Lifelogging / Ullstein eBooks (ePub)
Wie die digitale Selbstvermessung unsere Gesellschaft verändert
Menschen optimieren ihre Körper mit Hilfe von Apps, teilen ihre persönlichen Daten in der Cloud und laufen mit Google Glass durch die Straßen, um ihr Leben als Videoclip mitzuschneiden und für immer abzuspeichern. Sieht so unsere Zukunft aus? In seinem...
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Produktinformationen zu „Lifelogging / Ullstein eBooks (ePub)“
Menschen optimieren ihre Körper mit Hilfe von Apps, teilen ihre persönlichen Daten in der Cloud und laufen mit Google Glass durch die Straßen, um ihr Leben als Videoclip mitzuschneiden und für immer abzuspeichern. Sieht so unsere Zukunft aus? In seinem klugen Buch lotet Stefan Selke die Folgen einer Zeitenwende aus: Die als Innovationen gefeierten digitalen Lifestyle-Produkte werden nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch die elementarsten Aspekte des Menschseins ändern.
Lese-Probe zu „Lifelogging / Ullstein eBooks (ePub)“
Lifelogging von Stefan SelkeProlog
Der Schwarzwald ist eine Region, die mehr zu bieten hat als Kirschtorte und Bollenhut. Eine ganz besondere Tradition haben hier Uhren. Durch »scharfsinniges Kombinieren, energischen Fleiß und größte Pünktlichkeit« gelangen eigensinnigen Tüftlern immer wieder bahnbrechende technologische Innovationen, die sich rasch rund um den Globus verbreiteten. Die Kuckucksuhr ging aus einem Wettbewerb hervor, der 1850 von der Großherzoglich Badischen Uhrmacherschule in Furtwangen ausgeschrieben wurde, um Produktionsmethoden, Technik und Aussehen der Uhren an die gesellschaftlichen Bedürfnisse anzupassen. Selbst die »Quarzrevolution«, der Übergang von mechanischen zu elektronischen Uhren, hat ihren Ursprung im Schwarzwald. Also kein schlechter Ort für einen Soziologen, um über die nächste technologische Revolution nachzudenken. Und darüber, wie die Anpassung von Technologien an menschliche Bedürfnisse gelingen kann.
Die Taktung der Zeit durch die Verbreitung von Uhren demonstriert eindrücklich den tiefgreifenden Einfluss von Technik auf unser alltägliches Leben. So wie wir uns kaum den Vorgaben der Zeit entziehen können, wird Lifelogging - die umfassende digitale Selbstvermessung - sich grundlegend auf unser Denken, Fühlen und Handeln auswirken. Wir kommen an diesen Technologien nicht vorbei. Wie die Uhren sind Lifelogging- Technologien nicht einfach vom Himmel gefallen. Sie setzen lange Traditionslinien fort und sind auf uralte Bedürfnisse.
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Im Deutschen Uhrenmuseum in Furtwangen lässt sich anhand der Exponate wie sich die Messbarmachung der Zeit auf die Gesellschaft auswirkte und dass Uhren keine neutralen Gehilfen sind. Uhren erzeugen neue Bedürfnisse - zum Beispiel pünktlich zu sein. »Pünktlich« bedeutete vor dem 17. Jahrhundert, dass eine Person »das feine Benehmen beherrschte«. Erst durch immer genauere Zeitmesser bedeutete das Wort schließlich, zu einem verabredeten Termin an einem bestimmten Ort zu sein. Als um die vorletzte Jahrhundertwende Uhren zu günstigen Preisen verfügbar waren, konnte jeder zur Pünktlichkeit verpflichtet werden. Die Technik der Zeitmessung führt also ein Eigenleben. Uhren kontrollieren und regulieren das öffentliche Leben. Sie etablieren neue Herrschaftsformen im öffentlichen und privaten Leben und lassen aus Optimierungswillen neue Zwänge entstehen.
