Tödliche Schnitte (ePub)
Ein grausamer Serienmörder versetzt die Kleinstadt Evansville in Angst und Schrecken. Die Opfer scheinen völlig willkürlich ausgewählt und werden grausam gefoltert und hingerichtet. Bei den Leichen findet man Kinderreime, die alle mit dem gleichen...
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Produktinformationen zu „Tödliche Schnitte (ePub)“
Ein grausamer Serienmörder versetzt die Kleinstadt Evansville in Angst und Schrecken. Die Opfer scheinen völlig willkürlich ausgewählt und werden grausam gefoltert und hingerichtet. Bei den Leichen findet man Kinderreime, die alle mit dem gleichen Wachsmalstift geschrieben sind. Und immer heißt es am Ende: "Fortsetzung folgt!" Für Ermittler Jack Murphy ist das mehr als eine Warnung - es ist eine persönliche Herausforderung. Und Jack ist nicht der Mann, der eine Herausforderung ablehnt. Schon gar nicht, wenn der Mörder seine Krallen nach den Menschen ausstreckt, die ihm nahestehen.
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Tödliche Schnitte von Rick ReedProlog
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Es war Ende Mai und regnete wie verrückt, als die Mitarbeiter der Polizei Evansville -- Detectives, uniformierte Beamte und ein Sondereinsatzkommando -- die Gasse hinter dem Juwelier Turley's ins Visier nahmen. Dank des Tipps eines zuverlässigen Informanten würden sie heute die Solazzo-Gang hopsnehmen, bewaffnete Diebe, die in letzter Zeit etliche kleine Läden in der Stadt übel ausgenommen hatten.
Bobby Solazzo hatte die Mitglieder seiner Bande sorgfältig ausgewählt, er hatte sich möglichst bösartige, kranke Schweinehunde gesucht, und alle, die auch nur einen Hauch Gewissen zeigten, konnten seinetwegen zu irgendeiner Wohltätigkeitsorganisation gehen. Solazzos Leute waren Typen, die verkündeten: »Geld her und ich bring dich um. «
Solazzo und seine Jungs waren der Polizei bereits bei einer irren Verfolgungsjagd samt Schießerei in einem Schnapsladen entkommen, bei der zwei Angestellte ums Leben gekommen waren. Die letzten zehn Tage hatten sie sich ruhig verhalten, aber jetzt waren sie bereit zu ihrem nächsten Überfall.
Detective Jack Murphy leitete den Einsatz. Er kauerte unbequem hinter einem Müllcontainer und wischte sich den Regen aus den Augen, während der stellvertretende Leiter seiner Abteilung auf dem Dach des Juweliers herumstand, zusammen mit einem der Scharfschützen des Sondereinsatzkommandos sowie einem Reporter der Lokalzeitung, der unbedingt ein grandioses Foto zur bereits vorformulierten Schlagzeile aufnehmen wollte: SOLAZZO-GANG GESCHNAPPT. Andere Scharfschützen waren strategisch an etlichen Orten positioniert, von denen aus man die Gasse im Blick hatte, die bereits als »Endzone« des Einsatzes festgelegt war. Sie mussten nicht lange warten.
Ein älterer schwarzer Suburban mit getönten Fensterscheiben fuhr in die Gasse hinein und hielt schließlich direkt hinter Turley's Schmuckgeschäft. Die nächsten beiden Minuten schienen in Zeitlupe zu vergehen, angefangen damit, dass die Türen des Suburban aufflogen und vier große, bewaffnete Männer herausstiegen.
Einer der Männer trat vor die Hintertür von Turley's und zielte mit einer abgesägten Flinte auf das Schloss. Der Knall des Schusses, mit dem das Schloss herausflog, erschreckte einen der Bullen, der mit seiner Pistole in die Gasse zielte, und reflexartig drückte er auf den Abzug. Jack reckte sich ein wenig höher und sah sich um, er dachte: Das muss der Stellvertretende Polizeichef gewesen sein. Wer sonst würde es so vermasseln? Der Schuss ging daneben, aber die Reaktion der vier Männer in der Gasse war wie die einer gut ausgebildeten Militäreinheit, zwei Männer huschten durch Turley's Hintertür, die übri-gen zwei erwiderten das Feuer in Richtung der Position des Scharfschützen auf dem Dach und die Gasse entlang. Obwohl ursprünglich der Befehl an alle Kollegen ergangen war, dass niemand außer den Scharfschützen des Sondereinsatzkommandos schießen durfte, war die Luft plötzlich voll tödlicher Projektile. Eine Kugel schlug in einen nahen Transformatoren-Kasten oben an einem Telefonmast ein, knapp über der westlichen Hälfte der Einsatztruppe, und ließ einen Funkenregen auf sie herniedergehen. Die uniformierten Polizisten oberhalb der Endzone schossen weiter, wodurch sie letztlich ihren Kol-legen am Boden den Weg versperrten.
