Als hätten wir alle Zeit der Welt
Ein spannender Roman voller unheimlicher Elemente, Obsessionen und Verrat. Für alle Fans von Jodi Picoult und Kate Morton.
Joanna und Lucas sind schon seit ihrer Studienzeit Freunde. Dann erbt Lucas ein altes Herrenhaus auf dem...
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Produktinformationen zu „Als hätten wir alle Zeit der Welt “
Ein spannender Roman voller unheimlicher Elemente, Obsessionen und Verrat. Für alle Fans von Jodi Picoult und Kate Morton.
Joanna und Lucas sind schon seit ihrer Studienzeit Freunde. Dann erbt Lucas ein altes Herrenhaus auf dem Land. Und dort gesteht er Joanna endlich seine Liebe. Doch Joanna spürt, dass das Haus eine seltsame Wirkung auf Lucas hat. Und schon bald entdeckt Lucas ein beunruhigendes Geheimnis in seiner Familiengeschichte. Es folgt ein leidenschaftlicher, aber auch von den Schatten der Vergangenheit überdeckter Sommer an dessen Ende nichts mehr ist, wie es war.
Lese-Probe zu „Als hätten wir alle Zeit der Welt “
Als hätten wir alle Zeit der Welt von Lucie WhitehouseKapitel I
Noch heute erinnere ich mich so genau an den ersten Anblick des Hauses, als liefe in mir ein Video ab.
Danny, Martha und ich fuhren zusammen aus London aufs Land hinaus; unser kollektiver Wille hielt meine altersschwache Ente davon ab, liegen zu bleiben, wie sie es in letzter Zeit immer öfter tat. Die kalte Nachtluft zog durch die undichten Fenster herein, als ich die Karre zu einem Tempo antrieb, das sie mir spürbar übel nahm. Während wir an jenem Abend die Stadt verließen, wälzte sich dichter Verkehr stadteinwärts und wir fühlten uns ein bisschen wie Abenteurer — wir schwammen gegen den Strom.
Lucas' Wegbeschreibung war leicht zu folgen, bis wir von der Autobahn abfuhren. Dann verirrten wir uns bald im Labyrinth der schmalen Landsträßchen, die das südliche Oxfordshire durchziehen. Eigentlich war ich ganz froh darüber; ich wollte innerlich bereit sein, Lucas zu sehen, und die Meilen waren mir zu schnell vorbeigeflogen. In der halben Stunde, in der wir immer dieselben dunklen Straßen abfuhren, hatte ich Zeit zum Nachdenken. Schließlich blieb ich im Dorf, das wir eine ganze Weile umkreist hatten, am Straßenrand stehen.
Danny beugte sich zwischen den Sitzen nach vorn. »Das Kaff hier ist wie das Ende der Welt.«
Er hatte recht. Sogar für ein Dorf machte Stoneborough nichts her. Die fünf, sechs Cottages, die sich aneinanderdrängten, wirkten wie unbewohnt; nur aus einem kam etwas Licht: Hinter einer Tüllgardine im Obergeschoss flimmerte bläulich ein Fernseher. Im Dorf gab es einen Teich, dessen Ufer von gefrorenem Schilf rohr starrten, und eine Wiese, kaum mehr als ein Fleck steifes, weißes Gras. Niemand war darübergelaufen, seit der Raureif gefallen war.
»Wir können nicht nochmal im Kreis fahren«, sagte ich.
... mehr
»Wir müssen fragen.«
»Können wir Lucas nicht einfach anrufen?«, fragte Martha. »Ich hab keinen Empfang.«
Auf der anderen Straßenseite stand ein Pub, der White Swan, ein gedrungener Steinbau mit einem Dach wie ein zu großer Hut. Die oberen Fenster schielten verschlagen unter der Dachtraufe hervor.
»Vielleicht will das Haus nicht gefunden werden«, sagte Martha. Sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Ihr über den Knien eng anliegendes Cocktailkleid hinderte sie daran, wie sonst große Schritte zu machen; sie stöckelte durchs Scheinwerferlicht und trat ins Pub.
Nachdem ich den Motor abgestellt hatte, beugte sich Danny wieder zu mir nach vorn. »Ich hoffe stark, es ist nicht mehr weit. Es ist schon neun vorbei und ich brauch unbedingt einen Drink.« Er hatte ganz eindeutig eine Whiskyfahne.
»Du hast die ganze Fahrt immer wieder aus dem Flachmann getrunken. Ich hab dich im Rückspiegel beobachtet.« Ich drehte mich um und sah ihn an. Die Kutscherlampe des Pubs warf scharfe Schatten auf sein Gesicht. Er sah aus wie ein Kobold.
»Wir haben Silvester, Joanna.«
»Zünd mir doch eine Zigarette an, ja?«, bat ich ihn. »Meine sind im Kofferraum.« Er wühlte zwischen den Zeitungen auf dem Rücksitz herum und fand seine Schachtel. Das Streichholz flammte auf und erlosch. »Danke.«
»Deine Hände zittern.«
»Echt?« Ich streckte eine Hand aus und musterte meine Finger im Licht des Armaturenbretts. »Vielleicht ist es die Vorstellung von diesem großartigen Herrenhaus. Solche Kästen schüchtern eine englische Lehrerstochter ganz schön ein, weißt du.« Ich
zuckte mit den Achseln und kurbelte das Fenster herunter, um den Rauch hinauszublasen. Bei Danny hatte ich die Taktik entwickelt, meine Schwächen lieber gleich zuzugeben, als ihm das Vergnügen zu verschaffen, sie selbst bloßzulegen.
»Das gefällt mir an dir: Du bist immer so ehrlich, was deine bescheidene Herkunft angeht.« Er lehnte sich zurück und fing an, auf seinem Handy alte SMS durchzuklicken.