Pünktlichkeit vereinfacht zweifelsohne das menschliche Zusammenleben. Die dunkle Seite dieser Verbesserung besteht jedoch in der Macht der normsetzenden gesellschaftlichen Eliten, Pünktlichkeit einzufordern. Fabrikuhren über dem Eingangstor zeigten deutlich, dass die Arbeiter »auf die Minute« pünktlich zu erscheinen hatten. Uhren entwickelten sich zum Herrschaftszeichen des Industriezeitalters. Bahnhofsuhren stellten sicher, dass Züge ihren Takt hielten. Die Menschen mussten immer häufiger die Zeit »im Blick« haben - einem Blick, der in Fleisch und Blut überging. Dieser Blick koordiniert, regelt, taktet und standardisiert Leben und Arbeiten von der Geburt bis zum Tod. Uhren bereiteten die Menschen auf die Welt der Arbeitsteilung und Effizienzsteigerung und somit der Ökonomisierung vor, mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Sie schufen die sich in abstrakte Zeiteinheiten ordnen ließen, und eine Taktung, nach der sich alle sozialen zu richten hatten. Durch Uhren erleben wir den Gleichtakt Maschinerie. Uhren sind Symbole des Wunsches nach einer besseren Welt. Es wäre aber naiv, nur die fortschrittliche des technologischen zu sehen. von Pünktlichkeit und Macht erinnert daran, immer beides in den Blick zu nehmen - die sichtbaren Versprechen einer Technologie ebenso wie deren meist unsichtbare Folgen für Leib und Leben.
Die Geschichte der Zeitmessung zeigt, wie Technologien in soziale und private Nahräume eindringen. Uhren wurden präziser, kleiner und preiswerter. Aus großen Standuhren für repräsentative Wohnzimmer wurden tragbare Reiseuhren, aus Taschenuhren schließlich Armbanduhren. Als diese um das Jahr 1900 aufkamen, konnte sich wohl niemand vorstellen, dass es sich dabei um die Uhrenform der Zukunft handelte. Vorreiterinnen waren emanzipierte Frauen, die mit Uhr am Armgelenk Auto fuhren und Zigarette rauchten. Schließlich wurden Armbanduhren zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil unseres Lebens, fast zu einer Art Körperteil. Es lohnt sich, über solche »Verschmelzungen« von Mensch und Technik nachzudenken - gerade weil das Beispiel der Armbanduhr so harmlos wirkt. Denn gegenwärtig erleben wir eine Verschmelzung des Menschen mit digitalen Technologien, die viel mit der Entwicklung der Uhren zu tun hat.
Armbanduhren wurden stetig den Bedürfnissen der jeweiligen Zeit angepasst und entwickelten sich schließlich zum Computer am Handgelenk. Zusätzliche Funktionen wie Rechner, Stoppuhr, Kalender, Wecker oder Spiele wurden integriert. Vorerst sind wir bei der Samsung Smartwatch angekommen, einer computergesteuerten Plattform zur digitalen Selbstvermessung und Selbstarchivierung. Zeitmessung ist nur noch so wie Telefonieren nur noch eine der vielen Funktionen unserer Smartphones ist. Wer sich einmal ruhig in eine Ansammlung von Menschen oder ein Café beobachten: Die Herrschaftsformen, die öffentliches Leben regeln, ändern abermals ihre Form. So wie die Uhren ihren Platz in unserem Alltag fanden, werden es die digitalen Selbstvermessungsinstrumente auch tun - ob wir wollen oder nicht. 1899 verlangte der Leiter des US-Patentamtes die Schließung seiner eigenen Behörde, weil »alles, was erfunden werden kann, erfunden ist«. Heute wissen wir: Der Mann irrte. Und so können wir gespannt auf die neu entstehenden Technologien und die damit verbundenen Herausforderungen sein. Noch ist unklar, ob die digitale Lebensprotokollierung ein selbstverständlicher Teil des Alltags für alle Menschen wird, ob sich die digitalen Spielzeuge so an unseren Körper schmiegen wie die Armbanduhr. Aber es lohnt sich, bereits heute darüber nachzudenken.
