Aller Heiligen Fluch
Kriminalroman
Die forensische Archäologin Ruth Galloway findet kurz vor einer Ausstellungseröffnung im Museum eine Leiche, die dort nicht hingehört: Es ist der Museumskurator! Schon steckt sie mitten in den Ermittlungen um diesen unnatürlichen...
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Taschenbuch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Aller Heiligen Fluch “
Die forensische Archäologin Ruth Galloway findet kurz vor einer Ausstellungseröffnung im Museum eine Leiche, die dort nicht hingehört: Es ist der Museumskurator! Schon steckt sie mitten in den Ermittlungen um diesen unnatürlichen Todesfall. Und dort trifft sie ausgerechnet auf DCI Harry Nelson.
Klappentext zu „Aller Heiligen Fluch “
Ruth Galloway, forensische Archäologin und alleinerziehende Mutter, will nur bei der feierlichen Öffnung des Sarges des legendären Bischofs Augustin im Museum von King's Lynn dabei sein. Doch als sie ein wenig vor der Zeit den Ausstellungsraum betritt, findet sie neben dem Sarg eine Leiche: den Museumskurator. Wurde er ermordet? Schon steckt Ruth, die eigentlich die Geburtstagsparty für ihre kleine Tochter organisieren muss, mitten in den Ermittlungen. Da ist es wirklich keine Hilfe, dass auch ihre große Liebe DCI Harry Nelson auf den Fall angesetzt ist, den sie nach dem Willen seiner Frau eigentlich gar nicht mehr treffen darf. Bald verstricken sich die beiden in einem undurchdringlichen Geflecht aus Intrigen, Seilschaften und Legenden. Und Ruth muss sich einmal mehr für oder gegen Harry entscheiden - nur dass diesmal ihr Überleben davon abhängt ...
Ruth Galloway, forensische Archäologin und alleinerziehende Mutter, will nur bei der feierlichen Öffnung des Sarges des legendären Bischofs Augustin im Museum von King's Lynn dabei sein. Doch als sie ein wenig vor der Zeit den Ausstellungsraum betritt, findet sie neben dem Sarg eine Leiche: den Museumskurator. Wurde er ermordet? Schon steckt Ruth, die eigentlich die Geburtstagsparty für ihre kleine Tochter organisieren muss, mitten in den Ermittlungen. Da ist es wirklich keine Hilfe, dass auch ihre große Liebe DCI Harry Nelson auf den Fall angesetzt ist, den sie nach dem Willen seiner Frau eigentlich gar nicht mehr treffen darf. Bald verstricken sich die beiden in einem undurchdringlichen Geflecht aus Intrigen, Seilschaften und Legenden. Und Ruth muss sich einmal mehr für oder gegen Harry entscheiden - nur, dass diesmal ihr Überleben davon abhängt...
Lese-Probe zu „Aller Heiligen Fluch “
Aller Heiligen Fluch von Elly Griffiths Prolog
31. Oktober 2009
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Der Sarg verstößt gegen jede Gesundheits- und Sicherheitsvorschrift. Er nimmt die ganze Eingangshalle ein und versperrt die Sicht auf den ausgestopften Alk, die Karte von King's Lynn aus dem 19. Jahrhundert sowie das recht verschmutzte Ölgemälde, das Lord Percival Smith zeigt, den Gründer des Museums. Die hölzernen Seitenwände des Sargs sind aufgequollen und faulig und wirken, als wollten sie jeden Moment bersten und ihren Inhalt auf schauerlichste Weise hervorspeien. Jeder Besucher hätte sich an dem Ding mit Sicherheit gestört, wenn nicht sogar ernsthaft davor geekelt. Doch wie an den meisten Tagen sind auch heute keine Besucher im Smith-Museum. Neil Topham, der Museumsdirektor, steht ganz allein am hinteren Ende des Eingangsbereichs und mustert ein wenig hilflos die unheilschwangere Kiste, die da vor ihm steht. Die beiden Polizisten, die sie bis hierher geschleppt haben, machen nicht den Eindruck, als wollten sie sie noch viel weiter schleppen. Schwitzend und entnervt stehen sie in ihrer Schutzkleidung unter dem verstaubten Kronleuchter, einer Schenkung von Lady Caroline Smith (1884 - 1960).
«Hier können Sie den aber nicht lassen», sagt Neil.
«Es hat geheißen, wir sollen ihn ins Smith-Museum bringen», gibt der Jüngere der beiden, Police Constable Roy «Rocky» Taylor, zurück.
«Aber Sie können ihn doch nicht hier in der Eingangshalle stehen lassen!», protestiert Neil. «Er muss in den Saal für Lokalgeschichte.»
«Ist das oben?», fragt der Ältere, Sergeant Tom Henty.
«Nein.»
«Gut, oben ist nämlich bei uns nicht drin. Verbietet uns die Gewerkschaft.» Neil weiß nicht genau, ob das ein Witz sein soll. Sind Polizisten überhaupt in einer Gewerkschaft? Trotzdem tritt er beiseite, während die beiden Männer ihre Last erneut schultern und sie, unter den Blicken zahlloser Glasaugen, durch die naturgeschichtliche Abteilung in einen kleineren Saal tragen, den ein Wandgemälde von Norfolk im Wandel der Jahrhunderte ziert. Mitten im Raum wartet ein aufgebockter Tisch, und die Polizisten stellen den Sarg darauf ab.
«Er gehört Ihnen», sagt Taylor schwer atmend.
«Aber machen Sie ihn bloß nicht auf», warnt Henty, «solange die Obermuftis noch nicht da sind.»
«Natürlich nicht», sagt Neil, obwohl er die Holzkiste, deren rissiger Deckel winzige Einblicke in das darin verborgene Grauen gewährt, fasziniert, fast schon gierig betrachtet.
«Superintendent Whitcliffe ist schon auf dem Weg.»
«Kommt der Boss auch?», fragt Taylor. Whitcliffe mag zwar der Polizeichef von Norfolk sein, doch für Taylor und seine direkten Kollegen ist der «Boss» auf immer und ewig Detective Inspector Harry Nelson.
«Nee», meint Henty. «So was ist nicht sein Ding. Reporter und das ganze Gesumse. Du weißt doch, der Boss kann Presse nicht ausstehen.»
«Es kommt auch jemand von der Universität», wirft Neil ein, «Doktor Ruth Galloway, die Leiterin des Fachbereichs Forensische Archäologie. Sie soll die Sargöffnung überwachen.»
«Die kenn ich», sagt Henty. «Die versteht ihr Geschäft.»
«Das ist alles sehr aufregend», sagt Neil und misst den Sarg verstohlen mit einem weiteren begehrlichen Blick.
«Wenn Sie's sagen», meint Henty. «Auf geht's, Rocky. Zurück an die Arbeit. Kein Frieden für die Gottlosen.»
1
Doktor Ruth Galloway, die Leiterin des Fachbereichs Forensische Archäologie an der University of North Norfolk, verschwendet gerade keinen Gedanken an Särge oder Reporter oder auch nur an die Frage, ob sie im Smith-Museum auf DCI Harry Nelson treffen könnte. Stattdessen rast sie in King's Lynn durch den örtlichen Supermarkt und überlegt, ob Schokokekse sie als schlechte Mutter dastehen lassen könnten und wie viel Wein vier Mütter nebst allfälligen Lebenspartnern wohl trinken. Ruths Tochter wird morgen ein Jahr alt, und Ruth hat sich, ganz gegen ihre eigene Überzeugung, überreden lassen, eine Geburtstagsparty für sie zu geben. «Sie wird sich doch gar nicht daran erinnern», hat Ruth ihrer besten Freundin Shona gegenüber gejammert, die im fünften Monat schwanger ist und der das künftige Mutterglück aus jeder Pore strahlt. «Aber du», erwiderte Shona. «Außerdem ist es doch ein schöner Anlass. Kates erster Geburtstag. Es gibt Kuchen, sie kann ihre Geschenke auspacken und mit ihren kleinen Freunden spielen.»
«Kate spielt aber nicht mit ihren Freunden», gab Ruth zurück. «Meistens haut sie ihnen nur Bauklötze auf den Kopf.» Trotzdem hat sie sich schließlich überzeugen lassen. Und etwas in ihr glaubt tatsächlich, dass es ein schöner Anlass werden könnte, eine seltene Gelegenheit, sich einfach zurückzulehnen, Kate zuzuschauen, wie sie Geschenkpapier zerreißt und sich mit ungesunden Zusatzstoffen vollstopft, und dabei zu denken: Eigentlich habe ich das mit dem Muttersein doch gar nicht so schlecht hingekriegt.
