mir noch keine Gedanken gemacht und …« »Aber mir willst du sagen, was richtig und was falsch ist? Du hast doch keine Ahnung!« Er schlug mit der Faust so unerwartet auf den Tisch, dass ich kurz zusammenzuckte. »Ich hatte Geld und Erfolg«, sagte er, »und musste mir keine Gedanken über die Zukunft machen. Vor zwanzig Jahren waren meine Romane in aller Munde – zumindest bei denen, die Western lesen. Aber als ich heiratete, war das die schlechteste Entscheidung meines Lebens. Meine Frau, diese undankbare Schlampe, hat mich nach Strich und Faden betrogen und hinter meinem Rücken Geld gestohlen und auf andere Konten geschafft. Leider war ich so blauäugig und vertrauensvoll, dass ich nichts davon gemerkt habe. Bis zuletzt nicht.«
Zum ersten Mal geriet die Fassade ins Wanken, die er seit seiner Ankunft im Sunset Valley Senior’s Rest um sich herum errichtet hatte. Er wirkte traurig und irgendwie sehr enttäuscht. »Wenn Sie darüber reden wollen – ich höre Ihnen gerne zu, Mr. Logan«, schlug ich ihm vor. Aber ich bemerkte, dass er noch ein wenig zögerte. »Was ist denn schon dabei?«, fuhr ich fort. »Man kann nicht alles mit sich selbst ausmachen. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo das zu viel wird. Dann muss man reden – sonst wird man krank davon. Mein Vater hat das als Kind zu mir gesagt, und ich habe mich bis heute daran gehalten.«
»Deinen Vater hätte ich gerne mal persönlich kennengelernt, Mike«, meinte Logan daraufhin. »Ich glaube, mit ihm hätte ich mich gut verstanden.«
»Wer weiß?«, sagte ich achselzuckend und dachte an den herrischen Menschen, der mein Vater war. »Was geschah denn nun mit Ihrer Frau?«
»Na ja, sie hat mich betrogen, wie ich schon sagte. Ich war viel zu gutgläubig, und vielleicht hätte ich ja noch was dagegen machen können. Aber ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt beschloss Bantam Books, das Westernprogramm deutlich zu kürzen, und ich war einer von denen, die es zuerst traf. Keine Folgeaufträge mehr, die Umsatzzahlen sanken jedes Jahr – und irgendwann sagte mir mein Agent, er könne mich nicht mehr an andere Verlage vermitteln.«
»Aber Sie hatten doch etwas vorzuweisen«, meinte ich. »Sie hätten doch jedem Verlag beweisen können, dass Sie schon lange im Geschäft sind, oder?«
»Das schon – aber ich hatte keine Lust mehr. Meine Frau packte ihre Sachen und ließ mir durch ihren Anwalt mitteilen, dass ich noch von ihr hören würde. Und das war auch der Fall. Dieser windige Rechtsverdreher hat mich so abgezockt, dass mir kaum noch etwas übrig blieb. Mein Haus und der Rest meines Geldes gingen dabei drauf, und am Ende des Jahres war ich pleite.« »Das tut mir leid«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich darauf hätte erwidern sollen. »Gab es denn niemanden, der Ihnen helfen konnte?«
»Mein einziger Freund hieß Jack Daniel’s.« Logan lächelte traurig. »Und diese Freundschaft hat bis heute gehalten. Wenigstens etwas Beständiges in meinem Leben. Zumindest der Tennessee-Whiskey hat mich noch nie enttäuscht.«
»Und dann kamen Sie hierher?«, fragte ich und sah, wie sein Blick einen traurigen und fast schon depressiven Ausdruck annahm.
»Das war die einzige Möglichkeit, die mir noch blieb, wenn ich nicht auf der Straße landen wollte«, sagte er. »Du kannst dir sicher vorstellen, dass man darauf nicht stolz sein kann. Hier bin ich nun gelandet und muss zusammen mit den anderen Greisen auf den Tod warten. Wie würdest du dich denn dabei fühlen?«
»Wahrscheinlich würde ich alles zusammenschlagen wollen, wenn mir das klar wäre«, erwiderte ich. »Kann man denn wirklich nichts mehr tun für Sie?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Logan und schien auf einmal einen Gedankenblitz zu haben. »Warte mal – vielleicht gibt es doch noch eine Lösung. Aber darüber muss ich erst einmal in Ruhe nachdenken. In der Zwischenzeit kannst du ja, wenn du willst, eines meiner Bücher lesen. Ich würde es dir sogar im Vertrauen ausleihen. Aber der Teufel soll dich holen, wenn du es nicht sorgfältig behandelst beim Lesen.«
»Natürlich tue ich das, Mr. Logan«, beeilte ich mich zu sagen, und weil ich den alten Mann nicht kränken wollte, stimmte ich schließlich zu, eines seiner Bücher zu lesen. Obwohl ich daran zweifelte, dass mir dieses Genre wirklich zusagen würde.
»Dann nimm am besten das Buch mit, das du eben in der Hand hattest – Dakota Ambush«, schlug er vor. »Lies es und sag mir dann, was du davon hältst. Danach reden wir weiter.«
»Gut.« Ich nickte, nahm das Buch mit und ging dann zur Tür. »Aber ich kann Ihnen erst am Montag etwas dazu sagen. Übers Wochenende habe ich nämlich frei.«
»Lass dir ruhig Zeit damit.« Er winkte lächelnd ab. »Ich laufe schon nicht davon – auch wenn es vielleicht besser wäre …«
Sein Gesichtsausdruck wurde wieder traurig und hoffnungslos, aber nur einige Sekunden lang, danach hatte er sich wieder unter Kontrolle und winkte mir noch einmal kurz zu, bevor ich aus dem Zimmer ging. Ich schloss die Tür und verließ den Westflügel, denn ich wollte noch mit Toby sprechen.
Zum Glück musste ich nicht lange nach ihm suchen. Ich fand ihn in einer der Pflegestationen, wo er gerade mit einem bettlägerigen Bewohner zugange war, und wartete geduldig ab, bis er seine Arbeit beendet hatte. Natürlich hatte er mich bemerkt, und der Blick, den er mir zuwarf, sprach Bände. Aber ich gab ihm mit einem kurzen Wink zu verstehen, dass ich dringend mit ihm unter vier Augen sprechen wollte. Trotzdem musste ich noch zehn Minuten warten, bis er mit seiner Arbeit fertig war und dann zu mir kam.
»Was willst du?«, fragte er barsch.
»Mit dir reden – was denn sonst?«, entgegnete ich. »Hör mal, die Sache mit Mr. Logan – vielleicht sollte man das nicht überbewerten. Er hat sich nur noch nicht ganz eingewöhnt hier. Aber das wird schon noch kommen. Er wäre nicht der Erste, der Probleme hat, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden.«
»Dieser alte Sack hat mich angegriffen«, sagte Toby und blickte immer noch wütend drein, weil ich das mit angesehen hatte. »Das macht der kein zweites Mal – das kann ich dir versprechen. Wenn er noch mal auf dumme Gedanken kommt, dann spreche ich mit Mr. Marsh, und dann wird er für einige Tage ruhiggestellt.«
»Du bist wütend, und ich kann dich verstehen«, lenkte ich ein. »Aber denk doch einfach mal nach, wie du reagieren würdest, wenn du von heute auf morgen deine gewohnte und vertraute Umgebung verlassen musst und gezwungen bist, in ein Altersheim zu gehen. Weil du allein nicht mehr zurechtkommst. Wie würdest du dich dabei fühlen?«
»Weiß ich nicht. Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Und ich muss das auch noch nicht«, brummte er. »Du scheinst mit dem Alten wohl gut klargekommen zu sein, wie? Hast wohl auch schon Freundschaft mit ihm geschlossen.«
»Ich habe mir nur Zeit genommen und ihm zugehört, das ist alles.« Mehr sagte ich nicht, denn ich ahnte irgendwie, dass er es ohnehin nicht verstehen würde. Toby machte wie die meisten anderen meiner Kollegen seinen Job hier, aber er hielt eine emotionale Distanz zu den Bewohnern, weil er mit deren verzweifelten Gedanken nichts zu tun haben wollte. Ein solches Verhalten hätte man als abgebrüht bezeichnen können, und je länger ich mir das vor Augen hielt, umso bewusster wurde mir, dass ich niemals so sein konnte. Denn ich hatte längst erkannt, dass die alten Menschen jemanden benötigten, mit dem sie sprechen konnten. Wie Frank Logan zum Beispiel.
»Michael, nimm dir nicht zu viel Zeit für einen einzelnen Bewohner, sonst schaffst du deinen Job nicht«, meinte Toby. »Wir haben hier bestimmte Vorgaben zu erfüllen, vergiss das nicht. Marsh achtet auf so was.«
»Ich werd’s mir merken«, sagte ich. »Mit Mr. Logan wird es keinen weiteren Zwischenfall mehr geben. Also mach bitte keine große Sache daraus und behalte es für dich. In Ordnung?« »Von mir aus«, sagte er. »Weiß der Teufel, weshalb du dich für diesen Spinner so einsetzt. Er soll sich nur an die Regeln halten – und wenn er das nicht tut, dann hat er irgendwann das Nachsehen. Das kannst du ihm ruhig noch einmal in aller Deutlichkeit klarmachen.«
»Ich werd’s ihm sagen.« Dann verließ ich die Station und ging zurück zu meinem eigentlichen Tätigkeitsbereich. Das Taschenbuch verstaute ich bei meinen persönlichen Dingen und würde es mit nach Hause nehmen, sobald mein Dienst beendet war – in drei Stunden.
***
Als ich meine Wohnung betrat, war es schon dunkel draußen. Ich hatte noch einige Einkäufe fürs Wochenende erledigt und im Supermarkt einen Kollegen getroffen, der heute seinen freien Tag hatte. Natürlich unterhält man sich dann zwangsläufig über den Job, und ich erfuhr von ihm, dass Mr. Marsh wieder mal ein neues Rationalisierungskonzept in Arbeit hatte und er es uns bald präsentieren würde. Die Art und Weise, wie er das schilderte, ließ mich ins Grübeln kommen, weil Rationalisierungen immer wieder Entlassungen und spürbare Veränderungen zur Folge haben – und da ich zu denjenigen zählte, die noch nicht lange dort arbeiteten, kam mir natürlich der Gedanke, dass mein Job in Gefahr sein könnte.
Ich versuchte, nicht mehr daran zu denken, als ich die eingekauften Lebensmittel im Kühlschrank verstaute, stellte dann aber doch fest, dass meine Gedanken immer wieder abzuschweifen begannen. Also musste ich mich ablenken und schaltete den Fernseher an. Falls ich jedoch darauf gehofft hatte, irgendetwas Interessantes zu finden, sah ich mich rasch eines Besseren belehrt. Eine Quiz- und Gameshow nach der anderen, gefolgt von Sitcoms, die ich gar nicht mehr auseinanderhalten konnte.
Ich schob eine Tiefkühlpizza in den Ofen, öffnete eine Dose Bier und machte es mir auf der Couch gemütlich. Dabei fiel mir Frank Logans Buch ein, das er mir ausgeliehen hatte. Ich holte es aus der Tasche, warf noch einmal einen Blick auf den Umschlag und die Inhaltsangabe auf der Rückseite – und dann beschloss ich, einfach mal einen Blick hineinzuwerfen und ein paar Seiten zu lesen.
Wie schon gesagt – ich habe keine Ahnung von Western und weiß im Grunde genommen nicht viel über die historischen Ereignisse aus dieser Zeit. Aber auf einmal musste ich beim Lesen feststellen, dass diese Geschichte namens Dakota Ambush doch völlig anders war, als ich es eigentlich erwartet hatte. Wahrscheinlich hatte ich irgendetwas in der Art vermutet, wie es lange Zeit in Hollywood-Filmen zu sehen gewesen war. Ein Siedlertreck, dessen Wagen einen Kreis gebildet hatten, als sie von Sioux angegriffen wurden, war eines dieser gängigen Bilder, die mir in Erinnerung geblieben waren. Und ich hatte mich damals schon oft gefragt, warum die Sioux denn immer im Kreis um diese Wagenburg herumritten und sich von den bedrängten Weißen abknallen ließen. Sie hätten doch eigentlich wissen müssen, dass sie dadurch ein perfektes Ziel für die Verteidiger darstellten.
Dakota Ambush räumte mit diesem falschen Bild jedenfalls auf – und dabei blieb es nicht. Ich erfuhr beim Lesen einiges über die schrecklichen Zustände in den Reservaten von Pine Ridge und Standing Rock. Von dem Massaker am Wounded Knee 1890 hatte ich natürlich schon zu meiner Schulzeit gehört, aber das meiste davon war über die Jahre wieder in Vergessenheit geraten. Ich hätte niemals vermutet, dass ausgerechnet ein Western mich vergessen ließ, dass ich noch eine Pizza im Ofen hatte. Erst der brenzlige Geruch erinnerte mich wieder daran. Fluchend legte ich das Taschenbuch beiseite, erhob mich und ging hinüber in die Küche, nur um festzustellen, dass mir eine Rauchwolke entgegenkam.
