Allwissend
Thriller
Ein neuer Fall für Kathryn Dance. Beklemmende Spannung!
Ein Kreuz mit frischen Rosen am Straßenrand. Das Todesdatum: morgen. Tatsächlich wird dort am nächsten Tag eine fast tote Frau in einem Kofferraum gefunden....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Allwissend “
Ein neuer Fall für Kathryn Dance. Beklemmende Spannung!
Ein Kreuz mit frischen Rosen am Straßenrand. Das Todesdatum: morgen. Tatsächlich wird dort am nächsten Tag eine fast tote Frau in einem Kofferraum gefunden. Ermittlerin Kathryn Dance erkennt, dass der Mörder es offenbar darauf abgesehen hat, die schlimmsten Ängste seiner Opfer wahr werden zu lassen.
Klappentext zu „Allwissend “
Er kennt alle deine Ängste!Am Straßenrand steht ein Kreuz mit roten Rosen: zum Gedenken an einen Autounfall. Das Todesdatum: morgen. Und tatsächlich entdeckt die Polizei am nächsten Tag eine junge Frau gefangen in einem Kofferraum - nur Sekunden trennen sie vom Tod. Ihr Peiniger wusste offensichtlich, dass sie unter schwerer Klaustrophobie litt. Die Verhörexpertin und psychologische Ermittlerin Kathryn Dance erkennt als Erste, dass der Mörder es darauf abgesehen hat, die schlimmsten Ängste seiner Opfer wahr werden zu lassen. Und weitere Kreuze kündigen weitere Morde an ...
Was Amelia Sachs und Lincoln Rhyme für New York, ist Kathryn Dance für Kalifornien - mörderisch genial! - Der zweite abgründig spannende Fall für Kathryn Dance, die Ermittlerin aus dem SPIEGEL-Bestseller "Die Menschenleserin"!
"Dance erweist sich als würdige Achterbahnfahrerin, die in Serie gehen darf." -- Die Welt
'Die Szenen aus den Verhören, in denen Dance die Kenntnis von Körpersprache einsetzt, um Lügner zu entlarven, sind faszinierend. Und am Ende greift Deaver so tief in seine unerschöpfliche Trickkiste voller unerwarteter Drehungen und Wendungen, dass die Leser mit offenem Mund staunen. Er lässt sie zurück mit der Vorfreude darauf, mehr von der scharfsinnigen Dance zu lesen." -- Publishers Weekly
"Spannend bis zur letzten Seite, eine rasante Geschichte mit ernsten Untertönen." -- WDR 5
'Die Szenen aus den Verhören, in denen Dance die Kenntnis von Körpersprache einsetzt, um Lügner zu entlarven, sind faszinierend. Und am Ende greift Deaver so tief in seine unerschöpfliche Trickkiste voller unerwarteter Drehungen und Wendungen, dass die Leser mit offenem Mund staunen. Er lässt sie zurück mit der Vorfreude darauf, mehr von der scharfsinnigen Dance zu lesen." -- Publishers Weekly
"Spannend bis zur letzten Seite, eine rasante Geschichte mit ernsten Untertönen." -- WDR 5
Lese-Probe zu „Allwissend “
Allwissend von Jeffery DeaverAnmerkung des Verfassers
Dieser Roman behandelt unter anderem das Verwischen der Grenze zwischen der »synthetischen Welt« dem Online-Leben und der wirklichen Welt. Wenn Sie im Verlauf der Geschichte also auf die eine oder andere Internetseite stoßen, könnte es sich lohnen, die Adresse in Ihrem Browser aufzurufen und sich dort mal umzusehen. Die im Netz vorhandenen Informationen sind für den Spaß an diesem Roman zwar keinesfalls nötig und zudem in englischer Sprache, aber sie können Ihnen womöglich zu ein paar zusätzlichen Anhaltspunkten bei der Entschlüsselung des Rätsels verhelfen. Vielleicht werden Sie das Dargebotene auch einfach nur als interessant oder beunruhigend empfinden.
Das Internet und die dort kultisch bewahrte Anonymität verleihen jedermann quasi die Generalvollmacht, ungestraft alles Mögliche über jede beliebige andere Person zu äußern. Ich kann mir kaum einen moralisch verwerflicheren Missbrauch des Gedankens der Redefreiheit vorstellen.
Richard Bernstein in der New York Times
MONTAG
Kapitel 1
Seltsam. Der junge Beamte der California Highway Patrol mit hellblondem Bürstenschnitt unter dem steifen Uniformhut kniff die Augen zusammen und spähte durch die Windschutzscheibe seines Streifenwagens. Der Crown Victoria war in südlicher Richtung auf dem Highway 1 bei Monterey unterwegs. Rechts lagen Dünen, links ein schmuckloses Gewerbegebiet. Irgendwas sah anders aus als sonst. Aber was? Es war siebzehn Uhr, und der Beamte befand sich nach seinem Schichtende auf dem Heimweg. Er musterte die Straße.
Für gewöhnlich verteilte er in dieser Gegend nur wenige Strafzettel und überließ das aus kollegialer Höflichkeit den County Deputys, doch hin und wieder, wenn ihm danach war, hielt er ein deutsches oder
... mehr
italienisches Auto an, und außerdem fuhr er oft um diese Tageszeit auf dieser Strecke nach Hause. Daher kannte er den Highway ziemlich gut.
Da ... das war es. Vierhundert Meter voraus lag etwas Buntes am Fuß eines der Sandhügel, die den Blick auf die Monterey Bay versperrten. Was konnte das sein? Er schaltete vorschriftsgemäß die Signalleuchten ein und fuhr auf den rechten Seitenstreifen. Dann hielt er so an, dass die Haube des Ford ein Stück nach links in Richtung der Fahrspuren wies, damit ein eventuell auffahrender Wagen den Crown Victoria von ihm weg und nicht genau auf ihn zu stoßen würde. Der Beamte stieg aus. Dort im Sand gleich jenseits der Standspur steckte ein Kreuz zum Gedenken an einen tödlichen Unfall. Es war ungefähr fünfundvierzig Zentimeter hoch und handgemacht aus dunklen, abgebrochenen Zweigen, die mit einem Draht zusammengebunden waren, wie Floristen ihn benutzen.