Murphy hatte darauf gewartet, dass der Suburban anhielt, bevor er dem Leiter des Sondereinsatzkommandos den Befehl zum Zugriff hatte geben wollen. Dann war der einzelne Schuss gefallen und die Hölle losgebrochen. Jetzt befand er sich mitten in einem gottverfluchten Krieg und war am Arsch, egal in welche Richtung er lief. Er konnte entweder in das wilde Feuer am Westende der Gasse hineinstürmen, wo er immer-hin noch ein paar seiner eigenen Leute hatte. Oder er konnte
hinter dem Wichser herlaufen, den er, als die ersten Schüsse gefallen waren, nach Osten hatte abhauen sehen. Hierbleiben war jedenfalls keine Option.
Er sprang aus seinem Versteck und nahm die Verfolgung auf. Immerhin hatte er einen ziemlich guten Blick auf den Kerl erhascht und war recht sicher, dass es sich um den Anführer der Bande handelte, Bobby Solazzo. Blöd nur, dass es tatsächlich Bobby Solazzo war - und der hatte eine abgesägte Schrotflinte, die er nur zu gerne benutzte.
Wie blöd muss man sein, um einen Typen mit einer Schrot-flinte zu verfolgen?, dachte Murphy. Aber er rannte dennoch durch den dichten Regen. Die glatten Sohlen seiner Anzugschuhe rutschten über die nasse Kopfsteinpflasterstraße, den Gestank der überlaufenden Siele nahm er kaum wahr.
Er umklammerte den Polymer-Griff seiner Glock .45, die Standardwaffe der Polizei, eine Halbautomatik. Dann verlang-samte er, spitzte die Ohren, achtete auf Bewegungen - oder fehlende Bewegungen. Die Gasse war so schmal, dass ein Schrotschuss in die Mitte jeden umnieten würde, der dort stand. Darauf war Jack nicht besonders wild. Da der verdammte Regen wie wild herunterprasselte, konnte er kaum einen Meter in jede Richtung sehen. Es war durchaus möglich, dass Bobby drei Meter entfernt stand und nur darauf wartete, dass er in Sichtweite kam.
Murphys Gesetz lautete: »Geh nie mit einer Pistole zu einer Schrotflinten-Schießerei.« Aber andererseits hatte er sich Bobbys Bande ja auch nicht alleine vorknöpfen sollen. Er war ein Detective. Er sollte den Einsatz aus sicherer Entfernung koordinieren und bloß zusehen, während die uniformierten Kollegen und das Sondereinsatzkommando diese Arschlöcher plattmachten. Das erinnerte ihn an ein weiteres von Murphys Gesetzen, das besagte: »Alles, was schiefgehen kann, geht richtig schief.«
Er holte tief Luft, stieß den Atem aus und lief geradeaus. Bobby ist bestimmt nicht weit, dachte er, als er sich dem Ende der Gasse näherte, wo sie nach rechts abknickte. Er blieb stehen, drückte seinen Körper an die Betonmauer und warf einen Blick um die Ecke. Dort lag ein Gewehr auf einem Müllhaufen.
Er ist unbewaffnet!, dachte Jack, als über ihm ein Blitz zuckte. Der Donner folgte schnell, klang in der engen Gasse ohrenbetäubend, und er hätte nicht zu einem unglücklicheren Zeitpunkt kommen können. Jack hatte sich gerade aus der Deckung gewagt, als er ein weiteres Aufblitzen bemerkte. Diesmal näher. Zu nahe. Es kam in Lichtgeschwindigkeit auf ihn zu. Aber es war kein Licht. Eine Klinge, dachte er. Dann: Zu spät. Er versuchte noch, sich abzuwenden, spürte aber er schon die Spitze der Klinge in sein Gesicht eindringen und nach unten gleiten, sie bahnte sich ihren Weg durch Fleisch und Knorpel.