Ich schaltete den Ofen aus, öffnete das Fenster und sorgte für genügend Durchzug, damit sich der dichte Qualm wieder verzog. So was Leichtsinniges war mir noch nie zuvor passiert, und ich fragte mich, was eigentlich mit mir los war. Die Tatsache, dass durch das Lesen einer – zugegebenermaßen – spannenden Geschichte beinahe noch viel Schlimmeres hätte passieren können, gab mir zu denken. Der Appetit war mir vergangen, und ich entsorgte die verkohlte Pizza im Müll. Ausgerechnet jetzt klingelte das Telefon. Zuerst wollte ich mich gar nicht melden, entschied mich dann aber doch dafür. Es war meine Mutter, die mit mir über Belanglosigkeiten reden wollte. Junge, wie geht’s dir? Ist alles in Ordnung? Du hast dich ja schon einige Tage lang nicht gemeldet. Dein Vater und ich wollten nur mal wissen, ob auch wirklich alles gut ist – solche Dinge eben.
Mir stand jedoch nicht der Sinn nach Unterhaltungen dieser Art, und deshalb hielt ich mich sehr knapp am Telefon. Ich sagte meiner Mutter, dass ich eine lange und anstrengende Woche hinter mir hatte und einfach nur müde war und gleich schlafen gehen wollte. Dann beendete ich das Gespräch mit dem Versprechen, sie irgendwann nächste Woche anzurufen.
Mittlerweile hatte sich der Qualm in der Küche verzogen, und ich konnte von Glück reden, dass nichts Schlimmeres passiert war. Mir würde nach Lage der Dinge aber nichts anderes übrigbleiben, als die Wände neu zu streichen, damit sich der Geruch nicht auf alle Zeiten festsetzte. Somit war mein Wochenende zeitlich verplant. Gleich morgen früh würde ich mich auf den Weg zum nächsten Baumarkt machen, einen Eimer Farbe kaufen und dann gleich loslegen. Wenn ich mich beeilte, konnte ich morgen Abend mit allem fertig sein und dann wenigstens noch den Sonntag zum Ausruhen nutzen.
Da ich jetzt ohnehin nichts mehr tun konnte, ging ich zurück ins Wohnzimmer und griff wieder nach dem Taschenbuch, um zu sehen, welchen Verlauf die Geschichte nahm. Ich erfuhr sehr viel über die Intrigen der Armee, die Geistertanz-Bewegung und den hinterhältigen Plan, Sitting Bull zu ermorden. Als ich schließlich einen Augenblick innehielt und bemerkte, dass es schon auf Mitternacht zuging, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus.
***
Als ich mein Auto auf dem Angestelltenparkplatz des Sunset Valley Senior’s Rest abstellte und die wenigen Schritte bis zum Hauptportal des Altenheims zurücklegte, fühlte ich mich so wohl und entspannt wie schon seit langem nicht mehr – trotz der Hektik, die ich am Samstag veranstaltet hatte, um Farbe zu kaufen und anschließend die Küche neu zu streichen. Ich bin nämlich nicht unbedingt ein begabter Handwerker und brauche für solche Dinge viel länger als mancher andere. Aber die Tatsache, all das mit meinen eigenen Händen und ohne fremde Hilfe geschafft zu haben, erfüllte mich mit großer Genugtuung.
Ich brannte natürlich darauf, Frank Logan sein Buch zurückzugeben. Ich hatte es mittlerweile fertig gelesen und wollte ihm gleich persönlich sagen, wie gut es mir gefallen hatte. Deshalb hatte ich es eilig, nach oben zum Westflügel zu gehen, wo sich Logans Zimmer befand. Aber noch bevor ich die letzte Treppenstufe erreicht hatte, begegnete mir Toby. Das Grinsen in seinem Gesicht gefiel mir ganz und gar nicht. Es war eine Mischung aus Häme und Genugtuung, weil er wohl ahnte, zu wem ich wollte.
»Willst du zu dem alten Spinner?«, fragte er.
Ich nickte kurz und wollte meinen Weg fortsetzen.
»Dann hast du Pech. Er ist nicht da.«
Ich drehte mich langsam zu ihm um. »Wo ist er?«
»Im Krankenhaus, wenn du’s genau wissen willst.« Toby konnte seine Schadenfreude kaum noch zügeln. »So was passiert manchmal ganz schnell, wenn man nicht auf andere Leute hören will. Logan hatte am Samstagmorgen einen Schwächeanfall und ist in seinem Zimmer zusammengebrochen. Zum Glück hat das jemand gehört, der gerade an der Tür vorbeiging, so dass man ihn schnell versorgen konnte. Jetzt ist er im Krankenhaus zur Beobachtung. Was glaubst du wohl, weswegen?« »Ich nehme an, du wirst es mir gleich sagen«, brummte ich, während meine Gedanken bereits Purzelbäume schlugen.
»Mit ihm stimmt was nicht. Da war wieder Blut in der Toilette. Diesmal noch mehr. Jetzt checken sie ihn im Krankenhaus richtig durch. Egal, ob ihm das passt oder nicht.«
»Wie lange muss er dort bleiben? Hast du was gehört?«
»Ich glaube, er kommt heute Nachmittag wieder zurück, wenn ich Marshs Sekretärin richtig verstanden habe. Aber er wird weitere Behandlungen über sich ergehen lassen müssen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
Seltsamerweise beschäftigte mich diese Nachricht mehr, als ich mir selbst eingestanden hätte. Ich machte mir Sorgen um den alten Mann, den ich im Grunde genommen erst seit Freitag kannte, und ich grübelte darüber nach, was es wohl zu bedeuten hatte, dass er ins Krankenhaus gekommen war. Zwar versuchte ich zu vermeiden, daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen, aber es gelang mir nicht ganz.
»Und wie war dein Wochenende?«, riss mich Tobys Stimme aus meinen trüben Gedanken. »Du solltest mal wieder unter Leute gehen. Nächsten Freitag ist eine House-Party im Nightwish-Club in der Zwölften Straße Ecke Washington Street. Gehst du mit? Ich bin auf jeden Fall dort – und Linda auch, wie ich gehört habe …«
Er sagte das natürlich ganz bewusst, um zu sehen, wie ich darauf reagierte. Aber ich tat ihm den Gefallen nicht und verhielt mich ganz distanziert, als interessiere mich gar nicht, was Linda in ihrer Freizeit unternahm oder mit wem sie ausging.
»Ich werd’s mir überlegen«, sagte ich und setzte meinen Weg fort. »Ich gebe dir Bescheid, ja?« Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen und machte mich auf den Weg zu meiner Station. Meine Gedanken kreisten allerdings nicht um Linda, sondern um einen alten Mann namens Frank Logan, um dessen Gesundheitszustand ich mich nun ernsthaft zu sorgen begann.
***
Ich machte meinen Job, so gut ich konnte, war aber dennoch irgendwie abwesend. Meine beiden Kollegen, mit denen ich die morgendliche Versorgung der Bewohner in diesem Trakt absolvierte, bemerkten das natürlich und sprachen mich darauf an. Aber ich erwiderte nur, dass alles in Ordnung war, und damit mussten sie sich eben zufriedengeben. Tatsächlich aber schaute ich immer wieder aus dem Fenster und hoffte darauf, dass bald ein Krankenwagen vorfuhr und Frank Logan wieder zurückbrachte.
Gegen 15 Uhr war es dann so weit. Ein Krankenwagen des St. Peter’s Hospital kam und hielt direkt vor dem Hauptportal. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt gerade Pause gemacht und hielt mich in der Cafeteria auf. Von dort aus konnte ich durch die große Glasfront genau beobachten, was geschah. Die hinteren Türen des Wagens wurden geöffnet, und ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich Frank Logan im Rollstuhl sitzen sah, der jetzt über eine kleine Rampe nach draußen geschoben wurde.
Ich hielt es nicht mehr länger aus, erhob mich rasch und ging hinaus ins Freie. Aber ich war beileibe nicht der Einzige. Mr. Marsh war ebenfalls schon anwesend, zusammen mit seiner Sekretärin Patricia Briggs – und beide richteten ihre tadelnden Blicke auf den graubärtigen Mann im Rollstuhl, der um Jahre gealtert zu sein schien. Sein Gesicht war so blass, als hätte er wochenlang keinen Sonnenstrahl mehr gesehen, und seine Augen wirkten fiebrig.
»Sie hätten besser im St. Peter’s Hospital bleiben sollen, Mr. Logan«, sagte der Heimleiter. »Mit solchen Dingen sollte man nicht spaßen oder sie auf die leichte Schulter nehmen. Ich schlage Ihnen vor, dass …«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, entgegnete Logan mit mühsam unterdrückter Wut. »Noch bin ich nicht so hilflos, dass andere über mich zu entscheiden haben. Deshalb habe ich mich auch dazu entschlossen, die nächsten Tage hier zu verbringen – in meiner privaten Umgebung. Das ist mein Recht. Sie können ja versuchen, mich gerichtlich entmündigen zu lassen. Aber bis dahin entscheide ich über mein eigenes Leben. Ist das klar?«
So hatte vermutlich noch niemand mit Mr. Marsh gesprochen, und seine Überraschung war dementsprechend. Er verdrehte die Augen, holte tief Luft und schaute zu seiner Sekretärin, die mindestens ebenso entsetzt war wie ihr Chef. Das schien Logan jedoch egal zu sein, denn er hatte mich unter den Umstehenden entdeckt.
»Bringst du mich auf mein Zimmer, Mike?«, fragte er so laut, dass es jeder hören konnte. Da nun alle Augen auf mich gerichtet waren, blieb mir nichts anderes übrig, als die Bitte des alten Mannes zu erfüllen. Unter dem kritischen Blick von Mr. Marsh trat ich zu Logan, stellte mich hinter ihn und lenkte ihn mitsamt dem Rollstuhl durch das Hauptportal des Sunset Valley Senior’s Rest.
»Hast du gesehen, wie er geschaut hat, Junge?«, fragte er mich mit einem triumphierenden Grinsen auf den blassen Gesichtszügen. »Das war mir die ganze Sache jetzt aber wert. Wo kämen wir denn hin, wenn ich mir von diesem Trottel sagen lasse, welche Entscheidung ich zu treffen habe? O nein, so krank ist der alte Frank Logan noch lange nicht. Hast du mein Buch gelesen, Mike?« »Mr. Logan, meinen Sie nicht auch, dass es jetzt wichtigere Dinge gibt, als über Ihr Buch zu sprechen?«, hielt ich ihm entgegen. »Was in aller Welt ist denn eigentlich mit Ihnen passiert? Letzten Freitag ging es Ihnen doch noch ganz gut und …«
»Ein Schwächeanfall – nichts weiter«, unterbrach er mich. »Kann in diesem Alter eben passieren. Aber aus einer Mücke gleich einen Elefanten zu machen, das sieht Marsh mal wieder ähnlich. Ich kann diesen aalglatten Typen nicht ausstehen. Solange ich hier bin, werden er und ich vermutlich keine besten Freunde.« Zwischenzeitlich hatten wir den Fahrstuhl erreicht. Ich wartete, bis der Lift herunterkam, öffnete die Tür und schob Logan in seinem Rollstuhl hinein. Natürlich hatte er meinen besorgten Blick längst registriert, sagte aber erst etwas, als sich die Tür des Fahrstuhls hinter uns schloss und ich mit ihm allein war.
»Der Rollstuhl ist nur vorübergehend, bis ich wieder zu Kräften gekommen bin«, sagte er, während der Lift nach oben zum Westtrakt fuhr. »Morgen bin ich wieder ganz der Alte, verlass dich drauf.« »Weshalb hat man Sie ins Krankenhaus gebracht?«, bohrte ich nach. »Und was meinten Sie damit, als Sie eben sagten, Sie wollten die nächsten Tage noch hier bleiben. Ich habe gehört, dass in Ihrer Toilette wieder …«
»Das hat dir dieser Speichellecker gesteckt, dem ich einen Tritt verabreicht habe, nicht wahr?«, unterbrach er mich. »Der war vermutlich froh darüber, gehört zu haben, dass der alte Logan jetzt einen Denkzettel bekommen hat. Aber darüber ist noch längst nicht das letzte Wort gesprochen, Mike. Ich bin zäh, wenn es ums Überleben geht. Verdammt zäh sogar.«
Der Fahrstuhl hatte sein Ziel erreicht, aber anstatt die Tür zu öffnen, hallten seine letzten Worte in meinen Ohren wider und überlagerten jeden weiteren Gedanken.
»Überleben?«, fragte ich unsicher. »Was ist mit Ihnen, Mr. Logan?«
»Mach erst mal die Tür auf und bring mich in mein Zimmer«, schlug er stattdessen vor. »Dann reden wir weiter.«
Ich tat, um was er mich gebeten hatte, und bemerkte, wie ihm eine unsichtbare Last von den Schultern zu fallen schien, als ich die Zimmertür schloss.
»Hilf mir«, bat er mich. »Ich bin noch ein bisschen schwach.«
Ich stützte ihn dabei, als er sich aus dem Rollstuhl erhob und in seinem Sessel am Fenster Platz nahm. Er atmete erleichtert auf und schien sich jetzt allmählich zu entspannen. Auch die Blässe in seinem Gesicht war zum Glück gewichen.
»Krankenhäuser …«, murmelte er, ohne mich anzusehen. »Da wird man doch nicht gesund, sondern fühlt sich noch elender. Dem Himmel sei Dank, dass ich wieder hier bin, selbst wenn …« Seine Stimme geriet kurz ins Stocken, bevor er weitersprach. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Mike. Hast du mein Buch gelesen?«
»Verdammt, ja«, erwiderte ich leicht gereizt. »Deswegen ist mir nicht nur die Pizza im Ofen angebrannt, sondern ich musste am Samstag auch die Küche neu streichen.«
»Wegen meines Buchs?« Logans Stimme klang ungläubig.
