"Echte Tötungsdelikte sind [...] manchmal auch weitaus grausamer, als ein Erzähler es sich ausdenken kann."
Michael Tsokos hat Einblick in eine Realität, die die meisten Menschen nur aus Büchern und TV-Krimis kennen. Für ihn steht fest: Wahre Verbrechen übertreffen sogar noch die Fantasie eines Autors: "Echte Tötungsdelikte sind zum Teil von der Tatbegehung und dem Nachtatverhalten des Täters her so dermaßen surreal und zum Teil unglaublich, manchmal auch weitaus grausamer, als ein Erzähler es sich ausdenken kann, dass die Schere zwischen Fiktion und Realität schon sehr weit auseinandergeht", so Tsokos.
Um aus der grausamen Realität spannende Thriller zu konstruieren, die für den Leser sinnhafte Zusammenhänge liefern, nimmt sich Tsokos die Freiheit eines Autors: "Man muss verschiedene echte Fälle miteinander verweben und vor allen Dingen an der Uhr beziehungsweise Zeitschiene drehen: In der Realität dauern Ermittlungen zum Teil Jahre, bis man dem Täter auf die Spur kommt. Das muss man als Autor natürlich deutlich verkürzen, um den Spannungsbogen und die Dramaturgie am Leben zu halten."
In den Thrillern lassen Gerichtsmediziner Fred Abel seine Sektionsfälle nicht kalt. Wie sieht es damit im Berufsalltag von Michael Tsokos aus? Über die Jahre hat er schon tausende Leichen gesehen. Da stellt sich die Frage: Wo ist oder war da die Schmerzgrenze erreicht? "Meine Schmerzgrenze als Rechtsmediziner ist immer dann erreicht beziehungsweise überschritten, wenn Kinder grausam gequält oder getötet werden. Das ist auch nichts, was ich in meinen Büchern verwende, da es nichts mit Unterhaltung zu tun hat. Das ist dann wiederum meine Schmerzgrenze als Autor", so Tsokos.
"Es gibt das Böse, keine Frage."
Tsokos Berufsleben ist eine ständige Konfrontation mit der Gewalt. Von Opfern von Kriegsverbrechen bis hin zu misshandelten Kindern hat er alles gesehen. Ein Grund den Glauben an die Menschheit zu verlieren? "Die Welt ist, wie sie ist und die Menschen darin sind, wie sie sind. Es gibt das Böse, keine Frage. Aber nur, wenn wir an das Gute und Gerechtigkeit glauben, können wir das Chaos verhindern. Und daran müssen wir jeden Tag arbeiten. Und die Starken müssen ihre Stimme für die Schwachen erheben. Das ist meine tiefe Überzeugung und deshalb erfüllt mich meine Profession als Rechtsmediziner und meine Professur für Rechtsmedizin jeden Tag mit Erfüllung", so Tsokos.
Diese Überzeugung mag einer der Gründe gewesen sein, warum Michael Tsokos 2014 eine Gewaltschutzambulanz der Berliner Charité ins Leben rief. Hier können sich Opfer von zum Beispiel häuslicher Gewalt kostenlos untersuchen lassen. Rechtsmediziner dokumentieren die Verletzungen, kommt es zum Prozess, können die Taten so bewiesen werden. Zuletzt schlug Michael Tsokos Alarm. Seine Befürchtung: Die Corona-Pandemie wird zu einem Anstieg der häuslichen Gewalt führen. Auch die Suizide könnten zunehmen. Im Juli zieht er eine traurige vorläufige Bilanz: "Ja, meine Befürchtung, dass die Fallzahlen häuslicher Gewalt steigen werden, hat sich leider, zumindest für Berlin, bewahrheitet. Ob die Suizidrate steigen wird, werden wir am Ende des Jahres, im Vergleich zum Vorjahr, sehen. Alleine mit den drei Monaten des Lockdowns ist das statistisch nicht zu verifizieren beziehungsweise die Daten wären nicht belastbar."