Er hob seine .45 in Richtung des Angreifers ...
1
Dr. Anne Lewis stand im geöffneten Tor ihrer Garage und schaute in Richtung der Hintertür ihres Hauses. Die Wetterfrösche im Fernsehen hatten wieder einmal falsch gelegen. »Teilweise wolkig, zehn Prozent Regenwahrscheinlichkeit« - die Wirklichkeit aber war ein wildes Gewitter. Wenn ich warte, ist es bestimmt bald vorüber. Es kann ja nicht ewig so schrecklich regnen, oder?, dachte sie bei sich.
Dann hörte sie im Haus das Telefon klingeln.
Sie fluchte leise und rannte los. Sie war klatschnass, als sie hineinkam, und natürlich hatte das Telefon aufgehört zu klingeln.
»Wahrscheinlich sowieso nur ein Werbeanruf«, murmelte sie, ärgerte sich aber dennoch, dass ihr Mann Don nicht ans Telefon gegangen war. Seit Don letztes Jahr in Rente gegangen war, blieb er die ganze Zeit zu Hause, las Zeitungen, schaute Sportsendungen und machte Unordnung.
Sie seufzte und richtete einen Bilderrahmen neben der Hintertür, dann ging sie ins Bad, um sich ein Handtuch zu holen. Am Waschbecken trocknete sie sich ab, dann warf sie einen Blick in den Spiegel. Ihr Haar war bereits in der Collegezeit ergraut - vor vielen Jahren -, trug aber immer noch einen Schimmer, der es bemerkenswert erscheinen ließ. Nicht, dass Don das noch auffiele.
Aber jetzt war sie ihm gegenüber ungerecht. Immerhin waren sie schon dreiundvierzig Jahre verheiratet. Sie hatten beide Karriere machen wollen, deswegen hatten sie niemals Zeit für Kinder gehabt. Auch das war nicht seine Schuld, aber dennoch fragte sie sich manchmal, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie Kinder gehabt hätten.
Vielleicht war sie auch nur unsicher aufgrund von Dons Rentenbeginn letztes Jahr und ihrem geplanten Ausstieg aus dem Berufsleben Ende diesen Jahres. Über dreißig Jahre als Psychologin hatten sie möglicherweise zu introspektiv werden lassen. Sie beugte sich näher an den Spiegel heran und betrachtete ihre himmelblauen Augen.
Was tun Psychiater, wenn sie in Rente gehen?, überlegte sie. Lehren? Reisen? Langsam wahnsinnig werden?
Sie schob den Gedanken zur Seite und warf noch einen weiteren Blick auf ihr Spiegelbild, strich über ihr feuchtes Haar, dann tupfte sie mit einem Kosmetiktuch das Mascara ab, das über ihr Gesicht gelaufen war.
»Nicht schlecht für eine alte Dame«, sagte sie und lächelte. Aber als sie aus dem Bad gehen wollte, bemerkte sie einen eigenartigen Geruch. »Meine Güte, das riecht ja wie nasser Hund!«, grummelte sie und schnupperte an dem Gästehand-tuch. Doch das war nicht die Ursache. »Bitte lass jetzt nichts mit dem Abwasser sein.« Das letzte Mal hatte es ein kleines Vermögen gekostet, die Abwasserleitungen reparieren zu lassen, und außerdem hatte es gestunken und eine Menge Dreck gemacht, weil der ganze hintere Garten hatte aufgegraben wer-den müssen.
Wie kann er nur den ganzen Tag über diesen Gestank aushalten? Und wo ist er überhaupt?
Sie trat aus dem unteren Bad und ging durchs Haus. Er kann doch nicht immer noch im Bett liegen!
Sie ging die Treppe hoch, blieb aber auf der obersten Stufe stehen, ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken.
»Hi, Doc. Erinnern Sie sich an uns?« Eine Faust schlug ihr in den Bauch, sodass ihr der Atem wegblieb und eine Explosion hinter ihren Augen stattfand.
Als sie zu sich kam, empfand sie den schlimmsten Schmerz ihres Lebens. Was immer es war, es war stockfinster und ihre Augen taten weh. Wie lange war ich ohne Bewusstsein? Was ist geschehen?
