Abspann
Saul Karoo ist ein reicher, übergewichtiger, kettenrauchender Alkoholiker. Und er ist einer der gesuchtesten Scriptdoctors in Hollywood: ein Meister im Flicken missglückter Filmskripts. Sauls Blick auf...
Saul Karoo ist ein reicher, übergewichtiger, kettenrauchender Alkoholiker. Und er ist einer der gesuchtesten Scriptdoctors in Hollywood: ein Meister im Flicken missglückter Filmskripts. Sauls Blick auf die Welt ist nüchtern und distanziert. Das ändert sich, als er bei einem Dreh die Mutter seines Adoptivsohnes entdeckt. Von nun an ist er wie verwandelt. Er beginnt nicht nur am Film herumzuschnippeln, sondern auch am wahren Leben. Nur: Die Wirklichkeit ist kein Drehbuch...
»Brillant formuliert, klug durchdacht, verblüffend komisch und abgründig traurig.« (FAZ)
»Kunstwerke, Bücher, Bilder, Musik oder Filme, die einen so auseinandernehmen und neu zusammensetzen, dass man sich danach für einen anderen hält und glaubt, in eine andere Richtung weiterzuleben, hatte ich für eine Begleiterscheinung der Jugend gehalten. Aber Steve Tesich riss mich weg wie nur wenige zuvor, und da war ich Mitte vierzig.« (Thommie Bayer, Der Spiegel)
Steve Tesich wurde 1942 in Jugoslawien geboren und kam im Alter von vierzehn Jahren nach Indiana/USA. Er schrieb zahlreiche Stücke und Drehbücher, u.a. für »Garp und wie er die Welt sah«.
Auch die Romane des 1996 verstorbenen Autors waren große Erfolge. 2006 verschaffte Elke Heidenreich Tesichs Werk in ihrer Sendung Lesen! die neuerliche, verdiente Aufmerksamkeit.
Doch als er einen neuen Auftrag annimmt, verändert eine zufällige Begegnung sein Leben. Karoo, wie verwandelt, versucht zu neuem Glück zu finden und beginnt nicht nur, am Film herum zu schnipseln, sondern wie ein Skriptflicker - gleichsam gottähnlich - ins wahre Leben einzugreifen.
LESEPROBE
2
Bei den McNabs, George und Pat, wares Tradition, am Tag nach Weihnachten eine Party zu geben, aber noch nie hattensich die Weltereignisse dazu verschworen, die Party so lebhaft undgegenwartsnah zu gestalten. Es gab viel zu feiern und zu bereden. Václav Havel,die Berliner Mauer, das Ende des kalten Krieges, der Zusammenbruch desKommunismus, Gorbatschow und, zumindest für die nächsten paar Tage, dieseRumänen mit ihren köstlich klingenden Namen.
Ich trank jetzt wieder Rotwein, wieschon gleich nach meiner Ankunft auf der Party. Dazwischen hatte ich sämtlicheArten alkoholischer Getränke konsumiert, die das Haus anbot. Weißwein, Bourbon,Scotch. Drei verschiedene Sorten Wodka. Zwei verschiedene Sorten Cognac. Champagner.Diverse Liköre. Grappa.Raki. Zwei Flaschen mexikanisches Bier und mehrere Cocktailgläser Eierflip mitRum. All das auf leeren Magen, und doch war ich zu meinem Leidwesenstocknüchtern.
Nichts.
Ich war nicht nur nicht betrunken,ich hatte nicht mal einen
Schwips.
Nichts.
Überhaupt nichts.
Von Rechts wegen hätte ich auf einerBahre liegen müssen, in einem rasenden Krankenwagen auf dem Weg zur Notaufnahme, wo man michwegen schwerer Alkoholvergiftung behandeln würde, aber nein, ich war
Mein Alkoholproblem begann vor etwasüber drei Monaten. Ich hatte noch nie von jemandem mit dieser Krankheit gehört.Ich wußte nicht, wo und wie ich sie mir geholt hatte oder was der Auslöser war.
