Albert Einstein
1914, am »Vorabend« des Ersten Weltkriegs, folgte Einstein einem verlockenden Ruf zurück nach Deutschland: an die Preußische Akademie der Wissenschaften....
1914, am »Vorabend« des Ersten Weltkriegs, folgte Einstein einem verlockenden Ruf zurück nach Deutschland: an die Preußische Akademie der Wissenschaften. Die folgenden zwanzig Jahre lebte und forschte Einstein in Berlin. Sie sollten die wichtigsten seiner beruflichen Karriere werden...
»Eine kraftvolle Darstellung der politischen und kulturellen Umwälzungen, die Deutschland und die Welt in den Nachkriegsjahren erschütterten, gespiegelt im Werdegang einer Schlüsselfigur.« (Kirkus Reviews)
»Ein ausgezeichnetes Buch.« (Publishers Weekly)
Berlin 1914. Als Albert Einstein kurz vor dem Ersten Weltkrieg an die Preußische Akademie der Wissenschaften kam, war er gerade 35 Jahre alt und hatte bereits den Grundstein für seinen Weltruhm gelegt. Schnell fand er in der Boomtown Berlin einen inspirierenden, illustren Kreis gleichgesinnter Wissenschaftler. Doch bald musste der überzeugte Pazifist erleben, wie aus geschätzten Kollegen jubelnde Patrioten wurden. In den folgenden Jahren revolutionierte er die Wissenschaft mit der Allgemeinen Relativitätstheorie und begründete das neue Verständnis über Raum und Zeit, während im Berlin der Goldenen Zwanziger Jahre Aufbruchstimmung herrschte und in Theater, Musik, Literatur und Architektur die Moderne eingeläutet wurde. Einsteins wissenschaftliche Arbeit fand im Nobelpreis 1921 ihren Höhepunkt. Berlin nahm die Kurve nach unten und bewegte sich im fiebrigen Taumel immer mehr auf den Abgrund zu. Inflation und Wirtschaftskrise überzogen die einst aufregendste Kapitale der Welt. Als die ersten Nazis durch Berlin marschierten, schlugen Einstein zunehmend Hass und Antisemitismus entgegen. Viele Kollegen stellten ihr Wissen willfährig in den Dienst der Militärmaschinerie. Am Tag, als Hitler im Dezember 1932 an die Macht gewählt wurde, verabschiedete sich Einstein von dem ihm fremd gewordenen Deutschland, in das er nie zurückkehrte, und zugleich von seinem glühenden Glauben an ein Jahrhundert der Vernunft.
Thomas Levenson verwebt Einsteins 17 Jahre in der Hauptstadt mit der Biografie von Berlin. Wie in einem Brennglas fokussiert er sein bahnbrechendes Werk, seine Persönlichkeit und seine Zeit und lässt diese große Epoche und diesen großen Menschen wieder lebendig werden.
Einstein in Berlin von Thomas Levenson
LESEPROBE
KAPITEL EINS
»Misstrauen gegen jede Art vonAutorität«
Dahlem ist noch immer ein schöner,ruhiger Stadtteil von Berlin. Heute
findet sich dort neben den vielenForschungseinrichtungen der einstigen
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, dienach den katastrophalen Weltkriegen
zu Ehren von Max Planck umbenanntwurde, auch die Freie Universität.
1914 war Dahlem in einer gutenhalben Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln
aus der Stadtmitte zu erreichen. DieVillen in diesem Viertel
waren groß und komfortabel, idealfür einen Professor samt Familie.
Einstein bezog eine Etage, die seineFrau Mileva im Winter zuvor angemietet
hatte. Zwei Wochen später, MitteApril, folgte sie ihm mit den
beiden zwölf und vier Jahre altenSöhnen nach. Der gemeinsame Haushalt
sollte keine vier Monate überdauern.