Sie konnte nichts sehen, aber sie spürte, dass sie vor irgend-etwas Hartes gesetzt worden war. Sie versuchte sich zu bewegen, konnte aber nur ihren Kopf von einer Seite zur anderen drehen. Es gelang ihr, mit den Fingern und den Zehen zu wackeln, aber sie konnte sie kaum spüren. Man hatte ihr etwas in den Mund gestopft und ihre Kiefer schmerzten.
Dann fiel ihr der Mann wieder ein. Obwohl sie ihn nicht einordnen konnte, war er ihr bekannt vorgekommen. Der professionelle, analytische Teil ihres Hirns begann wieder zu arbeiten. Hatte sie ihn in letzter Zeit in der Zeitung oder im Fernsehen gesehen? Nein, das war es nicht. War er ein Patient?
Wer immer das war, es war offensichtlich, dass er wütend war, und eindeutig in der Lage, ihr wehzutun. Und wo war ihr Mann? Sie fragte sich, ob Don ebenfalls irgendwo festgehalten wurde.
Plötzlicher Schmerz. Ein entsetzlich grelles Licht schien ihr in die Augen. Sie versuchte sie zu schließen, aber das ging nicht. »Aufwachen, aufwachen«, sagte eine Stimme.
Sie versuchte wieder, die Augen zu schließen.
»Ihre Augenlider sind hochgeklebt. Wir wollen doch nicht, dass Sie etwas verpassen, Dr. Lewis.«
Er kennt meinen Namen!
Sie wollte etwas sagen, sie wollte ihn fragen, was er vorhatte, warum er ihr das antat, konnte aber wegen des Knebels nicht sprechen.
»Ja - ich habe Ihnen auch den Mund zugeklebt.«
Oh mein Gott, wo ist Don? Was ist meinem Mann zugestoßen, du Dreckschwein?
Als hätte er ihre Gedanken lesen können, trat der Eindringling mit seiner Taschenlampe neben sie und drehte ihren Kopf mit einer Hand, die in einem Handschuh steckte, in die entsprechende Richtung.
Anne Lewis starrte in die blutige, leere Augenhöhle ihres Ehemannes. Sein Körper war gefesselt und lag neben ihr auf dem Bett. Wo sein Mund hätte sein sollen, befand sich nur ein blutiges, riesiges Loch. Seine Lippen waren ungeschickt abgeschnitten worden, der Großteil seiner Zähne war abgeschlagen, die Zunge herausgeschnitten. Sie versuchte wegzusehen, aber es gelang ihr nicht. Heiße Magensäure stieg in ihrem Hals auf und schoss, weil es keinen anderen Ausweg gab, aus ihrer Nase.
»Jetzt sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben, Anne«, mahnte die Stimme sie leise, als wäre sie ein ungezogenes Kind. »Und dabei sollen Sie doch ein Profi sein.«
Der Schlag in ihr Gesicht kam unerwartet und sie erstickte beinahe an dem Knebel. Ihr Blickfeld verschwamm und sie begann wieder ohnmächtig zu werden.
»Jetzt kipp uns nicht wieder weg, du Nutte!«
Der Eindringling riss ihren Kopf an den Haaren hoch und knallte ihren Schädel fest genug gegen das Kopfteil des Bettes, dass Sterne hinter ihren Augen aufblitzten. Ein weiterer Schlag gegen ihre Brust nahm ihr erneut den Atem und sie nahm eine Explosion im Inneren ihres Schädels wahr, während die Welt um sie herum zu tanzen begann.
Sie hörte etwas reißen und spürte dann, wie ihr Kopf mit etwas Klebrigem an den Streben des Kopfteils befestigt wurde. Packband.
Die Stimme nahm einen kindlichen Ton an. »Punch and Judy fought for a p ie. Punch gave Judy a knock in the eye. Says Punch to Judy, will you have any more? Says Judy to Punch, my eyes are too sore.« Ein Kinderreim: Punch und Judy streiten und Punch verpasst Judy einen Schlag aufs Auge; danach hat sie genug, denn die Augen tun ihr weh. Der Mann lachte fröhlich.
Angst breitete sich in ihrem Körper aus, als sie, viel zu spät, ihren Angreifer erkannte. Von diesem Moment an war sie sicher, dass sie sterben würde.