»Ganz schön aufregend für mich, endlich mal Zutritt zu den oberen Herrschaftsetagen zu bekommen!«
Martha kam aus dem Pub, die schwere Holztür fiel laut hinter ihr zu. »Da lang, etwa noch eine Meile. Ich glaube, wir sind mindestens dreimal daran vorbeigefahren. Es gibt anscheinend kein Hinweisschild, nur einen Weg, der nach links in den Wald abgeht.« Sie zog sich ihre rote Kunstpelzjacke enger um die Schultern. »Brr, ist das kalt da draußen.«
»Ich dachte, ihr New Yorker wärt an harte Winter gewöhnt«, sagte Danny.
Wir ließen das Dorf hinter uns. Ich lebte nun schon so lange in London, dass ich vergessen hatte, wie dunkel es auf dem Land wird. Hecken flitzten vorbei, nur von unseren Scheinwerfern beleuchtet, und fielen hinter uns wieder ins Dunkel zurück. Im Unterholz sahen wir mehrere kleine Augenpaare. Nach etwa einer Meile bremste ich ab und suchte genauer nach der Abzweigung. Wir kamen in einen Wald. Riesige Bäume wölbten sich über der Straße zu Tunnelskeletten, die kahlen, ineinander verflochtenen Äste wankten unheimlich hin und her. Ein paar Minuten fuhr ich langsam auf dem Randstreifen entlang.
»Da«, sagte Martha. »Das muss es sein.« Ich bog auf einen unbefestigten Weg ab. Ich hatte erwartet, das Haus schon vom Ende der Zufahrt aus zu sehen, und hielt nach Lichtern Ausschau, doch da war nichts als das dichte Gewirr nackter Zweige, die sich vor uns öffneten und hinter uns schlossen wie ein engmaschiges Netz. Mir fielen jene Märchenwälder ein, wo die Bäume rasend schnell zu wuchern beginnen und alle erwürgen, die so dumm sind, sich dort hineinzuwagen. Doch hier gab es,keine Anzeichen frischer Triebe. Alles um uns war abgestorben oder im Tiefschlaf, im winterlichen Trauergewand. Wir verstummten wie unter dem Bann der Äste, die sich drohend vor uns erhoben und dann wieder zur Seite wichen. Meine Ente musste sich auf dem Weg schwer abmühen, fast eine weitere Meile lang rumpelten und holperten wir über Schlaglöcher, bis sich nach einer Linksbiegung plötzlich eine kreisförmige Kiesauffahrt auftat.
Ich schaltete den Motor aus. Da, vor uns, lag das Haus. Stoneborough Manor in den Cotswolds, dieser Steinklotz — anders konnte man das Ding nicht nennen —, den Lucas, mein bester Freund, vor kurzem geerbt hatte.
Dreigeschossig ragte er in die Nacht, als wollte er ihr die Stirn bieten. Die sieben Fenster im ersten und im zweiten Stock warfen auf ihren schwarzen Flächen die schmale Mondsichel zurück, doch aus sämtlichen Fenstern des Erdgeschosses fiel Licht auf die beiden kleinen Rasenvierecke vor der Fassade. Eiben säumten den langen Weg zum Eingangsportal, das auf zwei glatten, runden Säulen ruhte. Mir wurde beklommen zumute. Lucas hatte mir das Haus ziemlich genau beschrieben, trotzdem versetzte mir die Wirklichkeit einen Schock. Das konnte doch nicht ohne Einfluss auf unser Verhältnis bleiben, oder?
Wir luden unser Gepäck aus dem Kofferraum, und ich schloss den Wagen ab, auch wenn kaum anzunehmen war, dass ihn jemand so weit abseits aller Zivilisation aufbrechen würde. Auf dem Weg zum Haus hielt ich mich an Dannys Arm fest; die großen Steinplatten waren durch den Frost rutschig geworden, und meine High Heels, in die ich gerade geschlüpft war, hatten nicht besonders griffige Sohlen. Martha drückte auf die Klingel, ihr Echo setzte sich ins Haus hinein fort wie ein Flüstern. Etwa eine Minute lang blieb alles still, dann erschien hinter den Buntglasscheiben in der Tür eine Gestalt. Und plötzlich war er da, von hinten beleuchtet, mit einem Grinsen im Gesicht. Ich sah sofort, dass er abgenommen hatte.
»Lucas, das Haus ist unglaublich«, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. Er legte die Arme um mich und drückte mich fest an sich. Der raue Kragen seines Smokings rieb an meiner Wange.
»Hallo«, sagte er dicht an meinem Ohr.
Er ließ mich los, umarmte Martha und schlug dann Danny auf den Arm. »Na, Kumpel. Kommt rein. Habt ihr gut hergefunden?«
»Nach ein paar Anstrengungen«, sagte Danny. »Wahnsinn, das Haus ist ja phantastisch. Und du hast so ein Geheimnis draus gemacht. Warum bin ich nicht schon früher hier gewesen?«
»Nun ja, schließlich hat es Patrick gehört. Leute hat er nur in London eingeladen. Hier lebte er ganz zurückgezogen, nur die Familie kam hierher.«
Wir stellten unser Gepäck bei der Tür ab und standen in der Eingangshalle, dem Herzstück des Gebäudes. Sie wurde nur von zwei großen Tischlampen auf einer Holztruhe erhellt, die ihre Lichtkreise auf die schwarz-weißen Bodenfliesen warfen. Ringsum am Rand standen etliche Säulen mit Marmorbüsten, eine davon hatte unsere Collegekrawatte um den Hals geknotet. Über uns wand sich das Treppenhaus in einer Spirale nach oben wie das Innere eines Schneckenhauses, von Windung zu Windung dunkler. Die Wände warfen unsere Stimmen als kühles Echo zurück, das sich nach oben fortpflanzte, bis es vom Baukörper verschluckt wurde. Es roch kräftig nach altmodischer Möbelpolitur.