Während sie an den Getränkeregalen vorbeirennt, fällt Ruth zum ersten Mal auf, dass der ganze Supermarkt den Mächten der Finsternis anheimgefallen ist. Hexenbesen und -kessel machen Plastikkürbissen und Vampirgebissen, die im Dunkeln leuchten, den Regalplatz streitig. Von der Decke hängen Fledermäuse, und als Ruth um die letzte Ecke biegt, findet sie sich plötzlich Auge in Auge mit einer lebensgroßen Gestalt mit Hexenumhang, Hexenhut und einer Maske, die (recht überzeugend, das muss man ihr lassen) auf Edvard Munchs Schrei basiert. Ruth unterdrückt ihrerseits einen Schrei. Natürlich, es ist ja Halloween. Kate hat es um Haaresbreite vermieden, am 31. Oktober zur Welt zu kommen, was, nachdem sie bereits einen heidnischen Patenonkel hat, auch wirklich ein Omen zu viel gewesen wäre. Stattdessen ist Ruths Tochter am 1. November geboren, an Allerheiligen, wie der katholische Priester sagen würde, den Ruth zu ihrem eigenen anhaltenden Erstaunen gewissermaßen als Freund betrachtet. Sie selbst glaubt weder an Gott noch an den Teufel, aber es kann sicher nicht schaden, überlegt sie sich, während sie ihre Einkäufe auf das Kassenband türmt, den einen oder anderen Heiligen auf seiner Seite zu haben. Komisch, dass der Tag der Heiligen direkt auf den Tag der Toten folgt. Oder vielleicht auch nicht. Im Grunde sind Heilige ja nichts anderes als Tote. Und Ruth weiß selbst nur zu gut, wie schmal der Grat zwischen Heiligen und Frevlern oft sein kann.
Sie lädt die Einkäufe in ihr treues, klappriges Auto. Zwei Uhr. Um drei muss sie im Museum sein, es bleibt also keine Zeit, vorher noch heimzufahren. Hoffentlich schmelzen die Schokokekse nicht im Kofferraum. Aber es ist ja nicht heiß heute, wenn auch sehr mild für Oktober. Ruth trägt eine schwarze Hose und einen schwarzen Blazer. Dazu schlingt sie sich noch einen langen grünen Schal um den Hals und vertraut auf ihr Schicksal. Natürlich werden im Museum auch Fotografen sein, aber wenn sie Glück hat, kann sie sich vielleicht hinter Superintendent Whitcliffe verstecken. Unter normalen Umständen hätte sie gar keine Chance gehabt, zu einer solchen Veranstaltung zu gehen. Phil, ihr Chef, liebt das Rampenlicht und ist jedes Mal ganz vorne mit dabei, wenn sich irgendwo die Presse ankündigt. Vor zwei Jahren, als die Sendung Time Team von einer römischen Ausgrabungsstätte in der Nähe berichtete, hat Phil sich vor jede Kamera gedrängelt, während Ruth im Graben hocken blieb. «Das war unfair », kommentierte Shona, die zwar mit Phil liiert, sich aber seiner Fehler durchaus bewusst ist. «Schließlich warst du doch die Expertin, nicht er.» Aber Ruth hat es nicht weiter gestört. Sie steht nicht gern im Mittelpunkt; sie forscht lieber, hält sich im Hintergrund und sichtet sorgfältig die Beweise. Außerdem sieht man vor der Kamera angeblich drei Kilo schwerer aus, und darauf kann Ruth mit ihren fast 82 Kilo nun wirklich verzichten.
Doch jetzt ist Phil bei einer Konferenz, und deshalb muss Ruth der feierlichen Sargöffnung beiwohnen. Sonst würde sie so etwas meiden wie der Teufel das Weihwasser. Sie mag keine öffentlichen Auftritte und hat ein ausgesprochen ungutes Gefühl dabei, zur besten Sendezeit live im Fernsehen (nun ja, im Regionalfernsehen) einen Sarg zu öffnen. Wie hat Erik immer gesagt? «Hüte dich davor, die Ruhe der Toten zu stören.» Erik Anderssen, Erik der Wikinger, Ruths Doktorvater an der Universität und noch Jahre später ihr Mentor und großes Vorbild. Inzwischen sind ihre Gefühle für Erik deutlich ambivalenter, doch das hindert sie nicht daran, in erschreckend regelmäßigen Abständen seine Stimme im Ohr zu haben. Für Archäologen gehört es natürlich zum Berufsrisiko, die Ruhe der Toten zu stören, aber Ruth legt großen Wert darauf, Knochen immer mit Respekt zu behandeln, ganz gleich, wie lange sie schon tot sind. Einen albtraumhaften Sommer lang hat sie Kriegsgräber in Bosnien untersucht, Stätten, an denen die häufig nur wenige Monate zuvor getöteten Leichen einfach in Gruben geworfen worden waren, um in der Sonne zu verwesen. Sie hat die Leiche eines kleinen Mädchens ausgegraben, das vor mehr als zweitausend Jahren, in der Eisenzeit, gestorben war und um dessen gut erhaltenes Handgelenk noch ein aus Gras geflochtenes Armband lag. Sie hat römische Leichen unter Hausmauern entdeckt, Opfergaben an Janus, den zweigesichtigen Gott, und sie hat die Skelette von Soldaten freigelegt, deren Ermordung erst siebzig Jahre zurücklag. Aber nie hat sie sich gestattet zu vergessen, dass sie es mit Menschen zu tun hatte, die einmal gelebt haben, einmal geliebt wurden. Ruth glaubt nicht an ein Jenseits, und umso wichtiger ist es ihrer Ansicht nach, menschlichen Überresten im Diesseits Respekt entgegenzubringen. Sie sind schließlich alles, was bleibt.
Der Holzsarg, in dem man den Bischof Augustine Smith vermutet, kam bei den Bauarbeiten für einen neuen Supermarkt in King's Lynn zum Vorschein. Auf dem Grundstück, einem seit Jahren vernachlässigten Industriegelände, hatte früher einmal eine Kirche gestanden. Das Gotteshaus, das den recht romantischen Namen St. Mary Outside the Walls trug, war im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden, und in den Fünfzigern hatte man es ganz abgerissen, um Platz für eine Fischkonservenfabrik zu schaffen. Auch die Fabrik verfiel schließlich, und nun wird dort ein nagelneuer Supermarkt gebaut. Da es sich aber um ein historisches Grundstück handelt, mussten die Bauarbeiter zunächst die Feldarchäologen hinzuziehen, und die haben erwartungsgemäß die Grundmauern einer mittelalterlichen Kirche entdeckt. Durchaus nicht erwartungsgemäß war allerdings der weitere Fund unter dem einstigen Hochaltar: ein Sarg, der aller Vermutung nach die sterblichen Überreste besagten Bischofs aus dem 14. Jahrhundert enthält.
Die Entdeckung war gleich aus mehreren Gründen spektakulär: Die Kirche ist im Domesday Book verzeichnet, und Bischof Augustine spielt seinerseits eine große Rolle in einer Chronik aus dem 14. Jahrhundert, die in der Kathedrale von Norwich aufbewahrt wird. Eigentlich war man immer davon ausgegangen, Augustine, einer der ersten Bischöfe überhaupt, liege dort in der Kathedrale beerdigt. Was hatte er also unter einer relativ unbedeutenden Gemeindekirche in King's Lynn verloren? Doch sowohl die Inschrift auf dem Sarg als auch die Datierung des Holzes weisen eindeutig auf Augustine hin. Der nächste Schritt wäre eine Radiokarbondatierung der Knochen, und irgendwann wurde beschlossen, den Sargdeckel öffentlich zu lüften - vor den Augen der versammelten Lokalprominenz, darunter auch einiger Mitglieder der Familie Smith.
Und das ist der andere Grund. Die Familie Smith ist immer noch wohlauf und bester Dinge und in Norfolk ansässig. Im Lauf der Jahrhunderte hat sie katholische Märtyrer und protestantische Verräter hervorgebracht, sie wurde von Elisabeth I. geadelt und unternahm den glücklosen Versuch, King's Lynn im Bürgerkrieg für die Königstreuen zu halten. Lord Danforth Smith, der derzeitige Träger des Titels, trainiert Rennpferde und ist, wenn auch nicht ganz freiwillig, eine örtliche Berühmtheit. Sein Sohn Randolph, der sich nie ohne eine amerikanische Schauspielerin oder einen russischen Tennisstar im Arm sehen lässt, geht deutlich entspannter mit der öffentlichen Aufmerksamkeit um und macht regelmäßig die Klatschspalten unsicher. Die Smiths früherer Zeiten waren da schon von ernsthafterer Gesinnung, überall in Norfolk finden sich sichtbare Zeichen ihrer Nächstenliebe. Neben dem Museum gibt es einen Smith-Flügel im Krankenhaus sowie die Sammlung Smith oben auf der Burg. An Ruths Universität gibt es sogar eine Smith-Professur für Lokalgeschichte, deren Träger allerdings seit Jahren nicht mehr gesichtet wurde. Ruth hat den Verdacht, dass er längst verstorben ist.