Davor lag ein Strauß aus dunkelroten Rosen ausgebreitet, und an ihm hing ein Pappschild, auf dem in blauer Tinte das Datum des Unfalls geschrieben stand. Weder auf der Vorder- noch auf der Rückseite war irgendein Name vermerkt. Die Behörden sahen solche Gedenkstätten nicht gern, denn es wurden gelegentlich Leute verletzt oder gar getötet, während sie damit beschäftigt waren, an der Straße ein Kreuz zu errichten oder Blumen und Stofftiere niederzulegen. Orte wie dieser wirkten normalerweise geschmackvoll und ergreifend. Der hier war unheimlich. Merkwürdig war auch, dass der Beamte sich an keine entsprechenden Unfälle in dieser Gegend erinnern konnte.
Es handelte sich hier sogar um einen der sichersten Abschnitte des Highway 1 in ganz Kalifornien. Südlich von Carmel gab es viele riskante Stellen, zum Beispiel am Schauplatz jenes wirklich tragischen Unfalls, bei dem vor einigen Wochen zwei Mädchen auf dem Rückweg von einer Abschlussfeier ums Leben gekommen waren. Hier hingegen verlief der Highway dreispurig und im Wesentlichen gerade, abgesehen von vereinzelten leichten Biegungen vorbei am Gelände des alten Fort Ord, heutzutage ein Universitätscampus, und den Einkaufsvierteln.
Der Beamte überlegte kurz, ob er das Kreuz entfernen sollte, aber dann würden die Trauernden womöglich zurückkehren, um ein neues zu errichten, und sich so abermals in Gefahr bringen. Am besten ließ er einfach alles, wie es war. Er nahm sich vor, am nächsten Morgen seinen Sergeant danach zu fragen, was hier geschehen war. Dann kehrte er zu seinem Wagen zurück, warf den Hut auf den Beifahrersitz und strich sich über das kurz geschorene Haar. Als er sich wieder in den Verkehr einreihte, dachte er nicht länger über irgendwelche Unfälle nach, sondern darüber, was seine Frau wohl zum Abendessen kochen würde und ob er mit den Kindern nach dem Essen noch in den Pool springen sollte. Und wann wollte sein Bruder doch gleich zu Besuch kommen? Er sah auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr und runzelte die Stirn. Konnte das sein?
Ein Blick auf das Display seines Mobiltelefons bestätigte, dass, jawohl, heute der 25. Juni war. Wie seltsam. Wer auch immer dieses Kreuz am Straßenrand hinterlassen hatte ihm war ein Fehler unterlaufen. Der Beamte wusste genau, dass auf dem Pappschild in ungelenker Handschrift der 26. Juni gestanden hatte, der morgige Dienstag. Vielleicht waren die armen Trauernden ja so durcheinander gewesen, dass sie sich beim Datum vertan hatten. Dann wichen die Bilder des gespenstischen Kreuzes in den Hintergrund zurück, aber sie verschwanden nicht völlig.
Auf dem Rest seines Heimwegs fuhr der Beamte etwas vorsichtiger als üblich.
DIENSTAG
Kapitel 2
Der schwache Lichtschein blassgrün, wie von einem Geist tanzte knapp außerhalb ihrer Reichweite. Wenn sie ihn doch nur erreichen könnte. Wenn sie den Geist erreichen könnte, wäre sie gerettet. Der Schimmer, der in der Dunkelheit des Kofferraums schwebte, baumelte wie zum Hohn ein Stück oberhalb ihrer Füße, die genau wie ihre Hände mit Isolierband gefesselt waren.
Ein Geist ... Ein weiteres Stück Klebeband verschloss ihren Mund, und sie sog die schale Luft durch die Nase ein. Dabei hielt sie sich bewusst zurück, als könnte der Kofferraum ihres Camry nur ein gewisses Maß an Sauerstoff fassen. Ein schmerzhafter Aufprall, als der Wagen durch ein Schlagloch fuhr. Sie stieß einen kurzen, gedämpften Schrei aus. Von Zeit zu Zeit glommen andere schwache Lichter auf: ein mattes Rot, wenn er auf die Bremse trat, der Blinker.
Draußen blieb es finster; es war kurz vor ein Uhr morgens. Der leuchtende Geist schaukelte vor und zurück. Es handelte sich um die Notentriegelung des Kofferraums: ein Handgriff aus lumineszierendem Kunststoff, versehen mit dem komischen Abbild eines Mannes, der aus dem Wagen sprang. Aber der Griff blieb knapp außerhalb der Reichweite ihrer Füße. Tammy Foster hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr zu weinen. Sie war in Tränen ausgebrochen, gleich nachdem der Angreifer sie auf dem düsteren Parkplatz des Clubs von hinten gepackt, ihr den Mund zugeklebt, die Hände auf den Rücken gebunden und sie in den Kofferraum gestoßen hatte, wo er ihr auch noch die Füße fesselte. Starr vor Angst hatte die Siebzehnjährige gedacht: Er will nicht, dass ich ihn zu Gesicht bekomme. Das ist gut. Er will mich nicht töten. Er will mich bloß einschüchtern. Sie hatte sich im Kofferraum umgesehen, den baumelnden Geist entdeckt und versucht, ihn mit den Füßen packen zu können, aber er rutschte immer wieder zwischen ihren Schuhen hindurch.
Tammy befand sich in guter körperlicher Verfassung, spielte Fußball und war Cheerleader. Doch aufgrund des ungünstigen Winkels konnte sie die Beine stets nur für ein paar Sekunden anheben. Der Geist entzog sich ihr. Das Auto fuhr weiter. Mit jedem Meter wuchs Tammy Fosters Verzweiflung. Sie fing wieder an zu weinen. Nicht, nicht! Deine Nase wird verstopfen, und du erstickst. Sie riss sich zusammen. Eigentlich musste sie um Mitternacht zu Hause sein. Ihre Mutter würde sie vermissen falls sie nicht betrunken auf der Couch lag, weil es mit ihrem aktuellen Freund irgendein Problem gab. Ihre Schwester würde Tammys Abwesenheit bemerken müssen, sofern sie nicht im Internet oder am Telefon hing. Was natürlich der Fall war. Pling.
