33 Augenblicke des Glücks
Durch diesen doppelten Rahmen steigt man ein in einen ganzen Kosmos aus komischen, grotesken, brutalen, tragischen und auch böse-finsteren Geschichten, entfaltet sich ein kaleidoskopartiges Panorama der Stadt an der Newa und ihrer Bewohner. Trinker und Huren, Arbeiter und Waffenhändler, alte tapfere Frauen aus den heroischen Tagen des Großen Vaterländischen Krieges tauchen genauso auf wie die Geschäftsleute der neuen Zeit, Mafiosi und ihre Handlanger. Mord und Totschlag sind genauso an der Tagesordnung wie zarte Bewegungen, Mitleid und Großmut.
Auch vor Ekel und Entsetzen wird nicht Halt gemacht: Das alte Liebespaar Irina und Anatolij schlägt eine junge Waffenhändlerin auf grausige Weise tot; Florian Müller-Fritsch stinkt und stirbt. Doch das Hässliche alltäglichen Irrsinns und das Schöne guter Wünsche und sanfter Freundlichkeit, die Härte der Schläge und Schüsse wie das Weiche der Gefühlsregungen, wie sie die große Stadt in unendlicher Fülle bereithält, gehen im Reichtum dieser Erzählungen eine seltsam heitere, krause und unverwechselbare Mischung ein.
33 Augenblicke des Glücks von Ingo Schulze
LESEPROBE
ICH WILL es Ihnen erklären: Voreinem Jahr erfüllte ich mir einen langgehegten Wunschund fuhr mit der Bahn nach Petersburg. Ich teilte das Abteil mit einer frischfrisierten Russin, ihrem Mann und einem Deutschen namens Hofmann. Die Russensahen in uns ein Paar, und Hofmann, als der Übersetzer ihrer Fragen und meinerAntworten, ließ sie wohl in diesem Glauben. Ich weiß nicht, was er ihnen noch alleserzählt hat. Sie lachten unentwegt, und die Frau tätschelte meine Wange.
Auch in der Nacht blieb es schwül,die Hemden der Schaffner waren fleckig vor Schweiß, die Fenster beschlagen,schmutzig und im Abteil nicht zu öffnen - angeblich gab es eine Klimaanlage -,und wenn es nicht nach Desinfektionsmitteln stank, dann nach Klo und Zigaretten.Stahlbleche, wie Zugbrücken zwischen den Waggons herabgelassen, schlugen tarrara-tarrara-bsching, tarrara-tarrara-bschingaufeinander, wechselten beim Abbremsen zu tarrara-bsching-bschong,tarrara-bsching-bschong, bis die Puffer aufeinanderprallten - unberechenbare, unablässige Stöße, so daßich nicht schlafen konnte und auch am folgenden Tag, als die Hitze nachließ,wach lag. Wenn Hofmann nicht mit den Russen sprach, blickte er, den Kopf insKissen gedrückt, zum Fenster hinaus, wo sich zwischen sumpfigem Brachland undwüsten Wäldern hin und wieder Häuschen zeigten, blau und grün und schief indie Erde gedrückt, und aufgestapelte Scheite hell hinter abgebrannten Wiesenund getünchten Zäunen leuchteten. Von den gelben Fähnchen der Schrankenwärterwar oft nur der Holzstab zum Salutieren übriggeblieben.
Am zweiten Abend, bereits inLitauen, lud mich Hofmann plötzlich in den Speisewagen ein. Wie er mirgegenübersaß, dunkelblond, fast grauäugig, mit einer Narbe unterm Kinn, wirkteer selbstsicher. Er bestellte ohne Speisekarte und putzte sein Besteck an denroten Gardinen. Auf die Frage jedoch, wie ein deutscher Geschäftsmann, für dener sich ausgab, dazu komme, mit der Bahn zu reisen, verlor er einen Moment langalle Leichtigkeit. Er lächelte angestrengt und fixierte mich. Statt zuantworten, begann er weitschweifig von seiner Arbeit für eine Zeitung zusprechen. Vor allem aber sei er, neben seiner Leidenschaft für den Karaokegesang, ein Literaturliebhaber.
Je weitet wir uns von meiner Frageentfernten, um so unbekümmerter erzählte er, um sophantastischer und unglaubwürdiger erschienen mir seine Geschichten. Erüberschüttete mich mit weitausholenden underläuternden Ratschlägen, was ich unbedingt noch zu lesen hätte, wobei er michtief seufzend zu meinem Nichtwissen beglückwünschte. »Was du noch alles vor dirhast!« sagte er immer wieder. Wir aßen und trankenviel, es war spottbillig, und alles kam, wie es kommen mußte- tarrara-tarrara-bsching ...