Sie stellt ihre Rostlaube vor dem Museum ab. Der Parkplatz neben dem Gebäude ist völlig leer. Ruth ist früh dran; es ist erst Viertel nach zwei, doch die Zeit reicht trotzdem nicht, um nach Hause und wieder zurück zu fahren. Da kann sie auch ins Museum gehen und sich dort noch ein bisschen umschauen. Ruth liebt Museen - zum Glück, denn als Archäologin verbringt sie mehr als genug Zeit damit, in verstaubte Glasvitrinen zu schauen. Sie weiß noch, wie sie als Kind das Horniman-Museum in Forest Hill besucht hat. Das war ein magischer Ort voller Masken und ausgestopfter Vögel. Wenn sie es recht bedenkt, war das Horniman-Museum wahrscheinlich sogar der Ort, der ihr Interesse für die Archäologie geweckt hat: Es gab dort nämlich eine Sammlung von Werkzeugen aus Feuerstein, darunter auch einige aus Grimes Graves in Norfolk. Sie erinnert sich, wie erschüttert sie war, als ihr klarwurde, dass diese merkwürdig geformten Steinstücke tatsächlich einmal von jemandem verwendet worden waren, einem Menschen, der vor mehreren tausend Jahren gelebt hat. Der Gedanke, dass man tatsächlich hingehen und etwas ausgraben konnte, was so alt war, dass dieses rätselhafte Geschöpf namens Steinzeitmensch es hergestellt und zurechtgeklopft hatte - dieser Gedanke verursacht ihr bis heute Gänsehaut und hat ihr über zahllose langwierige und erfolglose Ausgrabungen hinweggeholfen. Da ist immer die Hoffnung, unter dem nächsten Erdklumpen könnte es sich finden, das Objekt - verwittert und nur für die Augen der Expertin erkennbar - , das das Denken der Menschheit auf immer verändern wird. Ruth kann selbst ein paar glückliche Funde für sich verzeichnen. Und doch ist da immer die verlockende Vorstellung von der einen, der ganz großen Entdeckung, von der Tafel neben der Glasvitrine: «Entdeckt von Doktor Ruth Galloway», von den Artikeln, den Büchern ... Sie steht vor dem Museum.
Das Horniman-Museum ist klein und doch auf seine Weise eindrucksvoll, mit einem Uhrenturm vor und einem gläsernen Treibhaus hinter dem Gebäude. Das Smith- Museum jedoch ist ganz anders, ein niedriger Backsteinbau, eingezwängt zwischen zwei Bürohäusern. Das vorstehende mattrote Giebeldach sieht aus, als hätte sich das Haus einen Hut tief in die Stirn gezogen. Ein paar Stufen führen zu einer rot gestrichenen Tür hinauf, an der ein vielversprechendes Schild den Besucher «Willkommen!» heißt. Ruth öffnet die Tür und findet sich in einer kleinen Eingangshalle wieder, die von einem ausgestopften Vogel im Käfig und dem Porträt eines sichtlich missgelaunten Herrn mit Perücke dominiert wird. An einer Pinnwand hängen ein paar vergilbte Prospekte, und auf einem Tisch liegt ein Stapel Kopien nebst dem vielleicht etwas optimistischen Hinweis «Für Schulklassen». Doch nichts weist darauf hin, dass hier demnächst ein Medienereignis stattfinden soll. Keine Häppchen, kein Wein (dabei erinnert sich Ruth genau, dass von «Bewirtung» die Rede war), keine Pressemappen, noch nicht einmal ein Plakat, das die große Eröffnung des Bischofssargs ankündigt. Der halbvergilbte Kronleuchter an der Decke klirrt noch leise im Luftzug, den Ruth mit sich hereingebracht hat. Sonst ist es völlig still.
Ruth tritt durch die Schwingtür und steht in einem langgezogenen Saal, der zu beiden Seiten bis an die Decke mit Glasvitrinen bestückt ist. Fenster gibt es nicht, und die einzige Beleuchtung kommt von den Vitrinen, die in einem schaurigen Phosphorlicht erstrahlen. Ruth bleibt vor einem Schaukasten stehen. «Uhu», erklärt das Hinweisschild, und drinnen sitzt ein großer ausgestopfter Vogel, der Ruth vorwurfsvoll mustert. Rasch geht sie weiter, wird aber das Gefühl nicht los, dass der Blick des Uhus ihr weiterhin folgt. Die nächste Vitrine, «Mantelmöwen», zeigt einen Möwenschwarm, der gerade über ein Lamm herfällt. Die Schnäbel der Vögel sind mit künstlichem Blut beschmiert, und das Lamm blickt mit resigniert-zynischer Miene zu ihnen empor. Ein paar Meter weiter steht man plötzlich mitten im Wald: Verstaubte Füchse spähen in braun ausgemalte Erdlöcher, Eichhörnchen sind an Baumstämmen befestigt, Dachse mustern mit glasigem Blick mottenstichige Kaninchen, und an einem Pappfelsen lehnt ein dreibeiniges Reh. Unwillkürlich geht Ruth immer schneller. Fell und Federn fließen ineinander, ihre Schritte hallen auf den Bodenfliesen.
Sie geht quer durch den Saal, um in die Vitrinen auf der anderen Seite zu schauen. Hier weicht die Taxidermie dem Halloween-Feeling. Die Tiere auf dieser Seite sind nur Skelette, ihre zarten Knochen hängen wie Mobiles vor blau gestrichenen Wänden, die den Himmel darstellen, weiße Wölkchen und V-förmige Vogelschwärme inbegriffen. Die Große Otterspitzmaus, die Zwergspitzmaus, der Riesengoldmull, der Westeuropäische Igel. Sie sehen alle gleich und ziemlich traurig aus, wie sie da neben ihren kleinen getippten Namensschildern hängen. Die größte Vitrine beherbergt ein Skelett, das sich im Vergleich zu den anderen gewaltig ausnimmt. Ruth ist erstaunt, dass es sich dem Schild zufolge nur um ein Hauspferd handelt. Der längliche Schädel mit seinen großen Zähnen grinst sie aus dem Dämmerlicht an. Ruth, die eine Schwäche für Pferde hat, lächelt mitfühlend zurück und eilt weiter.
Am Ende der Galerie hat sie statt Fliesen plötzlich Teppich unter den Füßen und stellt überrascht fest, dass sie sich in einem rot tapezierten viktorianischen Schreibzimmer befindet. Über einem aufgemalten Kamin hängt ein Hirschkopf, und am Schreibtisch sitzt ein Mann, der mit missbilligend gerunzelter Stirn seine Feder ins Tintenfass taucht.
«Oh, Verzeihung ...», sagt Ruth und merkt erst dann, dass die Augen des Mannes verstaubt sind und ihm ein Arm fehlt. Ein Absperrseil trennt sie von der Puppe an ihrem Schreibtisch, doch Ruth beugt sich darüber, um die Hinweistafel zu lesen:
Lord Percival Smith, 1830 - 1902, Abenteurer und Tierpräparator. Die meisten Exponate des Museums wurden von Lord Smith im Lauf seines ereignisreichen Lebens selbst erworben. Seine Liebe zur Welt der Natur offenbart sich in seiner großartigen Sammlung von Tieren und Vögeln, die er größtenteils eigenhändig geschossen und ausgestopft hat.
Eigenartige Methode, seine Liebe zur Welt der Natur zu zeigen, indem man auf sie schießt. Ruth registriert die beiden Gewehre, die über der Wachsfigur von Lord Smith an der Wand hängen. Lebendig oder tot, mit dem ist nicht zu spaßen.
Zwei Wege führen aus Lord Smiths Studierzimmer heraus. Über dem einen steht «Sammlung Neue Welt», über dem anderen «Lokalgeschichte». Ruth zögert, fühlt sich ein bisschen wie Alice im Wunderland. Ein leises Geräusch, wie ein Flüstern oder Flattern, lockt sie schließich zur Lokalgeschichte. Eine tröstliche Sammlung von Kunstgegenständen aus Norfolk, genau das braucht sie jetzt. Sie kann nur hoffen, dass dort keine Wachsfiguren und ausgestopften Tiere mehr warten.
Der Wunsch wird ihr erfüllt. Der Saal für Lokalgeschichte ist weitgehend leer, bis auf einen Sarg auf einem aufgebockten Tisch. Neben dem Sarg, auf dem Boden, liegt ein Mann. Durchs offene Fenster weht ein Luftzug herein und blättert in den Seiten eines Museumsführers, der ebenfalls auf dem Boden liegt. Es klingt wie das Flügelschlagen eines eingesperrten Vogels.
2
Der Mann liegt mit angezogenen Beinen auf der Seite, in einer Art Embryohaltung. Ruth fasst nach seiner Hand: noch warm. Ist ein Puls zu spüren? Sie kann keinen finden, doch ihre eigene Hand ist mit einem Mal schweißnass, und sie weiß nicht mehr genau, wo sie eigentlich suchen soll. Warum hat sie diesen Erste-Hilfe-Kurs bloß nie belegt? Sie merkt, dass sie die Luft anhält, und zwingt sich weiterzuatmen, ein und aus, durch Mund und Nase. Wenn sie jetzt umkippt, ist auch niemandem geholfen. Vorsichtig dreht sie den Mann um und ist gleich doppelt geschockt, so sehr, dass sie fast wieder zu atmen aufhört.
Das Gesicht ist voller Blut, und es ist ein Gesicht, das sie kennt.