»Ich habe beim Lesen nicht auf die Uhr geschaut und dabei die Pizza vergessen«, gestand ich. »So was ist mir noch nie passiert. Ihr Buch war offenbar so spannend, dass es mich alles andere um mich herum vergessen ließ.«
Im ersten Moment wusste er gar nicht, was er darauf erwidern sollte, aber dann fing er an zu grinsen und konnte schließlich ein Lachen nicht mehr unterdrücken.
»Das ist eines der seltsamsten Komplimente, die ich als Schriftsteller jemals erhalten habe«, verkündete er voller Stolz. »Aber danke dafür, du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich darüber freue. Zumal das Lob von jemandem kommt, der keine Ahnung von Western hat.«
»Stimmt.« Ich nickte. »Aber ich fand es lehrreich, was Sie geschrieben haben. Über die Hintergründe des Geistertanzes und den anschließenden Aufstand in Wounded Knee wusste ich gar nichts.«
»Ich war dort, kurz nach dem letzten Aufstand in den siebziger Jahren«, sagte er. »Wenn du die erbärmlichen Umstände siehst, unter denen diese Menschen selbst heute noch ihr Leben fristen, dann kannst du nachvollziehen, warum dieser Aufstand stattgefunden hat – und weshalb die Sioux noch einmal ein Zeichen setzen wollten. Ich habe dir doch von Terry C. Johnston erzählt, erinnerst du dich?« Ich nickte. »Der hat sogar einmal pro Jahr die Leser seiner Bücher an die Originalschauplätze seiner Romane geführt und ihnen zusätzliches Wissen vermittelt. So etwas erwarte ich von einem Autor, der seinen Job ernst nimmt. Und wenn jemand wie du nach dem Lesen damit beginnt, über verschiedene Dinge nachzudenken, dann habe ich genau das erreicht, was ich damit eigentlich bezwecken wollte. Dafür bin ich dir dankbar, Junge – dass ich es noch einmal zu hören bekomme, bevor …«
»Bevor was, Mr. Logan?«, fragte ich. »Ich habe Ihnen einen Gefallen getan, indem ich Ihr Buch gelesen habe. Und Sie sollten jetzt so ehrlich sein und mir reinen Wein einschenken, was Ihren Aufenthalt im Krankenhaus betrifft.«
»Bevor du’s von anderen erfährst, sage ich es dir lieber persönlich«, sagte er. »Ich habe Darmkrebs. Es haben sich schon einige Metastasen gebildet.«
»Gütiger Himmel«, murmelte ich, als mir klarwurde, was das für ihn bedeutete. »Aber warum sind Sie denn nicht früher zu einem Arzt gegangen? Vielleicht hätte man ja noch etwas tun können.« »Manchmal ist es besser, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, Junge«, erwiderte er. »Ich bin darin ein Meister, weil ich es sonst nicht geschafft hätte. Aber jetzt hat mich die Wahrheit eingeholt, und ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Ich soll mich einer Chemotherapie unterziehen, Mike. Schon in wenigen Tagen.«
»Und wie stehen die Chancen?« »Das weiß man erst danach. Aber ich mache das nicht. So was tue ich mir nicht an. Lieber nutze ich die Zeit, die mir noch bleibt. Würdest du mir einen Gefallen tun? Du bist doch so was wie ein Freund, oder?«
»Schon«, gab ich zu, weil ich ihn doch irgendwie gut leiden konnte. »Aber ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen sollte, Mr. Logan. Ich bin doch gar kein Arzt.« »Ohne Chemotherapie geben sie mir noch ein halbes Jahr oder weniger. Trotzdem mache ich das nicht. Ich will nicht hilflos im Bett liegen bleiben und mich elend fühlen. Da nutze ich lieber die Zeit.«
»Für was?«
»Ich will weg von hier«, sagte er. »So schnell wie möglich. Ich sage dir das so klar und deutlich, weil mir keine Zeit mehr bleibt. Ich will noch einmal die Orte sehen, an denen meine Romane spielen. Ich habe sonst nichts mehr – aber das würde ich gerne noch tun, bevor ich sterbe. Ich will noch mal nach Wounded Knee.«
Als ich ihn anschaute, war mir völlig bewusst, wie ernst er es meinte.
»Nach South Dakota? Sie sind verrückt«, sagte ich, nachdem ich meine verwirrten Gedanken wieder ein wenig geordnet hatte. »Mr. Logan, Sie müssen sich doch behandeln lassen, sonst haben Sie gar keine Chance.«
»Das ist einzig und allein meine Sache. Hilfst du mir nun oder nicht?«
»Herrgott, wie soll ich das denn tun?«, fragte ich ihn. »Sie können doch hier nicht einfach Ihre Sachen packen und davonspazieren, als wäre nichts geschehen. Auf diese Weise kommen Sie nicht weit und …«
»Nicht, wenn man es so anstellt, dass es erst viel später bemerkt wird. Ich wüsste auch schon, wie. Aber zuerst will ich von dir wissen, ob ich mich auf dich verlassen kann. Du hast doch eines meiner Bücher gelesen, Mike. Also müsstest du doch begriffen haben, wie wichtig es mir ist, zum Ende meines Lebens noch einmal etwas Sinnvolles zu tun. Nach dem Mist der letzten Jahre ist das das Einzige, das ich noch erleben möchte. Sterben kann ich morgen noch, und dann ist es mir recht. Ist ja sowieso keiner mehr da, der um mich trauert. Also, was ist nun?« »Wie stellen Sie sich das vor?«, fragte ich, und mir wurde bewusst, dass ich mit dieser Äußerung schon den ersten Schritt in eine Richtung getan hatte, die zumindest zu diesem Zeitpunkt noch sehr bedenklich war.
»In drei Tagen soll ich wieder ins St. Peter’s Hospital kommen«, klärte er mich auf. »Sag dem Heimleiter einfach, dass du mich hinfährst, weil ich dich darum gebeten habe. Dann brauchst du mich nur noch zum nächsten Bahnhof zu bringen, und den Rest schaffe ich dann schon allein. Das ist alles.«
Er bemerkte natürlich, dass ich mit einer Antwort zögerte. Er wusste selbst, dass auch mein Job auf dem Spiel stand, wenn erst herauskam, dass die ganze Sache sorgfältig geplant worden war und ich davon gewusst, es aber nicht der Heimleitung gemeldet hatte.
»Junge, du hast in deinem Leben noch genügend Zeit«, versuchte er es ein letztes Mal. »Aber ich nicht. Jetzt sag schon – kann ich auf dich zählen oder nicht?«
»Ich mache es«, erwiderte ich.
Nachdem ich ausgezogen war und auch die Stadt verlassen hatte, die bis zu diesem Zeitpunkt der Mittelpunkt meines Lebens gewesen war, sah ich viele Dinge in einem anderen Licht, und das machte mich stark.
Ich ging nach New York, schlug mich dort die nächsten zwei Jahre mit allen möglichen Gelegenheitsjobs durch und fand schließlich eine Stelle im Memorial Hospital, wo ich eine Ausbildung zum Altenpfleger machte. Anderen Menschen zu helfen und für sie da zu sein, empfand ich als positiv, und deshalb erledigte ich diesen Job zur Zufriedenheit meiner Vorgesetzten.
Auf eigenen Wunsch wechselte ich sechs Jahre später zum Sunset Valley Senior’s Rest in Southampton auf Staten Island. Das war ein Altersheim ganz besonderer Art, in der Form nämlich, dass von den Insassen (die man ruhig als solche bezeichnen konnte) kaum einer mehr so richtig mitbekam, was um ihn herum eigentlich passierte. Die meisten dämmerten einfach vor sich hin oder murmelten den ganzen Tag wirres Zeug, das keiner verstand.
Aber ein freundliches Lächeln hatten diese alten Menschen immer für mich übrig – auch wenn es wahrscheinlich jemand anderem galt. Vielleicht den Söhnen, Töchtern oder Enkeln, auf deren Besuch sie jeden Tag aufs Neue hofften. Aber dieser Wunsch erfüllte sich meistens nicht oder nur sehr selten. Einmal aufs soziale Abstellgleis geschoben, blieb für diese Leute nur noch eins übrig: auf den Tod zu warten und zu hoffen, dass sie davon nichts mehr mitbekamen.
Das war meine in sich geschlossene Welt, in der ich lebte, arbeitete und meinen Job so gut wie möglich machte. Ab und zu gingen meine Gedanken auf Wanderschaft und beschäftigten sich mit dem Wunsch, vielleicht doch noch Medizin zu studieren. Aber je länger ich daran dachte, umso deutlicher wurde mir bewusst, dass dieser Zug für mich abgefahren war. Aus eigenen Mitteln hätte ich kein Studium finanzieren können – es sei denn, ich hätte meinen Vater um Hilfe gebeten. Aber der Kontakt zu ihm und meiner Mutter beschränkte sich auf gelegentliche Telefonate und den obligatorischen Besuch zu Weihnachten. Mehr wollte ich nicht, denn ich erkannte mit jedem weiteren Jahr, wie weit ich mich eigentlich schon von der Umgebung entfernt hatte, die meine Kindheit dominiert und geprägt hatte.
Dass mein Leben einmal in ganz anderen Bahnen verlaufen sollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das änderte sich am 4. Juli 2001. An diesem Tag begegnete ich Frank Logan zum ersten Mal, und ich sollte bald erkennen, dass sich mein Leben von nun an grundlegend verändern würde.
Kapitel 1
Ein Rebell im Sunset Valley
»Der hat sie doch nicht mehr alle!«, schimpfte mein Kollege Toby Chester und tippte sich mit dem rechten Zeigefinger gegen die Schläfe. »Wenn der Kerl glaubt, dass er eine Extrabehandlung bekommt, dann hat er sich getäuscht.«
»Von wem redest du eigentlich?«, fragte ich ihn und wunderte mich im Stillen darüber, dass er so wütend war. Normalerweise war er ein ruhiger und recht resoluter Zeitgenosse, den man so schnell nicht unterbuttern konnte. Er besaß genau die Kaltschnäuzigkeit, die man in diesem Job eigentlich brauchte, um nichts an sich herankommen zu lassen. So weit war ich noch lange nicht, und wahrscheinlich würde das bei mir auch nie so sein. Denn die Menschen, die hier lebten, besaßen noch eine Würde, die auch das Pflegepersonal zu achten hatte.
Allerdings wäre es vergebliche Mühe und erst recht verschwendete Zeit gewesen, das Toby zu erklären. Er sah die Dinge mehr von der praktischen Seite und benahm sich so, als sei er der Herr über eine Gruppe von willenlosen Menschen, die nach seiner Pfeife zu tanzen hatten. Diejenigen, die noch nicht ganz das Stadium der geistigen Umnachtung erreicht hatten, hatte er schon so weit eingeschüchtert, dass sie jede seiner Anweisungen kommentarlos befolgten. Deshalb war ich umso erstaunter, dass es überhaupt jemand geschafft hatte, ihm zu widersprechen, und meine Neugier wuchs.
»Der Kerl ist erst zwei Stunden hier und glaubt schon, wir müssten ihm den roten Teppich ausrollen!«, wetterte er weiter. »Weißt du, was er von mir verlangt hat, Mike?« »Du wirst es mir sicher gleich sagen.«
»Ein Bier soll ich ihm bringen. Anscheinend verwechselt dieser Mensch ein Altersheim mit einer Bar.«
»Wie hast du darauf reagiert?«
»Ich habe ihm gesagt, dass er einen Pfefferminztee haben kann – oder Sodawasser.«
»Und wahrscheinlich wollte er das nicht, oder?«
»Nein«, knurrte Toby. »Er hat gesagt, dass ich das Zeug selbst trinken soll, wenn ich darauf Lust habe. Ich habe ihm dann klargemacht, wo er hier eigentlich ist und dass er sich damit abfinden soll, dass hier einiges anders läuft. Daraufhin nannte er mich eine gelbgestreifte Ratte, die es nicht wert wäre, seine Stiefel zu putzen. Mensch, Mike, am liebsten hätte ich dem Kerl eine aufs Maul gegeben. Ich bin jetzt fast zehn Jahre hier, aber so rüpelhaft hat sich noch keiner von den Alten benommen. Ich werde mit Dr. Kane darüber sprechen.
Wahrscheinlich muss man den Typen erst mal die nächsten Tage ruhigstellen.«
Das, wovon er da sprach, war eine gängige Praxis. Wer ins Sunset Valley Senior’s Rest kam und Probleme hatte, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, bekam erst einmal entsprechende Sedativa verabreicht, damit sich die Aufregung allmählich legte. Ich hatte Fälle erlebt, dass Menschen zusammengebrochen waren, als ihre Kinder sie hier zurückgelassen und ihnen beim Gehen freundlich lächelnd zugewunken hatten. Dann halfen oft nur Medikamente, und meistens ging es danach besser. Manchmal musste man für das Ertragen der Einsamkeit einen hohen Preis zahlen. »Ich habe gar nicht mitbekommen, dass wir einen Neuen haben«, sagte ich zu Toby. »Wie heißt er?« »Frank Logan«, kam prompt seine Antwort. »Er ist siebzig, sieht aber jünger aus. Aber ich sag dir eins, Mike: Der Kerl ist völlig neben der Rolle. Wenn du zu ihm ins Zimmer gehst, dann pass auf. Dem traue ich sogar zu, dass er dich angreift. Wenn das der Fall sein sollte, dann musst du es sofort melden, klar?«
»Natürlich«, versicherte ich ihm. »Wo kämen wir denn hin, wenn hier jeder macht, was er will?« In Wirklichkeit war ich aber sehr neugierig auf diesen Frank Logan. Einer, der es schaffte, einen groben Klotz wie Toby aus der Fassung zu bringen, musste wirklich ein besonderer Mensch sein.