Das gleiche Geräusch wie zuvor schon einmal: das Klirren von Metall, als er etwas auf die Rückbank geladen hatte. Tammy dachte an einige Gruselfilme, die sie gesehen hatte. Brutale, abstoßende Streifen. Mit Folter und Mord. Wofür Werkzeuge benutzt wurden. Denk an was anderes. Tammy konzentrierte sich auf den baumelnden grünen Geist der Notentriegelung. Und vernahm ein neues Geräusch. Das Meer.
Schließlich hielten sie, und er schaltete den Motor aus. Die Rückleuchten erloschen. Das Auto schaukelte, als der Mann sich auf dem Fahrersitz umwandte. Was machte er da? Irgendwo in der Nähe ertönte der kehlige Ruf einer Robbe. Sie befanden sich an einem Strand, der zu dieser Nachtzeit vollkommen menschenleer sein würde. Eine der Wagentüren ging auf und wieder zu. Eine zweite wurde geöffnet. Abermals das metallische Klirren von der Rückbank. Folter ... Werkzeuge.
Die Tür wurde lautstark zugeworfen. Und Tammy Foster brach zusammen. Sie fing an zu schluchzen und schaffte es kaum noch, die schlechte Luft einzuatmen.
»Nein, bitte, bitte!«, rief sie, obwohl die Worte durch das Klebeband erstickt wurden und wie eine Art Stöhnen klangen. Tammy schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel, während sie auf das Klicken des Kofferraumdeckels wartete. Die Wogen brachen sich. Die Robben schrien. Sie würde sterben.
»Mama.« Doch dann ... nichts.
Der Kofferraum ging nicht auf, auch keine der Wagentüren, und es näherten sich keine Schritte. Nach drei Minuten bekam Tammy das Weinen in den Griff. Die Panik ließ nach. Fünf Minuten vergingen, und er hatte den Kofferraum noch immer nicht geöffnet. Zehn Minuten.
Tammy lachte leise und ungläubig auf. Es war bloß blinder Alarm. Der Kerl würde sie nicht töten oder vergewaltigen. Jemand hatte sich einen üblen Scherz mit ihr erlaubt. Sie verzog den Mund unter dem Klebeband sogar zu einem Lächeln, als der Wagen sich plötzlich ein winziges Stück bewegte. Das Lächeln verschwand. Der Camry schaukelte erneut in einer sanften Bewegung vor und zurück, allerdings etwas stärker als beim ersten Mal. Sie hörte ein Plätschern und erschauderte.
Tammy wusste, dass eine Welle gegen das vordere Ende des Wagens geschlagen war.
O mein Gott, nein!
Er hatte sie hier am Strand zurückgelassen, und nun kam die Flut! Der Wagen sank in den Sand ein, weil das Wasser die Reifen unterspülte. Nein! Sie hatte vor kaum etwas so viel Angst wie vor dem Ertrinken. Und davor, an einem engen Ort wie diesem festzustecken. Es war unvorstellbar. Tammy fing an, gegen den Kofferraumdeckel zu treten. Doch natürlich war außer den Robben niemand da, der sie hätte hören können. Das Wasser umspielte nun geräuschvoll die Seiten des Toyotas.
Der Geist ... Es musste ihr einfach irgendwie gelingen, den Entriegelungshebel zu ziehen. Tammy streifte sich mühsam die Schuhe ab und versuchte es von Neuem. Ihr Kopf drückte sich fest gegen den Teppich, und ihre Füße hoben sich quälend langsam dem schimmernden Handgriff entgegen. Sie bekam ihn zu beiden Seiten mit den Zehen zu fassen und presste die Beine so fest zusammen, dass ihre Bauchmuskeln zitterten. Jetzt! Mit Krämpfen in den Beinen zog sie den Geist nach unten. Ein leises metallisches Geräusch. Ja! Es funktionierte! Aber dann stöhnte sie entsetzt auf. Sie hatte mit ihren Füßen den Handgriff herausgezogen, ohne den Kofferraum zu öffnen. Der grüne Geist lag nun neben ihr.
Der Kerl musste das Kabel durchgeschnitten haben! Und zwar gleich nachdem er sie in den Kofferraum geworfen hatte. Der Griff hatte nur noch locker in der Öse gebaumelt, ohne weiterhin mit dem Entriegelungskabel verbunden zu sein.
Sie steckte fest. Bitte, hilf mir doch jemand, betete Tammy erneut. Zu Gott, zu einem Passanten, sogar zu ihrem Entführer, der vielleicht doch noch etwas Mitleid mit ihr haben würde.
Aber die einzige Antwort war das ungerührte Gluckern des Salzwassers, das allmählich in den Kofferraum sickerte.
Das Peninsula Garden Hotel liegt versteckt in der Nähe des Highway 68 jener ehrwürdigen Trasse, die ein mehr als dreißig Kilometer langes Diorama namens
»Die vielen Gesichter von Monterey County« darstellt. Die Straße schlängelt sich von der Salatschüssel der Nation Salinas nach Westen und streift dabei das grüne Tal des Himmels, die dynamische Rennstrecke Laguna Seca, diverse Bürobauten und Firmengelände, dann das staubige Monterey und das von Kiefern und Hemlocktannen geprägte Pacific Grove.
Am Ende entlässt der Highway die Fahrer zumindest jene, die die abwechslungsreiche Strecke auf voller Länge befahren am legendären Seventeen Mile Drive, der Heimat einer hier weitverbreiteten Spezies: Leute mit Geld. »Nicht schlecht«, sagte Michael O'Neil zu Kathryn Dance, als sie aus seinem Wagen stiegen. Der Blick der Frau wanderte durch eine schmale Brille mit grauem Gestell über das in einer Mischung aus spanischem und Art-déco-Stil gehaltene Haupthaus und das halbe Dutzend angrenzender Gebäude.
Das Hotel besaß Klasse, wenngleich es ein wenig altmodisch und angestaubt wirkte.
»Schick. Gefällt mir.« Während sie dort standen und in der Ferne gerade so eben noch der Pazifische Ozean zu sehen war, versuchte Dance, eine Expertin für Kinesik Körpersprache , ihren Begleiter zu durchschauen, aber der Chief Deputy aus der Ermittlungsabteilung des Monterey County Sheriff's Office erwies sich als harte Nuss. Der stämmige Mittvierziger mit dem grau melierten Haar war freundlich, aber still, solange er seinen Gesprächspartner nicht gut kannte. Und sogar dann blieb seine Mimik und Gestik eher sparsam. Aus kinesischer Sicht gab er nur wenig von sich preis.