Ehen enden. Menschen, die einandereinst in inniger Liebe zugetan
waren, werden älter unddistanzierter. In dieser Hinsicht waren Albert
und Milevaein geradezu erbarmungslos durchschnittliches Paar. Sie heirateten,
sie trennten sich und schließlichließen sie sich (trotz Einsteins
gegenteiligen Schwüren) scheiden.Auf den ersten Blick scheint nur das
Tempo des Zusammenbruchs dieserBeziehung erstaunlich. In Zürich
schienen die Einsteins noch eine funktionierendeFamilie gewesen zu
sein, in Berlin weigerte sich AlbertEinstein bereits nach wenigen Wochen,
auch nur dasselbe Gebäude mit seinerFrau zu teilen. Doch es war
kein Zufall, dass das Ende dieserEhe mit dem Umzug nach Berlin einherging:
Die räumliche Veränderung, die ja ansich nur der Karriere hatte
dienen sollen, wurde zum Anlass füreinen noch viel tieferen Bruch mit
der Vergangenheit, oder andersgesagt: von Einstein genutzt, um diesen
zu vollziehen. Er hatte Mileva am Ende einer stürmischen Adoleszenz
geheiratet, und die Konsequenzendieser Wahl wollte oder konnte er nach
dieser Übersiedlung in seinenmittleren Lebensjahren nicht länger tole-
rieren. Seine Ankunft in der deutschenReichshauptstadt stand für einen
völligen Neubeginn - und damit auchfür das trostlose Ende eines Dramas,
in dem Einstein einst den Heldengegeben hatte.
Albert wurde 1879 in Ulm als erstesKind von Hermann und Pauline Einstein
geboren. Die Familie des Vatersstammte aus Buchau, einem kleinen
Ort in Württemberg, und gehörte zuder Gruppe von bodenständigen
Juden aus den alten jüdischenGemeinden, die sich in den Kleinstädten
und Dörfern Süddeutschlands angesiedelthatten. Einsteins hatte es in
Buchau bereits 1665 gegeben(anfänglich noch mit der Schreibweise Ainstein),
doch zur Zeit von Hermanns Geburt imJahr 1847 hatte sich der
jüdische Alltag auf dem Land und inden Kleinstädten bereits zu verändern
begonnen. Die jüdische Emanzipationwar zwar schon im Zuge der
napoleonischen Reformen eingeleitetworden, doch im Königreich Württemberg
wurde jüdischen Untertanen diestaatsbürgerliche Gleichstellung
erst 1862 in vollem Umfang gewährt.Hermann ergriff diese Chance
und schrieb sich in einer Realschulein Stuttgart ein, wo er sich dann als
guter Schüler mit besonderenmathematischen Talenten erwies. Doch
seine Familie war groß und nichteben wohlhabend, außerdem musste
das Geld für die Mitgiften seinerSchwestern gespart werden, also kam
eine Universitätsausbildung nicht inFrage. Konfrontiert mit der Notwendigkeit,
schnell den eigenen Lebensunterhaltverdienen zu müssen,
übersiedelte er nach Ulm und tratals Teilhaber in die Bettfedernhandlung
von Verwandten ein. Dort lernte erden Backfisch Pauline Koch kennen.
1876 heirateten sie, 1881übersiedelte die junge Familie dann nach
München.
Hermann hatte eine gute Partiegemacht. Auch die Kochs waren Händler
im Schwäbischen gewesen, hatten sichaber schon frühzeitiger und
entschlossener als die Einsteinsnach Größerem umgetan. Paulines Vater
gründete 1852 in der Nähe vonStuttgart mit seinem Bruder einen Getreidehandel,
der bald schon zum »kgl.-Württembergischen Hoflieferanten« ernannt wurde,
außerdem pflegten die Kochs ihren Töchtern eine gute Bildung mitzugeben.
Pauline war also relativ wohlhabend und hatte eine Erziehung aufGroßstadtniveau
genossen. Doch sie war nicht nur eine gebildete, sie war auch eine kluge Frauund
sollte, obwohl elf Jahre jünger als ihr Ehemann, zum strahlenden Mittelpunktder
Familie werden. 1878 wurde sie schwanger. Praktisch vom Moment der Geburt ihres
Sohnes an begann sie den ganzenEhrgeiz einer intelligenten und ambitionierten
jungen Mutter auf Albert zukonzentrieren.
Der kleine Einstein gab allerdingszu so manchem Kummer Anlass.