»Er ist im Westflügel untergebracht, in Zimmer zwei-null-fünf«, sagte Toby. »Also pass auf, ja?«
»Toby, ich mache diesen Job auch nicht erst seit gestern«, antwortete ich in sprödem Tonfall. »Ich bekomme das schon hin – zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Du klingst ja fast so, als hätten wir hier einen gemeingefährlichen Verbrecher untergebracht.«
»Der tickt nicht richtig«, brummte er und vollführte mit der rechten Hand eine entsprechende Geste. »Aber du wirst schon noch erkennen, dass ich recht habe. Bis später dann.« Er nickte mir kurz zu, drehte sich um und ging weiter.
»Michael!«, erklang jetzt eine Stimme, die mich von einer Sekunde auf die andere aus meinen Gedanken riss. Ich drehte mich um und sah Harold Marsh aus einem Zimmer kommen. »Gehen Sie ins Zimmer von Mrs. Whitcomb, und helfen Sie der Dame. Sie möchte hinaus in den Park bei diesem schönen Wetter.«
»Natürlich, Mister Marsh«, erwiderte ich und beeilte mich, der Anweisung des Heimleiters nachzukommen.
Harold Marsh achtete mit Argusaugen darauf, dass der Betrieb niemals ins Stocken geriet. Dem Pflegepersonal erzählte er bei solchen Gelegenheiten immer etwas von der Wichtigkeit des ständigen Workflows und dass man mehr als nur zu 100 Prozent hinter seinem Job stehen müsse. An ihm war wirklich ein Motivationstrainer verlorengegangen. Immer bestrebt, den Arbeitsablauf zu optimieren und das Leben der Bewohner zu verbessern.
Einigen meiner Kollegen ging er damit ziemlich auf den Geist, aber ich hatte mich an seine Ansichten mittlerweile gewöhnt und nahm sie in Kauf. Im Grunde genommen stimmte es ja, was er sagte.
***
Mrs. Whitcombs Zimmer befand sich ebenfalls im westlichen Teil des Sunset Valley Senior’s Rest – nur ein Stockwerk tiefer. Als ich das Treppenhaus passierte, glaubte ich für einen winzigen Moment, irgendwo von dort oben hitzige Stimmen zu hören. Aber nur wenige Sekunden später war schon wieder alles still. Wahrscheinlich war es Mr. Connor gewesen, der wieder einmal auf dem langen Flur umherirrte und verzweifelt nach seinem Sohn Richard suchte. Er fragte jeden, der vorbeikam, nach ihm.
Mr. Connors Sohn war aus dem Golfkrieg nicht mehr zurückgekehrt, und dieses einschneidende und erschütternde Erlebnis hatte in ihm etwas zerbrechen lassen. Sein Geist hatte sich in eine Region zurückgezogen, zu der nur er den Zugang kannte. Deshalb war er hier, weil seine Frau die andauernden Anfälle und Ausraster allein nicht mehr bewältigen konnte.
Traurige Kapitel dieser Art gab es in diesem Heim sehr viele. Deshalb hatte ich mir schon von Anfang an zu eigen gemacht, diese Schicksale nicht zu nah an mich herankommen zu lassen. Das war ein gutgemeinter Ratschlag vieler Kollegen gewesen, die genau wussten, wovon sie sprachen. Mittlerweile hatte ich erkannt, dass es richtig war, sich so zu verhalten.
Ich erreichte Mrs. Whitcombs Zimmer und klopfte kurz an. Sekunden später forderte mich eine heisere Stimme zum Eintreten auf.
Mrs. Whitcomb hatte sich schon wieder so schick zurechtgemacht, als wolle sie die Metropolitan Opera in New York besuchen. Sie trug ein Kleid, das jedem Ball Ehre gemacht hätte. Für ihr Alter von 75 Jahren wirkte sie noch sehr rüstig, nur mit dem Treppensteigen und Laufen klappte es nicht mehr so. Deshalb war sie auf einen Rollstuhl angewiesen, wenn sie größere Wege zurücklegen wollte.
»Da sind Sie ja schon, Michael«, begrüßte sie mich freundlich. »Schön, dass Sie Zeit für mich haben. Bei diesem Wetter muss man raus ins Freie. Finden Sie nicht auch?«
»Stimmt«, pflichtete ich ihr bei und half ihr, im Rollstuhl Platz zu nehmen.
Mrs. Whitcomb war seit zehn Jahren Witwe. Sie hatte – soweit ich wusste – noch eine Tochter, die in Chicago lebte. Aber Besuch von ihr hatte sie noch nie bekommen. Dass sie trotzdem noch lächeln konnte, zeugte von unerschütterlichem Optimismus und Lebenswillen.
Ich schob Mrs. Whitcomb aus dem Zimmer und erreichte kurze Zeit später den Fahrstuhl. Die alte Frau schwieg und schien ganz in ihren Gedanken versunken. Das änderte sich erst wieder, als wir den Fahrstuhl verließen und die Tür passierten, die hinaus in den Park führte.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits überschritten, aber es war angenehm warm, und ein lauer Wind sorgte für Erfrischung.
»Fahren Sie mich dort hinten zur Bank«, bat sie mich. »Das ist mein Lieblingsplatz.«
Auf dem Weg dorthin begegnete ich einigen Pflegern, die genau das Gleiche taten wie ich. Einige der Bewohner mussten jedoch besonders intensiv beaufsichtigt werden, wenn sie sich im Freien aufhielten. Einer von ihnen war Mr. Davis, der wieder mal eine Chance witterte und die – seiner Meinung nach – unaufmerksamen Pfleger austricksen wollte. Er schlug sich in die Büsche und wollte dort untertauchen. Aber einer meiner Kollegen hatte das zum Glück noch rechtzeitig bemerkt und lief ihm sofort nach.
»Er hat wohl wieder den Fliegeralarm gehört«, seufzte Mrs. Whitcomb, als sie bemerkte, wie mein Kollege den heftig zitternden Mr. Davis aus den Büschen holte. Sein Gesicht war kreidebleich. »Ich kann das gut verstehen, Michael. Krieg ist immer eine hässliche Sache.«
»Ich war noch nicht im Krieg, Ma’am«, antwortete ich. »Ich kenne das alles nur aus dem Fernsehen, und das soll auch so bleiben, wenn es nach mir geht.«
»Seien Sie froh darüber«, sagte Mrs. Whitcomb. »Ich habe die schlechten Zeiten noch miterlebt. Glauben Sie mir, damals in Oklahoma war das alles gar nicht so einfach. Wir lebten mitten in der Dustbowl. Waren Sie schon mal in Oklahoma, Mike?«
»Nein, Ma’am«, erwiderte ich wahrheitsgemäß und richtete mich insgeheim schon darauf ein, dass die alte Dame heute ausgeprägten Gesprächsbedarf hatte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als ihr einfach zuzuhören. Das war meiner Meinung nach nämlich eine weitaus wirksamere Therapie, als die alten und einsamen Leute mit Medikamenten vollzustopfen.
»Als ich ein Kind war, gab es noch die großen Camps für die durchziehenden Landarbeiter«, klärte sie mich auf. »Manche von ihnen kamen mitsamt ihren Familien von Texas herauf, weil es dort unten keine Arbeit mehr gab. Es war ein armseliges Leben …«
»Ich habe darüber gelesen, Ma’am«, sagte ich und erzählte ihr auch von einem Film, den ich einmal gesehen hatte. Er hieß Früchte des Zorns nach einem Roman von John Steinbeck. Ein sehr junger Henry Fonda hatte darin eine großartige Rolle gespielt. Als Mrs. Whitcomb das hörte, begannen ihre Augen vor Freude zu strahlen. Natürlich kannte sie diesen Film, und sie bestätigte mir, dass das alles sehr authentisch gewesen war.
Was sie sonst noch zu sagen hatte, nahm ich aber nur mit halbem Ohr wahr, denn in diesem Moment kam meine Kollegin Linda Cosgrove vorbei. Sie schenkte mir ein Lächeln, das ich natürlich erwiderte.
»Ein hübsches Mädchen, nicht wahr?« Mrs. Whitcomb deutete meinen Blick richtig, und ich wurde verlegen. Linda zog so manchen Blick der männlichen Kollegen auf sich, und das wusste sie ganz genau.
»Sie sollten einmal mit ihr ausgehen, Michael«, schlug mir Mrs. Whitcomb vor. »Sie sind doch ein netter und gutaussehender junger Mann. Fragen Sie sie, bevor es ein anderer tut. Sonst kommen Sie wirklich zu spät. Bei solchen Dingen darf man nicht zu lange warten.«
Einerseits hatte Mrs. Whitcomb die Wahrheit gesagt, andererseits wusste ich aber nicht, ob ich Linda wirklich nach einem Date fragen sollte. Sie war ganz anders als ich. Sie flirtete gern und genoss das Leben, ich dagegen ging nicht oft aus – und wenn es einmal der Fall war, dann reichte es gerade, um mit zwei oder drei Kollegen nach der Arbeit einen Drink zu nehmen. Das war aber auch schon alles. Ein Partyliebhaber war ich nicht, und Bekanntschaften auf Teufel komm raus zu schließen, gehörte auch nicht zu meinen Charakterzügen.
»Ich bleibe ein bisschen hier und genieße die Sonne«, riss mich die Stimme der alten Dame aus meinen Gedanken. »Keine Sorge«, fügte sie rasch hinzu. »Ich werde Ihnen schon nicht davonlaufen. Nutzen Sie die Zeit, und gehen Sie einen Kaffee trinken. Ich bin sicher, dass Linda das Gleiche vorhat. Worauf warten Sie noch? Oder sind Sie wirklich so schüchtern?«
Der Gedanke, dass ausgerechnet Mrs. Whitcomb mich mit aller Macht verkuppeln wollte, hatte etwas Skurriles an sich. Deshalb musste ich schmunzeln, als ich ihr versprach, ihre Ratschläge zu befolgen. Wenn die Menschen im Sunset Valley Senior’s Rest alle so optimistisch und unkompliziert gewesen wären wie Mrs. Whitcomb, dann hätten wir es leichter gehabt.
***
Ich hielt mich kurz in der Cafeteria auf, wagte es dann aber doch nicht, auf Linda zuzugehen und mit ihr ein zwangloses Gespräch anzufangen. Sie saß nämlich nicht allein am Tisch. Ausgerechnet Dr. Jeffries leistete ihr Gesellschaft und schaute sie auf eine Art und Weise an, die mehr sagte als Worte.
Ich hatte von anderen Kollegen bereits gehört, dass Curt Jeffries zu der Sorte Männer gehörte, die ihre Machtposition ausnutzten und Druck auf weibliche Angestellte ausübten, damit sie zum Ziel kamen. Dieses Mal schien er es auf Linda abgesehen zu haben – aber aus ihren Blicken schloss ich, dass ihr das gar nicht unangenehm zu sein schien.
Jedem das Seine, dachte ich, trank meinen Kaffee aus und ging wieder hinaus zu Mrs. Whitcomb, die unter einem schattenspendenden Baum saß und das schöne Wetter genoss. Sie wirkte ganz entspannt und zufrieden in ihrer kleinen Welt und lächelte mir zu.
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte sie sofort und blickte ganz erstaunt drein, als ich ihr mit einem kurzen Kopfschütteln zu verstehen gab, dass das nicht der Fall war. »Ja, aber warum denn nicht, Michael? Das wäre doch eine passende Gelegenheit gewesen und …«
»Es hat eben nicht gepasst, Mrs. Whitcomb«, erwiderte ich rasch. »Zerbrechen Sie sich am besten nicht weiter den Kopf darüber. Ich komme schon klar, und Sie müssen mich nicht verkuppeln.«
Sie sagte nichts mehr, weil sie spürte, dass mir das unangenehm war. Also lenkte sie das Gespräch auf ein anderes Thema und plauderte zwanglos mit mir über ganz alltägliche Dinge. Ich hörte ihr zu und tat das, was man von mir erwartete – nämlich sich Zeit zu nehmen für die alten Leute und ihnen dadurch das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht ganz so allein waren in dieser sich immer rascher verändernden Gesellschaft. Nur hier im Sunset Valley Senior’s Rest schien die Zeit etwas langsamer voranzuschreiten. Ein Gefühl, das von vielen Bewohnern sogar als angenehm empfunden wurde.
Eine gute Stunde später bat mich Mrs. Whitcomb, sie wieder zurück in ihr Zimmer zu bringen. Die Sonne war mittlerweile ein gutes Stück weiter nach Westen gewandert, und ein frischer Wind vom Atlantik sorgte für eine spürbare Kühle. Deshalb schob ich die alte Dame wieder zurück ins Innere des Gebäudekomplexes, brachte sie hinauf in ihr Zimmer und verabschiedete mich von ihr mit einem freundlichen Lächeln.
Als ich die Tür hinter mir schloss und mich dem Treppenhaus näherte, hörte ich plötzlich laute Stimmen von oberhalb, gefolgt von einem dumpfen Poltern und erregten Rufen.