»Nun, Anne, Bobby wartet und ich habe ihm versprochen, dass ich schnell machen würde.« Er packte sie am Hals und setzte hinzu: »Aber das war gelogen. Ich werde es so schmerz-haft gestalten, wie ich kann. Übung macht den Meister, das wissen Sie doch.«
...
Übersetzung: Ulrich Hoffmann
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Es war Ende Mai und regnete wie verrückt, als die Mitarbeiter der Polizei Evansville -- Detectives, uniformierte Beamte und ein Sondereinsatzkommando -- die Gasse hinter dem Juwelier Turley's ins Visier nahmen. Dank des Tipps eines zuverlässigen Informanten würden sie heute die Solazzo-Gang hopsnehmen, bewaffnete Diebe, die in letzter Zeit etliche kleine Läden in der Stadt übel ausgenommen hatten.
Bobby Solazzo hatte die Mitglieder seiner Bande sorgfältig ausgewählt, er hatte sich möglichst bösartige, kranke Schweinehunde gesucht, und alle, die auch nur einen Hauch Gewissen zeigten, konnten seinetwegen zu irgendeiner Wohltätigkeitsorganisation gehen. Solazzos Leute waren Typen, die verkündeten: »Geld her und ich bring dich um. «
Solazzo und seine Jungs waren der Polizei bereits bei einer irren Verfolgungsjagd samt Schießerei in einem Schnapsladen entkommen, bei der zwei Angestellte ums Leben gekommen waren. Die letzten zehn Tage hatten sie sich ruhig verhalten, aber jetzt waren sie bereit zu ihrem nächsten Überfall.
Detective Jack Murphy leitete den Einsatz. Er kauerte unbequem hinter einem Müllcontainer und wischte sich den Regen aus den Augen, während der stellvertretende Leiter seiner Abteilung auf dem Dach des Juweliers herumstand, zusammen mit einem der Scharfschützen des Sondereinsatzkommandos sowie einem Reporter der Lokalzeitung, der unbedingt ein grandioses Foto zur bereits vorformulierten Schlagzeile aufnehmen wollte: SOLAZZO-GANG GESCHNAPPT. Andere Scharfschützen waren strategisch an etlichen Orten positioniert, von denen aus man die Gasse im Blick hatte, die bereits als »Endzone« des Einsatzes festgelegt war. Sie mussten nicht lange warten.
Ein älterer schwarzer Suburban mit getönten Fensterscheiben fuhr in die Gasse hinein und hielt schließlich direkt hinter Turley's Schmuckgeschäft. Die nächsten beiden Minuten schienen in Zeitlupe zu vergehen, angefangen damit, dass die Türen des Suburban aufflogen und vier große, bewaffnete Männer herausstiegen.
Einer der Männer trat vor die Hintertür von Turley's und zielte mit einer abgesägten Flinte auf das Schloss. Der Knall des Schusses, mit dem das Schloss herausflog, erschreckte einen der Bullen, der mit seiner Pistole in die Gasse zielte, und reflexartig drückte er auf den Abzug. Jack reckte sich ein wenig höher und sah sich um, er dachte: Das muss der Stellvertretende Polizeichef gewesen sein. Wer sonst würde es so vermasseln? Der Schuss ging daneben, aber die Reaktion der vier Männer in der Gasse war wie die einer gut ausgebildeten Militäreinheit, zwei Männer huschten durch Turley's Hintertür, die übri-gen zwei erwiderten das Feuer in Richtung der Position des Scharfschützen auf dem Dach und die Gasse entlang. Obwohl ursprünglich der Befehl an alle Kollegen ergangen war, dass niemand außer den Scharfschützen des Sondereinsatzkommandos schießen durfte, war die Luft plötzlich voll tödlicher Projektile. Eine Kugel schlug in einen nahen Transformatoren-Kasten oben an einem Telefonmast ein, knapp über der westlichen Hälfte der Einsatztruppe, und ließ einen Funkenregen auf sie herniedergehen. Die uniformierten Polizisten oberhalb der Endzone schossen weiter, wodurch sie letztlich ihren Kol-legen am Boden den Weg versperrten.