Im Augenblick jedoch erkannte Dance, dass er kein bisschen nervös war, trotz des Anlasses für ihre Fahrt hierher. Ganz im Gegensatz zu ihr selbst. Kathryn Dance, eine schlanke Frau Mitte dreißig, hatte ihr dunkelblondes Haar heute wie so oft zu einem festen Zopf geflochten, der in einem leuchtend blauen Band endete. Ihre Tochter hatte es an jenem Morgen für sie ausgesucht und zu einer ordentlichen Schleife gebunden. Dance trug einen langen schwarzen Faltenrock sowie ein passendes Jackett über einer weißen Bluse, dazu schwarze Halbstiefel mit fünf Zentimeter hohen Absätzen.
Sie hatte diese Schuhe monatelang bewundert, sich mit dem Kauf dann aber nur so lange zurückhalten können, bis sie im Preis herabgesetzt worden waren. O'Neil hatte eine seiner drei oder vier Zivilmonturen angelegt: Stoffhose, blassblaues Hemd, keine Krawatte. Sein Sakko war dunkelblau, mit leichtem Karomuster.
Die Miene des livrierten Portiers, eines fröhlichen Latinos, schien zu besagen: Ihr seid aber ein hübsches Paar.
»Willkommen. Ich hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt genießen.«
Er öffnete ihnen die Tür. Dance lächelte O'Neil verunsichert zu, und sie gingen durch die luftige Eingangshalle zur Rezeption. Vom Hauptgebäude aus machten sie sich auf den Weg über das verschachtelte Hotelgelände und suchten nach dem Zimmer.
»Ich hätte nie gedacht, dass es dazu kommen würde«, sagte O'Neil zu ihr. Dance lachte leise auf und ertappte sich belustigt dabei, dass ihr Blick sich immer wieder auf die umliegenden Türen und Fenster richtete. Es war eine kinesische Reaktion, die erkennen ließ, dass jemand unterbewusst nach einem Fluchtweg suchte, um sich einer Stresssituation zu entziehen.
»Sieh mal«, sagte sie und deutete auf einen weiteren Swimmingpool. Es schien hier insgesamt vier zu geben.
»Wie Disneyland für Erwachsene. Ich habe gehört, dass viele Rockmusiker gern hier absteigen.« »Wirklich?« Sie runzelte die Stirn. »Wieso denn nicht?«
»Die Häuser sind ebenerdig. Da macht es ja gar keinen Spaß, sich zuzudröhnen und Fernseher oder Möbel aus dem Fenster zu werfen.«
»Wir sind hier in Carmel«, rief O'Neil ihr ins Gedächtnis.
»Hier gilt man schon als wild, wenn man den Müll nicht ordnungsgemäß trennt.«
Dance hatte eine schlagfertige Erwiderung auf der Zunge, sagte jedoch nichts. Diese Scherze machten sie nur noch nervöser. Sie blieb neben einer Palme stehen, deren Blätter wie scharfe Klingen aussahen.
»Wohin müssen wir?« Der Deputy sah auf einen Zettel, orientierte sich und deutete auf eines der Häuser weiter hinten.
»Dahin.« Vor der Tür hielten O'Neil und Dance inne. Er atmete tief durch und zog eine Augenbraue hoch.
»Ich glaube, wir sind da.« Dance lachte.
»Ich komme mir wie ein Teenager vor.« Der Deputy klopfte an. Es dauerte einen Moment, dann öffnete sich die Tür. Im Eingang stand ein schmaler Mann von ungefähr fünfzig Jahren mit dunkler Hose, weißem Hemd und gestreifter Krawatte.
»Michael, Kathryn. Pünktlich auf die Minute. Bitte treten Sie ein.«
Ernest Seybold, ein erfolgreicher leitender Staatsanwalt aus Los Angeles County, winkte sie herein. Im Zimmer saß eine Gerichtsstenografin neben ihrem dreibeinigen Arbeitsgerät. Eine zweite junge Frau erhob sich und begrüßte die Neuankömmlinge. Seybold stellte sie als seine Mitarbeiterin aus L. A. vor.
Dance und O'Neil hatten diesen Monat einen Fall in Monterey bearbeitet der verurteilte Kultführer und Mörder Daniel Pell war aus der Haft entflohen und auf der Halbinsel geblieben, weil er es auf weitere Opfer abgesehen hatte. Im Zuge der Ermittlungen hatten Dance und ihre Kollegen erkennen müssen, dass es sich bei einem der Beteiligten um eine völlig andere Person handelte als anfänglich gedacht. Als Konsequenz daraus war es unter anderem zu einem weiteren Mord gekommen. Dance wollte den Täter unbedingt zur Rechenschaft ziehen. Doch es wurde viel Druck ausgeübt, die Sache nicht weiter zu verfolgen seitens einiger sehr mächtiger Organisationen.
Dance hingegen ließ sich nicht beirren, und als die Staatsanwaltschaft von Monterey County es ablehnte, den Fall vor Gericht zu bringen, wandten sie und O'Neil sich an die Behörden in Los Angeles, denn sie hatten erfahren, dass der Täter dort früher schon gemordet hatte. Staatsanwalt Seybold, der nicht nur regelmäßig mit Dances Arbeitgeber, dem California Bureau of Investigation, zusammenarbeitete, sondern außerdem mit Dance befreundet war, willigte ein, in L. A. Anklage zu erheben. Da manche der Zeugen sich jedoch in Monterey und Umgebung aufhielten, darunter auch Dance und O'Neil, war Seybold für einen Tag angereist, um ihre Aussagen zu Protokoll zu nehmen. Der konspirative Charakter dieses Treffens war den zahlreichen Beziehungen und dem guten Ruf des Täters geschuldet. Vorläufig wurde sogar nicht einmal der richtige Name des Mörders benutzt; intern lief der Fall als Das Volk gegen J. Doe.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es ein Problem geben könnte«, sagte Seybold, als sie sich setzten. Das flaue Gefühl, das Dance zuvor empfunden hatte dass etwas schiefgehen würde , kehrte zurück.
»Die Verteidigung hat den Antrag gestellt, den Fall wegen angeblicher Immunität des Beklagten abzuweisen«, fuhr der Staatsanwalt fort.