Technologischer Fortschritt ist immer mit Unwägbarkeiten verbunden, denn das Verhältnis von Mensch und Technik war und ist eine der umkämpftesten Arenen der Selbstvergewisserung. Große Hoffnungen standen und stehen großen Ängsten gegenüber. In meiner Arbeit an der Hochschule Furtwangen hat sich immer wieder gezeigt, dass die Folgen und Grenzen innovativer Technologien nicht immer angemessen und rechtzeitig reflektiert werden. Es ist an der Zeit, den Mythos Lifelogging zu erkunden. Dieses Buch möchte zur Abwechslung einmal pünktlich kommen.
Furtwangen im Schwarzwald, im März 2014
P. S.: Über das gleich neben der Hochschule Uhrenmuseum in Furtwangen hält sich seit Jahrzehnten ein Aberglaube. Das Museum wird so gut wie nie von Studierenden betreten. Sie fürchten, sonst in ihrer Abschlussprüfung durchzufallen. Ein Rest von Irrationalität in einer Welt, die ansonsten durch Wissenschaft und Rationalität komplett entzaubert ist.
Einleitung
ANKUNFT DES LIFELOGGING- JAHRZEHNTS
Lifelogging, die digitale Protokollierung des eigenen Lebens, boomt. Eine Idee hat die Labors verlassen und macht sich daran, in unsere Gehirne und damit in unser Weltbild einzudringen und Teil unseres Alltags zu werden. Natürlich hat das eine technische Seite. Für dieses Buch sprach ich daher mit Entwicklern und Experten, um ihre Denkweise zu verstehen. Ich besuchte Orte, von denen maßgebliche Innovationen ausgehen, um mir selbst ein Bild der schönen neuen Lifelogging-zu machen, die Folgen dieser Entwicklung besser abschätzen zu können und Einblicke in eine kommende Gesellschaft zu gewinnen. Noch nie hatten Menschen einen tiefen Spiegel, in den sie schauen konnten. Dieser Spiegel sind die neuen digitalen Technologien, die der Selbstvermessung, der Selbstbeobachtung sowie der Selbstoptimierung dienen. einen detaillierten Blick auf auch die Gefahr, sich in der eigenen Selbstverliebtheit zu verlieren.
Sind wir bereit, diesem Blick standzuhalten?
»It's all about MY self«
Während im November 2013 draußen in San Diego noch eine angenehme Novembersonne scheint, versammelt sich im fensterlosen Vortragssaal der University of California ein Kreis Eingeweihter - vor allem Lifelogging-Entwickler und Wissenschaftler - um seinen Guru Jim Gemmell. Gemmell ist der Architekt der einflussreichen Lifelogging-Software von MyLifeBits und zu gleich Gründer der Firma Trov. Er verdeutlicht in persona, dass die Idee, das eigene Leben umfassend digital zu protokollieren, aus den Labors der Softwareunternehmen, den Entwicklungsabteilungen von Mobilfunkunternehmen oder den Hochschulen es in die freie Wildbahn geschafft hat. Lifelogging bedeutet zunehmend auch, dem Lockruf des Geldes zu folgen.