Ich erwachte mit höllischenKopfschmerzen. Die Sonne schien grell, der Zug stand,eine Station namens Pskow. Hofmanns Bett warabgezogen, die Matratze zusammengerollt. Niemand wollte oder konnte sagen, woer geblieben war. Wie gewonnen, so zerronnen. Mir war elend. Und so blieb es,selbst als ich diese Mappe, die nun vor Ihnen liegt, hinter meiner Handtascheentdeckte. Ich wußte weder, wie sie dahin gelangtwar, noch was ich damit anfangen sollte. Erst wollte ich sie dem Schaffnergehen, denn wer weiß, worauf man sich in seiner Unkenntnis einläßt.Dann aber begann ich zu lesen.
Bei allem, was wir einandererzählten, sprach Hofmann auch von täglichen Aufzeichnungen, die er vonPetersburg nach Deutschland geschickt habe. Beim Schreiben - er sagte nicht, anwen - habe et sich mehr und mehr der Neigung hingegeben, die Erfindung anstelleder Recherche zu setzen. Denn für ihn, so Hofmann, sei etwas Ausgedachtes nichtweniger wirklich als ein Unfall auf der Straße. Ebenso mußer Geschäftsfreunde und Bekannte ermuntert haben, ihm Episoden zu schildern,was dem Westler in Rußland keine Schwierigkeitenbereitet.
Vielleicht erlag Hofmann auch mirgegenüber seiner Schwäche und fabulierte lieber, statt der Wahrheit die Ehre zugeben. Ich weiß es nicht und kann Ihnen kaum mehr sagen, als daß ich seit einem Jahr vergeblich versuche, ihn zu vergessen.»lind:« werden Sie fragen. »Was geht mich das an?« AlsSie so offenherzig übet Ihre Pläne sprachen, kam mir der Gedanke, daß jemand wie Sie dafür sorgen sollte, die Mappe zupublizieren. Überarbeitet ergibt sie bestimmt eine recht kurzweiligeUnterhaltung. Und wenn Hofmann noch lebt, wird er sich melden. Eine andereMöglichkeit, ihn wiederzufinden, sehe ich für michnicht.
Ich bitte Sie herzlich! leihen Siediesen Phantasien Ihren Namen! Denn kein Verlag nimmt ein Buch ohne Autor. Die Leutebrauchen Fotos, Interviews, sie sind hungrig nach Gesichtern und wirklichenGeschichten. Was hei Ihnen ein erwünschter Effekt sein könnte, wäre mir lästig.Zum einen fühle ich mich der Sache nicht gewachsen, zum anderen gefährde ichungern meine berufliche Stellung. Sie dagegen haben literarischen Ehrgeiz, sindbefähigt zum Umgang mit Texten und verfügen über Freunde, die Ihnen hilfreichzur Seite stehen werden. Vielleicht verdienen Sie auch etwas Geld dabei.
Freiburg i. Br., am 25. 6. 94
Ich habe diesen Brief, leicht gekürzt,vorangestellt, weil er mich aller Erklärungen enthebt. Trotzdem möchte ichanmerken, daß materielle Erwägungen hei derÜbernahme der Herausgeberschaft im Hintergrundstanden. Wäre ich nicht zu der Überzeugung gelangt, daßdie hier versammelten Aufzeichnungen über einen bloßen Unterhaltungswerthinausgingen und die Möglichkeit in sich trügen, die anhaltende Diskussion umden Stellenwert des Glücks zu beleben, hätte ich von dieser Aufgabe Abstandgenommen.
I. S.
Berlin, am 10. 6. 95
FRAUEN WIE MARIA begegnet man nur inIllustrierten und Werbespots. Abends wechselte sie ins Foyer des Hotels Sankt Petersburg,in dem ich anfangs wohnte, von einer weißen Sesselgruppe zur anderen, alsbewegte sie sich in einem Möbelgeschäft. Manchmal verschwand sie für fünfMinuten, aber jedesmal kam sie wieder, und jedesmal war sie allein.