Neil Topham, der Museumsdirektor, der einmal bei einem ihrer Vorträge zur Konservierung von Knochen war. Der höfliche, bescheidene Neil, der sie hin und wieder wegen eines Exponats um Rat gefragt hat. Und der jetzt hier, mitten in seinem Museum, auf dem Boden liegt, Nase und Mund blutverschmiert.
Mit zitternden Händen tastet Ruth nach ihrem Handy. Großer Gott, wenn sie es bloß nicht im Wagen gelassen hat! Nein, da ist es. Sie wählt die Notrufnummer und bestellt einen Krankenwagen. Als sie nach der Anschrift gefragt wird, ist ihr Kopf plötzlich völlig leer, und sie kann nur noch quäken: «Smith-Museum. Bitte kommen Sie schnell!» Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt gelassen und ruhig, fast schon ein wenig gelangweilt. «Ein Wagen ist unterwegs.» Ruth beugt sich näher an Neils Mund heran. Sie hört und fühlt keinen Atem. Doch als sie ihm eine Hand auf die Brust legt, spürt sie einen Herzschlag, schwach und unregelmäßig zwar, aber doch unverkennbar. Halt durch, Neil, ermahnt sie ihn stumm. Ob sie ihn vielleicht anders hinlegen soll? Aber in den Büchern steht doch immer, das solle man gerade nicht tun. Verzweifelt sieht sie sich um. Über ihnen ragt dunkel und dräuend der Bischofssarg auf. Sonst ist nichts im Raum, bis auf einen kleinen Schaukasten in einer Ecke und einen einzelnen Männerschuh, direkt neben dem Fenster.
Was ist bloß mit Neil passiert? Hatte er etwa einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall? Aber er ist doch noch jung! Junge Männer fallen nicht so einfach tot um. Erst jetzt kommt Ruth auf den Gedanken, dass Neils Unfall womöglich keiner natürlichen Ursache geschuldet ist. Wieder sieht sie sich um. Die Seiten des Museumsführers flattern immer noch hin und her. Durch das offene Fenster hört sie den Straßenverkehr, die gedämpften Rufe von Kindern im Park. Wieso steht das Fenster überhaupt offen?
Wieder greift Ruth nach dem Handy und wählt mit immer noch zitternden Händen die Nummer der Polizei.
«Es ist im Smith-Museum, Boss.»
«Was?»
DCI Nelson sitzt am Steuer, und sein Mitarbeiter, Detective Sergeant Clough, telefoniert. Das entspricht nicht ganz der üblichen Rollenverteilung: Normalerweise fährt der rangniedrigere Beamte. Aber Nelson hält es auf dem Beifahrersitz nicht aus. Bei dieser unerwarteten Nachricht dreht er sich zu Clough um, und der Wagen schlingert von der Fahrbahn und verfehlt nur um Haaresbreite ein Motorrad und einen Rollstuhl. Clough nimmt sich vor, sich beim nächsten Mal selbst ans Steuer zu setzen. Die Fahrkünste seines Chefs bzw. ihr Nichtvorhandensein sind längst legendär.
«Die Leiche. Die ist im Smith-Museum.»
Nelson und Clough waren gerade auf dem Rückweg von Felixstowe, wo sie einem letztlich unergiebigen Hinweis auf einen Drogenschmuggler-Ring nachgegangen sind, als der Notruf kam, in King's Lynn sei eine Leiche gefunden worden. Die Umstände deuteten auf Fremdeinwirken hin, und Nelson, der im Landkreis für Mordermittlungen zuständig ist, hat sich gleich auf den Weg gemacht. Erst als sie bereits am Stadtrand sind, hat Clough endlich alle Einzelheiten zusammenbekommen. Jetzt brummt er nur nervtötend in sein Telefon, und Nelson bringt den Wagen erneut ins Schlingern.
«Was denn? Was?»
«Es ist der Museumsdirektor, Boss. Im Museum sollte doch diese Riesensause steigen, mit Sargöffnung und so. Wo Sie nicht hinwollten, wissen Sie noch?»
«Und ob ich das noch weiß», knurrt Nelson.
«Also, etwa eine Stunde bevor die ganzen Würdenträger anrücken sollten, war jemand von der Archäologie zu früh dran und hat den Direktor gefunden, Neil Topham, wie er neben dem Sarg auf dem Boden lag, mausetot.»
«Und wer von der Archäologie?», fragt Nelson. Dabei kennt er die Antwort eigentlich. Er hat es bereits gewusst, als Clough das Smith-Museum erwähnt hat.
Clough wiederholt die Frage für seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung.
«Es war Ruth, Boss. Ruth Galloway.»
Der Wagen schlingert wieder über die Fahrbahn.
Als Nelson am Museum ankommt, steht dort Rocky Taylor vor der Tür - ein Detail, das nicht gerade dazu beiträgt, Nelsons erschütterten Seelenfrieden wiederherzustellen. Rocky, ein Junge aus dem Ort, ist für ihn der Inbegriff des unterbelichteten Landeis. Nelson selbst stammt aus Blackpool und betrachtet sich immer noch als Nordengländer, was für ihn gleichbedeutend ist mit schneller Auffassungsgabe und einem ordentlichen Humor. Als er in die Eingangshalle tritt, sieht er zu seiner Erleichterung, dass auch Tom Henty da ist. Tom ist zwar ebenfalls in Norfolk geboren und aufgewachsen, verkörpert für Nelson aber trotzdem den perfekten Sergeant: bodenständig, hartnäckig und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. All diese Eigenschaften wird er heute dringend brauchen. Tom steht neben einem Käfig, in dem ein auffallend scheußlicher ausgestopfter Vogel hockt. Und auf einem Stuhl daneben, bleich, aber doch gefasst, sitzt Ruth Galloway.
«Ruth.» Nelson nickt ihr zu.
«Hallo, Nelson.»
Clough, der gleich hinter Nelson eintritt, ist da schon zuvorkommender. «Ruth! Lange nicht gesehen! Wie geht's Ihrer Kleinen?»
«Sehr gut. Sie wird morgen ein Jahr alt.»
«Ein Jahr! Nicht zu fassen! Kommt mir vor wie gestern, dass sie auf die Welt gekommen ist.»
«Genug geplaudert, Sergeant», unterbricht Nelson, ohne Ruth eines Blickes zu würdigen. «Das ist hier eine Mordermittlung, kein Kaffeekränzchen.» Er wendet sich an Henty. «Was ist passiert?»
«Der Notruf ist um halb drei eingegangen.» Henty blättert in seinem Notizbuch. «Über die Zentrale. Doktor Galloway war hier im Museum und hat den Direktor, Neil Topham, auf dem Boden gefunden, neben dem Sarg. Der sollte ja um drei geöffnet werden. Doktor Galloway hat die Einsatzkräfte verständigt - Polizei und Rettungsdienst. Taylor und ich sind zeitgleich mit dem Krankenwagen hier eingetroffen. Die Sanitäter haben ihn ins Krankenhaus gebracht, aber bei der Ankunft war er schon tot.»
«Mist.»
Keine gute Ausgangslage, weder für Neil Topham noch für die Ermittlungen. Die Leiche ist jetzt garantiert voller Fingerabdrücke von den eilfertigen Sanitätern. Und die Beweislage am Tatort beschränkt sich auf eine einzige Zeugin. Ruth Galloway.
«Sind die Angehörigen schon verständigt?»
«DS Johnson ist gerade im Krankenhaus.»
Ein Glück. Judy Johnson ist gut in so was. Wer dagegen je eine schlechte Nachricht von Clough erhalten hat, der erholt sich so schnell nicht wieder.
Nelson sieht auf die Uhr. Halb vier inzwischen. «Und haben Sie die Geier noch davon abhalten können, sich gleich darauf zu stürzen?»
Henty räuspert sich missbilligend. «Ich habe Superintendent Whitcliffe angerufen und die Lokalpresse informiert. »
«Whitcliffe kommt wahrscheinlich nicht her, oder?»
«Nein. Er meinte, das überlässt er Ihnen.»
Na typisch, denkt Nelson grimmig.
«Rocky hat die anderen Gäste weggeschickt», fährt Henty fort. «Ihr Freund war auch da. Dieser Zauberlehrling.»
Nelson brummt nur; er kann die Beschreibung problemlos zuordnen. «Cathbad? Das war ja klar. Eine Sargöffnung ist genau seine Sorte Nachmittagsunterhaltung.»
«Er meinte, er will mit Ihnen reden», berichtet Henty ungerührt weiter. «Irgendwas von wegen Schädeln und Toten, die keine Ruhe finden.»