In San Diego versammeln sich Experten, die ihrer Zeit voraus sind. Seiner Rolle als Guru wird Jim Gemmell gerecht, weil er diesen Experten den Weg in die Zukunft aufzeigt. Er predigt die Ankunft eines neuen Zeitalters. »Wir befinden uns am Beginn des Lifelogging-Jahrzehnts. Es werden aufregende Zeiten sein. Alles ist im Fluss. Die Welt, wie wir sie kennen, wird sich durch Lifelogging komplett ändern.« Jim Gemmell glaubt fest an die Vorteile der digitalen Lebensprotokollierung, und wie es sich für einen Guru gehört, findet er markige Worte für seine Überzeugungen. »Lifelogging wird unvermeidbar sein. Lifelogging ist nicht bloß das Vermessen des Menschen mit Sensoren. Es geht darum, die digitale Existenz der Menschen
Der Gunst des Publikums kann sich Gemmell sicher sein. Wie aber würde seine Botschaft bei denen ankommen, für die Mobiltelefone bloß Alltagsgegenstände Softwareprojekte sind? Schließlich produzieren wir alle unentwegt einen digitalen Schatten, wobei sich immer häufiger und dringlicher die Frage stellt, was eigentlich genau mit
Lifelogging stellt nach den Bedingungen und Grenzen der Nutzung privater Daten in verschärfter Form. Dabei geht es auf den ersten Blick um einen digitalen Humanismus - die Idee der Verbesserung des Menschen und seiner Lebensbedingungen. Für Gemmell ist Lifelogging das zentrale »Persönlichkeitsveredelungsprojekt « des kommenden Jahrzehnts. »It's all about MY self«, ruft er den Eingeweihten zu. » ICH mache die Daten nutzbar für MICH. ICH halte sie zusammen, bewahre sie für immer, sichere sie, greife auf sie zu, wann immer ICH es möchte. Die Daten sind einfach da, wenn ICH sie brauche. Es ist wichtig, SELBST entscheiden zu können, wann man etwas erinnern möchte. ICH erkenne MICH. Das ist der Mehrwert. Und deswegen wird das Lifelogging-Jahrzehnt kommen.« Die Gesellschaft, so seine Verkündigung, wird sich in Richtung einer Totalerfassung digitaler Lebensspuren bewegen. Dabei ist er überzeugt davon, dass mehr Daten automatisch zu einem besseren Leben führen. Ob diese Auffassung mehrheitsfähig ist?
Lässt sich für technische Laien überhaupt verstehen, wie die digitale Totalerfassung funktioniert? Gemmell kreiert eine schlichte, aber anschauliche Definition für das, was Lifelogging im Kern ausmacht: »Lifelogging ist eine Black Box für Menschen. Alles, was unser Leben ausmacht, steckt darin.« Für diese Black Box gibt es inzwischen viele Namen: Human Digital Memory, Personal Life Archive oder E-Memory. Formal nennt sich die Idee, individuelle Daten zu erfassen und statistisch personenbezogene Informatik. Für dieses Buch wählte ich jedoch Lifelogging als Titel, weil ich davon ausgehe, dass er verständlicher und prägnanter ist. Die Begriffsanteile - »Life« (= Leben) und »to log« (= sammeln) - sind selbsterklärend. Nach und nach wird durch Daten erfassende Tätigkeiten (»loggen«, »tracken«) die Black Box mit »Lifelogs «, also Lebensspuren oder -daten in digitaler gefüllt.
Daraus leitet sich ein Verständnis für die Grundoperationen ab, die mit Lifelogging sind. Der Erfassung (»Capturing«) unterschiedlichster Lebensdaten durch Geräte, Kameras und Sensoren folgt die Speicherung (»Storage«) dieser Daten. Zentral für Lifelogging ist dabei die Idee, später immer wieder auf die Daten zurückgreifen zu können (»Retrieval«) und diese mit Hilfe schlauer Programme auswerten zu können. Schließlich besteht das Ziel von Lifelogging darin, neues Wissen zu erzeugen, das in die Optimierung der eigenen Lebensführung mündet. 2 Damit ist Lifelogging eine technische Antwort auf die zentralen W-Fragen des Lebens: Was passierte wo mit wem und wie? Unaufdringliche digitale Technologien ermöglichen es inzwischen, kontinuierlich und passiv die eigene Black Box zu füttern, ohne diesem Prozess zu viel Aufmerksamkeit widmen zu müssen.