»Jetzt, wo alle da sind, gibt's den Champagner.« Lucas öffnete eine Tür, die in einen riesigen Salon führte. Hier war es spürbar wärmer. Ein weißer Marmorkamin beherrschte den Raum, der Stein war mit einem Muster aus Eichenblättern und Eicheln verziert, auf dem Rost brannte mit lodernden Flammen ein Feuer. Vor den drei Fenstern hingen Brokatvorhänge, die von der Decke bis zum Boden reichten; ihr verblichenes Rubinrot und Grün harmonierten mit der Efeubordüre des Teppichs, der abgetreten war, aber darum umso edler wirkte. Auch in diesem Raum kam das Licht nur von einzelnen, auf niedrigen Tischen im Raum verteilten Lampen, dazu von zwei dicken Kirchenkerzen auf dem Kaminsims. Vor dem Kamin standen zwei tief burgunderrote Ledersofas, die den Eindruck erweckten, als stünden sie hier, seit das Haus erbaut worden war. Sie gehörten so sehr zu diesem Salon, dass ich mir vorstellte, sie wären aus Samen im Teppich hervorgewachsen. Auf einem der Sofas saßen Rachel und ein Mann, den ich nicht kannte. Sie standen auf und Danny tänzelte hinüber, nahm Rachel in die Arme und wirbelte sie wild im Kreis herum.
»Hör auf«, lachte sie. »Lass mich runter, Danny. Du ruinierst mir das Kleid.«
Er setzte sie auf den Teppich ab und trat zurück, um sie zu begutachten. Sie trug ein silbernes, schlicht geschnittenes Kleid aus einem Stoff, der aussah wie Knitterfolie und an der Schulter und am Saum absichtlich eingerissen war. Als hätte sie sich gerade mit einer anderen wilden Schönen auf dem Laufsteg gebalgt. »Hübsch.« Danny nickte zustimmend und schob die Unterlippe vor.
Sie drehte sich zu dem Mann um und lächelte ihn an. »Greg, das sind Danny, der Unvergleichliche, Joanna und Martha.« »Ah, der neue Freund«, sagte Danny.
»Gott, bist du ein Rüpel.« Sie gab ihm mit dem Handrücken einen Klaps. »Und so neu ist er auch nicht mehr. Wir sind jetzt schon drei Monate zusammen.«
»Schön, euch kennenzulernen.« Greg streckte eine große Hand aus, und ich schüttelte sie. Sein Händedruck war kräftig und trocken. Ich war als Teenager quälend schüchtern gewesen und hatte mich inzwischen von diesem Manko weitgehend befreien können, doch immer noch traf ich ab und zu auf einen Menschen, bei dem die alte Schüchternheit wieder aufflammte. Dieser Mann gehörte dazu, das war mir gleich klar. Rachels Freunde sahen immer gut aus, Greg hatte kurze braune Haare
und warme braune Augen mit langen Wimpern. Er gehörte auch zu den Männern, die sich öfter als einmal am Tag rasieren müssen, wenn sie gepflegt aussehen wollen; der Schatten auf seiner Kinnpartie und seine Bräune gaben ihm etwas leicht Ausschweifendes. Aber das war nicht der Grund. Er schien zwar nur drei, vier Jahre älter zu sein als wir, doch er hatte etwas undefinierbar Erwachsenes an sich. Als ich ihn anlächelte, spürte ich seinen Blick auf mir, als wollte er mich durchleuchten. Rasch sah ich zu Boden, um nicht unbewusst etwas von mir preiszugeben.
»Wo ist Michael?«, fragte Martha. »Wollte er nicht auch kommen?«
Lucas stand vor dem hochglanzpolierten Tisch, wo er die Champagnergläser aufbaute; er drehte sich zu ihr um. »Er hat sich eine Weile oben hingelegt. Ich glaube, er hat die Nacht durchgearbeitet.«
»Lieber Himmel, wie kann man sich so was antun?« Martha ging zum Kaminsims hinüber, um sich die gerahmten Fotos dort anzusehen. Sie nahm eines in die Hand und betrachtete es eingehend. »Was kann zwischen Weihnachten und Neujahr schon so dringend sein, dass er abends nicht nach Hause gehen kann?«
»Da geht's um eine große Sache. Feindliche Übernahme, was ich so rausgehört habe. Er sah fix und fertig aus.«
Auf mich wirkte Lucas selber fix und fertig. Er hatte nicht nur abgenommen, sondern war auch sehr blass. Seine Haare waren noch so schwarz und lockig wie früher, hatten aber ihren blauen Schimmer verloren und mussten dringend geschnitten werden. Die Champagnerflasche gab ein dumpfes, tieftrauriges Plopp von sich, als er den Korken herauszog. Er reichte die Gläser herum und ließ sich dann neben mir auf dem Ledersofa nieder. Dann zündete er sich eine Zigarette an, wobei er den Kopf auf die für ihn typische, in sich gekehrte Art zur Seite neigte. Ich fand die Geste merkwürdig beruhigend, etwas Vertrautes in einer fremden Umgebung. »Und wie geht's dir so?«, fragte er. »Tut gut, dich zu sehen.«
»Ich hab dich vermisst«, sagte ich.
Er sah auf sein Knie und zupfte an einem losen Faden in der Seitennaht herum. »Ich hätte dich anrufen sollen.«
»Also das ist nun wirklich kein Thema, Lucas. Wie geht es dir?«
»Eigentlich ganz gut.« Er lächelte traurig. »Ich kann mich nur nicht mit dem Gedanken abfinden, dass er nie wiederkommen wird. Ich kann nicht begreifen, dass ein Mensch wie er einfach ausgelöscht sein soll.« Er zog heftig an der Zigarette, ein Ascheröllchen fiel auf seine Hose. »Er hatte so viel — wie soll ich sagen — Lebenskraft, und dann soll nichts davon übrig bleiben ... Und alles so kurz nach Mums Tod. Drei Monate — Jo, vor sechs Monaten hatte ich sie noch beide. Die beiden Menschen, die ich am meisten auf der ganzen Welt geliebt habe. Und er hat sich auch noch aus freien Stücken dafür entschieden — das werde ich nie verstehen.«
Alle behutsamen Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte, verließen mich, und so nahm ich einfach seine Hand und drückte sie. Er erwiderte den Druck und strich dann langsam mit dem Daumen über meine Finger, als wollte er mich beruhigen.