»Verdammt noch mal!«, hörte ich Toby Chesters wütende Stimme. »Das geht so nicht. Nehmen Sie doch endlich Vernunft an!«
»Mit mir macht man so was nicht!«, rief jemand. »Ich bin keiner von diesen Schwachköpfen,die ihr mit Tabletten und Spritzen ruhigstellt. Komm nur näher, du Mistkerl!«
Warum ich jetzt die Treppenstufen nach oben eilte, um mir Gewissheit darüber zu verschaffen, was dort vor sich ging, konnte ich hinterher selbst nicht erklären. Ich wusste nur, dass es wichtig war, und sputete mich deshalb. Weil ich nämlich schon ahnte, was ein Stockwerk höher passiert war.
Wenige Augenblicke später hatte ich die beiden Treppen hinter mich gebracht und erreichte jetzt den Trakt, der in den Westflügel führte. Die Tür stand offen – und deshalb hatte ich die lauten Stimmen klar und deutlich hören können. Und nicht nur das. Ich sah auch, dass einige Bewohner dieses Bereichs aus ihren Zimmern gekommen waren und beobachteten, was sich da auf dem Flur abspielte.
Toby war gerade dabei, einen älteren Mann mit eisgrauen Haaren und einem struppigen Vollbart am Oberarm zu packen und mit sich zu zerren. Sein Gesicht war eine Mischung aus Wut und Ungeduld, weil der Mann offensichtlich nicht so reagierte, wie er es von ihm erwartete.
»Jetzt kommen Sie endlich mit. Es ist doch nur ein Routinecheck. Warum in Dreiteufelsnamen wehren Sie sich denn dagegen? Es ist doch nur zu Ihrem Besten …«
»Wenn du mich nicht gleich loslässt, dann kannst du was erleben«, nörgelte der alte Mann aufs Neue. »Ihr Verbrecher könnt mich nicht gegen meinen Willen zu etwas zwingen.«
Einer von den neugierigen Bewohnern, die diese Auseinandersetzung beobachteten, klatschte jetzt zögernd Beifall, und andere fassten dies als Zeichen auf, ebenfalls lautstark Zustimmung zu geben. Toby fluchte laut und deutlich, weil die ganze Sache auszuufern begann.
Jetzt sah er mich am Eingang des Gebäudetrakts stehen und winkte mir aufgebracht, näher zu kommen.
»Hilf mir mal, Michael! Wir müssen diesen störrischen Esel hier endlich zur Vernunft bringen. Er muss dringend untersucht werden, weil …«
Der alte Mann mit den grauen Haaren entzog sich währenddessen Tobys Zugriff und stieß mit seinem Knie gegen eine Stelle, wo es besonders weh tat. Toby wurde auf einmal ganz bleich im Gesicht, krümmte sich und fiel zu Boden. Er presste beide Hände auf die schmerzende Stelle im Unterleib, wimmerte leise vor sich hin und war nicht imstande, irgendetwas zu tun. Also blieb mir notgedrungen nichts anderes übrig, als einzugreifen, bevor die ganze Situation eskalierte. »Bleib, wo du bist, sonst bekommst du auch einen Tritt verpasst, Junge!«, warnte mich der Grauhaarige. »Ich bin zwar ein alter Mann, aber ich kann mich noch wehren, so gut es irgendwie geht. Das hat dieser Hühnerdieb da zu spüren bekommen …«
Während er das sagte, schaute er verächtlich auf den am Boden liegenden Toby, der immer noch nicht so recht begriffen hatte, was hier eigentlich geschehen war und dass ihn ein alter Herr auf so gemeine Weise ausgetrickst hatte. Jemand, von dem er das niemals erwartet hätte.
»Mr. Logan, ich will keinen Streit mit Ihnen«, sprach ich den Mann mit ruhiger Stimme an und näherte mich ihm vorsichtig.
»Woher weißt du, wer ich bin?«, entgegnete Logan. »Wir sind uns bisher noch nicht begegnet. Wie heißt du?«
»Michael Garrison«, erwiderte ich immer noch ganz ruhig, obwohl mir in diesen Sekunden Dutzende unterschiedlicher Gedanken durch den Kopf gingen. Weil ich nämlich ganz genau wusste, was geschehen würde, wenn Harold Marsh erfuhr, was hier im Westflügel vor sich ging. »Bleiben Sie ganz ruhig, und lassen Sie uns vernünftig miteinander reden, Mr. Logan. Ich bin sicher, dass wir eine Lösung für dieses Problem finden werden.«
»Ich habe kein Problem, Junge«, erwiderte Logan in barschem Ton. »Aber du bekommst mit Sicherheit eins, wenn du das Gleiche mit mir versuchst wie dieser Schlappschwanz da.« »Michael – du musst sofort Marsh informieren!«, keuchte Toby, während er aufzustehen versuchte. »Hol ihn – jetzt gleich …«
Er zuckte zusammen, als er Logans zornigen Blick auf sich gerichtet sah, und wich ihm aus. Seltsamerweise unternahm ich aber gar nichts, sondern verhielt mich nach wie vor ruhig und konzentrierte mich stattdessen einzig und allein auf Frank Logan. Der bemerkte natürlich, dass ich meinem Kollegen nicht zu Hilfe eilen wollte und auch seine Bitte ignorierte. Das wiederum schien sein Interesse zu wecken, und er musterte mich von Kopf bis Fuß in einer Mischung aus Misstrauen und Wachsamkeit.
»Sei still, Toby«, sagte ich und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem alten Mann. »Ich bin sicher, dass wir diese Sache hier ohne größeres Aufsehen beenden werden. Nicht wahr, Mr. Logan?« »Aber nur, wenn dieser Kerl verschwindet«, knurrte der Alte. »Dem traue ich nicht über den Weg.« »Du hast gehört, was Mr. Logan gesagt hat, Toby. Geh und lass uns allein. Ich kümmere mich um alles Weitere. Hast du verstanden?«
»Ja, aber …«
»Nichts aber!«, unterbrach ich ihn. »Nun mach schon. Und kein Wort zu Mr. Marsh. Ist das klar?« »Herrgott, ja«, erwiderte Toby, der wieder auf den Beinen stand, aber wohl noch Schmerzen hatte. Er war blass im Gesicht, hütete sich aber davor, seine Wut auf Logan und diese unerwartete Niederlage zu zeigen. »Aber man muss etwas unternehmen«, fügte er trotzig hinzu. »Ich habe Blutspuren in seiner Toilette entdeckt. Da stimmt was nicht. Wir müssen die ärztliche Leitung informieren, noch heute.«
Als ich das hörte, schaute ich zu Logan und entdeckte, dass es in seinen Augen nervös zu flackern begann. Aber nur ganz kurz, dann hatte er sich schon wieder unter Kontrolle.
»Wir reden später darüber, Toby«, sagte ich und bemerkte, dass sich Logan bei diesen Worten wieder beruhigte. »Mr. Logan wird sich von nun an ruhig verhalten, nicht wahr?«
Ich sah, wie er nickte, und Toby gab sich damit zufrieden. Zumindest vorerst. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, drehte sich hastig um und verließ dann den Gebäudetrakt so schnell wie möglich.
»Der hat den Schwanz eingezogen – und das im wahrsten Sinne des Wortes.« Logan lachte. »Hoffentlich hat er seine Lehren daraus gezogen. Ich bin ein Mensch mit Würde – und so möchte ich auch behandelt werden. Wie war gleich noch einmal dein Name, Junge?«
»Michael Garrison«, wiederholte ich. »Ich kann mich um Sie kümmern, wenn Sie das wollen, Mr. Logan. Aber dann müssen Sie schon etwas besser mit uns zusammenarbeiten.«
»Ich will nichts als meine Ruhe«, verteidigte sich der alte Mann. »Ist das vielleicht zu viel verlangt?«
»Die bekommen Sie auch«, versprach ich ihm. »Aber jetzt sollten Sie besser das tun, was man von Ihnen hier erwartet. Und das mindeste, was man verlangen kann, ist ordentliches Benehmen.«
»Warum?«, fragte er mich. »Ihr kassiert doch ohnehin nur Geld vom Staat dafür, dass ihr uns zu Tode pflegt. Dann lasst uns wenigstens unsere Würde. Ist das denn zu viel verlangt?«
Die Art und Weise, wie er das sagte, überraschte mich – und ich ahnte, dass da irgendetwas war, was Frank Logan unbedingt für sich behalten wollte. Und es schien etwas mit Tobys Entdeckung zu tun zu haben. Blut in der Toilette bei einem Menschen seines Alters verhieß nichts Gutes. Er wusste, dass ich mir darüber jetzt den Kopf zerbrach, und deshalb lenkte er rasch ein. »Wir reden darüber, okay?«, sagte er und wartete ab, bis ich nickte. »Gut«, fuhr er fort. »Aber nicht hier, wo das alle hören können. Am besten in meinem Zimmer.«
»Einverstanden«, sagte ich und folgte ihm, nachdem ich den übrigen Bewohnern nahegelegt hatte, zurück in ihre Zimmer zu gehen und sich keine Sorgen zu machen. »Glaubst du, dass dein Kollege dichthält?«, fragte mich Logan, nachdem ich ihm ins Zimmer gefolgt war und die Tür hinter mir geschlossen hatte.
»Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich die Hand für ihn ins Feuer lege«, antwortete ich seufzend. »Toby ist manchmal sehr impulsiv, und er hat einen ausgesprochenen Dickkopf. Was hat seine Anmerkung zu bedeuten, Mr. Logan? Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, darüber zu reden.«
»Wahrscheinlich«, erwiderte er und nahm in einem altertümlichen Sessel Platz, der direkt neben dem Fenster stand. Aber für das weite parkähnliche Areal, das man von hier oben aus sehen konnte, hatte er keinen Blick übrig. Stattdessen zog er die unterste Schublade der unter der Fensterbank stehenden Kommode auf und holte zu meiner Überraschung eine Flasche hervor, deren Etikett mir weiteres Kopfzerbrechen bereitete. Denn ich erkannte den Schriftzug Jack Daniel’s sofort.
»Das ist guter, ordentlicher Tennessee-Whiskey, Junge«, meinte Logan. »Willst du auch einen Schluck?«
»Woher haben Sie das?«, fragte ich. »Sie wissen doch genau, dass es verboten ist, Alkohol im Zimmer zu haben und …«
»Jack Daniel’s ist kein Alkohol«, winkte er ab und goss sich ein Glas ein. »In manchen Fällen hilft er sogar besser als Medizin. Zum Glück konnte ich einen kleinen Vorrat davon mitnehmen, bevor ich hierherkam. Und wie ich gesehen habe, gibt’s in einer halben Meile Entfernung einen Liquor Store, den man bequem zu Fuß erreichen kann. Was ist jetzt? Willst du auch ein Glas? Dann redet es sich besser.«
Ich stimmte schließlich zu, weil ich wusste, dass dies ein wichtiger Schritt war, um weiter auf Frank Logan zuzugehen und mehr über ihn zu erfahren. Alles sah danach aus, als wenn der alte Mann Vertrauen zu mir gefasst hatte und mit mir reden wollte. Und wenn ich ihm in dieser Situation helfen sollte, dann musste ich eben mehr wissen.
Er zeigte auf das zweite Glas, das er mittlerweile gefüllt hatte, verschloss die Flasche und forderte mich auf, mit ihm anzustoßen. Ich muss zugeben, dass ich nie ein großer Freund von Whiskey gewesen bin, deshalb verzog ich das Gesicht, als ich einen Schluck nahm. Logan dagegen trank das Glas in einem Zug aus, als wäre es Wasser, und grinste zufrieden, während er sich gleichzeitig über meine Abneigung amüsierte.
»Ich nehme noch einen«, sagte er. »Auf einem Bein steht man nicht besonders gut. Ist eine alte Binsenweisheit, Mike. Ich weiß, wovon ich rede. Nun schau doch nicht so entsetzt drein«, sagte er, während er sich ein zweites Glas eingoss. »Wenn ich mich gut dabei fühle, ist doch alles in Ordnung …«
»Nichts ist in Ordnung, Mr. Logan«, widersprach ich ihm. Obwohl ich erleichtert war, als er die Flasche wieder in der Schublade der Kommode verstaute, verstärkte sich das mulmige Gefühl in meinem Magen mit jeder weiteren Sekunde. »Und das wissen Sie ganz genau. Also – was hat Toby gemeint, als er sagte, er hätte Blut in Ihrer Toilette gesehen?«
»Herrgott, ich habe nur ein kleines Problem«, versuchte er zu beschwichtigen, trank den Rest Whiskey und stellte das Glas ab. »Darüber muss man keine Grundsatzdiskussion führen.« »Und was für ein Problem ist das genau?«, erkundigte ich mich. »Sind Sie krank? Dann sollte vielleicht einmal ein Arzt nach Ihnen sehen.«
»Ich bin nicht krank – und ich bin auch noch nicht hilflos!«, brauste er auf. »Alles andere habe ich im Griff. Da musst du dir ganz sicher nicht den Kopf darüber zerbrechen. Reden wir lieber über was anderes, okay?«
»Wie Sie meinen«, antwortete ich, als mir klarwurde, dass ich an eine unsichtbare Mauer gestoßen war. »Aber wenn es schlimmer wird, dann müssen Sie uns das sagen.«
»Hör mal gut zu«, sagte Logan mit erhobenem Zeigerfinger und wirkte jetzt wie ein emeritierter Universitätsprofessor, der einem jungen Studenten einige wichtige Dinge erklären wollte, nach denen er sich zukünftig zu richten hatte. »Ich habe mich nicht danach gesehnt, hierherzukommen. Jetzt muss ich es aber wohl so akzeptieren, wie es eben ist. Manchmal bleibt einem eben keine andere Chance mehr.«
»Haben Sie Kinder oder Verwandte?«
»Nein«, kam seine schroffe Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Und das ist auch gut so. Ich will keinem zur Last fallen. Alles, was ich noch besitze, befindet sich in diesen vier Wänden. Die Welt um mich herum ist nur ein bisschen kleiner geworden. Aber vielleicht ist das auch gut so.«
Während er das sagte, ließ ich meinen Blick schweifen. Das große Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand war mir natürlich schon beim Betreten des Zimmers aufgefallen:
Hardcover, Taschenbücher und Paperbacks in verschiedenen Größen.
