An einem einsamen Ort
Es ist Hochsommer auf Gotland. Eine internationale Gruppe von Archäologie-Studenten schwitzt auf den Grabungsfeldern der Insel, wo ein jahrtausendealter Wikingerhafen freigelegt wird. Die Stimmung ist gut, fast jeden Abend...
Es ist Hochsommer auf Gotland. Eine internationale Gruppe von Archäologie-Studenten schwitzt auf den Grabungsfeldern der Insel, wo ein jahrtausendealter Wikingerhafen freigelegt wird. Die Stimmung ist gut, fast jeden Abend wird gemeinsam gefeiert und gelacht. Doch die Harmonie findet ein jähes Ende, als die Niederländerin Martina Flochten verschwindet. Es kursieren Gerüchte über einen Liebhaber. Wenig später wird die Studentin gefunden, nackt und tot an einem Baum hängend. Spuren am Leichnam deuten auf einen Ritualmord. Kommissar Knutas ermittelt im Umfeld der Studentin. Wer ist der mysteriöse Liebhaber? Und was haben die Male am Körper der Toten zu bedeuten? Der Kommissar und sein Team arbeiten auf Hochtouren, doch wenig später schlägt der Mörder erneut zu.
Über die Autorin:
Mari Jungstedt, geboren 1962 in Stockholm, studierte Journalistik und ist als Radio- und TV-Journalistin tätig. Für das schwedische Fernsehen ist sie Nachrichtensprecherin, Redakteurin und Programmleiterin. An einem einsamen Ort ist ihr dritter Kriminalroman um Kommissar Knutas.
An einem einsamen Ort von Mari Jungstedt
LESEPROBE
Montag . 28. Juni
Unterhalb der Kirche vonFröjel breiteten Rapsfelder und Wiesen
sich wie gelbe und grüneMatten zum Meer hinunter aus.
Am einen Rand lag dasGrabungsgelände. In regelmäßigen Abständen
hob sich ein Kopf ausdem hohen Gras, wenn jemand
sich aufrichtete, umschmerzende Glieder zu recken oder die
Stellung zu wechseln.Eine weiße Schirmmütze, ein Strohhut,
ein Seeräuberkopftuch,lange Haare, die aus dem Nacken gehoben
wurden in dem Versuch,sich für einen Moment Kühlung
zu verschaffen, die dannaber wieder auf die Schultern fielen.
Hinter den krummenRücken zeichnete sich das glitzernde
Wasser der Ostsee alsblauer, verheißungsvoller Hintergrund
ab. Hummeln und Wespensummten im leuchtend roten Mohn,
der Hafer wogtegemächlich hin und her, wenn eine leichte Brise
darüber hinwegstrich. Ansonsten stand die Luft fast still.
Ein Hochdruckgebiet ausRussland hing seit einer Woche über
Gotland fest.
An die zwanzigStudierende der Archäologie waren damit
beschäftigt, einentausend Jahre alten Wikingerhafen systematisch
auszugraben. Es war eineschwere Arbeit, die viel Geduld
erforderte.
Die NiederländerinMartina Flochten hockte in ihrem Schacht
und kratzte mit ihremSpatel zwischen Steinen und Erde herum.
Sie arbeitete eifrig,aber vorsichtig mit dem kleinen Werkzeug,
um eventuelle Fundenicht zu beschädigen. Ab und zu hob sie
einen Stein hoch undließ ihn in den schwarzen Plastikeimer fallen,
der neben ihr stand.
Jetzt begann der Teilder Arbeit, der Spaß machte. Nach zwei
Wochen ergebnisloserGrabungen hatte sich ihre Mühe endlich
bezahlt gemacht. Martinahatte einige Tage zuvor mehrere Silbermünzen
und Glasperlen gefunden.Dinge in der Hand zu halten,
die seit dem neuntenoder zehnten Jahrhundert kein Mensch
mehr berührt hatte,machte auf sie immer wieder einen starken
Eindruck. Es setztePhantasien frei über die Menschen, die
an diesem Ort gelebthatten: Welche Frau hatte diese Perlen
getragen? Wer war siegewesen und welche Gedanken hatten
sie bewegt?