Seine Großmuter klagte, dass er »zudick, viel zu dick« war, und seine
sprachliche Entwicklung kam nurlangsam voran. Der Familienlegende
zufolge soll er sogar bis ins dritteLebensjahr geschwiegen haben - bis er
sich endlich in der Lage sah, einenvollständigen Satz herauszubringen.
Seine erste familiär belegteÄußerung machte er als Zweieinhalbjähriger.
Pauline erwartete ein zweites Kind.Bevor Mutter und Tochter aus dem
Krankenhaus nach Hause zurückkehrten,war Einstein ein »Spielzeug«
versprochen worden. Als er seineSchwester Maja dann zum ersten Mal
sah, soll er gefragt haben, wo dennnun aber die »Rädele« an diesem Spielzeug
seien. Albert konnte ein sehreigensinniges Kind sein und neigte
zum Jähzorn, der sich manchmal inwahren Gewaltausbrüchen äußerte.
Seine Schwester bekam so mancheBackpfeife von ihm, einmal versuchte
er ihr sogar mit einer Kinderhackeein Loch in den Schädel zu schlagen.
Auch gegen die erstenErziehungsversuche setzte er sich so heftig zur
Wehr, dass er schließlich sogareinen Stuhl nach seiner Hauslehrerin
warf. Sie floh entsetzt und ward niewieder im Hause Einstein gesehen.
Doch für Pauline war und bliebAlbert das Goldstück, und sie gab sich
offensichtlich redlich Mühe, um ihmmit allen möglichen Überredungskünsten,
Schmeicheleien undarbeitsintensivsten Überlistungsmethoden
eine Erziehung angedeihen zu lassen.Maja erinnerte sich später, dass
die Mutter zum Beispiel so lange amKlavier verbracht und den sechs oder
siebenjährigen Albert mit so vielGeduld und Liebe zu Geigenübungen
angetrieben habe, bis derstreitsüchtige Junge schließlich tatsächlich
eine große Leidenschaft zu diesemInstrument entdeckte. In der Schule
wurde sein störrisches Benehmenallerdings nicht so leicht hingenommen
und ihm laut Maja anfänglich sogarnur geringes Talent beschieden:
»Von seiner Spezialbegabung fürMathematik war vorderhand nichts zu
bemerken, er war nicht einmal einguter Rechner im Sinne der Geläufigkeit,
wohl aber zuverlässig undausdauernd.« Unglücklicherweise bestand
Einsteins erste Begegnung mit denmodernen deutschen Lehrmethoden
ausgerechnet aus einem Lehrer, derdie Aufmerksamkeit seiner
Schüler zu wecken verstand, indem erjedem mit einem Stock auf die Finger
klopfte, der für seinen Geschmacknicht schnell oder korrekt genug
antwortete. Einstein litt.
Aber nicht allzu heftig. Auch wennMaja es anders in Erinnerung behalten
hatte, brachte Einstein zur großenBefriedigung seiner Mutter
doch immer gute Leistungen nachHause. Im ersten Jahr des Siebenjährigen
an der Grundschule schrieb Paulineihrer Schwester: »Gestern bekam
Albert seine Noten, er wurde wiederder Erste « Der Mythos über
Einsteins schlechte schulischenLeistungen und das Gerücht, dass er im
Mathematikunterricht sogar gänzlichversagt habe, ist nichts anderes als
eben das - ein Mythos. Von wenigenAusnahmen abgesehen bewegten
sich seine Noten von der Grundschulebis zur Hochschulreife zwischen
Einsen und Zweien, auch in Fächern,die weit jenseits seiner eigentlichen
Interessen angesiedelt waren. ImGymnasium wurde er in Latein wie
Griechisch immer mindestens miteiner Zwei benotet, und auch in den
Hochschulseminaren, in denen er sichauf Wunsch des Vaters zumindest
eine blasse Ahnung von so nützlichenDingen wie »Bank- und Börsengeschäften«,
den »Grundlehren der Nationalökonomie«oder von den
»Einkommensverteilung und sozialenFolgen der Freien Konkurrenz«
verschaffen sollte, schnitt er gutab. Es gibt zwar keinerlei Nachweise,
dass er jemals Gebrauch von diesemWissen gemacht hätte, doch die
Vorstellung von Einstein an der WallStreet wäre in der Tat nicht ohne
Charme gewesen.