Wie lässt sich das Verhältnis zur personalisierten Black Box beschreiben? Black Box, das klingt nach Flugzeugkatastrophen, zu deren Aufklärung Daten aus crashsicheren Flugschreibern ausgelesen werden, die zuvor vom Meeresgrund geborgen wurden. Welches Menschenbild verbirgt sich hinter der Black-Box-Analogie? Ist unser Leben ein permanentes Unglück, das wir nur dadurch erklären können, dass wir ständig Daten über unsere Existenz aus unserem »Lebensschreiber« auslesen und interpretieren? Lifelogging kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. In diesem Buch werde ich fünf Formen vorstellen, die zeigen, wie die Black Box nutzbar gemacht werden kann:
1. die Selbstvermessung des eigenen Körpers und das gemeinsame Heilen bei chronischen Krankheiten, 2. die Erfassung von Aufenthaltsorten und Aktivitäten in Echtzeit, und Gedächtnisse, 4. die Idee digitaler Unsterblichkeit sowie 5. die Idee der umfassenden und Sousveillance. An diesen Grundtypen, auf Kapitel näher eingehe, werde ich schrittweise die wichtigsten kulturrelevanten Fragen diskutieren.
© Econ Verlag
Im Deutschen Uhrenmuseum in Furtwangen lässt sich anhand der Exponate wie sich die Messbarmachung der Zeit auf die Gesellschaft auswirkte und dass Uhren keine neutralen Gehilfen sind. Uhren erzeugen neue Bedürfnisse - zum Beispiel pünktlich zu sein. »Pünktlich« bedeutete vor dem 17. Jahrhundert, dass eine Person »das feine Benehmen beherrschte«. Erst durch immer genauere Zeitmesser bedeutete das Wort schließlich, zu einem verabredeten Termin an einem bestimmten Ort zu sein. Als um die vorletzte Jahrhundertwende Uhren zu günstigen Preisen verfügbar waren, konnte jeder zur Pünktlichkeit verpflichtet werden. Die Technik der Zeitmessung führt also ein Eigenleben. Uhren kontrollieren und regulieren das öffentliche Leben. Sie etablieren neue Herrschaftsformen im öffentlichen und privaten Leben und lassen aus Optimierungswillen neue Zwänge entstehen.
Pünktlichkeit vereinfacht zweifelsohne das menschliche Zusammenleben. Die dunkle Seite dieser Verbesserung besteht jedoch in der Macht der normsetzenden gesellschaftlichen Eliten, Pünktlichkeit einzufordern. Fabrikuhren über dem Eingangstor zeigten deutlich, dass die Arbeiter »auf die Minute« pünktlich zu erscheinen hatten. Uhren entwickelten sich zum Herrschaftszeichen des Industriezeitalters. Bahnhofsuhren stellten sicher, dass Züge ihren Takt hielten. Die Menschen mussten immer häufiger die Zeit »im Blick« haben - einem Blick, der in Fleisch und Blut überging. Dieser Blick koordiniert, regelt, taktet und standardisiert Leben und Arbeiten von der Geburt bis zum Tod. Uhren bereiteten die Menschen auf die Welt der Arbeitsteilung und Effizienzsteigerung und somit der Ökonomisierung vor, mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Sie schufen die sich in abstrakte Zeiteinheiten ordnen ließen, und eine Taktung, nach der sich alle sozialen zu richten hatten. Durch Uhren erleben wir den Gleichtakt Maschinerie. Uhren sind Symbole des Wunsches nach einer besseren Welt. Es wäre aber naiv, nur die fortschrittliche des technologischen zu sehen. von Pünktlichkeit und Macht erinnert daran, immer beides in den Blick zu nehmen - die sichtbaren Versprechen einer Technologie ebenso wie deren meist unsichtbare Folgen für Leib und Leben.