Nelson brummt erneut. «Tja, das muss wohl warten. Zeigen Sie mir den Saal, wo der Tote gefunden wurde? Clough, Sie bleiben hier bei Doktor Galloway.» Damit stolziert er davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Über dem Saal für Lokalgeschichte liegt eine eigentümliche Ruhe. Der Raum ist lang und schmal, die Decke für die mangelnde Breite etwas zu hoch, so als wäre der Saal früher größer gewesen. Der Boden ist, wie im ganzen Museum, schwarzweiß gefliest, die Wände sind mit einem Muster in fröhlichen Grundfarben bemalt. Das Fenster steht offen, Wind bläht die staubigen Vorhänge. Mitten im Raum steht klobig der Sarg mit seinen aufgequollenen Seitenwänden und in einer Ecke ein einzelner Glasschaukasten, in dem sich allem Anschein nach eine ausgestopfte Ringelnatter befindet. Sonst liegt nur ein Museumsführer auf dem Boden und, etwa einen halben Meter vom Sarg entfernt, ein einzelner Schuh, ein brauner Halbschuh aus Wildleder. Nelson mustert ihn ungerührt. Typischer Künstlerschuh. Echte Männer - echte Nordengländer - tragen grundsätzlich Schnürschuhe.
«Gehört der ihm? Topham?»
Henty zuckt die Achseln. «Denk ich mal.»
«Haben Sie vorher mit ihm gesprochen? Sie haben das Ungetüm da doch hergebracht, Sie und Rocky.»
«Ja, ich habe mit ihm gesprochen. Ist erst ein paar Stunden her.»
«Wie hat er da auf Sie gewirkt?»
Übersetzung: Tanja Handels
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Der Sarg verstößt gegen jede Gesundheits- und Sicherheitsvorschrift. Er nimmt die ganze Eingangshalle ein und versperrt die Sicht auf den ausgestopften Alk, die Karte von King's Lynn aus dem 19. Jahrhundert sowie das recht verschmutzte Ölgemälde, das Lord Percival Smith zeigt, den Gründer des Museums. Die hölzernen Seitenwände des Sargs sind aufgequollen und faulig und wirken, als wollten sie jeden Moment bersten und ihren Inhalt auf schauerlichste Weise hervorspeien. Jeder Besucher hätte sich an dem Ding mit Sicherheit gestört, wenn nicht sogar ernsthaft davor geekelt. Doch wie an den meisten Tagen sind auch heute keine Besucher im Smith-Museum. Neil Topham, der Museumsdirektor, steht ganz allein am hinteren Ende des Eingangsbereichs und mustert ein wenig hilflos die unheilschwangere Kiste, die da vor ihm steht. Die beiden Polizisten, die sie bis hierher geschleppt haben, machen nicht den Eindruck, als wollten sie sie noch viel weiter schleppen. Schwitzend und entnervt stehen sie in ihrer Schutzkleidung unter dem verstaubten Kronleuchter, einer Schenkung von Lady Caroline Smith (1884 - 1960).
«Hier können Sie den aber nicht lassen», sagt Neil.
«Es hat geheißen, wir sollen ihn ins Smith-Museum bringen», gibt der Jüngere der beiden, Police Constable Roy «Rocky» Taylor, zurück.
«Aber Sie können ihn doch nicht hier in der Eingangshalle stehen lassen!», protestiert Neil. «Er muss in den Saal für Lokalgeschichte.»
«Ist das oben?», fragt der Ältere, Sergeant Tom Henty.
«Nein.»
«Gut, oben ist nämlich bei uns nicht drin. Verbietet uns die Gewerkschaft.» Neil weiß nicht genau, ob das ein Witz sein soll. Sind Polizisten überhaupt in einer Gewerkschaft? Trotzdem tritt er beiseite, während die beiden Männer ihre Last erneut schultern und sie, unter den Blicken zahlloser Glasaugen, durch die naturgeschichtliche Abteilung in einen kleineren Saal tragen, den ein Wandgemälde von Norfolk im Wandel der Jahrhunderte ziert. Mitten im Raum wartet ein aufgebockter Tisch, und die Polizisten stellen den Sarg darauf ab.
«Er gehört Ihnen», sagt Taylor schwer atmend.
«Aber machen Sie ihn bloß nicht auf», warnt Henty, «solange die Obermuftis noch nicht da sind.»
«Natürlich nicht», sagt Neil, obwohl er die Holzkiste, deren rissiger Deckel winzige Einblicke in das darin verborgene Grauen gewährt, fasziniert, fast schon gierig betrachtet.
«Superintendent Whitcliffe ist schon auf dem Weg.»
«Kommt der Boss auch?», fragt Taylor. Whitcliffe mag zwar der Polizeichef von Norfolk sein, doch für Taylor und seine direkten Kollegen ist der «Boss» auf immer und ewig Detective Inspector Harry Nelson.
«Nee», meint Henty. «So was ist nicht sein Ding. Reporter und das ganze Gesumse. Du weißt doch, der Boss kann Presse nicht ausstehen.»
«Es kommt auch jemand von der Universität», wirft Neil ein, «Doktor Ruth Galloway, die Leiterin des Fachbereichs Forensische Archäologie. Sie soll die Sargöffnung überwachen.»
«Die kenn ich», sagt Henty. «Die versteht ihr Geschäft.»
«Das ist alles sehr aufregend», sagt Neil und misst den Sarg verstohlen mit einem weiteren begehrlichen Blick.
«Wenn Sie's sagen», meint Henty. «Auf geht's, Rocky. Zurück an die Arbeit. Kein Frieden für die Gottlosen.»
1
Doktor Ruth Galloway, die Leiterin des Fachbereichs Forensische Archäologie an der University of North Norfolk, verschwendet gerade keinen Gedanken an Särge oder Reporter oder auch nur an die Frage, ob sie im Smith-Museum auf DCI Harry Nelson treffen könnte. Stattdessen rast sie in King's Lynn durch den örtlichen Supermarkt und überlegt, ob Schokokekse sie als schlechte Mutter dastehen lassen könnten und wie viel Wein vier Mütter nebst allfälligen Lebenspartnern wohl trinken. Ruths Tochter wird morgen ein Jahr alt, und Ruth hat sich, ganz gegen ihre eigene Überzeugung, überreden lassen, eine Geburtstagsparty für sie zu geben. «Sie wird sich doch gar nicht daran erinnern», hat Ruth ihrer besten Freundin Shona gegenüber gejammert, die im fünften Monat schwanger ist und der das künftige Mutterglück aus jeder Pore strahlt. «Aber du», erwiderte Shona. «Außerdem ist es doch ein schöner Anlass. Kates erster Geburtstag. Es gibt Kuchen, sie kann ihre Geschenke auspacken und mit ihren kleinen Freunden spielen.»
«Kate spielt aber nicht mit ihren Freunden», gab Ruth zurück. «Meistens haut sie ihnen nur Bauklötze auf den Kopf.» Trotzdem hat sie sich schließlich überzeugen lassen. Und etwas in ihr glaubt tatsächlich, dass es ein schöner Anlass werden könnte, eine seltene Gelegenheit, sich einfach zurückzulehnen, Kate zuzuschauen, wie sie Geschenkpapier zerreißt und sich mit ungesunden Zusatzstoffen vollstopft, und dabei zu denken: Eigentlich habe ich das mit dem Muttersein doch gar nicht so schlecht hingekriegt.
Während sie an den Getränkeregalen vorbeirennt, fällt Ruth zum ersten Mal auf, dass der ganze Supermarkt den Mächten der Finsternis anheimgefallen ist. Hexenbesen und -kessel machen Plastikkürbissen und Vampirgebissen, die im Dunkeln leuchten, den Regalplatz streitig. Von der Decke hängen Fledermäuse, und als Ruth um die letzte Ecke biegt, findet sie sich plötzlich Auge in Auge mit einer lebensgroßen Gestalt mit Hexenumhang, Hexenhut und einer Maske, die (recht überzeugend, das muss man ihr lassen) auf Edvard Munchs Schrei basiert. Ruth unterdrückt ihrerseits einen Schrei. Natürlich, es ist ja Halloween. Kate hat es um Haaresbreite vermieden, am 31. Oktober zur Welt zu kommen, was, nachdem sie bereits einen heidnischen Patenonkel hat, auch wirklich ein Omen zu viel gewesen wäre. Stattdessen ist Ruths Tochter am 1. November geboren, an Allerheiligen, wie der katholische Priester sagen würde, den Ruth zu ihrem eigenen anhaltenden Erstaunen gewissermaßen als Freund betrachtet. Sie selbst glaubt weder an Gott noch an den Teufel, aber es kann sicher nicht schaden, überlegt sie sich, während sie ihre Einkäufe auf das Kassenband türmt, den einen oder anderen Heiligen auf seiner Seite zu haben. Komisch, dass der Tag der Heiligen direkt auf den Tag der Toten folgt. Oder vielleicht auch nicht. Im Grunde sind Heilige ja nichts anderes als Tote. Und Ruth weiß selbst nur zu gut, wie schmal der Grat zwischen Heiligen und Frevlern oft sein kann.