Obwohl Pauline also allen Grundhatte, stolz auf die Leistungen des
Sohnes zu sein, gab es doch ständigAnlass zur Sorge. Schon als kleiner
Junge konnte Einstein seineVerachtung für den Schulbetrieb nicht verhehlen,
weil er ihm künstlich, erzwungen undoft ganz einfach dumm
erschien. Da Religionsunterricht inBayern ein Pflichtfach, aber nur
christlicher im Angebot war, wurdeEinstein im Hause eines orthodoxen
Verwandten in der Thora unterwiesen.Mit neuneinhalb Jahren begann er
sich trotz des geringen Interesses,das seine Eltern für die jüdische Religion
an den Tag legten, plötzlich selbstsehr für die Tradition zu begeistern
und zur Orthodoxie hingezogen zufühlen. Doch am Ende sollte
diese Hingabe nur zwei Jahre währen.In dieser Zeit weigerte er sich
Schweinefleisch zu essen,komponierte religiöse Gesänge, die er dann auf
dem Schulweg vor sich hin trällerte,und sann über die biblische Schöpfungsgeschichte
nach. Doch dann bekam er zu seinemelften Geburtstag
Aaron Bernsteins NaturwissenschaftlicheVolksbücher geschenkt, illustrierte
Naturatlanten, die auf verständlicheWeise die großen Ideen jener
Zeit darstellten. Es traf ihn wieder Blitz. Noch über ein halbes Jahrhundert
später sollte er sich erinnern, mitwelch »atemloser Spannung« er
Bernsteins Reihe gelesen hatte. Durchsie und die Lektüre von weiteren
populärwissenschaftlichen Bücherngelangte er bald zu der Überzeugung,
»dass vieles in den Erzählungen derBibel nicht wahr sein konnte. Die
Folge war eine geradezu fanatischeFreigeisterei, verbunden mit dem Eindruck,
dass die Jugend vom Staate mitVorbedacht belogen wird«.
Dieser Glaubensverlust war »einniederschmetternder Eindruck«: »Das
Misstrauen gegen jede Art vonAutorität erwuchs aus diesem Erlebnis,
eine skeptische Einstellung gegendie Überzeugungen, welche in der jeweiligen
sozialen Umwelt lebendig waren -eine Einstellung, die mich
nie wieder verlassen hat « Eineunmittelbare Folge dieser Offenbarung
erlebte er dann auf dem angesehenenMünchner Luitpold-Gymnasium,
wo er sich buchstäblich mit jedemLehrer bekriegte. Noch Jahrzehnte
später erzählte er, dass sich dieser»Moloch« an Überheblichkeit und
Dummheit - im schulischen Auftragund als verlängerter Arm des Staates
- mit jeder nur denkbarenpsychischen Gewalt auf die Unabhängigkeit
seines Geistes und auf seinen freienWillen gestürzt habe.
Fast möchte man noch nachträglichMitleid mit seinen Lehrern ha-
ben. Maja zufolge verlor ein Lehrereines Tages schließlich die Geduld
und warf Einstein an den Kopf, dassnie etwas Rechtes aus ihm werden
würde. Als Einstein daraufhin zudiskutieren begann, weil er sich keines
Unrechts bewusst war, erwiderte derLehrer: »Schon allein deine Anwesenheit
verdirbt den Respekt der Klasse vormir!« Einstein hasste es, so
behandelt zu werden. Allein schonder normale Unterrichtsstil, schrieb
Maja, sei ihm ein Gräuel gewesen,aber den militärischen Ton, die systematische
Erziehung zur Obrigkeitshörigkeit,mit der die Schüler bereits
in jungen Jahren an Disziplingewöhnt werden sollten, habe er als besonders
unangenehm empfunden.