Die Geschichte der Zeitmessung zeigt, wie Technologien in soziale und private Nahräume eindringen. Uhren wurden präziser, kleiner und preiswerter. Aus großen Standuhren für repräsentative Wohnzimmer wurden tragbare Reiseuhren, aus Taschenuhren schließlich Armbanduhren. Als diese um das Jahr 1900 aufkamen, konnte sich wohl niemand vorstellen, dass es sich dabei um die Uhrenform der Zukunft handelte. Vorreiterinnen waren emanzipierte Frauen, die mit Uhr am Armgelenk Auto fuhren und Zigarette rauchten. Schließlich wurden Armbanduhren zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil unseres Lebens, fast zu einer Art Körperteil. Es lohnt sich, über solche »Verschmelzungen« von Mensch und Technik nachzudenken - gerade weil das Beispiel der Armbanduhr so harmlos wirkt. Denn gegenwärtig erleben wir eine Verschmelzung des Menschen mit digitalen Technologien, die viel mit der Entwicklung der Uhren zu tun hat.
Armbanduhren wurden stetig den Bedürfnissen der jeweiligen Zeit angepasst und entwickelten sich schließlich zum Computer am Handgelenk. Zusätzliche Funktionen wie Rechner, Stoppuhr, Kalender, Wecker oder Spiele wurden integriert. Vorerst sind wir bei der Samsung Smartwatch angekommen, einer computergesteuerten Plattform zur digitalen Selbstvermessung und Selbstarchivierung. Zeitmessung ist nur noch so wie Telefonieren nur noch eine der vielen Funktionen unserer Smartphones ist. Wer sich einmal ruhig in eine Ansammlung von Menschen oder ein Café beobachten: Die Herrschaftsformen, die öffentliches Leben regeln, ändern abermals ihre Form. So wie die Uhren ihren Platz in unserem Alltag fanden, werden es die digitalen Selbstvermessungsinstrumente auch tun - ob wir wollen oder nicht. 1899 verlangte der Leiter des US-Patentamtes die Schließung seiner eigenen Behörde, weil »alles, was erfunden werden kann, erfunden ist«. Heute wissen wir: Der Mann irrte. Und so können wir gespannt auf die neu entstehenden Technologien und die damit verbundenen Herausforderungen sein. Noch ist unklar, ob die digitale Lebensprotokollierung ein selbstverständlicher Teil des Alltags für alle Menschen wird, ob sich die digitalen Spielzeuge so an unseren Körper schmiegen wie die Armbanduhr. Aber es lohnt sich, bereits heute darüber nachzudenken.
Technologischer Fortschritt ist immer mit Unwägbarkeiten verbunden, denn das Verhältnis von Mensch und Technik war und ist eine der umkämpftesten Arenen der Selbstvergewisserung. Große Hoffnungen standen und stehen großen Ängsten gegenüber. In meiner Arbeit an der Hochschule Furtwangen hat sich immer wieder gezeigt, dass die Folgen und Grenzen innovativer Technologien nicht immer angemessen und rechtzeitig reflektiert werden. Es ist an der Zeit, den Mythos Lifelogging zu erkunden. Dieses Buch möchte zur Abwechslung einmal pünktlich kommen.
Furtwangen im Schwarzwald, im März 2014
P. S.: Über das gleich neben der Hochschule Uhrenmuseum in Furtwangen hält sich seit Jahrzehnten ein Aberglaube. Das Museum wird so gut wie nie von Studierenden betreten. Sie fürchten, sonst in ihrer Abschlussprüfung durchzufallen. Ein Rest von Irrationalität in einer Welt, die ansonsten durch Wissenschaft und Rationalität komplett entzaubert ist.