»Er hat dich gern gehabt, weißt du?«
»Ich habe ihn auch gern gehabt. Einem Menschen wie ihm bin ich nie begegnet«, sagte ich aus tiefster Seele. Es war ein Schock gewesen, als ich von Patricks Selbstmord erfahren hatte. Er war für Lucas mehr ein Vater als ein Onkel gewesen. Ich hatte ihn öfter getroffen, vor allem, als wir noch studierten und er Lucas und mich mittags zum Essen eingeladen hatte. Auch jetzt noch gehören die Momente, die ich in seiner Gesellschaft verbracht hatte, zu den schönsten Erinnerungen an meine Studienjahre. Patrick hatte einen überwältigenden Eindruck auf mich gemacht. Obwohl er schon damals Ende fünfzig gewesen sein musste, strahlte er eine große Energie aus, körperlich wie geistig. Seine schwarzen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut, wirkten aber immer noch vital. Er hatte etwas Homerisches an
sich, als hätten sich in ihm ein paar Liter vom alten heroischen Blut bis in eine weniger hehre Zeit erhalten.
Er hatte mir auch das Gefühl vermittelt, ich hätte etwas zu geben. Einmal saßen wir im Randolph Hotel; eingeschüchtert von der tafelnden Prominenz und der Förmlichkeit des Speisesaals, beschrieb ich Patrick eine besonders nassforsche Mitstudentin, die Lucas und ich von Herzen verabscheuten. Ich konnte mich an meine Bissigkeiten nicht mehr im Einzelnen erinnern, doch Patrick griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand und sagte: »Eines Tages müssen Sie schreiben. Sie haben eine wunderbare Begabung für Metaphern.« Bei jedem anderen hätte das affektiert geklungen, doch da er selbst so erfolgreich war und einen heißen Draht zur aktuellen Kulturszene besaß, waren seine Worte für mich das größte Kompliment. Patrick hielt mich der Ermutigung für wert und wurde für mich zum geistigen Ansporn. In seiner Gegenwart tat sich die Welt auf, bereit, erobert zu werden. Und ausgerechnet dieser Mensch, der alles hätte erreichen können, beschloss, sich das Leben zu nehmen.
»Er hoffte, du wärst meine Freundin.«
Ich überspielte meine Überraschung mit einem Lachen. Die Frage einer Beziehung zwischen uns gab es schon sehr lange, auch wenn wir beide nie darüber gesprochen hatten.
Ich war Lucas zum ersten Mal in Oxford begegnet, im Raum unseres Tutors bei der Einführung für Studienanfänger. Lucas trug einen marineblauen Fischerpullover, Jeans und ConverseSchuhe. Er setzte sich auf das braune Samtsofa und versank trotz seiner Größe in der Tiefe, verschluckt von den ausgeleierten Sprungfedern — wir lernten rasch, uns bloß nicht daraufzusetzen. Lucas kämpfte nicht gegen das Versinken an, versuchte auch nicht, sich weiter nach vorn auf die Kante zu setzen, sondern ließ einfach zu, was geschah. Ich schrieb dies sofort einem Selbstbewusstsein zu, wie man es in den berühmten Privatinternaten antrainiert bekommt; dafür gab es an den Oxforder Colleges genügend Beispiele, die durch die Höfe stolzierten, als wären sie auf ihrem Familiensitz, und sich mit der Selbstsicherheit der längst Etablierten an der Collegebar volllaufen ließen. Ich fand diese Leute entsetzlich. Einerseits fühlte ich mich eingeschüchtert und war neidisch auf diese Studenten, die als Achtzehn-, Neunzehnjährige schon dermaßen selbstsicher sein konnten, zum anderen fragte ich mich aber auch, was man für eine Dumpfbacke sein musste, um nie einen Anflug von Selbstzweifel zu erleben.
Ich erkannte bald, dass Lucas nicht zu Leuten dieses Schlags gehörte. Nach der Besprechung mit dem Tutor, der uns Unmengen Homer aufgab, die wir fast über Nacht zu übersetzen hätten, der bei uns eine gründliche Vertrautheit mit Autoren voraussetzte, von denen ich kaum gehört hatte, und der zu meiner Beunruhigung mehrere Witze auf Lateinisch machte, zogen wir fünf uns zu einer Kaffeepause in den Gemeinschaftsraum der Anfangssemester zurück. Es stellte sich heraus, dass Lucas, der bei der Besprechung kaum etwas gesagt hatte, eine sehr bescheidene private Tagesschule in London besucht hatte und mit seiner Mutter, einer Kinderbuchautorin, am Rand von West Hampstead wohnte. Ich hatte verfolgt, wie er mit seinen langen Fingern gekonnt eine Zigarette drehte, und wartete vergeblich darauf, dass er mir noch mehr von sich erzählte. Eine solche Zurückhaltung hatte ich noch nie erlebt.
Wer sein Selbstbewusstsein seit jeher schrill zur Schau trug, war Danny. Kaum hatte er den Fuß in die Universität gesetzt, schien er schon alles und jeden zu kennen. Am allerersten Abend, als wir uns zu unserem ersten Ausflug in die Collegebar versammelten, konnte er leider nur auf einen einzigen Drink zu uns stoßen, weil er dann zu einer Party ins Balliol College musste.
»Auf der Schule war er auch schon so«, hatte Lucas gesagt, während er einen Bierdeckel in kleine Fetzen riss.
»Ihr seid zusammen zur Schule gegangen?«
Er nickte. »Aber nur in der letzten Klasse. Und er ist erst mitten im Jahr zu uns gekommen — ist von einem nobleren In-
ternat geflogen. Aber bis zur Mittagspause des ersten Tags hat er es geschafft, die Aufmerksamkeit der ganzen Schule auf sich zu ziehen.«
»Klingt nach Nervensäge.«
»Nein, er ist ganz in Ordnung. Und echt amüsant.«
In den nächsten Wochen erfuhr ich mehr über die Freundschaft zwischen Danny und Lucas. Sie hatte ihre Triebfeder in einer ungewöhnlichen Dynamik. Keiner von uns hätte geglaubt, dass Danny mit den topmodischen Cityklamotten, der zur Selbstdarstellung neigte und sich gern mit Leuten umgab, sich so gut mit dem ruhigen, umgänglichen Lucas verstehen würde, der immer in Jeans und Pulli herumlief — über eine solche Vorstellung hätten wir nur gelacht. Doch es wurde klar, dass zwischen den beiden eine enge Symbiose bestand. Lucas schätzte Danny, weil jeder von Dannys Freunden automatisch zur In-Szene gehörte und somit auch Lucas, von Anfang an. Und da ich mit Lucas befreundet war, wurde auch ich überall mit eingeladen. So lernten wir beide, die ohne solche Beziehungen wahrscheinlich vier Jahre lang vom gesellschaftlichen Radar unentdeckt vor uns hin studiert hätten, einen großen Teil der Reichen und Schönen in Oxford kennen, deren Leben in ganz anderen Dimensionen verlief als unseres.