Die Krise kam 1894, als EinsteinsEltern mitsamt Schwester und
seinem Onkel von München nachMailand und kurze Zeit später nach
Pavia in Oberitalien übersiedelten,wo Hermann Einstein und sein Bruder
eine neue Firma gründen wollten.Albert blieb bei entfernten Verwandten
in München zurück, um noch die dreiJahre Gymnasium bis
zum Abitur abzuschließen. Wiedereinmal geriet er mit einem Lehrer in
Konflikt, aber diesmal nahm er eszum Vorwand, um einen mit der Familie
befreundeten Arzt zu überzeugen, ihmeine unspezifische »neurasthenische
Erschöpfung« zu bescheinigen, die eserforderlich machte, den
Schulbesuch auszusetzen. Er bestiegeinen Zug, fuhr nach Italien, stand
ohne jede Vorwarnung vor seinenperplexen Eltern und teilte ihnen mit,
dass er die deutscheStaatsbürgerschaft ablegen wollte. Ein Leben als
Staatenloser erschien ihm in jedemFall der Untertanenpflicht gegenüber
einem Deutschen Reich vorzuziehen,für das er schon damals nur Verachtung
empfand.
Natürlich war das nicht die ganzeGeschichte. Einstein hatte durchaus
auch praktische Gründe für seineFlucht. Wäre er über seinen sechzehnten
Geburtstag hinaus in Münchengeblieben, hätte er die allgemeine
Wehrpflicht kaum umgehen können. Undwer seiner Einberufung in die
Reichswehr nicht Folge leistete,galt vor dem Gesetz als Deserteur. Wie
schrieb doch der Historiker FritzStern? »Wer könnte sich auch schon Einstein
als Rekruten in feldgrauer Uniformvorstellen?« Außerdem hätte
bestimmt auch der arme LeutnantMitleid verdient, der den jungen Einstein
in etwas Soldatisches hätteverwandeln müssen! Doch tatsächlich
ging es hier bereits um mehr als nurden schlichten Wunsch, den Militärdienst
zu umgehen. Denn als Einstein 1901die Schweizer Staatsbürgerschaft
annahm (nachdem ein Detektiv demZüricher Stadtrat bestätigt
hatte, dass er »ein sehr eifriger,fleißiger und äußerst solider Mann« sei),
tat er dies trotz seines Wissens,dass die Rechte dieser Staatsbürgerschaft
mit der Pflicht einhergingen,Wehrdienst in der Schweizer Armee zu leisten.
Wie gefordert stellte er sich am 13.März 1901 zur Musterung ein.
Doch der Arzt attestierte ihm»Krampfadern, Plattfüße und Fußschweiß«
und erklärte ihn für wehruntauglich.Nichts lässt darauf schließen, dass
sich Einstein diese Abfuhr sehr zuHerzen genommen hätte, aber es macht
deutlich, dass er zu diesemZeitpunkt seines Lebens noch nicht alle Uniformen
hasste - nur eben die des deutschenKaisers.
Bevor Einstein München den Rückenkehrte, hatte er noch ein paar
Vorsichtsmaßnahmen getroffen: Mitdem ärztlichen Attest für die Befreiung
vom Unterricht zur Hand, holte ersich ein offizielles Entlassungsschreiben
vom Direktor seines Gymnasiums, umdem Stigma des
schulischen Versagers zuvorzukommen.Kaum im neuen italienischen
Heim seiner Eltern eingetroffen,versprach er dann, sich autodidaktisch
auf die Aufnahmeprüfung des ZüricherPolytechnikums vorzubereiten,
eine der führenden TechnischenHochschulen im deutschsprachigen
Raum, die jedoch glücklicherweisevon den Kandidaten keinen Nachweis
eines bestandenen Abiturs verlangte.Die Eltern waren von Alberts
anmaßendem Verhalten bestürzt undunternahmen offenbar alles, um
ihn wieder zur Vernunft zu bringen.Doch er erklärte resolut, dass er
unter gar keinen Umständen nachMünchen zurückkehren würde.
Gezwungenermaßen fügten sich Pauline und Hermann trotz großer Zweifel
in die neue Situation.