Murphy hatte darauf gewartet, dass der Suburban anhielt, bevor er dem Leiter des Sondereinsatzkommandos den Befehl zum Zugriff hatte geben wollen. Dann war der einzelne Schuss gefallen und die Hölle losgebrochen. Jetzt befand er sich mitten in einem gottverfluchten Krieg und war am Arsch, egal in welche Richtung er lief. Er konnte entweder in das wilde Feuer am Westende der Gasse hineinstürmen, wo er immer-hin noch ein paar seiner eigenen Leute hatte. Oder er konnte
hinter dem Wichser herlaufen, den er, als die ersten Schüsse gefallen waren, nach Osten hatte abhauen sehen. Hierbleiben war jedenfalls keine Option.
Er sprang aus seinem Versteck und nahm die Verfolgung auf. Immerhin hatte er einen ziemlich guten Blick auf den Kerl erhascht und war recht sicher, dass es sich um den Anführer der Bande handelte, Bobby Solazzo. Blöd nur, dass es tatsächlich Bobby Solazzo war - und der hatte eine abgesägte Schrotflinte, die er nur zu gerne benutzte.
Wie blöd muss man sein, um einen Typen mit einer Schrot-flinte zu verfolgen?, dachte Murphy. Aber er rannte dennoch durch den dichten Regen. Die glatten Sohlen seiner Anzugschuhe rutschten über die nasse Kopfsteinpflasterstraße, den Gestank der überlaufenden Siele nahm er kaum wahr.
Er umklammerte den Polymer-Griff seiner Glock .45, die Standardwaffe der Polizei, eine Halbautomatik. Dann verlang-samte er, spitzte die Ohren, achtete auf Bewegungen - oder fehlende Bewegungen. Die Gasse war so schmal, dass ein Schrotschuss in die Mitte jeden umnieten würde, der dort stand. Darauf war Jack nicht besonders wild. Da der verdammte Regen wie wild herunterprasselte, konnte er kaum einen Meter in jede Richtung sehen. Es war durchaus möglich, dass Bobby drei Meter entfernt stand und nur darauf wartete, dass er in Sichtweite kam.
Murphys Gesetz lautete: »Geh nie mit einer Pistole zu einer Schrotflinten-Schießerei.« Aber andererseits hatte er sich Bobbys Bande ja auch nicht alleine vorknöpfen sollen. Er war ein Detective. Er sollte den Einsatz aus sicherer Entfernung koordinieren und bloß zusehen, während die uniformierten Kollegen und das Sondereinsatzkommando diese Arschlöcher plattmachten. Das erinnerte ihn an ein weiteres von Murphys Gesetzen, das besagte: »Alles, was schiefgehen kann, geht richtig schief.«
Er holte tief Luft, stieß den Atem aus und lief geradeaus. Bobby ist bestimmt nicht weit, dachte er, als er sich dem Ende der Gasse näherte, wo sie nach rechts abknickte. Er blieb stehen, drückte seinen Körper an die Betonmauer und warf einen Blick um die Ecke. Dort lag ein Gewehr auf einem Müllhaufen.
Er ist unbewaffnet!, dachte Jack, als über ihm ein Blitz zuckte. Der Donner folgte schnell, klang in der engen Gasse ohrenbetäubend, und er hätte nicht zu einem unglücklicheren Zeitpunkt kommen können. Jack hatte sich gerade aus der Deckung gewagt, als er ein weiteres Aufblitzen bemerkte. Diesmal näher. Zu nahe. Es kam in Lichtgeschwindigkeit auf ihn zu. Aber es war kein Licht. Eine Klinge, dachte er. Dann: Zu spät. Er versuchte noch, sich abzuwenden, spürte aber er schon die Spitze der Klinge in sein Gesicht eindringen und nach unten gleiten, sie bahnte sich ihren Weg durch Fleisch und Knorpel.
Er hob seine .45 in Richtung des Angreifers ...
1
Dr. Anne Lewis stand im geöffneten Tor ihrer Garage und schaute in Richtung der Hintertür ihres Hauses. Die Wetterfrösche im Fernsehen hatten wieder einmal falsch gelegen. »Teilweise wolkig, zehn Prozent Regenwahrscheinlichkeit« - die Wirklichkeit aber war ein wildes Gewitter. Wenn ich warte, ist es bestimmt bald vorüber. Es kann ja nicht ewig so schrecklich regnen, oder?, dachte sie bei sich.