Meine eigene Beziehung zu Danny war schwierig. Ich glaube, wenn ich mit Lucas nicht so eng verbunden gewesen wäre, hätte er mich gar nicht beachtet. So war er dazu verpflichtet. Manchmal kamen wir ganz gut miteinander aus. Dann wieder spürte ich, dass er mich als lästigen Dritten in ihrer Freundschaft empfand.
Denn die Beziehung der beiden war keineswegs einseitig. Lucas bot Danny etwas, was er nirgendwo sonst bekam• schlichte, wahre Freundschaft. Mit achtzehn hatte er alle weniger Selbstbewussten durch seine übersteigerte Selbstsicherheit in die Flucht geschlagen, nur Lucas schien sich nicht daran zu stoßen. Mehr noch, er holte Danny auf den Teppich zurück, erdete ihn.
Übersetzung: Maria Andreas
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Können wir Lucas nicht einfach anrufen?«, fragte Martha. »Ich hab keinen Empfang.«
Auf der anderen Straßenseite stand ein Pub, der White Swan, ein gedrungener Steinbau mit einem Dach wie ein zu großer Hut. Die oberen Fenster schielten verschlagen unter der Dachtraufe hervor.
»Vielleicht will das Haus nicht gefunden werden«, sagte Martha. Sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Ihr über den Knien eng anliegendes Cocktailkleid hinderte sie daran, wie sonst große Schritte zu machen; sie stöckelte durchs Scheinwerferlicht und trat ins Pub.
Nachdem ich den Motor abgestellt hatte, beugte sich Danny wieder zu mir nach vorn. »Ich hoffe stark, es ist nicht mehr weit. Es ist schon neun vorbei und ich brauch unbedingt einen Drink.« Er hatte ganz eindeutig eine Whiskyfahne.
»Du hast die ganze Fahrt immer wieder aus dem Flachmann getrunken. Ich hab dich im Rückspiegel beobachtet.« Ich drehte mich um und sah ihn an. Die Kutscherlampe des Pubs warf scharfe Schatten auf sein Gesicht. Er sah aus wie ein Kobold.
»Wir haben Silvester, Joanna.«
»Zünd mir doch eine Zigarette an, ja?«, bat ich ihn. »Meine sind im Kofferraum.« Er wühlte zwischen den Zeitungen auf dem Rücksitz herum und fand seine Schachtel. Das Streichholz flammte auf und erlosch. »Danke.«
»Deine Hände zittern.«
»Echt?« Ich streckte eine Hand aus und musterte meine Finger im Licht des Armaturenbretts. »Vielleicht ist es die Vorstellung von diesem großartigen Herrenhaus. Solche Kästen schüchtern eine englische Lehrerstochter ganz schön ein, weißt du.« Ich
zuckte mit den Achseln und kurbelte das Fenster herunter, um den Rauch hinauszublasen. Bei Danny hatte ich die Taktik entwickelt, meine Schwächen lieber gleich zuzugeben, als ihm das Vergnügen zu verschaffen, sie selbst bloßzulegen.
»Das gefällt mir an dir: Du bist immer so ehrlich, was deine bescheidene Herkunft angeht.« Er lehnte sich zurück und fing an, auf seinem Handy alte SMS durchzuklicken.
»Ganz schön aufregend für mich, endlich mal Zutritt zu den oberen Herrschaftsetagen zu bekommen!«
Martha kam aus dem Pub, die schwere Holztür fiel laut hinter ihr zu. »Da lang, etwa noch eine Meile. Ich glaube, wir sind mindestens dreimal daran vorbeigefahren. Es gibt anscheinend kein Hinweisschild, nur einen Weg, der nach links in den Wald abgeht.« Sie zog sich ihre rote Kunstpelzjacke enger um die Schultern. »Brr, ist das kalt da draußen.«
»Ich dachte, ihr New Yorker wärt an harte Winter gewöhnt«, sagte Danny.
Wir ließen das Dorf hinter uns. Ich lebte nun schon so lange in London, dass ich vergessen hatte, wie dunkel es auf dem Land wird. Hecken flitzten vorbei, nur von unseren Scheinwerfern beleuchtet, und fielen hinter uns wieder ins Dunkel zurück. Im Unterholz sahen wir mehrere kleine Augenpaare. Nach etwa einer Meile bremste ich ab und suchte genauer nach der Abzweigung. Wir kamen in einen Wald. Riesige Bäume wölbten sich über der Straße zu Tunnelskeletten, die kahlen, ineinander verflochtenen Äste wankten unheimlich hin und her. Ein paar Minuten fuhr ich langsam auf dem Randstreifen entlang.
»Da«, sagte Martha. »Das muss es sein.« Ich bog auf einen unbefestigten Weg ab. Ich hatte erwartet, das Haus schon vom Ende der Zufahrt aus zu sehen, und hielt nach Lichtern Ausschau, doch da war nichts als das dichte Gewirr nackter Zweige, die sich vor uns öffneten und hinter uns schlossen wie ein engmaschiges Netz. Mir fielen jene Märchenwälder ein, wo die Bäume rasend schnell zu wuchern beginnen und alle erwürgen, die so dumm sind, sich dort hineinzuwagen. Doch hier gab es,keine Anzeichen frischer Triebe. Alles um uns war abgestorben oder im Tiefschlaf, im winterlichen Trauergewand. Wir verstummten wie unter dem Bann der Äste, die sich drohend vor uns erhoben und dann wieder zur Seite wichen. Meine Ente musste sich auf dem Weg schwer abmühen, fast eine weitere Meile lang rumpelten und holperten wir über Schlaglöcher, bis sich nach einer Linksbiegung plötzlich eine kreisförmige Kiesauffahrt auftat.