»Liest du Bücher?«, fragte er mich.
»Bisweilen schon.«
»Und was?«
»Na ja, die üblichen Mainstream-Sachen eben. Stephen King, Dan Brown, Cody McFadyen und so was in der Art.«
Als er das hörte, verzog er das Gesicht. »Damit habe ich nichts am Hut«, brummte er und beobachtete, wie ich mich erhob und ihn dabei fragend anblickte. »Schau dir das mal ruhig an, wenn du willst. Aber geh vorsichtig mit den Büchern um. Für mich sind sie wertvolle Erinnerungen.«
Ich nickte und trat an das Regal heran. Kurze Zeit später erkannte ich, dass es sich bei Logans Bibliothek um Sachbücher und Romane handelte, die sich alle nur um ein bestimmtes Thema drehten – nämlich um die amerikanische Pioniergeschichte.
»Das sind historische Westernromane«, sagte er. »Sagt dir Terry C. Johnston was?«
»Ich fürchte, nein«, antwortete ich. »Muss ich ihn kennen?«
»Er hat mehr als dreißig Bücher über die Zeit der Mountain Men und der Siouxkriege geschrieben«, informierte er mich. »Neulich ist er auf dem Höhepunkt seines Erfolgs an einer tückischen Krankheit gestorben. Seine Bücher beinhalteten jede Menge an historischen Informationen. Da konnte man noch was über diese Epoche lernen.«
Er bemerkte aufgrund meines Gesichtsausdrucks, dass ich mich nicht wirklich für das interessierte, was er mir gerade begreiflich zu machen versuchte. Aber ich tat ihm den Gefallen und stöberte trotzdem noch ein wenig im Buchregal herum. Eine Reihe von Paperbacks stach mir ins Auge – oder besser gesagt der Name, der auf dem Buchrücken stand: Frank Logan.
»Du wirst nicht krank davon, wenn du eines der Bücher in die Hand nimmst, Junge«, hörte ich seine amüsierte Stimme. »Nun mach schon – ich erlaube es dir.«
Ich griff mir eines der besagten Taschenbücher und warf einen kurzen Blick darauf. Es zeigte eine Gruppe von Indianern, die von einer Anhöhe aus einen Siedlertreck beobachteten. Dakota Ambush lautete der Titel des Buchs, geschrieben von einem gewissen Frank Logan.
Neugierig geworden, drehte ich es um und warf einen Blick auf die Rückseite. Dort war ein Foto des Autors zu sehen, zusammen mit einigen persönlichen Daten. Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass es sich dabei um den Mann handelte, der drüben am Fenster saß. Auch wenn er auf dem Foto um etliche Jahre jünger wirkte und noch dunkle Haare hatte.
»Kaum zu glauben, aber es stimmt tatsächlich«, ergriff er wieder das Wort, weil er sofort gesehen hatte, dass ich nicht wusste, wie ich meine Gedanken in Worte kleiden sollte. »Das ist zwanzig Jahre her. Ich vermute, du hast noch nie von mir gehört.«
»Ich habe noch nie einen Western gelesen, Mr. Logan«, antwortete ich. »Vermutlich könnte mein Vater mehr dazu sagen. Er hat zu Hause einige Bücher dieser Art.«
»So was in der Art habe ich mir schon gedacht.« Logans Blick wurde auf einmal sehr kritisch. »Ihr jungen Kerle wollt mehr Action, nicht wahr? Egal, ob das nun historisch richtig ist oder nicht.«
»Darüber mache ich mir beim Lesen keine Gedanken«, erwiderte ich und fühlte mich bei diesen Worten unwillkürlich wie jemand, der unschuldig auf einer Anklagebank saß und nun das flammende Plädoyer eines Staatsanwalts über sich ergehen lassen musste. »Lesen ist für mich reine Unterhaltung, Abschalten vom Alltag. Können Sie das akzeptieren?«
»Und was weißt du über die Geschichte unseres Landes?«, bohrte Logan weiter, und ich fühlte mich zusehends unwohler mit der Richtung, in die das Gespräch jetzt verlief. »Jeder Amerikaner sollte etwas über seine Wurzeln wissen – und über das Land, in dem er aufgewachsen ist.«
»Ich habe bisher an der Ostküste gelebt«, verteidigte ich mich. »In großen Städten gibt es wichtigere Dinge, als sich über solche Sachen Gedanken zu machen.«
»Damit stellt sich deine Generation ein großes Armutszeugnis aus, Junge«, sagte Logan. »Na ja, vermutlich habe ich zu viel von dir erwartet und etwas in dir gesehen, was gar nicht da ist. Am besten gehst du jetzt wieder. Ich bin müde und möchte mich etwas ausruhen.«
»Warum sind Sie hier, Mr. Logan?«, startete ich noch einen letzten Versuch. »Jemand, der Bücher geschrieben und bei solchen Verlagen wie Bantam Books veröffentlicht hat, der braucht kein Dasein in einem Seniorenheim zu fristen.«
»So, meinst du also, ja?«, lautete seine beleidigte Antwort. »Es gibt immer einen Grund, warum das Leben ungerecht zu einem sein kann, Mike. Hast du eine Familie? Weißt du, was Verantwortung bedeutet?«
»Ich bin nicht verheiratet. Über Familienplanung habe ich mir noch keine Gedanken gemacht und …« »Aber mir willst du sagen, was richtig und was falsch ist? Du hast doch keine Ahnung!« Er schlug mit der Faust so unerwartet auf den Tisch, dass ich kurz zusammenzuckte. »Ich hatte Geld und Erfolg«, sagte er, »und musste mir keine Gedanken über die Zukunft machen. Vor zwanzig Jahren waren meine Romane in aller Munde – zumindest bei denen, die Western lesen. Aber als ich heiratete, war das die schlechteste Entscheidung meines Lebens. Meine Frau, diese undankbare Schlampe, hat mich nach Strich und Faden betrogen und hinter meinem Rücken Geld gestohlen und auf andere Konten geschafft. Leider war ich so blauäugig und vertrauensvoll, dass ich nichts davon gemerkt habe. Bis zuletzt nicht.«
Zum ersten Mal geriet die Fassade ins Wanken, die er seit seiner Ankunft im Sunset Valley Senior’s Rest um sich herum errichtet hatte. Er wirkte traurig und irgendwie sehr enttäuscht. »Wenn Sie darüber reden wollen – ich höre Ihnen gerne zu, Mr. Logan«, schlug ich ihm vor. Aber ich bemerkte, dass er noch ein wenig zögerte. »Was ist denn schon dabei?«, fuhr ich fort. »Man kann nicht alles mit sich selbst ausmachen. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo das zu viel wird. Dann muss man reden – sonst wird man krank davon. Mein Vater hat das als Kind zu mir gesagt, und ich habe mich bis heute daran gehalten.«
»Deinen Vater hätte ich gerne mal persönlich kennengelernt, Mike«, meinte Logan daraufhin. »Ich glaube, mit ihm hätte ich mich gut verstanden.«
»Wer weiß?«, sagte ich achselzuckend und dachte an den herrischen Menschen, der mein Vater war. »Was geschah denn nun mit Ihrer Frau?«
»Na ja, sie hat mich betrogen, wie ich schon sagte. Ich war viel zu gutgläubig, und vielleicht hätte ich ja noch was dagegen machen können. Aber ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt beschloss Bantam Books, das Westernprogramm deutlich zu kürzen, und ich war einer von denen, die es zuerst traf. Keine Folgeaufträge mehr, die Umsatzzahlen sanken jedes Jahr – und irgendwann sagte mir mein Agent, er könne mich nicht mehr an andere Verlage vermitteln.«
»Aber Sie hatten doch etwas vorzuweisen«, meinte ich. »Sie hätten doch jedem Verlag beweisen können, dass Sie schon lange im Geschäft sind, oder?«
»Das schon – aber ich hatte keine Lust mehr. Meine Frau packte ihre Sachen und ließ mir durch ihren Anwalt mitteilen, dass ich noch von ihr hören würde. Und das war auch der Fall. Dieser windige Rechtsverdreher hat mich so abgezockt, dass mir kaum noch etwas übrig blieb. Mein Haus und der Rest meines Geldes gingen dabei drauf, und am Ende des Jahres war ich pleite.« »Das tut mir leid«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich darauf hätte erwidern sollen. »Gab es denn niemanden, der Ihnen helfen konnte?«
»Mein einziger Freund hieß Jack Daniel’s.« Logan lächelte traurig. »Und diese Freundschaft hat bis heute gehalten. Wenigstens etwas Beständiges in meinem Leben. Zumindest der Tennessee-Whiskey hat mich noch nie enttäuscht.«
»Und dann kamen Sie hierher?«, fragte ich und sah, wie sein Blick einen traurigen und fast schon depressiven Ausdruck annahm.
»Das war die einzige Möglichkeit, die mir noch blieb, wenn ich nicht auf der Straße landen wollte«, sagte er. »Du kannst dir sicher vorstellen, dass man darauf nicht stolz sein kann. Hier bin ich nun gelandet und muss zusammen mit den anderen Greisen auf den Tod warten. Wie würdest du dich denn dabei fühlen?«
»Wahrscheinlich würde ich alles zusammenschlagen wollen, wenn mir das klar wäre«, erwiderte ich. »Kann man denn wirklich nichts mehr tun für Sie?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Logan und schien auf einmal einen Gedankenblitz zu haben. »Warte mal – vielleicht gibt es doch noch eine Lösung. Aber darüber muss ich erst einmal in Ruhe nachdenken. In der Zwischenzeit kannst du ja, wenn du willst, eines meiner Bücher lesen. Ich würde es dir sogar im Vertrauen ausleihen. Aber der Teufel soll dich holen, wenn du es nicht sorgfältig behandelst beim Lesen.«
»Natürlich tue ich das, Mr. Logan«, beeilte ich mich zu sagen, und weil ich den alten Mann nicht kränken wollte, stimmte ich schließlich zu, eines seiner Bücher zu lesen. Obwohl ich daran zweifelte, dass mir dieses Genre wirklich zusagen würde.
»Dann nimm am besten das Buch mit, das du eben in der Hand hattest – Dakota Ambush«, schlug er vor. »Lies es und sag mir dann, was du davon hältst. Danach reden wir weiter.«
»Gut.« Ich nickte, nahm das Buch mit und ging dann zur Tür. »Aber ich kann Ihnen erst am Montag etwas dazu sagen. Übers Wochenende habe ich nämlich frei.«
»Lass dir ruhig Zeit damit.« Er winkte lächelnd ab. »Ich laufe schon nicht davon – auch wenn es vielleicht besser wäre …«
Sein Gesichtsausdruck wurde wieder traurig und hoffnungslos, aber nur einige Sekunden lang, danach hatte er sich wieder unter Kontrolle und winkte mir noch einmal kurz zu, bevor ich aus dem Zimmer ging. Ich schloss die Tür und verließ den Westflügel, denn ich wollte noch mit Toby sprechen.
Zum Glück musste ich nicht lange nach ihm suchen. Ich fand ihn in einer der Pflegestationen, wo er gerade mit einem bettlägerigen Bewohner zugange war, und wartete geduldig ab, bis er seine Arbeit beendet hatte. Natürlich hatte er mich bemerkt, und der Blick, den er mir zuwarf, sprach Bände. Aber ich gab ihm mit einem kurzen Wink zu verstehen, dass ich dringend mit ihm unter vier Augen sprechen wollte. Trotzdem musste ich noch zehn Minuten warten, bis er mit seiner Arbeit fertig war und dann zu mir kam.
»Was willst du?«, fragte er barsch.