Auf dem Weg in die Hotelbar sprachich sie an, und so traten wir schon als Paar ein. Maria wurde fröhlich und nochschöner. Sie hatte tatsächlich auf mich gewartet. Der Barkeeper zog mich denanderen Gästen vor, und ich kehrte in Marias Blickbahn voller Erfolg an unserenTisch zurück, ohne einen Schwapp aus den Gläsern verloren zu haben. Selbstvergessenverfingen sich ihre Finger in der Silberkette über dem Dekolleté, und ihrelangen Nägel zogen Striemen auf dieser unglaublichen Haut, die über den Kniengenauso rein aus ihrem roten Kleid wieder auftauchte. Ich bediente sie mitihrem Feuerzeug, damit sie nicht abgelenkt wurde ins Erzählen über Margaritaund Lolita, über den Vergleich von SoschtschenkosSprache mit der Platonows, und meine Hände lagen flach auf dem Tisch, währendsie Puschkin und Brodsky rezitierte, als stellte sie ein Menü nach dem Alterder Weine zusammen. Sie hatte Zeit für mich, als warte kein Fußballstar oderSänger, kein Abgeordneter oder Kapitän auf sie, und ich wußte:Petersburg, das sind ihre dunklen Augen. Wie Sterne sollten sie mir über derStadt stehen, egal, was mich noch erwartete.
-Erzähl von dir«, sagte Maria, drückte ihreHand auf meinen Arm und küßte mir behutsam dieFinger. Ich war erschienen, um Maria zu retten. Sie wußtenicht, wer ihr Vater war. »Vielleicht ein Italiener«, sagte sie und hob mir ihrschwarzes Haar mit dem Handrücken entgegen.
Maria würde eine Wohnung für unssuchen, wir könnten zusammenleben und morgens umschlungen aufwachen. Ich würdeihren größten Wunsch erfüllen und ihr ein Auto kaufen. Zusammen würden wirdurch die Stadt und ans Meer fahren, tanzen gehen, Schuhe kaufen, ihre Mutterbesuchen und reisen, zuerst nach Amsterdam, und mit ihrer Freundin die Hochzeitfeiern, und dann nach Italien.
Zwei Stunden saßen wir zusammen, derBarkeeper gab uns seinen Segen, und ich hätte ihn gern um zwei seiner goldenenRinge gebeten. Wieso hatte Maria gerade mich erwählt? Sie ließ ihre Hand aufmeinem Knie ruhen, nahm dann meinen Zeigefinger, der ihr Schlüsselbein auf und abfahren sollte, und ich küßte die kleinen Mulden nebenihrem Hals, so daß sie die Schultern hochzog und dieAugen schloß.
Mir war es peinlich, ihr Geldanzubieten, und sie nickte nur, wie man eben so nickt.
Nach fünf Minuten folgte mir Mariaaufs Zimmer, nach zwanzig Minuten war sie wieder aus dem Bett.
,>Milizija«,erklärte sie niedergeschlagen. Sie war schön bis in die Kniekehlen und bewegtesich auf der Suche nach ihrem Kleid so unbekümmert durch den Raum, als hingen ihreSachen hier im Schrank.
Während ich an den Wasserhähnendrehte, setzte sich Maria auf die Toilette und versprach, für morgen früh ein Taxizu besorgen. Wir würden uns wiedersehen und nach Pawlowsk fahren.
Kaum hatte sie mich verlassen, alsjemand gegen meine Zimmertür schlug. Die Etagendame hielt Maria am Handgelenkfest. Ich erklärte, alles sei in Ordnung, es fehle nichts. Dann knallte die Türwieder zu.
Zwei Wochen lang wartete ich morgensund abends in den weißen Sesseln auf Maria. Aber sie kam nicht. Ich fragte den Barkeepernach ihr, den Taxifahrer, der mit ihr getuschelt hatte, die Etagendame.Vielleicht hatte man sie verschleppt, vielleicht war sie gar nicht mehr amLeben, oder ein alter Liebhaber war aus Sibirien zurückgekehrt. Noch lange fuhrich abends von meiner Wohnung ins Hotel. Keine der anderen Frauen und Mädchenkonnte sich mit Maria messen. Keine wußte etwas vonihr.
Nach einem dreiviertel Jahr sahenwir uns am Eingang des Europa-Hotels wieder. Maria hatte zwei Sterne zugelegtund Hunger. Wir setzten uns in den Innenhof, tranken Kaffee und aßen Bockwurst.Nach einer Stunde gab es kauen nach freie Plätze. Wir bezahlten wie Studenten,jeder für sich, küßten uns zum Abschied dreimal wiedie Russen, und Maria begann ihre Arbeit wie eine Verliebte.
©Süddeutsche Zeitung -Bibliothek
- Autor: Ingo Schulze
- 2007, 252 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Süddeutsche Zeitung / Bibliothek
- ISBN-10: 3866155050
- ISBN-13: 9783866155053
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