Ich schaltete den Motor aus. Da, vor uns, lag das Haus. Stoneborough Manor in den Cotswolds, dieser Steinklotz — anders konnte man das Ding nicht nennen —, den Lucas, mein bester Freund, vor kurzem geerbt hatte.
Dreigeschossig ragte er in die Nacht, als wollte er ihr die Stirn bieten. Die sieben Fenster im ersten und im zweiten Stock warfen auf ihren schwarzen Flächen die schmale Mondsichel zurück, doch aus sämtlichen Fenstern des Erdgeschosses fiel Licht auf die beiden kleinen Rasenvierecke vor der Fassade. Eiben säumten den langen Weg zum Eingangsportal, das auf zwei glatten, runden Säulen ruhte. Mir wurde beklommen zumute. Lucas hatte mir das Haus ziemlich genau beschrieben, trotzdem versetzte mir die Wirklichkeit einen Schock. Das konnte doch nicht ohne Einfluss auf unser Verhältnis bleiben, oder?
Wir luden unser Gepäck aus dem Kofferraum, und ich schloss den Wagen ab, auch wenn kaum anzunehmen war, dass ihn jemand so weit abseits aller Zivilisation aufbrechen würde. Auf dem Weg zum Haus hielt ich mich an Dannys Arm fest; die großen Steinplatten waren durch den Frost rutschig geworden, und meine High Heels, in die ich gerade geschlüpft war, hatten nicht besonders griffige Sohlen. Martha drückte auf die Klingel, ihr Echo setzte sich ins Haus hinein fort wie ein Flüstern. Etwa eine Minute lang blieb alles still, dann erschien hinter den Buntglasscheiben in der Tür eine Gestalt. Und plötzlich war er da, von hinten beleuchtet, mit einem Grinsen im Gesicht. Ich sah sofort, dass er abgenommen hatte.
»Lucas, das Haus ist unglaublich«, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. Er legte die Arme um mich und drückte mich fest an sich. Der raue Kragen seines Smokings rieb an meiner Wange.
»Hallo«, sagte er dicht an meinem Ohr.
Er ließ mich los, umarmte Martha und schlug dann Danny auf den Arm. »Na, Kumpel. Kommt rein. Habt ihr gut hergefunden?«
»Nach ein paar Anstrengungen«, sagte Danny. »Wahnsinn, das Haus ist ja phantastisch. Und du hast so ein Geheimnis draus gemacht. Warum bin ich nicht schon früher hier gewesen?«
»Nun ja, schließlich hat es Patrick gehört. Leute hat er nur in London eingeladen. Hier lebte er ganz zurückgezogen, nur die Familie kam hierher.«
Wir stellten unser Gepäck bei der Tür ab und standen in der Eingangshalle, dem Herzstück des Gebäudes. Sie wurde nur von zwei großen Tischlampen auf einer Holztruhe erhellt, die ihre Lichtkreise auf die schwarz-weißen Bodenfliesen warfen. Ringsum am Rand standen etliche Säulen mit Marmorbüsten, eine davon hatte unsere Collegekrawatte um den Hals geknotet. Über uns wand sich das Treppenhaus in einer Spirale nach oben wie das Innere eines Schneckenhauses, von Windung zu Windung dunkler. Die Wände warfen unsere Stimmen als kühles Echo zurück, das sich nach oben fortpflanzte, bis es vom Baukörper verschluckt wurde. Es roch kräftig nach altmodischer Möbelpolitur.
»Jetzt, wo alle da sind, gibt's den Champagner.« Lucas öffnete eine Tür, die in einen riesigen Salon führte. Hier war es spürbar wärmer. Ein weißer Marmorkamin beherrschte den Raum, der Stein war mit einem Muster aus Eichenblättern und Eicheln verziert, auf dem Rost brannte mit lodernden Flammen ein Feuer. Vor den drei Fenstern hingen Brokatvorhänge, die von der Decke bis zum Boden reichten; ihr verblichenes Rubinrot und Grün harmonierten mit der Efeubordüre des Teppichs, der abgetreten war, aber darum umso edler wirkte. Auch in diesem Raum kam das Licht nur von einzelnen, auf niedrigen Tischen im Raum verteilten Lampen, dazu von zwei dicken Kirchenkerzen auf dem Kaminsims. Vor dem Kamin standen zwei tief burgunderrote Ledersofas, die den Eindruck erweckten, als stünden sie hier, seit das Haus erbaut worden war. Sie gehörten so sehr zu diesem Salon, dass ich mir vorstellte, sie wären aus Samen im Teppich hervorgewachsen. Auf einem der Sofas saßen Rachel und ein Mann, den ich nicht kannte. Sie standen auf und Danny tänzelte hinüber, nahm Rachel in die Arme und wirbelte sie wild im Kreis herum.
»Hör auf«, lachte sie. »Lass mich runter, Danny. Du ruinierst mir das Kleid.«
Er setzte sie auf den Teppich ab und trat zurück, um sie zu begutachten. Sie trug ein silbernes, schlicht geschnittenes Kleid aus einem Stoff, der aussah wie Knitterfolie und an der Schulter und am Saum absichtlich eingerissen war. Als hätte sie sich gerade mit einer anderen wilden Schönen auf dem Laufsteg gebalgt. »Hübsch.« Danny nickte zustimmend und schob die Unterlippe vor.
Sie drehte sich zu dem Mann um und lächelte ihn an. »Greg, das sind Danny, der Unvergleichliche, Joanna und Martha.« »Ah, der neue Freund«, sagte Danny.