Sie lädt die Einkäufe in ihr treues, klappriges Auto. Zwei Uhr. Um drei muss sie im Museum sein, es bleibt also keine Zeit, vorher noch heimzufahren. Hoffentlich schmelzen die Schokokekse nicht im Kofferraum. Aber es ist ja nicht heiß heute, wenn auch sehr mild für Oktober. Ruth trägt eine schwarze Hose und einen schwarzen Blazer. Dazu schlingt sie sich noch einen langen grünen Schal um den Hals und vertraut auf ihr Schicksal. Natürlich werden im Museum auch Fotografen sein, aber wenn sie Glück hat, kann sie sich vielleicht hinter Superintendent Whitcliffe verstecken. Unter normalen Umständen hätte sie gar keine Chance gehabt, zu einer solchen Veranstaltung zu gehen. Phil, ihr Chef, liebt das Rampenlicht und ist jedes Mal ganz vorne mit dabei, wenn sich irgendwo die Presse ankündigt. Vor zwei Jahren, als die Sendung Time Team von einer römischen Ausgrabungsstätte in der Nähe berichtete, hat Phil sich vor jede Kamera gedrängelt, während Ruth im Graben hocken blieb. «Das war unfair », kommentierte Shona, die zwar mit Phil liiert, sich aber seiner Fehler durchaus bewusst ist. «Schließlich warst du doch die Expertin, nicht er.» Aber Ruth hat es nicht weiter gestört. Sie steht nicht gern im Mittelpunkt; sie forscht lieber, hält sich im Hintergrund und sichtet sorgfältig die Beweise. Außerdem sieht man vor der Kamera angeblich drei Kilo schwerer aus, und darauf kann Ruth mit ihren fast 82 Kilo nun wirklich verzichten.
Doch jetzt ist Phil bei einer Konferenz, und deshalb muss Ruth der feierlichen Sargöffnung beiwohnen. Sonst würde sie so etwas meiden wie der Teufel das Weihwasser. Sie mag keine öffentlichen Auftritte und hat ein ausgesprochen ungutes Gefühl dabei, zur besten Sendezeit live im Fernsehen (nun ja, im Regionalfernsehen) einen Sarg zu öffnen. Wie hat Erik immer gesagt? «Hüte dich davor, die Ruhe der Toten zu stören.» Erik Anderssen, Erik der Wikinger, Ruths Doktorvater an der Universität und noch Jahre später ihr Mentor und großes Vorbild. Inzwischen sind ihre Gefühle für Erik deutlich ambivalenter, doch das hindert sie nicht daran, in erschreckend regelmäßigen Abständen seine Stimme im Ohr zu haben. Für Archäologen gehört es natürlich zum Berufsrisiko, die Ruhe der Toten zu stören, aber Ruth legt großen Wert darauf, Knochen immer mit Respekt zu behandeln, ganz gleich, wie lange sie schon tot sind. Einen albtraumhaften Sommer lang hat sie Kriegsgräber in Bosnien untersucht, Stätten, an denen die häufig nur wenige Monate zuvor getöteten Leichen einfach in Gruben geworfen worden waren, um in der Sonne zu verwesen. Sie hat die Leiche eines kleinen Mädchens ausgegraben, das vor mehr als zweitausend Jahren, in der Eisenzeit, gestorben war und um dessen gut erhaltenes Handgelenk noch ein aus Gras geflochtenes Armband lag. Sie hat römische Leichen unter Hausmauern entdeckt, Opfergaben an Janus, den zweigesichtigen Gott, und sie hat die Skelette von Soldaten freigelegt, deren Ermordung erst siebzig Jahre zurücklag. Aber nie hat sie sich gestattet zu vergessen, dass sie es mit Menschen zu tun hatte, die einmal gelebt haben, einmal geliebt wurden. Ruth glaubt nicht an ein Jenseits, und umso wichtiger ist es ihrer Ansicht nach, menschlichen Überresten im Diesseits Respekt entgegenzubringen. Sie sind schließlich alles, was bleibt.
Der Holzsarg, in dem man den Bischof Augustine Smith vermutet, kam bei den Bauarbeiten für einen neuen Supermarkt in King's Lynn zum Vorschein. Auf dem Grundstück, einem seit Jahren vernachlässigten Industriegelände, hatte früher einmal eine Kirche gestanden. Das Gotteshaus, das den recht romantischen Namen St. Mary Outside the Walls trug, war im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden, und in den Fünfzigern hatte man es ganz abgerissen, um Platz für eine Fischkonservenfabrik zu schaffen. Auch die Fabrik verfiel schließlich, und nun wird dort ein nagelneuer Supermarkt gebaut. Da es sich aber um ein historisches Grundstück handelt, mussten die Bauarbeiter zunächst die Feldarchäologen hinzuziehen, und die haben erwartungsgemäß die Grundmauern einer mittelalterlichen Kirche entdeckt. Durchaus nicht erwartungsgemäß war allerdings der weitere Fund unter dem einstigen Hochaltar: ein Sarg, der aller Vermutung nach die sterblichen Überreste besagten Bischofs aus dem 14. Jahrhundert enthält.
Die Entdeckung war gleich aus mehreren Gründen spektakulär: Die Kirche ist im Domesday Book verzeichnet, und Bischof Augustine spielt seinerseits eine große Rolle in einer Chronik aus dem 14. Jahrhundert, die in der Kathedrale von Norwich aufbewahrt wird. Eigentlich war man immer davon ausgegangen, Augustine, einer der ersten Bischöfe überhaupt, liege dort in der Kathedrale beerdigt. Was hatte er also unter einer relativ unbedeutenden Gemeindekirche in King's Lynn verloren? Doch sowohl die Inschrift auf dem Sarg als auch die Datierung des Holzes weisen eindeutig auf Augustine hin. Der nächste Schritt wäre eine Radiokarbondatierung der Knochen, und irgendwann wurde beschlossen, den Sargdeckel öffentlich zu lüften - vor den Augen der versammelten Lokalprominenz, darunter auch einiger Mitglieder der Familie Smith.
Und das ist der andere Grund. Die Familie Smith ist immer noch wohlauf und bester Dinge und in Norfolk ansässig. Im Lauf der Jahrhunderte hat sie katholische Märtyrer und protestantische Verräter hervorgebracht, sie wurde von Elisabeth I. geadelt und unternahm den glücklosen Versuch, King's Lynn im Bürgerkrieg für die Königstreuen zu halten. Lord Danforth Smith, der derzeitige Träger des Titels, trainiert Rennpferde und ist, wenn auch nicht ganz freiwillig, eine örtliche Berühmtheit. Sein Sohn Randolph, der sich nie ohne eine amerikanische Schauspielerin oder einen russischen Tennisstar im Arm sehen lässt, geht deutlich entspannter mit der öffentlichen Aufmerksamkeit um und macht regelmäßig die Klatschspalten unsicher. Die Smiths früherer Zeiten waren da schon von ernsthafterer Gesinnung, überall in Norfolk finden sich sichtbare Zeichen ihrer Nächstenliebe. Neben dem Museum gibt es einen Smith-Flügel im Krankenhaus sowie die Sammlung Smith oben auf der Burg. An Ruths Universität gibt es sogar eine Smith-Professur für Lokalgeschichte, deren Träger allerdings seit Jahren nicht mehr gesichtet wurde. Ruth hat den Verdacht, dass er längst verstorben ist.
Sie stellt ihre Rostlaube vor dem Museum ab. Der Parkplatz neben dem Gebäude ist völlig leer. Ruth ist früh dran; es ist erst Viertel nach zwei, doch die Zeit reicht trotzdem nicht, um nach Hause und wieder zurück zu fahren. Da kann sie auch ins Museum gehen und sich dort noch ein bisschen umschauen. Ruth liebt Museen - zum Glück, denn als Archäologin verbringt sie mehr als genug Zeit damit, in verstaubte Glasvitrinen zu schauen. Sie weiß noch, wie sie als Kind das Horniman-Museum in Forest Hill besucht hat. Das war ein magischer Ort voller Masken und ausgestopfter Vögel. Wenn sie es recht bedenkt, war das Horniman-Museum wahrscheinlich sogar der Ort, der ihr Interesse für die Archäologie geweckt hat: Es gab dort nämlich eine Sammlung von Werkzeugen aus Feuerstein, darunter auch einige aus Grimes Graves in Norfolk. Sie erinnert sich, wie erschüttert sie war, als ihr klarwurde, dass diese merkwürdig geformten Steinstücke tatsächlich einmal von jemandem verwendet worden waren, einem Menschen, der vor mehreren tausend Jahren gelebt hat. Der Gedanke, dass man tatsächlich hingehen und etwas ausgraben konnte, was so alt war, dass dieses rätselhafte Geschöpf namens Steinzeitmensch es hergestellt und zurechtgeklopft hatte - dieser Gedanke verursacht ihr bis heute Gänsehaut und hat ihr über zahllose langwierige und erfolglose Ausgrabungen hinweggeholfen. Da ist immer die Hoffnung, unter dem nächsten Erdklumpen könnte es sich finden, das Objekt - verwittert und nur für die Augen der Expertin erkennbar - , das das Denken der Menschheit auf immer verändern wird. Ruth kann selbst ein paar glückliche Funde für sich verzeichnen. Und doch ist da immer die verlockende Vorstellung von der einen, der ganz großen Entdeckung, von der Tafel neben der Glasvitrine: «Entdeckt von Doktor Ruth Galloway», von den Artikeln, den Büchern ... Sie steht vor dem Museum.