Einstein stand zu seinem Wort. LautMajas Bericht begann er sich systematisch
durch die notwendigen Lehrbücher zuarbeiten. »Seine Arbeitsweise
war ganz sonderbar: selbst ingrößerer Gesellschaft, wenn es
ziemlich laut herging, konnte ersich auf das Sofa zurückziehen, Papier
und Feder zur Hand nehmen, dasTintenfass in bedenklicher Weise auf
die Lehne stellen und sich in einProblem so sehr vertiefen, dass ihn das
vielstimmige Gespräch eher anregteals störte.« Aber nicht dass er das
Ganze als ein Spiel empfunden hätte,im Gegenteil, er unterwarf sich
dem selbst aufgestellten Lehrplanfast ebenso hingebungsvoll wie einst
der Thora. Die religiöse Metapherstammt von ihm selbst, denn er selbst
führte die Entdeckung seinerBerufung auf ein Geschenk zurück, das er
im Alter von zwölf Jahren erhaltenhatte - das »heilige Geometriebüchlein«.
Es war ihm eine Offenbarung: »Da waren Aussagen«, schilderte er
später, »wie z. B. das Sichschneiden der drei Höhen eines Dreiecks an
einem Punkt, die - obwohl an sichkeineswegs evident - doch mit solcher
Sicherheit bewiesen werden konnten,dass ein Zweifel ausgeschlossen zu
sein schien. Diese Klarheit undSicherheit machte einen unbeschreiblichen
Eindruck auf mich.«
Bei diesem heiligen »Büchlein«handelte es sich um das Lehrbuch der
ebenen Geometrie von Theodor Spieker. DerMedizinstudent Max Talmud,
der bei der Familie Einstein einenFreitisch hatte und Albert mit
natur- und geisteswissenschaftlicherLektüre zu versorgen pflegte, hatte
es ihm geschenkt. Immer schwierigerwurden die Texte, mit denen Talmud
den geistigen Hunger des Jungenstillte, bis der Lehrer schließlich
nicht mehr mit dem eigenen SchülerSchritt halten konnte.
© Verlagsgruppe Random House
Übersetzung:Yvonne Badal
Kapitel 1 "Misstrauen gegen jede Art von Autorität"
Kapitel 2 "Einfachheit und Folgerichtigkeit"
Kapitel 3 "Beim Erleben dieser 'großen Zeit'"
Kapitel 4 "Diese traurigen Jahre der nationalen Verblendung"
Kapitel 5 "Überflüssige Gelehrsamkeit"
Kapitel 6 "Der wertvollste Fund, den ich in meinem Leben gemacht habe"
Kapitel 7 "Der alte Jehova lebt noch"
Kapitel 8 "Dieses lose Gewimmel"
Kapitel 9 "Sklaverei in einem kulturellen Gewand"
Kapitel 10 "Eine Verneinung des Aberglaubens"
Kapitel 11 "Ich halte es lieber mit meinem Landsmann Jesus Christus"
Kapitel 12 "So eine Art Obersozi"
Kapitel 13 "Der Gefühlszustand ist dem des Verliebten ähnlich"
Kapitel 14 "St. Francis" oder der heilige Einstein
Kapitel 15 "Jude von freiheitlicher internationaler Gesinnung"
Kapitel 16 "Das mit der Kausalität"
Kapitel 17 "Einstein ist Reichsdeutscher"
Kapitel 18 "Wir tun Dinge, aber wir wissen nicht, warum"
Kapitel 19 "Jedenfalls bin ich überzeugt"
Kapitel 20 "Unser notwendig primitives Denken"
Kapitel 21 "Auf die aussen die Wölfe lauern"
Kapitel 22 "Wer ist Mary Pickford?"
Kapitel 23 "Zugvogel für den Lebensrest"
Kapitel 24 "Solange mir eine Möglichkeit offen steht"
Für Henry und Katha
In Erinnerung an Rosemary Montefiore Levenson 1927-1997
- Autor: Thomas Levenson
- 2005, 542 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 15,5 x 23,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übertr. aus d. amerikan. Engl. v. Yvonne Badal
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570122891
- ISBN-13: 9783570122891
"Eine kraftvolle Darstellung der politischen und kulturellen Umwälzungen, die Deutschland und die Welt in den Nachkriegsjahren erschütterten ..., gespiegelt im Werdegang einer Schlüsselfigur." (Kirkus Reviews)
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