»Gott, bist du ein Rüpel.« Sie gab ihm mit dem Handrücken einen Klaps. »Und so neu ist er auch nicht mehr. Wir sind jetzt schon drei Monate zusammen.«
»Schön, euch kennenzulernen.« Greg streckte eine große Hand aus, und ich schüttelte sie. Sein Händedruck war kräftig und trocken. Ich war als Teenager quälend schüchtern gewesen und hatte mich inzwischen von diesem Manko weitgehend befreien können, doch immer noch traf ich ab und zu auf einen Menschen, bei dem die alte Schüchternheit wieder aufflammte. Dieser Mann gehörte dazu, das war mir gleich klar. Rachels Freunde sahen immer gut aus, Greg hatte kurze braune Haare
und warme braune Augen mit langen Wimpern. Er gehörte auch zu den Männern, die sich öfter als einmal am Tag rasieren müssen, wenn sie gepflegt aussehen wollen; der Schatten auf seiner Kinnpartie und seine Bräune gaben ihm etwas leicht Ausschweifendes. Aber das war nicht der Grund. Er schien zwar nur drei, vier Jahre älter zu sein als wir, doch er hatte etwas undefinierbar Erwachsenes an sich. Als ich ihn anlächelte, spürte ich seinen Blick auf mir, als wollte er mich durchleuchten. Rasch sah ich zu Boden, um nicht unbewusst etwas von mir preiszugeben.
»Wo ist Michael?«, fragte Martha. »Wollte er nicht auch kommen?«
Lucas stand vor dem hochglanzpolierten Tisch, wo er die Champagnergläser aufbaute; er drehte sich zu ihr um. »Er hat sich eine Weile oben hingelegt. Ich glaube, er hat die Nacht durchgearbeitet.«
»Lieber Himmel, wie kann man sich so was antun?« Martha ging zum Kaminsims hinüber, um sich die gerahmten Fotos dort anzusehen. Sie nahm eines in die Hand und betrachtete es eingehend. »Was kann zwischen Weihnachten und Neujahr schon so dringend sein, dass er abends nicht nach Hause gehen kann?«
»Da geht's um eine große Sache. Feindliche Übernahme, was ich so rausgehört habe. Er sah fix und fertig aus.«
Auf mich wirkte Lucas selber fix und fertig. Er hatte nicht nur abgenommen, sondern war auch sehr blass. Seine Haare waren noch so schwarz und lockig wie früher, hatten aber ihren blauen Schimmer verloren und mussten dringend geschnitten werden. Die Champagnerflasche gab ein dumpfes, tieftrauriges Plopp von sich, als er den Korken herauszog. Er reichte die Gläser herum und ließ sich dann neben mir auf dem Ledersofa nieder. Dann zündete er sich eine Zigarette an, wobei er den Kopf auf die für ihn typische, in sich gekehrte Art zur Seite neigte. Ich fand die Geste merkwürdig beruhigend, etwas Vertrautes in einer fremden Umgebung. »Und wie geht's dir so?«, fragte er. »Tut gut, dich zu sehen.«
»Ich hab dich vermisst«, sagte ich.
Er sah auf sein Knie und zupfte an einem losen Faden in der Seitennaht herum. »Ich hätte dich anrufen sollen.«
»Also das ist nun wirklich kein Thema, Lucas. Wie geht es dir?«
»Eigentlich ganz gut.« Er lächelte traurig. »Ich kann mich nur nicht mit dem Gedanken abfinden, dass er nie wiederkommen wird. Ich kann nicht begreifen, dass ein Mensch wie er einfach ausgelöscht sein soll.« Er zog heftig an der Zigarette, ein Ascheröllchen fiel auf seine Hose. »Er hatte so viel — wie soll ich sagen — Lebenskraft, und dann soll nichts davon übrig bleiben ... Und alles so kurz nach Mums Tod. Drei Monate — Jo, vor sechs Monaten hatte ich sie noch beide. Die beiden Menschen, die ich am meisten auf der ganzen Welt geliebt habe. Und er hat sich auch noch aus freien Stücken dafür entschieden — das werde ich nie verstehen.«
Alle behutsamen Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte, verließen mich, und so nahm ich einfach seine Hand und drückte sie. Er erwiderte den Druck und strich dann langsam mit dem Daumen über meine Finger, als wollte er mich beruhigen.
»Er hat dich gern gehabt, weißt du?«
»Ich habe ihn auch gern gehabt. Einem Menschen wie ihm bin ich nie begegnet«, sagte ich aus tiefster Seele. Es war ein Schock gewesen, als ich von Patricks Selbstmord erfahren hatte. Er war für Lucas mehr ein Vater als ein Onkel gewesen. Ich hatte ihn öfter getroffen, vor allem, als wir noch studierten und er Lucas und mich mittags zum Essen eingeladen hatte. Auch jetzt noch gehören die Momente, die ich in seiner Gesellschaft verbracht hatte, zu den schönsten Erinnerungen an meine Studienjahre. Patrick hatte einen überwältigenden Eindruck auf mich gemacht. Obwohl er schon damals Ende fünfzig gewesen sein musste, strahlte er eine große Energie aus, körperlich wie geistig. Seine schwarzen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut, wirkten aber immer noch vital. Er hatte etwas Homerisches an
sich, als hätten sich in ihm ein paar Liter vom alten heroischen Blut bis in eine weniger hehre Zeit erhalten.
Er hatte mir auch das Gefühl vermittelt, ich hätte etwas zu geben. Einmal saßen wir im Randolph Hotel; eingeschüchtert von der tafelnden Prominenz und der Förmlichkeit des Speisesaals, beschrieb ich Patrick eine besonders nassforsche Mitstudentin, die Lucas und ich von Herzen verabscheuten. Ich konnte mich an meine Bissigkeiten nicht mehr im Einzelnen erinnern, doch Patrick griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand und sagte: »Eines Tages müssen Sie schreiben. Sie haben eine wunderbare Begabung für Metaphern.« Bei jedem anderen hätte das affektiert geklungen, doch da er selbst so erfolgreich war und einen heißen Draht zur aktuellen Kulturszene besaß, waren seine Worte für mich das größte Kompliment. Patrick hielt mich der Ermutigung für wert und wurde für mich zum geistigen Ansporn. In seiner Gegenwart tat sich die Welt auf, bereit, erobert zu werden. Und ausgerechnet dieser Mensch, der alles hätte erreichen können, beschloss, sich das Leben zu nehmen.