Das Horniman-Museum ist klein und doch auf seine Weise eindrucksvoll, mit einem Uhrenturm vor und einem gläsernen Treibhaus hinter dem Gebäude. Das Smith- Museum jedoch ist ganz anders, ein niedriger Backsteinbau, eingezwängt zwischen zwei Bürohäusern. Das vorstehende mattrote Giebeldach sieht aus, als hätte sich das Haus einen Hut tief in die Stirn gezogen. Ein paar Stufen führen zu einer rot gestrichenen Tür hinauf, an der ein vielversprechendes Schild den Besucher «Willkommen!» heißt. Ruth öffnet die Tür und findet sich in einer kleinen Eingangshalle wieder, die von einem ausgestopften Vogel im Käfig und dem Porträt eines sichtlich missgelaunten Herrn mit Perücke dominiert wird. An einer Pinnwand hängen ein paar vergilbte Prospekte, und auf einem Tisch liegt ein Stapel Kopien nebst dem vielleicht etwas optimistischen Hinweis «Für Schulklassen». Doch nichts weist darauf hin, dass hier demnächst ein Medienereignis stattfinden soll. Keine Häppchen, kein Wein (dabei erinnert sich Ruth genau, dass von «Bewirtung» die Rede war), keine Pressemappen, noch nicht einmal ein Plakat, das die große Eröffnung des Bischofssargs ankündigt. Der halbvergilbte Kronleuchter an der Decke klirrt noch leise im Luftzug, den Ruth mit sich hereingebracht hat. Sonst ist es völlig still.
Ruth tritt durch die Schwingtür und steht in einem langgezogenen Saal, der zu beiden Seiten bis an die Decke mit Glasvitrinen bestückt ist. Fenster gibt es nicht, und die einzige Beleuchtung kommt von den Vitrinen, die in einem schaurigen Phosphorlicht erstrahlen. Ruth bleibt vor einem Schaukasten stehen. «Uhu», erklärt das Hinweisschild, und drinnen sitzt ein großer ausgestopfter Vogel, der Ruth vorwurfsvoll mustert. Rasch geht sie weiter, wird aber das Gefühl nicht los, dass der Blick des Uhus ihr weiterhin folgt. Die nächste Vitrine, «Mantelmöwen», zeigt einen Möwenschwarm, der gerade über ein Lamm herfällt. Die Schnäbel der Vögel sind mit künstlichem Blut beschmiert, und das Lamm blickt mit resigniert-zynischer Miene zu ihnen empor. Ein paar Meter weiter steht man plötzlich mitten im Wald: Verstaubte Füchse spähen in braun ausgemalte Erdlöcher, Eichhörnchen sind an Baumstämmen befestigt, Dachse mustern mit glasigem Blick mottenstichige Kaninchen, und an einem Pappfelsen lehnt ein dreibeiniges Reh. Unwillkürlich geht Ruth immer schneller. Fell und Federn fließen ineinander, ihre Schritte hallen auf den Bodenfliesen.
Sie geht quer durch den Saal, um in die Vitrinen auf der anderen Seite zu schauen. Hier weicht die Taxidermie dem Halloween-Feeling. Die Tiere auf dieser Seite sind nur Skelette, ihre zarten Knochen hängen wie Mobiles vor blau gestrichenen Wänden, die den Himmel darstellen, weiße Wölkchen und V-förmige Vogelschwärme inbegriffen. Die Große Otterspitzmaus, die Zwergspitzmaus, der Riesengoldmull, der Westeuropäische Igel. Sie sehen alle gleich und ziemlich traurig aus, wie sie da neben ihren kleinen getippten Namensschildern hängen. Die größte Vitrine beherbergt ein Skelett, das sich im Vergleich zu den anderen gewaltig ausnimmt. Ruth ist erstaunt, dass es sich dem Schild zufolge nur um ein Hauspferd handelt. Der längliche Schädel mit seinen großen Zähnen grinst sie aus dem Dämmerlicht an. Ruth, die eine Schwäche für Pferde hat, lächelt mitfühlend zurück und eilt weiter.
Am Ende der Galerie hat sie statt Fliesen plötzlich Teppich unter den Füßen und stellt überrascht fest, dass sie sich in einem rot tapezierten viktorianischen Schreibzimmer befindet. Über einem aufgemalten Kamin hängt ein Hirschkopf, und am Schreibtisch sitzt ein Mann, der mit missbilligend gerunzelter Stirn seine Feder ins Tintenfass taucht.
«Oh, Verzeihung ...», sagt Ruth und merkt erst dann, dass die Augen des Mannes verstaubt sind und ihm ein Arm fehlt. Ein Absperrseil trennt sie von der Puppe an ihrem Schreibtisch, doch Ruth beugt sich darüber, um die Hinweistafel zu lesen:
Lord Percival Smith, 1830 - 1902, Abenteurer und Tierpräparator. Die meisten Exponate des Museums wurden von Lord Smith im Lauf seines ereignisreichen Lebens selbst erworben. Seine Liebe zur Welt der Natur offenbart sich in seiner großartigen Sammlung von Tieren und Vögeln, die er größtenteils eigenhändig geschossen und ausgestopft hat.
Eigenartige Methode, seine Liebe zur Welt der Natur zu zeigen, indem man auf sie schießt. Ruth registriert die beiden Gewehre, die über der Wachsfigur von Lord Smith an der Wand hängen. Lebendig oder tot, mit dem ist nicht zu spaßen.
Zwei Wege führen aus Lord Smiths Studierzimmer heraus. Über dem einen steht «Sammlung Neue Welt», über dem anderen «Lokalgeschichte». Ruth zögert, fühlt sich ein bisschen wie Alice im Wunderland. Ein leises Geräusch, wie ein Flüstern oder Flattern, lockt sie schließich zur Lokalgeschichte. Eine tröstliche Sammlung von Kunstgegenständen aus Norfolk, genau das braucht sie jetzt. Sie kann nur hoffen, dass dort keine Wachsfiguren und ausgestopften Tiere mehr warten.
Der Wunsch wird ihr erfüllt. Der Saal für Lokalgeschichte ist weitgehend leer, bis auf einen Sarg auf einem aufgebockten Tisch. Neben dem Sarg, auf dem Boden, liegt ein Mann. Durchs offene Fenster weht ein Luftzug herein und blättert in den Seiten eines Museumsführers, der ebenfalls auf dem Boden liegt. Es klingt wie das Flügelschlagen eines eingesperrten Vogels.
2
Der Mann liegt mit angezogenen Beinen auf der Seite, in einer Art Embryohaltung. Ruth fasst nach seiner Hand: noch warm. Ist ein Puls zu spüren? Sie kann keinen finden, doch ihre eigene Hand ist mit einem Mal schweißnass, und sie weiß nicht mehr genau, wo sie eigentlich suchen soll. Warum hat sie diesen Erste-Hilfe-Kurs bloß nie belegt? Sie merkt, dass sie die Luft anhält, und zwingt sich weiterzuatmen, ein und aus, durch Mund und Nase. Wenn sie jetzt umkippt, ist auch niemandem geholfen. Vorsichtig dreht sie den Mann um und ist gleich doppelt geschockt, so sehr, dass sie fast wieder zu atmen aufhört.
Das Gesicht ist voller Blut, und es ist ein Gesicht, das sie kennt.
Neil Topham, der Museumsdirektor, der einmal bei einem ihrer Vorträge zur Konservierung von Knochen war. Der höfliche, bescheidene Neil, der sie hin und wieder wegen eines Exponats um Rat gefragt hat. Und der jetzt hier, mitten in seinem Museum, auf dem Boden liegt, Nase und Mund blutverschmiert.
Mit zitternden Händen tastet Ruth nach ihrem Handy. Großer Gott, wenn sie es bloß nicht im Wagen gelassen hat! Nein, da ist es. Sie wählt die Notrufnummer und bestellt einen Krankenwagen. Als sie nach der Anschrift gefragt wird, ist ihr Kopf plötzlich völlig leer, und sie kann nur noch quäken: «Smith-Museum. Bitte kommen Sie schnell!» Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt gelassen und ruhig, fast schon ein wenig gelangweilt. «Ein Wagen ist unterwegs.» Ruth beugt sich näher an Neils Mund heran. Sie hört und fühlt keinen Atem. Doch als sie ihm eine Hand auf die Brust legt, spürt sie einen Herzschlag, schwach und unregelmäßig zwar, aber doch unverkennbar. Halt durch, Neil, ermahnt sie ihn stumm. Ob sie ihn vielleicht anders hinlegen soll? Aber in den Büchern steht doch immer, das solle man gerade nicht tun. Verzweifelt sieht sie sich um. Über ihnen ragt dunkel und dräuend der Bischofssarg auf. Sonst ist nichts im Raum, bis auf einen kleinen Schaukasten in einer Ecke und einen einzelnen Männerschuh, direkt neben dem Fenster.
Was ist bloß mit Neil passiert? Hatte er etwa einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall? Aber er ist doch noch jung! Junge Männer fallen nicht so einfach tot um. Erst jetzt kommt Ruth auf den Gedanken, dass Neils Unfall womöglich keiner natürlichen Ursache geschuldet ist. Wieder sieht sie sich um. Die Seiten des Museumsführers flattern immer noch hin und her. Durch das offene Fenster hört sie den Straßenverkehr, die gedämpften Rufe von Kindern im Park. Wieso steht das Fenster überhaupt offen?