»Ich kann beim besten Willen nicht beurteilen, wie groß die Chancen dafür sind. Die Anhörung wurde für übermorgen anberaumt.« Dance schloss die Augen.
»Nein.«
Neben ihr atmete O'Neil verärgert aus. All die Mühe ... Sollte er davonkommen ..., dachte Dance, bis ihr klar wurde, dass sie nichts hinzuzufügen hatte, außer: Sollte er davonkommen, dann habe ich verloren. Sie spürte, dass ihr Unterkiefer bebte.
»Eines meiner Teams arbeitet bereits an unserer Erwiderung«, sagte Seybold dann.
»Die Leute sind gut. Die besten der ganzen Behörde.«
»Strengt euch an, Ernie«, sagte Dance.
»Ich will diesen Kerl. Ich will ihn um jeden Preis.«
»Das wollen viele, Kathryn. Wir tun alles, was in unserer Macht steht.« Sollte er davonkommen ...
»Ich gehe weiterhin davon aus, dass wir gewinnen werden.«
Er klang zuversichtlich, was Dance ein wenig beruhigte. Sie fingen an. Seybold stellte Dutzende von Fragen über das Verbrechen, sowohl über Dances und O'Neils persönliche Beobachtungen als auch über die Beweis- und Spurenlage. Der drahtige Mann war ein erfahrener Anklagevertreter und wusste, was er tat. Nach einer Stunde gemeinschaftlicher Befragung lehnte er sich zurück und sagte, er habe fürs Erste genug gehört. Jeden Augenblick musste der nächste Zeuge eintreffen, ein hiesiger Staatspolizist, der sich ebenfalls zu einer Aussage bereitgefunden hatte.
Dance und O'Neil dankten Seybold, der versprach, ihnen das Ergebnis der Immunitätsanhörung umgehend mitzuteilen. Auf dem Rückweg zur Lobby verlangsamte O'Neil plötzlich seinen Schritt und runzelte die Stirn.
»Was ist?«, fragte Dance. »Lass uns schwänzen.«
Übersetzung: Thomas Haufschild
© der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Da ... das war es. Vierhundert Meter voraus lag etwas Buntes am Fuß eines der Sandhügel, die den Blick auf die Monterey Bay versperrten. Was konnte das sein? Er schaltete vorschriftsgemäß die Signalleuchten ein und fuhr auf den rechten Seitenstreifen. Dann hielt er so an, dass die Haube des Ford ein Stück nach links in Richtung der Fahrspuren wies, damit ein eventuell auffahrender Wagen den Crown Victoria von ihm weg und nicht genau auf ihn zu stoßen würde. Der Beamte stieg aus. Dort im Sand gleich jenseits der Standspur steckte ein Kreuz zum Gedenken an einen tödlichen Unfall. Es war ungefähr fünfundvierzig Zentimeter hoch und handgemacht aus dunklen, abgebrochenen Zweigen, die mit einem Draht zusammengebunden waren, wie Floristen ihn benutzen.
Davor lag ein Strauß aus dunkelroten Rosen ausgebreitet, und an ihm hing ein Pappschild, auf dem in blauer Tinte das Datum des Unfalls geschrieben stand. Weder auf der Vorder- noch auf der Rückseite war irgendein Name vermerkt. Die Behörden sahen solche Gedenkstätten nicht gern, denn es wurden gelegentlich Leute verletzt oder gar getötet, während sie damit beschäftigt waren, an der Straße ein Kreuz zu errichten oder Blumen und Stofftiere niederzulegen. Orte wie dieser wirkten normalerweise geschmackvoll und ergreifend. Der hier war unheimlich. Merkwürdig war auch, dass der Beamte sich an keine entsprechenden Unfälle in dieser Gegend erinnern konnte.
Es handelte sich hier sogar um einen der sichersten Abschnitte des Highway 1 in ganz Kalifornien. Südlich von Carmel gab es viele riskante Stellen, zum Beispiel am Schauplatz jenes wirklich tragischen Unfalls, bei dem vor einigen Wochen zwei Mädchen auf dem Rückweg von einer Abschlussfeier ums Leben gekommen waren. Hier hingegen verlief der Highway dreispurig und im Wesentlichen gerade, abgesehen von vereinzelten leichten Biegungen vorbei am Gelände des alten Fort Ord, heutzutage ein Universitätscampus, und den Einkaufsvierteln.
Der Beamte überlegte kurz, ob er das Kreuz entfernen sollte, aber dann würden die Trauernden womöglich zurückkehren, um ein neues zu errichten, und sich so abermals in Gefahr bringen. Am besten ließ er einfach alles, wie es war. Er nahm sich vor, am nächsten Morgen seinen Sergeant danach zu fragen, was hier geschehen war. Dann kehrte er zu seinem Wagen zurück, warf den Hut auf den Beifahrersitz und strich sich über das kurz geschorene Haar. Als er sich wieder in den Verkehr einreihte, dachte er nicht länger über irgendwelche Unfälle nach, sondern darüber, was seine Frau wohl zum Abendessen kochen würde und ob er mit den Kindern nach dem Essen noch in den Pool springen sollte. Und wann wollte sein Bruder doch gleich zu Besuch kommen? Er sah auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr und runzelte die Stirn. Konnte das sein?
Ein Blick auf das Display seines Mobiltelefons bestätigte, dass, jawohl, heute der 25. Juni war. Wie seltsam. Wer auch immer dieses Kreuz am Straßenrand hinterlassen hatte ihm war ein Fehler unterlaufen. Der Beamte wusste genau, dass auf dem Pappschild in ungelenker Handschrift der 26. Juni gestanden hatte, der morgige Dienstag. Vielleicht waren die armen Trauernden ja so durcheinander gewesen, dass sie sich beim Datum vertan hatten. Dann wichen die Bilder des gespenstischen Kreuzes in den Hintergrund zurück, aber sie verschwanden nicht völlig.
Auf dem Rest seines Heimwegs fuhr der Beamte etwas vorsichtiger als üblich.
DIENSTAG
Kapitel 2
Der schwache Lichtschein blassgrün, wie von einem Geist tanzte knapp außerhalb ihrer Reichweite. Wenn sie ihn doch nur erreichen könnte. Wenn sie den Geist erreichen könnte, wäre sie gerettet. Der Schimmer, der in der Dunkelheit des Kofferraums schwebte, baumelte wie zum Hohn ein Stück oberhalb ihrer Füße, die genau wie ihre Hände mit Isolierband gefesselt waren.