»Mit dir reden – was denn sonst?«, entgegnete ich. »Hör mal, die Sache mit Mr. Logan – vielleicht sollte man das nicht überbewerten. Er hat sich nur noch nicht ganz eingewöhnt hier. Aber das wird schon noch kommen. Er wäre nicht der Erste, der Probleme hat, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden.«
»Dieser alte Sack hat mich angegriffen«, sagte Toby und blickte immer noch wütend drein, weil ich das mit angesehen hatte. »Das macht der kein zweites Mal – das kann ich dir versprechen. Wenn er noch mal auf dumme Gedanken kommt, dann spreche ich mit Mr. Marsh, und dann wird er für einige Tage ruhiggestellt.«
»Du bist wütend, und ich kann dich verstehen«, lenkte ich ein. »Aber denk doch einfach mal nach, wie du reagieren würdest, wenn du von heute auf morgen deine gewohnte und vertraute Umgebung verlassen musst und gezwungen bist, in ein Altersheim zu gehen. Weil du allein nicht mehr zurechtkommst. Wie würdest du dich dabei fühlen?«
»Weiß ich nicht. Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Und ich muss das auch noch nicht«, brummte er. »Du scheinst mit dem Alten wohl gut klargekommen zu sein, wie? Hast wohl auch schon Freundschaft mit ihm geschlossen.«
»Ich habe mir nur Zeit genommen und ihm zugehört, das ist alles.« Mehr sagte ich nicht, denn ich ahnte irgendwie, dass er es ohnehin nicht verstehen würde. Toby machte wie die meisten anderen meiner Kollegen seinen Job hier, aber er hielt eine emotionale Distanz zu den Bewohnern, weil er mit deren verzweifelten Gedanken nichts zu tun haben wollte. Ein solches Verhalten hätte man als abgebrüht bezeichnen können, und je länger ich mir das vor Augen hielt, umso bewusster wurde mir, dass ich niemals so sein konnte. Denn ich hatte längst erkannt, dass die alten Menschen jemanden benötigten, mit dem sie sprechen konnten. Wie Frank Logan zum Beispiel.
»Michael, nimm dir nicht zu viel Zeit für einen einzelnen Bewohner, sonst schaffst du deinen Job nicht«, meinte Toby. »Wir haben hier bestimmte Vorgaben zu erfüllen, vergiss das nicht. Marsh achtet auf so was.«
»Ich werd’s mir merken«, sagte ich. »Mit Mr. Logan wird es keinen weiteren Zwischenfall mehr geben. Also mach bitte keine große Sache daraus und behalte es für dich. In Ordnung?« »Von mir aus«, sagte er. »Weiß der Teufel, weshalb du dich für diesen Spinner so einsetzt. Er soll sich nur an die Regeln halten – und wenn er das nicht tut, dann hat er irgendwann das Nachsehen. Das kannst du ihm ruhig noch einmal in aller Deutlichkeit klarmachen.«
»Ich werd’s ihm sagen.« Dann verließ ich die Station und ging zurück zu meinem eigentlichen Tätigkeitsbereich. Das Taschenbuch verstaute ich bei meinen persönlichen Dingen und würde es mit nach Hause nehmen, sobald mein Dienst beendet war – in drei Stunden.
***
Als ich meine Wohnung betrat, war es schon dunkel draußen. Ich hatte noch einige Einkäufe fürs Wochenende erledigt und im Supermarkt einen Kollegen getroffen, der heute seinen freien Tag hatte. Natürlich unterhält man sich dann zwangsläufig über den Job, und ich erfuhr von ihm, dass Mr. Marsh wieder mal ein neues Rationalisierungskonzept in Arbeit hatte und er es uns bald präsentieren würde. Die Art und Weise, wie er das schilderte, ließ mich ins Grübeln kommen, weil Rationalisierungen immer wieder Entlassungen und spürbare Veränderungen zur Folge haben – und da ich zu denjenigen zählte, die noch nicht lange dort arbeiteten, kam mir natürlich der Gedanke, dass mein Job in Gefahr sein könnte.
Ich versuchte, nicht mehr daran zu denken, als ich die eingekauften Lebensmittel im Kühlschrank verstaute, stellte dann aber doch fest, dass meine Gedanken immer wieder abzuschweifen begannen. Also musste ich mich ablenken und schaltete den Fernseher an. Falls ich jedoch darauf gehofft hatte, irgendetwas Interessantes zu finden, sah ich mich rasch eines Besseren belehrt. Eine Quiz- und Gameshow nach der anderen, gefolgt von Sitcoms, die ich gar nicht mehr auseinanderhalten konnte.
Ich schob eine Tiefkühlpizza in den Ofen, öffnete eine Dose Bier und machte es mir auf der Couch gemütlich. Dabei fiel mir Frank Logans Buch ein, das er mir ausgeliehen hatte. Ich holte es aus der Tasche, warf noch einmal einen Blick auf den Umschlag und die Inhaltsangabe auf der Rückseite – und dann beschloss ich, einfach mal einen Blick hineinzuwerfen und ein paar Seiten zu lesen.
Wie schon gesagt – ich habe keine Ahnung von Western und weiß im Grunde genommen nicht viel über die historischen Ereignisse aus dieser Zeit. Aber auf einmal musste ich beim Lesen feststellen, dass diese Geschichte namens Dakota Ambush doch völlig anders war, als ich es eigentlich erwartet hatte. Wahrscheinlich hatte ich irgendetwas in der Art vermutet, wie es lange Zeit in Hollywood-Filmen zu sehen gewesen war. Ein Siedlertreck, dessen Wagen einen Kreis gebildet hatten, als sie von Sioux angegriffen wurden, war eines dieser gängigen Bilder, die mir in Erinnerung geblieben waren. Und ich hatte mich damals schon oft gefragt, warum die Sioux denn immer im Kreis um diese Wagenburg herumritten und sich von den bedrängten Weißen abknallen ließen. Sie hätten doch eigentlich wissen müssen, dass sie dadurch ein perfektes Ziel für die Verteidiger darstellten.
Dakota Ambush räumte mit diesem falschen Bild jedenfalls auf – und dabei blieb es nicht. Ich erfuhr beim Lesen einiges über die schrecklichen Zustände in den Reservaten von Pine Ridge und Standing Rock. Von dem Massaker am Wounded Knee 1890 hatte ich natürlich schon zu meiner Schulzeit gehört, aber das meiste davon war über die Jahre wieder in Vergessenheit geraten. Ich hätte niemals vermutet, dass ausgerechnet ein Western mich vergessen ließ, dass ich noch eine Pizza im Ofen hatte. Erst der brenzlige Geruch erinnerte mich wieder daran. Fluchend legte ich das Taschenbuch beiseite, erhob mich und ging hinüber in die Küche, nur um festzustellen, dass mir eine Rauchwolke entgegenkam.
Ich schaltete den Ofen aus, öffnete das Fenster und sorgte für genügend Durchzug, damit sich der dichte Qualm wieder verzog. So was Leichtsinniges war mir noch nie zuvor passiert, und ich fragte mich, was eigentlich mit mir los war. Die Tatsache, dass durch das Lesen einer – zugegebenermaßen – spannenden Geschichte beinahe noch viel Schlimmeres hätte passieren können, gab mir zu denken. Der Appetit war mir vergangen, und ich entsorgte die verkohlte Pizza im Müll. Ausgerechnet jetzt klingelte das Telefon. Zuerst wollte ich mich gar nicht melden, entschied mich dann aber doch dafür. Es war meine Mutter, die mit mir über Belanglosigkeiten reden wollte. Junge, wie geht’s dir? Ist alles in Ordnung? Du hast dich ja schon einige Tage lang nicht gemeldet. Dein Vater und ich wollten nur mal wissen, ob auch wirklich alles gut ist – solche Dinge eben.
Mir stand jedoch nicht der Sinn nach Unterhaltungen dieser Art, und deshalb hielt ich mich sehr knapp am Telefon. Ich sagte meiner Mutter, dass ich eine lange und anstrengende Woche hinter mir hatte und einfach nur müde war und gleich schlafen gehen wollte. Dann beendete ich das Gespräch mit dem Versprechen, sie irgendwann nächste Woche anzurufen.
Mittlerweile hatte sich der Qualm in der Küche verzogen, und ich konnte von Glück reden, dass nichts Schlimmeres passiert war. Mir würde nach Lage der Dinge aber nichts anderes übrigbleiben, als die Wände neu zu streichen, damit sich der Geruch nicht auf alle Zeiten festsetzte. Somit war mein Wochenende zeitlich verplant. Gleich morgen früh würde ich mich auf den Weg zum nächsten Baumarkt machen, einen Eimer Farbe kaufen und dann gleich loslegen. Wenn ich mich beeilte, konnte ich morgen Abend mit allem fertig sein und dann wenigstens noch den Sonntag zum Ausruhen nutzen.
Da ich jetzt ohnehin nichts mehr tun konnte, ging ich zurück ins Wohnzimmer und griff wieder nach dem Taschenbuch, um zu sehen, welchen Verlauf die Geschichte nahm. Ich erfuhr sehr viel über die Intrigen der Armee, die Geistertanz-Bewegung und den hinterhältigen Plan, Sitting Bull zu ermorden. Als ich schließlich einen Augenblick innehielt und bemerkte, dass es schon auf Mitternacht zuging, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus.
***
Als ich mein Auto auf dem Angestelltenparkplatz des Sunset Valley Senior’s Rest abstellte und die wenigen Schritte bis zum Hauptportal des Altenheims zurücklegte, fühlte ich mich so wohl und entspannt wie schon seit langem nicht mehr – trotz der Hektik, die ich am Samstag veranstaltet hatte, um Farbe zu kaufen und anschließend die Küche neu zu streichen. Ich bin nämlich nicht unbedingt ein begabter Handwerker und brauche für solche Dinge viel länger als mancher andere. Aber die Tatsache, all das mit meinen eigenen Händen und ohne fremde Hilfe geschafft zu haben, erfüllte mich mit großer Genugtuung.
Ich brannte natürlich darauf, Frank Logan sein Buch zurückzugeben. Ich hatte es mittlerweile fertig gelesen und wollte ihm gleich persönlich sagen, wie gut es mir gefallen hatte. Deshalb hatte ich es eilig, nach oben zum Westflügel zu gehen, wo sich Logans Zimmer befand. Aber noch bevor ich die letzte Treppenstufe erreicht hatte, begegnete mir Toby. Das Grinsen in seinem Gesicht gefiel mir ganz und gar nicht. Es war eine Mischung aus Häme und Genugtuung, weil er wohl ahnte, zu wem ich wollte.
»Willst du zu dem alten Spinner?«, fragte er.
Ich nickte kurz und wollte meinen Weg fortsetzen.
»Dann hast du Pech. Er ist nicht da.«
Ich drehte mich langsam zu ihm um. »Wo ist er?«
»Im Krankenhaus, wenn du’s genau wissen willst.« Toby konnte seine Schadenfreude kaum noch zügeln. »So was passiert manchmal ganz schnell, wenn man nicht auf andere Leute hören will. Logan hatte am Samstagmorgen einen Schwächeanfall und ist in seinem Zimmer zusammengebrochen. Zum Glück hat das jemand gehört, der gerade an der Tür vorbeiging, so dass man ihn schnell versorgen konnte. Jetzt ist er im Krankenhaus zur Beobachtung. Was glaubst du wohl, weswegen?« »Ich nehme an, du wirst es mir gleich sagen«, brummte ich, während meine Gedanken bereits Purzelbäume schlugen.
»Mit ihm stimmt was nicht. Da war wieder Blut in der Toilette. Diesmal noch mehr. Jetzt checken sie ihn im Krankenhaus richtig durch. Egal, ob ihm das passt oder nicht.«
»Wie lange muss er dort bleiben? Hast du was gehört?«
»Ich glaube, er kommt heute Nachmittag wieder zurück, wenn ich Marshs Sekretärin richtig verstanden habe. Aber er wird weitere Behandlungen über sich ergehen lassen müssen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
Seltsamerweise beschäftigte mich diese Nachricht mehr, als ich mir selbst eingestanden hätte. Ich machte mir Sorgen um den alten Mann, den ich im Grunde genommen erst seit Freitag kannte, und ich grübelte darüber nach, was es wohl zu bedeuten hatte, dass er ins Krankenhaus gekommen war. Zwar versuchte ich zu vermeiden, daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen, aber es gelang mir nicht ganz.
»Und wie war dein Wochenende?«, riss mich Tobys Stimme aus meinen trüben Gedanken. »Du solltest mal wieder unter Leute gehen. Nächsten Freitag ist eine House-Party im Nightwish-Club in der Zwölften Straße Ecke Washington Street. Gehst du mit? Ich bin auf jeden Fall dort – und Linda auch, wie ich gehört habe …«
Er sagte das natürlich ganz bewusst, um zu sehen, wie ich darauf reagierte. Aber ich tat ihm den Gefallen nicht und verhielt mich ganz distanziert, als interessiere mich gar nicht, was Linda in ihrer Freizeit unternahm oder mit wem sie ausging.
»Ich werd’s mir überlegen«, sagte ich und setzte meinen Weg fort. »Ich gebe dir Bescheid, ja?« Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen und machte mich auf den Weg zu meiner Station. Meine Gedanken kreisten allerdings nicht um Linda, sondern um einen alten Mann namens Frank Logan, um dessen Gesundheitszustand ich mich nun ernsthaft zu sorgen begann.
***
Ich machte meinen Job, so gut ich konnte, war aber dennoch irgendwie abwesend. Meine beiden Kollegen, mit denen ich die morgendliche Versorgung der Bewohner in diesem Trakt absolvierte, bemerkten das natürlich und sprachen mich darauf an. Aber ich erwiderte nur, dass alles in Ordnung war, und damit mussten sie sich eben zufriedengeben. Tatsächlich aber schaute ich immer wieder aus dem Fenster und hoffte darauf, dass bald ein Krankenwagen vorfuhr und Frank Logan wieder zurückbrachte.
Gegen 15 Uhr war es dann so weit. Ein Krankenwagen des St. Peter’s Hospital kam und hielt direkt vor dem Hauptportal. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt gerade Pause gemacht und hielt mich in der Cafeteria auf. Von dort aus konnte ich durch die große Glasfront genau beobachten, was geschah. Die hinteren Türen des Wagens wurden geöffnet, und ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich Frank Logan im Rollstuhl sitzen sah, der jetzt über eine kleine Rampe nach draußen geschoben wurde.