Dann hörte sie im Haus das Telefon klingeln.
Sie fluchte leise und rannte los. Sie war klatschnass, als sie hineinkam, und natürlich hatte das Telefon aufgehört zu klingeln.
»Wahrscheinlich sowieso nur ein Werbeanruf«, murmelte sie, ärgerte sich aber dennoch, dass ihr Mann Don nicht ans Telefon gegangen war. Seit Don letztes Jahr in Rente gegangen war, blieb er die ganze Zeit zu Hause, las Zeitungen, schaute Sportsendungen und machte Unordnung.
Sie seufzte und richtete einen Bilderrahmen neben der Hintertür, dann ging sie ins Bad, um sich ein Handtuch zu holen. Am Waschbecken trocknete sie sich ab, dann warf sie einen Blick in den Spiegel. Ihr Haar war bereits in der Collegezeit ergraut - vor vielen Jahren -, trug aber immer noch einen Schimmer, der es bemerkenswert erscheinen ließ. Nicht, dass Don das noch auffiele.
Aber jetzt war sie ihm gegenüber ungerecht. Immerhin waren sie schon dreiundvierzig Jahre verheiratet. Sie hatten beide Karriere machen wollen, deswegen hatten sie niemals Zeit für Kinder gehabt. Auch das war nicht seine Schuld, aber dennoch fragte sie sich manchmal, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie Kinder gehabt hätten.
Vielleicht war sie auch nur unsicher aufgrund von Dons Rentenbeginn letztes Jahr und ihrem geplanten Ausstieg aus dem Berufsleben Ende diesen Jahres. Über dreißig Jahre als Psychologin hatten sie möglicherweise zu introspektiv werden lassen. Sie beugte sich näher an den Spiegel heran und betrachtete ihre himmelblauen Augen.
Was tun Psychiater, wenn sie in Rente gehen?, überlegte sie. Lehren? Reisen? Langsam wahnsinnig werden?
Sie schob den Gedanken zur Seite und warf noch einen weiteren Blick auf ihr Spiegelbild, strich über ihr feuchtes Haar, dann tupfte sie mit einem Kosmetiktuch das Mascara ab, das über ihr Gesicht gelaufen war.
»Nicht schlecht für eine alte Dame«, sagte sie und lächelte. Aber als sie aus dem Bad gehen wollte, bemerkte sie einen eigenartigen Geruch. »Meine Güte, das riecht ja wie nasser Hund!«, grummelte sie und schnupperte an dem Gästehand-tuch. Doch das war nicht die Ursache. »Bitte lass jetzt nichts mit dem Abwasser sein.« Das letzte Mal hatte es ein kleines Vermögen gekostet, die Abwasserleitungen reparieren zu lassen, und außerdem hatte es gestunken und eine Menge Dreck gemacht, weil der ganze hintere Garten hatte aufgegraben wer-den müssen.
Wie kann er nur den ganzen Tag über diesen Gestank aushalten? Und wo ist er überhaupt?
Sie trat aus dem unteren Bad und ging durchs Haus. Er kann doch nicht immer noch im Bett liegen!
Sie ging die Treppe hoch, blieb aber auf der obersten Stufe stehen, ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken.
»Hi, Doc. Erinnern Sie sich an uns?« Eine Faust schlug ihr in den Bauch, sodass ihr der Atem wegblieb und eine Explosion hinter ihren Augen stattfand.
Als sie zu sich kam, empfand sie den schlimmsten Schmerz ihres Lebens. Was immer es war, es war stockfinster und ihre Augen taten weh. Wie lange war ich ohne Bewusstsein? Was ist geschehen?
Sie konnte nichts sehen, aber sie spürte, dass sie vor irgend-etwas Hartes gesetzt worden war. Sie versuchte sich zu bewegen, konnte aber nur ihren Kopf von einer Seite zur anderen drehen. Es gelang ihr, mit den Fingern und den Zehen zu wackeln, aber sie konnte sie kaum spüren. Man hatte ihr etwas in den Mund gestopft und ihre Kiefer schmerzten.
Dann fiel ihr der Mann wieder ein. Obwohl sie ihn nicht einordnen konnte, war er ihr bekannt vorgekommen. Der professionelle, analytische Teil ihres Hirns begann wieder zu arbeiten. Hatte sie ihn in letzter Zeit in der Zeitung oder im Fernsehen gesehen? Nein, das war es nicht. War er ein Patient?