Ein Geist ... Ein weiteres Stück Klebeband verschloss ihren Mund, und sie sog die schale Luft durch die Nase ein. Dabei hielt sie sich bewusst zurück, als könnte der Kofferraum ihres Camry nur ein gewisses Maß an Sauerstoff fassen. Ein schmerzhafter Aufprall, als der Wagen durch ein Schlagloch fuhr. Sie stieß einen kurzen, gedämpften Schrei aus. Von Zeit zu Zeit glommen andere schwache Lichter auf: ein mattes Rot, wenn er auf die Bremse trat, der Blinker.
Draußen blieb es finster; es war kurz vor ein Uhr morgens. Der leuchtende Geist schaukelte vor und zurück. Es handelte sich um die Notentriegelung des Kofferraums: ein Handgriff aus lumineszierendem Kunststoff, versehen mit dem komischen Abbild eines Mannes, der aus dem Wagen sprang. Aber der Griff blieb knapp außerhalb der Reichweite ihrer Füße. Tammy Foster hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr zu weinen. Sie war in Tränen ausgebrochen, gleich nachdem der Angreifer sie auf dem düsteren Parkplatz des Clubs von hinten gepackt, ihr den Mund zugeklebt, die Hände auf den Rücken gebunden und sie in den Kofferraum gestoßen hatte, wo er ihr auch noch die Füße fesselte. Starr vor Angst hatte die Siebzehnjährige gedacht: Er will nicht, dass ich ihn zu Gesicht bekomme. Das ist gut. Er will mich nicht töten. Er will mich bloß einschüchtern. Sie hatte sich im Kofferraum umgesehen, den baumelnden Geist entdeckt und versucht, ihn mit den Füßen packen zu können, aber er rutschte immer wieder zwischen ihren Schuhen hindurch.
Tammy befand sich in guter körperlicher Verfassung, spielte Fußball und war Cheerleader. Doch aufgrund des ungünstigen Winkels konnte sie die Beine stets nur für ein paar Sekunden anheben. Der Geist entzog sich ihr. Das Auto fuhr weiter. Mit jedem Meter wuchs Tammy Fosters Verzweiflung. Sie fing wieder an zu weinen. Nicht, nicht! Deine Nase wird verstopfen, und du erstickst. Sie riss sich zusammen. Eigentlich musste sie um Mitternacht zu Hause sein. Ihre Mutter würde sie vermissen falls sie nicht betrunken auf der Couch lag, weil es mit ihrem aktuellen Freund irgendein Problem gab. Ihre Schwester würde Tammys Abwesenheit bemerken müssen, sofern sie nicht im Internet oder am Telefon hing. Was natürlich der Fall war. Pling.
Das gleiche Geräusch wie zuvor schon einmal: das Klirren von Metall, als er etwas auf die Rückbank geladen hatte. Tammy dachte an einige Gruselfilme, die sie gesehen hatte. Brutale, abstoßende Streifen. Mit Folter und Mord. Wofür Werkzeuge benutzt wurden. Denk an was anderes. Tammy konzentrierte sich auf den baumelnden grünen Geist der Notentriegelung. Und vernahm ein neues Geräusch. Das Meer.
Schließlich hielten sie, und er schaltete den Motor aus. Die Rückleuchten erloschen. Das Auto schaukelte, als der Mann sich auf dem Fahrersitz umwandte. Was machte er da? Irgendwo in der Nähe ertönte der kehlige Ruf einer Robbe. Sie befanden sich an einem Strand, der zu dieser Nachtzeit vollkommen menschenleer sein würde. Eine der Wagentüren ging auf und wieder zu. Eine zweite wurde geöffnet. Abermals das metallische Klirren von der Rückbank. Folter ... Werkzeuge.
Die Tür wurde lautstark zugeworfen. Und Tammy Foster brach zusammen. Sie fing an zu schluchzen und schaffte es kaum noch, die schlechte Luft einzuatmen.
»Nein, bitte, bitte!«, rief sie, obwohl die Worte durch das Klebeband erstickt wurden und wie eine Art Stöhnen klangen. Tammy schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel, während sie auf das Klicken des Kofferraumdeckels wartete. Die Wogen brachen sich. Die Robben schrien. Sie würde sterben.
»Mama.« Doch dann ... nichts.
Der Kofferraum ging nicht auf, auch keine der Wagentüren, und es näherten sich keine Schritte. Nach drei Minuten bekam Tammy das Weinen in den Griff. Die Panik ließ nach. Fünf Minuten vergingen, und er hatte den Kofferraum noch immer nicht geöffnet. Zehn Minuten.
Tammy lachte leise und ungläubig auf. Es war bloß blinder Alarm. Der Kerl würde sie nicht töten oder vergewaltigen. Jemand hatte sich einen üblen Scherz mit ihr erlaubt. Sie verzog den Mund unter dem Klebeband sogar zu einem Lächeln, als der Wagen sich plötzlich ein winziges Stück bewegte. Das Lächeln verschwand. Der Camry schaukelte erneut in einer sanften Bewegung vor und zurück, allerdings etwas stärker als beim ersten Mal. Sie hörte ein Plätschern und erschauderte.
Tammy wusste, dass eine Welle gegen das vordere Ende des Wagens geschlagen war.
O mein Gott, nein!
Er hatte sie hier am Strand zurückgelassen, und nun kam die Flut! Der Wagen sank in den Sand ein, weil das Wasser die Reifen unterspülte. Nein! Sie hatte vor kaum etwas so viel Angst wie vor dem Ertrinken. Und davor, an einem engen Ort wie diesem festzustecken. Es war unvorstellbar. Tammy fing an, gegen den Kofferraumdeckel zu treten. Doch natürlich war außer den Robben niemand da, der sie hätte hören können. Das Wasser umspielte nun geräuschvoll die Seiten des Toyotas.