Ich hielt es nicht mehr länger aus, erhob mich rasch und ging hinaus ins Freie. Aber ich war beileibe nicht der Einzige. Mr. Marsh war ebenfalls schon anwesend, zusammen mit seiner Sekretärin Patricia Briggs – und beide richteten ihre tadelnden Blicke auf den graubärtigen Mann im Rollstuhl, der um Jahre gealtert zu sein schien. Sein Gesicht war so blass, als hätte er wochenlang keinen Sonnenstrahl mehr gesehen, und seine Augen wirkten fiebrig.
»Sie hätten besser im St. Peter’s Hospital bleiben sollen, Mr. Logan«, sagte der Heimleiter. »Mit solchen Dingen sollte man nicht spaßen oder sie auf die leichte Schulter nehmen. Ich schlage Ihnen vor, dass …«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, entgegnete Logan mit mühsam unterdrückter Wut. »Noch bin ich nicht so hilflos, dass andere über mich zu entscheiden haben. Deshalb habe ich mich auch dazu entschlossen, die nächsten Tage hier zu verbringen – in meiner privaten Umgebung. Das ist mein Recht. Sie können ja versuchen, mich gerichtlich entmündigen zu lassen. Aber bis dahin entscheide ich über mein eigenes Leben. Ist das klar?«
So hatte vermutlich noch niemand mit Mr. Marsh gesprochen, und seine Überraschung war dementsprechend. Er verdrehte die Augen, holte tief Luft und schaute zu seiner Sekretärin, die mindestens ebenso entsetzt war wie ihr Chef. Das schien Logan jedoch egal zu sein, denn er hatte mich unter den Umstehenden entdeckt.
»Bringst du mich auf mein Zimmer, Mike?«, fragte er so laut, dass es jeder hören konnte. Da nun alle Augen auf mich gerichtet waren, blieb mir nichts anderes übrig, als die Bitte des alten Mannes zu erfüllen. Unter dem kritischen Blick von Mr. Marsh trat ich zu Logan, stellte mich hinter ihn und lenkte ihn mitsamt dem Rollstuhl durch das Hauptportal des Sunset Valley Senior’s Rest.
»Hast du gesehen, wie er geschaut hat, Junge?«, fragte er mich mit einem triumphierenden Grinsen auf den blassen Gesichtszügen. »Das war mir die ganze Sache jetzt aber wert. Wo kämen wir denn hin, wenn ich mir von diesem Trottel sagen lasse, welche Entscheidung ich zu treffen habe? O nein, so krank ist der alte Frank Logan noch lange nicht. Hast du mein Buch gelesen, Mike?« »Mr. Logan, meinen Sie nicht auch, dass es jetzt wichtigere Dinge gibt, als über Ihr Buch zu sprechen?«, hielt ich ihm entgegen. »Was in aller Welt ist denn eigentlich mit Ihnen passiert? Letzten Freitag ging es Ihnen doch noch ganz gut und …«
»Ein Schwächeanfall – nichts weiter«, unterbrach er mich. »Kann in diesem Alter eben passieren. Aber aus einer Mücke gleich einen Elefanten zu machen, das sieht Marsh mal wieder ähnlich. Ich kann diesen aalglatten Typen nicht ausstehen. Solange ich hier bin, werden er und ich vermutlich keine besten Freunde.« Zwischenzeitlich hatten wir den Fahrstuhl erreicht. Ich wartete, bis der Lift herunterkam, öffnete die Tür und schob Logan in seinem Rollstuhl hinein. Natürlich hatte er meinen besorgten Blick längst registriert, sagte aber erst etwas, als sich die Tür des Fahrstuhls hinter uns schloss und ich mit ihm allein war.
»Der Rollstuhl ist nur vorübergehend, bis ich wieder zu Kräften gekommen bin«, sagte er, während der Lift nach oben zum Westtrakt fuhr. »Morgen bin ich wieder ganz der Alte, verlass dich drauf.« »Weshalb hat man Sie ins Krankenhaus gebracht?«, bohrte ich nach. »Und was meinten Sie damit, als Sie eben sagten, Sie wollten die nächsten Tage noch hier bleiben. Ich habe gehört, dass in Ihrer Toilette wieder …«
»Das hat dir dieser Speichellecker gesteckt, dem ich einen Tritt verabreicht habe, nicht wahr?«, unterbrach er mich. »Der war vermutlich froh darüber, gehört zu haben, dass der alte Logan jetzt einen Denkzettel bekommen hat. Aber darüber ist noch längst nicht das letzte Wort gesprochen, Mike. Ich bin zäh, wenn es ums Überleben geht. Verdammt zäh sogar.«
Der Fahrstuhl hatte sein Ziel erreicht, aber anstatt die Tür zu öffnen, hallten seine letzten Worte in meinen Ohren wider und überlagerten jeden weiteren Gedanken.
»Überleben?«, fragte ich unsicher. »Was ist mit Ihnen, Mr. Logan?«
»Mach erst mal die Tür auf und bring mich in mein Zimmer«, schlug er stattdessen vor. »Dann reden wir weiter.«
Ich tat, um was er mich gebeten hatte, und bemerkte, wie ihm eine unsichtbare Last von den Schultern zu fallen schien, als ich die Zimmertür schloss.
»Hilf mir«, bat er mich. »Ich bin noch ein bisschen schwach.«
Ich stützte ihn dabei, als er sich aus dem Rollstuhl erhob und in seinem Sessel am Fenster Platz nahm. Er atmete erleichtert auf und schien sich jetzt allmählich zu entspannen. Auch die Blässe in seinem Gesicht war zum Glück gewichen.
»Krankenhäuser …«, murmelte er, ohne mich anzusehen. »Da wird man doch nicht gesund, sondern fühlt sich noch elender. Dem Himmel sei Dank, dass ich wieder hier bin, selbst wenn …« Seine Stimme geriet kurz ins Stocken, bevor er weitersprach. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Mike. Hast du mein Buch gelesen?«
»Verdammt, ja«, erwiderte ich leicht gereizt. »Deswegen ist mir nicht nur die Pizza im Ofen angebrannt, sondern ich musste am Samstag auch die Küche neu streichen.«
»Wegen meines Buchs?« Logans Stimme klang ungläubig.
»Ich habe beim Lesen nicht auf die Uhr geschaut und dabei die Pizza vergessen«, gestand ich. »So was ist mir noch nie passiert. Ihr Buch war offenbar so spannend, dass es mich alles andere um mich herum vergessen ließ.«
Im ersten Moment wusste er gar nicht, was er darauf erwidern sollte, aber dann fing er an zu grinsen und konnte schließlich ein Lachen nicht mehr unterdrücken.
»Das ist eines der seltsamsten Komplimente, die ich als Schriftsteller jemals erhalten habe«, verkündete er voller Stolz. »Aber danke dafür, du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich darüber freue. Zumal das Lob von jemandem kommt, der keine Ahnung von Western hat.«
»Stimmt.« Ich nickte. »Aber ich fand es lehrreich, was Sie geschrieben haben. Über die Hintergründe des Geistertanzes und den anschließenden Aufstand in Wounded Knee wusste ich gar nichts.«
»Ich war dort, kurz nach dem letzten Aufstand in den siebziger Jahren«, sagte er. »Wenn du die erbärmlichen Umstände siehst, unter denen diese Menschen selbst heute noch ihr Leben fristen, dann kannst du nachvollziehen, warum dieser Aufstand stattgefunden hat – und weshalb die Sioux noch einmal ein Zeichen setzen wollten. Ich habe dir doch von Terry C. Johnston erzählt, erinnerst du dich?« Ich nickte. »Der hat sogar einmal pro Jahr die Leser seiner Bücher an die Originalschauplätze seiner Romane geführt und ihnen zusätzliches Wissen vermittelt. So etwas erwarte ich von einem Autor, der seinen Job ernst nimmt. Und wenn jemand wie du nach dem Lesen damit beginnt, über verschiedene Dinge nachzudenken, dann habe ich genau das erreicht, was ich damit eigentlich bezwecken wollte. Dafür bin ich dir dankbar, Junge – dass ich es noch einmal zu hören bekomme, bevor …«
»Bevor was, Mr. Logan?«, fragte ich. »Ich habe Ihnen einen Gefallen getan, indem ich Ihr Buch gelesen habe. Und Sie sollten jetzt so ehrlich sein und mir reinen Wein einschenken, was Ihren Aufenthalt im Krankenhaus betrifft.«
»Bevor du’s von anderen erfährst, sage ich es dir lieber persönlich«, sagte er. »Ich habe Darmkrebs. Es haben sich schon einige Metastasen gebildet.«
»Gütiger Himmel«, murmelte ich, als mir klarwurde, was das für ihn bedeutete. »Aber warum sind Sie denn nicht früher zu einem Arzt gegangen? Vielleicht hätte man ja noch etwas tun können.« »Manchmal ist es besser, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, Junge«, erwiderte er. »Ich bin darin ein Meister, weil ich es sonst nicht geschafft hätte. Aber jetzt hat mich die Wahrheit eingeholt, und ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Ich soll mich einer Chemotherapie unterziehen, Mike. Schon in wenigen Tagen.«
»Und wie stehen die Chancen?« »Das weiß man erst danach. Aber ich mache das nicht. So was tue ich mir nicht an. Lieber nutze ich die Zeit, die mir noch bleibt. Würdest du mir einen Gefallen tun? Du bist doch so was wie ein Freund, oder?«
»Schon«, gab ich zu, weil ich ihn doch irgendwie gut leiden konnte. »Aber ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen sollte, Mr. Logan. Ich bin doch gar kein Arzt.« »Ohne Chemotherapie geben sie mir noch ein halbes Jahr oder weniger. Trotzdem mache ich das nicht. Ich will nicht hilflos im Bett liegen bleiben und mich elend fühlen. Da nutze ich lieber die Zeit.«
»Für was?«
»Ich will weg von hier«, sagte er. »So schnell wie möglich. Ich sage dir das so klar und deutlich, weil mir keine Zeit mehr bleibt. Ich will noch einmal die Orte sehen, an denen meine Romane spielen. Ich habe sonst nichts mehr – aber das würde ich gerne noch tun, bevor ich sterbe. Ich will noch mal nach Wounded Knee.«
Als ich ihn anschaute, war mir völlig bewusst, wie ernst er es meinte.
»Nach South Dakota? Sie sind verrückt«, sagte ich, nachdem ich meine verwirrten Gedanken wieder ein wenig geordnet hatte. »Mr. Logan, Sie müssen sich doch behandeln lassen, sonst haben Sie gar keine Chance.«
»Das ist einzig und allein meine Sache. Hilfst du mir nun oder nicht?«
»Herrgott, wie soll ich das denn tun?«, fragte ich ihn. »Sie können doch hier nicht einfach Ihre Sachen packen und davonspazieren, als wäre nichts geschehen. Auf diese Weise kommen Sie nicht weit und …«
»Nicht, wenn man es so anstellt, dass es erst viel später bemerkt wird. Ich wüsste auch schon, wie. Aber zuerst will ich von dir wissen, ob ich mich auf dich verlassen kann. Du hast doch eines meiner Bücher gelesen, Mike. Also müsstest du doch begriffen haben, wie wichtig es mir ist, zum Ende meines Lebens noch einmal etwas Sinnvolles zu tun. Nach dem Mist der letzten Jahre ist das das Einzige, das ich noch erleben möchte. Sterben kann ich morgen noch, und dann ist es mir recht. Ist ja sowieso keiner mehr da, der um mich trauert. Also, was ist nun?« »Wie stellen Sie sich das vor?«, fragte ich, und mir wurde bewusst, dass ich mit dieser Äußerung schon den ersten Schritt in eine Richtung getan hatte, die zumindest zu diesem Zeitpunkt noch sehr bedenklich war.
»In drei Tagen soll ich wieder ins St. Peter’s Hospital kommen«, klärte er mich auf. »Sag dem Heimleiter einfach, dass du mich hinfährst, weil ich dich darum gebeten habe. Dann brauchst du mich nur noch zum nächsten Bahnhof zu bringen, und den Rest schaffe ich dann schon allein. Das ist alles.«
Er bemerkte natürlich, dass ich mit einer Antwort zögerte. Er wusste selbst, dass auch mein Job auf dem Spiel stand, wenn erst herauskam, dass die ganze Sache sorgfältig geplant worden war und ich davon gewusst, es aber nicht der Heimleitung gemeldet hatte.
»Junge, du hast in deinem Leben noch genügend Zeit«, versuchte er es ein letztes Mal. »Aber ich nicht. Jetzt sag schon – kann ich auf dich zählen oder nicht?«
»Ich mache es«, erwiderte ich.
... weniger
Autoren-Porträt von Alfred Wallon
Alfred Wallon, geboren 1957 in Marburg/Lahn, ist seit 1981 als Schriftsteller tätig. Er veröffentlichte bereits über zweihundert Romane in nahezu allen gängigen Sparten der Spannungs- und Unterhaltungsliteratur. Wallon gehört zu den wenigen Europäern, die bei den renommierten Western Writers of America aufgenommen wurden, und ist außerdem Mitglied bei den Western Fictioneers.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alfred Wallon
- 2014, 188 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3955692868
- ISBN-13: 9783955692865
- Erscheinungsdatum: 20.02.2014
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
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