»Er hoffte, du wärst meine Freundin.«
Ich überspielte meine Überraschung mit einem Lachen. Die Frage einer Beziehung zwischen uns gab es schon sehr lange, auch wenn wir beide nie darüber gesprochen hatten.
Ich war Lucas zum ersten Mal in Oxford begegnet, im Raum unseres Tutors bei der Einführung für Studienanfänger. Lucas trug einen marineblauen Fischerpullover, Jeans und ConverseSchuhe. Er setzte sich auf das braune Samtsofa und versank trotz seiner Größe in der Tiefe, verschluckt von den ausgeleierten Sprungfedern — wir lernten rasch, uns bloß nicht daraufzusetzen. Lucas kämpfte nicht gegen das Versinken an, versuchte auch nicht, sich weiter nach vorn auf die Kante zu setzen, sondern ließ einfach zu, was geschah. Ich schrieb dies sofort einem Selbstbewusstsein zu, wie man es in den berühmten Privatinternaten antrainiert bekommt; dafür gab es an den Oxforder Colleges genügend Beispiele, die durch die Höfe stolzierten, als wären sie auf ihrem Familiensitz, und sich mit der Selbstsicherheit der längst Etablierten an der Collegebar volllaufen ließen. Ich fand diese Leute entsetzlich. Einerseits fühlte ich mich eingeschüchtert und war neidisch auf diese Studenten, die als Achtzehn-, Neunzehnjährige schon dermaßen selbstsicher sein konnten, zum anderen fragte ich mich aber auch, was man für eine Dumpfbacke sein musste, um nie einen Anflug von Selbstzweifel zu erleben.
Ich erkannte bald, dass Lucas nicht zu Leuten dieses Schlags gehörte. Nach der Besprechung mit dem Tutor, der uns Unmengen Homer aufgab, die wir fast über Nacht zu übersetzen hätten, der bei uns eine gründliche Vertrautheit mit Autoren voraussetzte, von denen ich kaum gehört hatte, und der zu meiner Beunruhigung mehrere Witze auf Lateinisch machte, zogen wir fünf uns zu einer Kaffeepause in den Gemeinschaftsraum der Anfangssemester zurück. Es stellte sich heraus, dass Lucas, der bei der Besprechung kaum etwas gesagt hatte, eine sehr bescheidene private Tagesschule in London besucht hatte und mit seiner Mutter, einer Kinderbuchautorin, am Rand von West Hampstead wohnte. Ich hatte verfolgt, wie er mit seinen langen Fingern gekonnt eine Zigarette drehte, und wartete vergeblich darauf, dass er mir noch mehr von sich erzählte. Eine solche Zurückhaltung hatte ich noch nie erlebt.
Wer sein Selbstbewusstsein seit jeher schrill zur Schau trug, war Danny. Kaum hatte er den Fuß in die Universität gesetzt, schien er schon alles und jeden zu kennen. Am allerersten Abend, als wir uns zu unserem ersten Ausflug in die Collegebar versammelten, konnte er leider nur auf einen einzigen Drink zu uns stoßen, weil er dann zu einer Party ins Balliol College musste.
»Auf der Schule war er auch schon so«, hatte Lucas gesagt, während er einen Bierdeckel in kleine Fetzen riss.
»Ihr seid zusammen zur Schule gegangen?«
Er nickte. »Aber nur in der letzten Klasse. Und er ist erst mitten im Jahr zu uns gekommen — ist von einem nobleren In-
ternat geflogen. Aber bis zur Mittagspause des ersten Tags hat er es geschafft, die Aufmerksamkeit der ganzen Schule auf sich zu ziehen.«
»Klingt nach Nervensäge.«
»Nein, er ist ganz in Ordnung. Und echt amüsant.«
In den nächsten Wochen erfuhr ich mehr über die Freundschaft zwischen Danny und Lucas. Sie hatte ihre Triebfeder in einer ungewöhnlichen Dynamik. Keiner von uns hätte geglaubt, dass Danny mit den topmodischen Cityklamotten, der zur Selbstdarstellung neigte und sich gern mit Leuten umgab, sich so gut mit dem ruhigen, umgänglichen Lucas verstehen würde, der immer in Jeans und Pulli herumlief — über eine solche Vorstellung hätten wir nur gelacht. Doch es wurde klar, dass zwischen den beiden eine enge Symbiose bestand. Lucas schätzte Danny, weil jeder von Dannys Freunden automatisch zur In-Szene gehörte und somit auch Lucas, von Anfang an. Und da ich mit Lucas befreundet war, wurde auch ich überall mit eingeladen. So lernten wir beide, die ohne solche Beziehungen wahrscheinlich vier Jahre lang vom gesellschaftlichen Radar unentdeckt vor uns hin studiert hätten, einen großen Teil der Reichen und Schönen in Oxford kennen, deren Leben in ganz anderen Dimensionen verlief als unseres.
Meine eigene Beziehung zu Danny war schwierig. Ich glaube, wenn ich mit Lucas nicht so eng verbunden gewesen wäre, hätte er mich gar nicht beachtet. So war er dazu verpflichtet. Manchmal kamen wir ganz gut miteinander aus. Dann wieder spürte ich, dass er mich als lästigen Dritten in ihrer Freundschaft empfand.
Denn die Beziehung der beiden war keineswegs einseitig. Lucas bot Danny etwas, was er nirgendwo sonst bekam• schlichte, wahre Freundschaft. Mit achtzehn hatte er alle weniger Selbstbewussten durch seine übersteigerte Selbstsicherheit in die Flucht geschlagen, nur Lucas schien sich nicht daran zu stoßen. Mehr noch, er holte Danny auf den Teppich zurück, erdete ihn.
Übersetzung: Maria Andreas
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Lucie Whitehouse
Bibliographische Angaben
- Autor: Lucie Whitehouse
- 427 Seiten, Maße: 13,7 x 21,6 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003851
- ISBN-13: 9783868003857
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