Der Geist ... Es musste ihr einfach irgendwie gelingen, den Entriegelungshebel zu ziehen. Tammy streifte sich mühsam die Schuhe ab und versuchte es von Neuem. Ihr Kopf drückte sich fest gegen den Teppich, und ihre Füße hoben sich quälend langsam dem schimmernden Handgriff entgegen. Sie bekam ihn zu beiden Seiten mit den Zehen zu fassen und presste die Beine so fest zusammen, dass ihre Bauchmuskeln zitterten. Jetzt! Mit Krämpfen in den Beinen zog sie den Geist nach unten. Ein leises metallisches Geräusch. Ja! Es funktionierte! Aber dann stöhnte sie entsetzt auf. Sie hatte mit ihren Füßen den Handgriff herausgezogen, ohne den Kofferraum zu öffnen. Der grüne Geist lag nun neben ihr.
Der Kerl musste das Kabel durchgeschnitten haben! Und zwar gleich nachdem er sie in den Kofferraum geworfen hatte. Der Griff hatte nur noch locker in der Öse gebaumelt, ohne weiterhin mit dem Entriegelungskabel verbunden zu sein.
Sie steckte fest. Bitte, hilf mir doch jemand, betete Tammy erneut. Zu Gott, zu einem Passanten, sogar zu ihrem Entführer, der vielleicht doch noch etwas Mitleid mit ihr haben würde.
Aber die einzige Antwort war das ungerührte Gluckern des Salzwassers, das allmählich in den Kofferraum sickerte.
Das Peninsula Garden Hotel liegt versteckt in der Nähe des Highway 68 jener ehrwürdigen Trasse, die ein mehr als dreißig Kilometer langes Diorama namens
»Die vielen Gesichter von Monterey County« darstellt. Die Straße schlängelt sich von der Salatschüssel der Nation Salinas nach Westen und streift dabei das grüne Tal des Himmels, die dynamische Rennstrecke Laguna Seca, diverse Bürobauten und Firmengelände, dann das staubige Monterey und das von Kiefern und Hemlocktannen geprägte Pacific Grove.
Am Ende entlässt der Highway die Fahrer zumindest jene, die die abwechslungsreiche Strecke auf voller Länge befahren am legendären Seventeen Mile Drive, der Heimat einer hier weitverbreiteten Spezies: Leute mit Geld. »Nicht schlecht«, sagte Michael O'Neil zu Kathryn Dance, als sie aus seinem Wagen stiegen. Der Blick der Frau wanderte durch eine schmale Brille mit grauem Gestell über das in einer Mischung aus spanischem und Art-déco-Stil gehaltene Haupthaus und das halbe Dutzend angrenzender Gebäude.
Das Hotel besaß Klasse, wenngleich es ein wenig altmodisch und angestaubt wirkte.
»Schick. Gefällt mir.« Während sie dort standen und in der Ferne gerade so eben noch der Pazifische Ozean zu sehen war, versuchte Dance, eine Expertin für Kinesik Körpersprache , ihren Begleiter zu durchschauen, aber der Chief Deputy aus der Ermittlungsabteilung des Monterey County Sheriff's Office erwies sich als harte Nuss. Der stämmige Mittvierziger mit dem grau melierten Haar war freundlich, aber still, solange er seinen Gesprächspartner nicht gut kannte. Und sogar dann blieb seine Mimik und Gestik eher sparsam. Aus kinesischer Sicht gab er nur wenig von sich preis.
Im Augenblick jedoch erkannte Dance, dass er kein bisschen nervös war, trotz des Anlasses für ihre Fahrt hierher. Ganz im Gegensatz zu ihr selbst. Kathryn Dance, eine schlanke Frau Mitte dreißig, hatte ihr dunkelblondes Haar heute wie so oft zu einem festen Zopf geflochten, der in einem leuchtend blauen Band endete. Ihre Tochter hatte es an jenem Morgen für sie ausgesucht und zu einer ordentlichen Schleife gebunden. Dance trug einen langen schwarzen Faltenrock sowie ein passendes Jackett über einer weißen Bluse, dazu schwarze Halbstiefel mit fünf Zentimeter hohen Absätzen.
Sie hatte diese Schuhe monatelang bewundert, sich mit dem Kauf dann aber nur so lange zurückhalten können, bis sie im Preis herabgesetzt worden waren. O'Neil hatte eine seiner drei oder vier Zivilmonturen angelegt: Stoffhose, blassblaues Hemd, keine Krawatte. Sein Sakko war dunkelblau, mit leichtem Karomuster.
Die Miene des livrierten Portiers, eines fröhlichen Latinos, schien zu besagen: Ihr seid aber ein hübsches Paar.
»Willkommen. Ich hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt genießen.«
Er öffnete ihnen die Tür. Dance lächelte O'Neil verunsichert zu, und sie gingen durch die luftige Eingangshalle zur Rezeption. Vom Hauptgebäude aus machten sie sich auf den Weg über das verschachtelte Hotelgelände und suchten nach dem Zimmer.
»Ich hätte nie gedacht, dass es dazu kommen würde«, sagte O'Neil zu ihr. Dance lachte leise auf und ertappte sich belustigt dabei, dass ihr Blick sich immer wieder auf die umliegenden Türen und Fenster richtete. Es war eine kinesische Reaktion, die erkennen ließ, dass jemand unterbewusst nach einem Fluchtweg suchte, um sich einer Stresssituation zu entziehen.
»Sieh mal«, sagte sie und deutete auf einen weiteren Swimmingpool. Es schien hier insgesamt vier zu geben.
»Wie Disneyland für Erwachsene. Ich habe gehört, dass viele Rockmusiker gern hier absteigen.« »Wirklich?« Sie runzelte die Stirn. »Wieso denn nicht?«
»Die Häuser sind ebenerdig. Da macht es ja gar keinen Spaß, sich zuzudröhnen und Fernseher oder Möbel aus dem Fenster zu werfen.«
»Wir sind hier in Carmel«, rief O'Neil ihr ins Gedächtnis.
»Hier gilt man schon als wild, wenn man den Müll nicht ordnungsgemäß trennt.«
Dance hatte eine schlagfertige Erwiderung auf der Zunge, sagte jedoch nichts. Diese Scherze machten sie nur noch nervöser. Sie blieb neben einer Palme stehen, deren Blätter wie scharfe Klingen aussahen.
»Wohin müssen wir?« Der Deputy sah auf einen Zettel, orientierte sich und deutete auf eines der Häuser weiter hinten.
»Dahin.« Vor der Tür hielten O'Neil und Dance inne. Er atmete tief durch und zog eine Augenbraue hoch.