Wieder greift Ruth nach dem Handy und wählt mit immer noch zitternden Händen die Nummer der Polizei.
«Es ist im Smith-Museum, Boss.»
«Was?»
DCI Nelson sitzt am Steuer, und sein Mitarbeiter, Detective Sergeant Clough, telefoniert. Das entspricht nicht ganz der üblichen Rollenverteilung: Normalerweise fährt der rangniedrigere Beamte. Aber Nelson hält es auf dem Beifahrersitz nicht aus. Bei dieser unerwarteten Nachricht dreht er sich zu Clough um, und der Wagen schlingert von der Fahrbahn und verfehlt nur um Haaresbreite ein Motorrad und einen Rollstuhl. Clough nimmt sich vor, sich beim nächsten Mal selbst ans Steuer zu setzen. Die Fahrkünste seines Chefs bzw. ihr Nichtvorhandensein sind längst legendär.
«Die Leiche. Die ist im Smith-Museum.»
Nelson und Clough waren gerade auf dem Rückweg von Felixstowe, wo sie einem letztlich unergiebigen Hinweis auf einen Drogenschmuggler-Ring nachgegangen sind, als der Notruf kam, in King's Lynn sei eine Leiche gefunden worden. Die Umstände deuteten auf Fremdeinwirken hin, und Nelson, der im Landkreis für Mordermittlungen zuständig ist, hat sich gleich auf den Weg gemacht. Erst als sie bereits am Stadtrand sind, hat Clough endlich alle Einzelheiten zusammenbekommen. Jetzt brummt er nur nervtötend in sein Telefon, und Nelson bringt den Wagen erneut ins Schlingern.
«Was denn? Was?»
«Es ist der Museumsdirektor, Boss. Im Museum sollte doch diese Riesensause steigen, mit Sargöffnung und so. Wo Sie nicht hinwollten, wissen Sie noch?»
«Und ob ich das noch weiß», knurrt Nelson.
«Also, etwa eine Stunde bevor die ganzen Würdenträger anrücken sollten, war jemand von der Archäologie zu früh dran und hat den Direktor gefunden, Neil Topham, wie er neben dem Sarg auf dem Boden lag, mausetot.»
«Und wer von der Archäologie?», fragt Nelson. Dabei kennt er die Antwort eigentlich. Er hat es bereits gewusst, als Clough das Smith-Museum erwähnt hat.
Clough wiederholt die Frage für seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung.
«Es war Ruth, Boss. Ruth Galloway.»
Der Wagen schlingert wieder über die Fahrbahn.
Als Nelson am Museum ankommt, steht dort Rocky Taylor vor der Tür - ein Detail, das nicht gerade dazu beiträgt, Nelsons erschütterten Seelenfrieden wiederherzustellen. Rocky, ein Junge aus dem Ort, ist für ihn der Inbegriff des unterbelichteten Landeis. Nelson selbst stammt aus Blackpool und betrachtet sich immer noch als Nordengländer, was für ihn gleichbedeutend ist mit schneller Auffassungsgabe und einem ordentlichen Humor. Als er in die Eingangshalle tritt, sieht er zu seiner Erleichterung, dass auch Tom Henty da ist. Tom ist zwar ebenfalls in Norfolk geboren und aufgewachsen, verkörpert für Nelson aber trotzdem den perfekten Sergeant: bodenständig, hartnäckig und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. All diese Eigenschaften wird er heute dringend brauchen. Tom steht neben einem Käfig, in dem ein auffallend scheußlicher ausgestopfter Vogel hockt. Und auf einem Stuhl daneben, bleich, aber doch gefasst, sitzt Ruth Galloway.
«Ruth.» Nelson nickt ihr zu.
«Hallo, Nelson.»
Clough, der gleich hinter Nelson eintritt, ist da schon zuvorkommender. «Ruth! Lange nicht gesehen! Wie geht's Ihrer Kleinen?»
«Sehr gut. Sie wird morgen ein Jahr alt.»
«Ein Jahr! Nicht zu fassen! Kommt mir vor wie gestern, dass sie auf die Welt gekommen ist.»
«Genug geplaudert, Sergeant», unterbricht Nelson, ohne Ruth eines Blickes zu würdigen. «Das ist hier eine Mordermittlung, kein Kaffeekränzchen.» Er wendet sich an Henty. «Was ist passiert?»
«Der Notruf ist um halb drei eingegangen.» Henty blättert in seinem Notizbuch. «Über die Zentrale. Doktor Galloway war hier im Museum und hat den Direktor, Neil Topham, auf dem Boden gefunden, neben dem Sarg. Der sollte ja um drei geöffnet werden. Doktor Galloway hat die Einsatzkräfte verständigt - Polizei und Rettungsdienst. Taylor und ich sind zeitgleich mit dem Krankenwagen hier eingetroffen. Die Sanitäter haben ihn ins Krankenhaus gebracht, aber bei der Ankunft war er schon tot.»
«Mist.»
Keine gute Ausgangslage, weder für Neil Topham noch für die Ermittlungen. Die Leiche ist jetzt garantiert voller Fingerabdrücke von den eilfertigen Sanitätern. Und die Beweislage am Tatort beschränkt sich auf eine einzige Zeugin. Ruth Galloway.
«Sind die Angehörigen schon verständigt?»
«DS Johnson ist gerade im Krankenhaus.»
Ein Glück. Judy Johnson ist gut in so was. Wer dagegen je eine schlechte Nachricht von Clough erhalten hat, der erholt sich so schnell nicht wieder.
Nelson sieht auf die Uhr. Halb vier inzwischen. «Und haben Sie die Geier noch davon abhalten können, sich gleich darauf zu stürzen?»
Henty räuspert sich missbilligend. «Ich habe Superintendent Whitcliffe angerufen und die Lokalpresse informiert. »
«Whitcliffe kommt wahrscheinlich nicht her, oder?»
«Nein. Er meinte, das überlässt er Ihnen.»
Na typisch, denkt Nelson grimmig.
«Rocky hat die anderen Gäste weggeschickt», fährt Henty fort. «Ihr Freund war auch da. Dieser Zauberlehrling.»
Nelson brummt nur; er kann die Beschreibung problemlos zuordnen. «Cathbad? Das war ja klar. Eine Sargöffnung ist genau seine Sorte Nachmittagsunterhaltung.»
«Er meinte, er will mit Ihnen reden», berichtet Henty ungerührt weiter. «Irgendwas von wegen Schädeln und Toten, die keine Ruhe finden.»
Nelson brummt erneut. «Tja, das muss wohl warten. Zeigen Sie mir den Saal, wo der Tote gefunden wurde? Clough, Sie bleiben hier bei Doktor Galloway.» Damit stolziert er davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Über dem Saal für Lokalgeschichte liegt eine eigentümliche Ruhe. Der Raum ist lang und schmal, die Decke für die mangelnde Breite etwas zu hoch, so als wäre der Saal früher größer gewesen. Der Boden ist, wie im ganzen Museum, schwarzweiß gefliest, die Wände sind mit einem Muster in fröhlichen Grundfarben bemalt. Das Fenster steht offen, Wind bläht die staubigen Vorhänge. Mitten im Raum steht klobig der Sarg mit seinen aufgequollenen Seitenwänden und in einer Ecke ein einzelner Glasschaukasten, in dem sich allem Anschein nach eine ausgestopfte Ringelnatter befindet. Sonst liegt nur ein Museumsführer auf dem Boden und, etwa einen halben Meter vom Sarg entfernt, ein einzelner Schuh, ein brauner Halbschuh aus Wildleder. Nelson mustert ihn ungerührt. Typischer Künstlerschuh. Echte Männer - echte Nordengländer - tragen grundsätzlich Schnürschuhe.
«Gehört der ihm? Topham?»
Henty zuckt die Achseln. «Denk ich mal.»
«Haben Sie vorher mit ihm gesprochen? Sie haben das Ungetüm da doch hergebracht, Sie und Rocky.»
«Ja, ich habe mit ihm gesprochen. Ist erst ein paar Stunden her.»
«Wie hat er da auf Sie gewirkt?»
Übersetzung: Tanja Handels
Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Autoren-Porträt von Elly Griffiths
Griffiths, EllyElly Griffiths lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Bisher sind sechs Krimis mit der forensischen Archäologin Dr. Ruth Galloway und DCI Harry Nelson erschienen: «Totenpfad», «Knochenhaus», «Gezeitengrab», «Aller Heiligen Fluch», «Rabenkönig» und «Engelskinder».
Handels, Tanja
Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Literatur, u.a. von Zadie Smith, Anna Quindlen, Erica Jong und William Finnegan, und ist auch als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. 2019 wurde sie mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elly Griffiths
- 2014, 1, 352 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Handels, Tanja
- Übersetzer: Tanja Handels
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805250460
- ISBN-13: 9783805250467
- Erscheinungsdatum: 07.03.2014
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