Wer immer das war, es war offensichtlich, dass er wütend war, und eindeutig in der Lage, ihr wehzutun. Und wo war ihr Mann? Sie fragte sich, ob Don ebenfalls irgendwo festgehalten wurde.
Plötzlicher Schmerz. Ein entsetzlich grelles Licht schien ihr in die Augen. Sie versuchte sie zu schließen, aber das ging nicht. »Aufwachen, aufwachen«, sagte eine Stimme.
Sie versuchte wieder, die Augen zu schließen.
»Ihre Augenlider sind hochgeklebt. Wir wollen doch nicht, dass Sie etwas verpassen, Dr. Lewis.«
Er kennt meinen Namen!
Sie wollte etwas sagen, sie wollte ihn fragen, was er vorhatte, warum er ihr das antat, konnte aber wegen des Knebels nicht sprechen.
»Ja - ich habe Ihnen auch den Mund zugeklebt.«
Oh mein Gott, wo ist Don? Was ist meinem Mann zugestoßen, du Dreckschwein?
Als hätte er ihre Gedanken lesen können, trat der Eindringling mit seiner Taschenlampe neben sie und drehte ihren Kopf mit einer Hand, die in einem Handschuh steckte, in die entsprechende Richtung.
Anne Lewis starrte in die blutige, leere Augenhöhle ihres Ehemannes. Sein Körper war gefesselt und lag neben ihr auf dem Bett. Wo sein Mund hätte sein sollen, befand sich nur ein blutiges, riesiges Loch. Seine Lippen waren ungeschickt abgeschnitten worden, der Großteil seiner Zähne war abgeschlagen, die Zunge herausgeschnitten. Sie versuchte wegzusehen, aber es gelang ihr nicht. Heiße Magensäure stieg in ihrem Hals auf und schoss, weil es keinen anderen Ausweg gab, aus ihrer Nase.
»Jetzt sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben, Anne«, mahnte die Stimme sie leise, als wäre sie ein ungezogenes Kind. »Und dabei sollen Sie doch ein Profi sein.«
Der Schlag in ihr Gesicht kam unerwartet und sie erstickte beinahe an dem Knebel. Ihr Blickfeld verschwamm und sie begann wieder ohnmächtig zu werden.
»Jetzt kipp uns nicht wieder weg, du Nutte!«
Der Eindringling riss ihren Kopf an den Haaren hoch und knallte ihren Schädel fest genug gegen das Kopfteil des Bettes, dass Sterne hinter ihren Augen aufblitzten. Ein weiterer Schlag gegen ihre Brust nahm ihr erneut den Atem und sie nahm eine Explosion im Inneren ihres Schädels wahr, während die Welt um sie herum zu tanzen begann.
Sie hörte etwas reißen und spürte dann, wie ihr Kopf mit etwas Klebrigem an den Streben des Kopfteils befestigt wurde. Packband.
Die Stimme nahm einen kindlichen Ton an. »Punch and Judy fought for a p ie. Punch gave Judy a knock in the eye. Says Punch to Judy, will you have any more? Says Judy to Punch, my eyes are too sore.« Ein Kinderreim: Punch und Judy streiten und Punch verpasst Judy einen Schlag aufs Auge; danach hat sie genug, denn die Augen tun ihr weh. Der Mann lachte fröhlich.
Angst breitete sich in ihrem Körper aus, als sie, viel zu spät, ihren Angreifer erkannte. Von diesem Moment an war sie sicher, dass sie sterben würde.
»Nun, Anne, Bobby wartet und ich habe ihm versprochen, dass ich schnell machen würde.« Er packte sie am Hals und setzte hinzu: »Aber das war gelogen. Ich werde es so schmerz-haft gestalten, wie ich kann. Übung macht den Meister, das wissen Sie doch.«
...
Übersetzung: Ulrich Hoffmann
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Rick Reed
Rick Reed arbeitete 30 Jahre bei der Kriminalpolizei und als interner Ermittler im Bundesstaat Indiana. Nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst arbeitete er als Universitätsdozent. Heute lebt er in San Francisco und widmet sich ganz dem Schreiben von Thrillern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rick Reed
- 2012, 448 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 3863656083
- ISBN-13: 9783863656089
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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