Einleitung
ANKUNFT DES LIFELOGGING- JAHRZEHNTS
Lifelogging, die digitale Protokollierung des eigenen Lebens, boomt. Eine Idee hat die Labors verlassen und macht sich daran, in unsere Gehirne und damit in unser Weltbild einzudringen und Teil unseres Alltags zu werden. Natürlich hat das eine technische Seite. Für dieses Buch sprach ich daher mit Entwicklern und Experten, um ihre Denkweise zu verstehen. Ich besuchte Orte, von denen maßgebliche Innovationen ausgehen, um mir selbst ein Bild der schönen neuen Lifelogging-zu machen, die Folgen dieser Entwicklung besser abschätzen zu können und Einblicke in eine kommende Gesellschaft zu gewinnen. Noch nie hatten Menschen einen tiefen Spiegel, in den sie schauen konnten. Dieser Spiegel sind die neuen digitalen Technologien, die der Selbstvermessung, der Selbstbeobachtung sowie der Selbstoptimierung dienen. einen detaillierten Blick auf auch die Gefahr, sich in der eigenen Selbstverliebtheit zu verlieren.
Sind wir bereit, diesem Blick standzuhalten?
»It's all about MY self«
Während im November 2013 draußen in San Diego noch eine angenehme Novembersonne scheint, versammelt sich im fensterlosen Vortragssaal der University of California ein Kreis Eingeweihter - vor allem Lifelogging-Entwickler und Wissenschaftler - um seinen Guru Jim Gemmell. Gemmell ist der Architekt der einflussreichen Lifelogging-Software von MyLifeBits und zu gleich Gründer der Firma Trov. Er verdeutlicht in persona, dass die Idee, das eigene Leben umfassend digital zu protokollieren, aus den Labors der Softwareunternehmen, den Entwicklungsabteilungen von Mobilfunkunternehmen oder den Hochschulen es in die freie Wildbahn geschafft hat. Lifelogging bedeutet zunehmend auch, dem Lockruf des Geldes zu folgen.
In San Diego versammeln sich Experten, die ihrer Zeit voraus sind. Seiner Rolle als Guru wird Jim Gemmell gerecht, weil er diesen Experten den Weg in die Zukunft aufzeigt. Er predigt die Ankunft eines neuen Zeitalters. »Wir befinden uns am Beginn des Lifelogging-Jahrzehnts. Es werden aufregende Zeiten sein. Alles ist im Fluss. Die Welt, wie wir sie kennen, wird sich durch Lifelogging komplett ändern.« Jim Gemmell glaubt fest an die Vorteile der digitalen Lebensprotokollierung, und wie es sich für einen Guru gehört, findet er markige Worte für seine Überzeugungen. »Lifelogging wird unvermeidbar sein. Lifelogging ist nicht bloß das Vermessen des Menschen mit Sensoren. Es geht darum, die digitale Existenz der Menschen
Der Gunst des Publikums kann sich Gemmell sicher sein. Wie aber würde seine Botschaft bei denen ankommen, für die Mobiltelefone bloß Alltagsgegenstände Softwareprojekte sind? Schließlich produzieren wir alle unentwegt einen digitalen Schatten, wobei sich immer häufiger und dringlicher die Frage stellt, was eigentlich genau mit
Lifelogging stellt nach den Bedingungen und Grenzen der Nutzung privater Daten in verschärfter Form. Dabei geht es auf den ersten Blick um einen digitalen Humanismus - die Idee der Verbesserung des Menschen und seiner Lebensbedingungen. Für Gemmell ist Lifelogging das zentrale »Persönlichkeitsveredelungsprojekt « des kommenden Jahrzehnts. »It's all about MY self«, ruft er den Eingeweihten zu. » ICH mache die Daten nutzbar für MICH. ICH halte sie zusammen, bewahre sie für immer, sichere sie, greife auf sie zu, wann immer ICH es möchte. Die Daten sind einfach da, wenn ICH sie brauche. Es ist wichtig, SELBST entscheiden zu können, wann man etwas erinnern möchte. ICH erkenne MICH. Das ist der Mehrwert. Und deswegen wird das Lifelogging-Jahrzehnt kommen.« Die Gesellschaft, so seine Verkündigung, wird sich in Richtung einer Totalerfassung digitaler Lebensspuren bewegen. Dabei ist er überzeugt davon, dass mehr Daten automatisch zu einem besseren Leben führen. Ob diese Auffassung mehrheitsfähig ist?