»Ich glaube, wir sind da.« Dance lachte.
»Ich komme mir wie ein Teenager vor.« Der Deputy klopfte an. Es dauerte einen Moment, dann öffnete sich die Tür. Im Eingang stand ein schmaler Mann von ungefähr fünfzig Jahren mit dunkler Hose, weißem Hemd und gestreifter Krawatte.
»Michael, Kathryn. Pünktlich auf die Minute. Bitte treten Sie ein.«
Ernest Seybold, ein erfolgreicher leitender Staatsanwalt aus Los Angeles County, winkte sie herein. Im Zimmer saß eine Gerichtsstenografin neben ihrem dreibeinigen Arbeitsgerät. Eine zweite junge Frau erhob sich und begrüßte die Neuankömmlinge. Seybold stellte sie als seine Mitarbeiterin aus L. A. vor.
Dance und O'Neil hatten diesen Monat einen Fall in Monterey bearbeitet der verurteilte Kultführer und Mörder Daniel Pell war aus der Haft entflohen und auf der Halbinsel geblieben, weil er es auf weitere Opfer abgesehen hatte. Im Zuge der Ermittlungen hatten Dance und ihre Kollegen erkennen müssen, dass es sich bei einem der Beteiligten um eine völlig andere Person handelte als anfänglich gedacht. Als Konsequenz daraus war es unter anderem zu einem weiteren Mord gekommen. Dance wollte den Täter unbedingt zur Rechenschaft ziehen. Doch es wurde viel Druck ausgeübt, die Sache nicht weiter zu verfolgen seitens einiger sehr mächtiger Organisationen.
Dance hingegen ließ sich nicht beirren, und als die Staatsanwaltschaft von Monterey County es ablehnte, den Fall vor Gericht zu bringen, wandten sie und O'Neil sich an die Behörden in Los Angeles, denn sie hatten erfahren, dass der Täter dort früher schon gemordet hatte. Staatsanwalt Seybold, der nicht nur regelmäßig mit Dances Arbeitgeber, dem California Bureau of Investigation, zusammenarbeitete, sondern außerdem mit Dance befreundet war, willigte ein, in L. A. Anklage zu erheben. Da manche der Zeugen sich jedoch in Monterey und Umgebung aufhielten, darunter auch Dance und O'Neil, war Seybold für einen Tag angereist, um ihre Aussagen zu Protokoll zu nehmen. Der konspirative Charakter dieses Treffens war den zahlreichen Beziehungen und dem guten Ruf des Täters geschuldet. Vorläufig wurde sogar nicht einmal der richtige Name des Mörders benutzt; intern lief der Fall als Das Volk gegen J. Doe.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es ein Problem geben könnte«, sagte Seybold, als sie sich setzten. Das flaue Gefühl, das Dance zuvor empfunden hatte dass etwas schiefgehen würde , kehrte zurück.
»Die Verteidigung hat den Antrag gestellt, den Fall wegen angeblicher Immunität des Beklagten abzuweisen«, fuhr der Staatsanwalt fort.
»Ich kann beim besten Willen nicht beurteilen, wie groß die Chancen dafür sind. Die Anhörung wurde für übermorgen anberaumt.« Dance schloss die Augen.
»Nein.«
Neben ihr atmete O'Neil verärgert aus. All die Mühe ... Sollte er davonkommen ..., dachte Dance, bis ihr klar wurde, dass sie nichts hinzuzufügen hatte, außer: Sollte er davonkommen, dann habe ich verloren. Sie spürte, dass ihr Unterkiefer bebte.
»Eines meiner Teams arbeitet bereits an unserer Erwiderung«, sagte Seybold dann.
»Die Leute sind gut. Die besten der ganzen Behörde.«
»Strengt euch an, Ernie«, sagte Dance.
»Ich will diesen Kerl. Ich will ihn um jeden Preis.«
»Das wollen viele, Kathryn. Wir tun alles, was in unserer Macht steht.« Sollte er davonkommen ...
»Ich gehe weiterhin davon aus, dass wir gewinnen werden.«
Er klang zuversichtlich, was Dance ein wenig beruhigte. Sie fingen an. Seybold stellte Dutzende von Fragen über das Verbrechen, sowohl über Dances und O'Neils persönliche Beobachtungen als auch über die Beweis- und Spurenlage. Der drahtige Mann war ein erfahrener Anklagevertreter und wusste, was er tat. Nach einer Stunde gemeinschaftlicher Befragung lehnte er sich zurück und sagte, er habe fürs Erste genug gehört. Jeden Augenblick musste der nächste Zeuge eintreffen, ein hiesiger Staatspolizist, der sich ebenfalls zu einer Aussage bereitgefunden hatte.
Dance und O'Neil dankten Seybold, der versprach, ihnen das Ergebnis der Immunitätsanhörung umgehend mitzuteilen. Auf dem Rückweg zur Lobby verlangsamte O'Neil plötzlich seinen Schritt und runzelte die Stirn.
»Was ist?«, fragte Dance. »Lass uns schwänzen.«
Übersetzung: Thomas Haufschild
© der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Jeffery Deaver
Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autoren intelligenter psychologischer Thriller. Wie kaum ein anderer beherrscht der von seinen Fans und den Kritikern gleichermaßen geliebte Jeffery Deaver den schier unerträglichen Nervenkitzel, verführt mit falschen Fährten, überrascht mit blitzschnellen Wendungen und streut dem Leser auf seine unnachahmliche Art Sand in die Augen. Seit dem ersten großen Erfolg als Schriftsteller hat er sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher, die in 25 Sprachen übersetzt werden und in 150 Ländern erscheinen, haben ihm bereits zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingebracht. Die kongeniale Verfilmung seines Romans "Die Assistentin" unter dem Titel "Der Knochenjäger" (mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen) war weltweit ein sensationeller Kinoerfolg und hat dem faszinierenden Ermittler- und Liebespaar Lincoln Rhyme und Amelia Sachs eine riesige Fangemeinde erobert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jeffery Deaver
- 2010, 541 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Thomas Haufschild
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 376450336X
- ISBN-13: 9783764503369
- Erscheinungsdatum: 16.02.2010
Rezension zu „Allwissend “
»Spannend bis zur letzten Seite, eine rasante Geschichte mit ernsten Untertönen.«
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