Ich wußte nur, daß etwas mit mirnicht stimmte. Etwas in mir war gerissen oder locker geworden oder abgegangen.Es war etwas Physiologisches oder Psychologisches oder Neurologisches, irgendwoim dunklen Innern meines Körpers oder meines Kopfes war irgendein kleinesBlutgefäß geplatzt oder verstopft, war irgendeine Synapse durchgebrannt oderirgendein chemischer Prozeß umgekippt, ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Ichwußte nur eines, der Zustand der Trunkenheit war aus meinem Leben verschwunden.
Meine Trinkerkrankheit führte -wahrscheinlich, weil ich sie nicht wahrhaben wollte - zu der seltsamenBegleiterscheinung, daß ich - seit ich gemerkt hatte, ich konnte trinken,soviel ich wollte, ich wurde nicht betrunken - nur um so mehr trank. Ich mochtegegen Alkohol immun geworden sein, aber nicht gegen Hoffnung, und egal, wiehoffnungslos es aussah, ich fuhr fort, zu trinken und zu hoffen, daß ich einesschönen Abends, wenn ich es am allerwenigsten erwartete, wieder wie in derguten alten Zeit einen Rausch kriegen und in mein altes Ich schlüpfen würde.
Die Musik hörte auf. Die Plattewechselte, aber nicht der Komponist, und nach einem kurzen Zwischenspiel ausdem Lärm unbegleiteter menschlicher Stimmen war wieder Beethoven dran. Wieimmer bei den McNabs war es eine Am-Tagnach- Weihnachten-Beethoven-pur-Party.
Ich goß mir ein Glas Tequila ein,ein schönes großes für Mineralwasser vorgesehenes Glas, und leerte es.
Ich verstand das nicht. Beim bestenWillen nicht. Blut war schließlich Blut, und wenn man es darauf anlegte undsicherging, daß der Alkoholgehalt des Blutes alle bekannten Maßstäbe derTrunkenheit um das Fünffache überstieg, dann müßte man in der Lage sein,betrunken zu werden. Ausnahmslos jeder. Es war eine Sache der Biologie. Undzwar nicht nur der menschlichen Biologie. Hunde konnten betrunken werden. Ichhatte von einem besoffenen Pitbull gelesen, der in der Bronx einen Obdachlosenangefallen hatte und dann wenige Querstraßen weiter umgekippt war. Späterwurden ein paar Kids aus der Gegend festgenommen und beschuldigt, das Tieralkoholisiert zu haben. Pferde konnten betrunken werden. Kühe. Schweine. Es gabAlki-Ratten, die sich mit Schaumwein einen ansoffen. Elefantenbullen, da warich sicher, konnten betrunken werden. Rhinozerosse. Walrosse. Hammerkopfhaie.Kein lebendes Geschöpf, ob Mensch oder Tier, war immun gegen Alkohol. Bis aufmich.
Gerade diese biologischeAussperrung, die unnatürliche Natur meines Gebrechens erfüllte mich mit Schamund dem Gefühl, gebrandmarkt zu sein, als hätte ich mich mit einer umgekehrtenAids-Variante infiziert und wäre gegen alles immun geworden. Aus Angst, zumParia zu werden, falls meine Krankheit bekannt würde, tat ich so, als sei ichbetrunken. Außerdem konnte ich es nicht ertragen, die Menschen, die michkannten, zu enttäuschen. Sie erwarteten von mir, betrunken zu sein. Ich bildeteden Kontrast, an dem sie ihre Nüchternheit messen konnten.
Aber meine Immunität gegen Alkohol,obschon äußerst beunruhigend, war nicht meine einzige Krankheit. Ich hatte nochandere. Viele, viele andere. Ich war ein kranker Mann. Noch nie dageweseneKrankheiten mit bizarren Symptomen ließen sich in meinem Körper und in meinemKopf häuslich nieder. Es war, als stünde ich in der Adressenkartei einerkosmischen Versandfirma für Krankheiten oder hätte in mir ein verhängnisvollesGravitationsfeld, das unbekannte neue Krankheiten anzog.
...
Übersetzung: Heidi Zerning
© Kein & Aber
- Autor: Steve Tesich
- 2006, Neuausg., 574 Seiten, Maße: 12,4 x 19 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Heidi Zerning
- Übersetzer: Heidi Zerning
- Verlag: KEIN & ABER
- ISBN-10: 3036951547
- ISBN-13: 9783036951546
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