Lässt sich für technische Laien überhaupt verstehen, wie die digitale Totalerfassung funktioniert? Gemmell kreiert eine schlichte, aber anschauliche Definition für das, was Lifelogging im Kern ausmacht: »Lifelogging ist eine Black Box für Menschen. Alles, was unser Leben ausmacht, steckt darin.« Für diese Black Box gibt es inzwischen viele Namen: Human Digital Memory, Personal Life Archive oder E-Memory. Formal nennt sich die Idee, individuelle Daten zu erfassen und statistisch personenbezogene Informatik. Für dieses Buch wählte ich jedoch Lifelogging als Titel, weil ich davon ausgehe, dass er verständlicher und prägnanter ist. Die Begriffsanteile - »Life« (= Leben) und »to log« (= sammeln) - sind selbsterklärend. Nach und nach wird durch Daten erfassende Tätigkeiten (»loggen«, »tracken«) die Black Box mit »Lifelogs «, also Lebensspuren oder -daten in digitaler gefüllt.
Daraus leitet sich ein Verständnis für die Grundoperationen ab, die mit Lifelogging sind. Der Erfassung (»Capturing«) unterschiedlichster Lebensdaten durch Geräte, Kameras und Sensoren folgt die Speicherung (»Storage«) dieser Daten. Zentral für Lifelogging ist dabei die Idee, später immer wieder auf die Daten zurückgreifen zu können (»Retrieval«) und diese mit Hilfe schlauer Programme auswerten zu können. Schließlich besteht das Ziel von Lifelogging darin, neues Wissen zu erzeugen, das in die Optimierung der eigenen Lebensführung mündet. 2 Damit ist Lifelogging eine technische Antwort auf die zentralen W-Fragen des Lebens: Was passierte wo mit wem und wie? Unaufdringliche digitale Technologien ermöglichen es inzwischen, kontinuierlich und passiv die eigene Black Box zu füttern, ohne diesem Prozess zu viel Aufmerksamkeit widmen zu müssen.
Wie lässt sich das Verhältnis zur personalisierten Black Box beschreiben? Black Box, das klingt nach Flugzeugkatastrophen, zu deren Aufklärung Daten aus crashsicheren Flugschreibern ausgelesen werden, die zuvor vom Meeresgrund geborgen wurden. Welches Menschenbild verbirgt sich hinter der Black-Box-Analogie? Ist unser Leben ein permanentes Unglück, das wir nur dadurch erklären können, dass wir ständig Daten über unsere Existenz aus unserem »Lebensschreiber« auslesen und interpretieren? Lifelogging kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. In diesem Buch werde ich fünf Formen vorstellen, die zeigen, wie die Black Box nutzbar gemacht werden kann:
1. die Selbstvermessung des eigenen Körpers und das gemeinsame Heilen bei chronischen Krankheiten, 2. die Erfassung von Aufenthaltsorten und Aktivitäten in Echtzeit, und Gedächtnisse, 4. die Idee digitaler Unsterblichkeit sowie 5. die Idee der umfassenden und Sousveillance. An diesen Grundtypen, auf Kapitel näher eingehe, werde ich schrittweise die wichtigsten kulturrelevanten Fragen diskutieren.
© Econ Verlag
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Autoren-Porträt von Stefan Selke
Stefan Selke ist Professor im Fach "Gesellschaftlicher Wandel" an der Hochschule Furtwangen und forscht seit Jahren intensiv zum Thema "Lifelogging". Wenn er nicht gerade einen Selbstversuch unternimmt, nutzt er sein Smartphone ausschließlich als Kommunikationsmittel und nicht zur Optimierung seines Körpers - auch wenn er gerne ein paar Kilo abnehmen würde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefan Selke
- 2014, 1. Auflage, 200 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706867
- ISBN-13: 9783843706865
- Erscheinungsdatum: 09.05.2014
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 2.38 MB
- Ohne Kopierschutz
Family Sharing
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