Fast die Hälfte derKursteilnehmer stammte wie Martina
Flochten nicht ausSchweden: Zwei kamen aus den USA, es
gab eine Britin, einenFranzosen, einen indischen Kanadier,
zwei Deutsche und einenAustralier, Steven. Die Ausgrabung
war Teil seinerWeltreise. Steven besuchte weltweit Orte von
archäologischemInteresse, seine Eltern schienen vermögend zu
sein und ließen ihmfreie Hand. Martina selbst studierte Archäologie
an der UniversitätRotterdam und hatte dort von den
Kursen inarchäologischer Feldmethodik gehört, die von der
Hochschule Visbyorganisiert wurden. Die zehn Punkte, die
dieser Kurs ihreinbrachte, wurden an ihrer niederländischen
Universität anerkannt.Außerdem war Martina Halbschwedin.
Ihre Mutter stammte von Gotland, doch Martina hatte ihr
Leben bisher in denNiederlanden verbracht. Sie fuhren zwar in
den Ferien regelmäßigauf die Insel, auch nachdem Martinas
Mutter zwei Jahre zuvorbei einem Verkehrsunfall ums Leben
gekommen war, aber dieMöglichkeit, sich dort über eine längere
Zeit ihrerLieblingsbeschäftigung zu widmen, wollte sie
auf keinen Fallverpassen.
Bisher hatte der Kursalle Erwartungen übertroffen. Es war
lustig, mit den anderenzusammenzuarbeiten, und die meisten
waren in ihrem Alter;nur einer, der Amerikaner, Bruce, war um
die fünfzig und gingseiner eigenen Wege. Er hatte erzählt, dass
er als Computertechnikerarbeitete, dass sein großes Interesse
aber der Archäologiegalt. Und die Britin war um die vierzig,
tippte Martina, undwirkte ziemlich eigen.
Martina gefiel dieseschwedisch-internationale Mischung.
In der Gruppe herrschteeine derbe, aber herzliche Stimmung.
Oft hallte das Lachenüber dem Feld wider, wenn Witze über
die unterschiedlichen Ausgrabetechniken und das wechselhafte
Grabungsglück gerissenwurden. Die arme Katja aus Göteborg
zum Beispiel hattebisher nur Tierknochen erbeutet, die massenhaft
vorhanden waren. IhrSchacht schien nichts anderes
zu enthalten, aber dieArbeit musste ja trotzdem getan werden.
Und da saß sie nun,tagaus, tagein, schwitzte und fand
nichts Interessantes.Martina hoffte, dass Katja bald ein anderer
Schacht zugewiesenwerden würde.
Der Ausgrabungskurshatte mit zwei Wochen Theorie in den
Räumlichkeiten derHochschule in Visby angefangen, darauf
folgten nun acht WochenAusgrabungen in Fröjel an der gotländischen
Westküste. Da Martinasich sehr für die Wikingerzeit
interessierte, hätte siees gar nicht besser treffen können.
Das ganze Gelände hierwar wohl damals bewohnt gewesen.
Hier waren bei denverschiedenen Grabungen Funde gemacht
worden, die von derfrühen Wikingerzeit im neunten Jahrhundert
bis zum Ende der Epocheim zwölften Jahrhundert reichten.
Der Teil desAusgrabungsgeländes, auf dem die Kursteilnehmer
arbeiteten, umfasste einen Hafen, eine Wohnsiedlung
und mehrere Grabfelder.Vermutlich hatte es sich um eine
wichtige Handelsstättegehandelt, denn sie gruben sehr viele
Gewichte undSilbermünzen aus.
Plötzlich stieß Steven,der im Nachbarschacht hockte, einen
Ruf aus. Alle stürztenzu ihm. Er war soeben dabei, ein Skelett
freizulegen, und hattein der Halsgrube des Skeletts ver-
mutlich ein Stück von einerRingbrosche entdeckt. Der Grabungsleiter
Staffan Mellgrenstieg vorsichtig in den Schacht
und griff nach einerkleinen Bürste, die zwischen anderem
Werkzeug in einem Eimerlag. Behutsam entfernte er die restliche
Erde und konnte nacheinigen Minuten die gesamte Brosche
freilegen. Die anderenumringten den Schacht und schauten
fasziniert zu. DieBegeisterung des Grabungsleiters war
ansteckend.
»Phantastisch!«, rief er. »Die ist ja vollständig erhalten, die
Nadel ist noch intakt,und könnt ihr hier die Verzierungen
sehen?«
Mellgren ersetzte die Bürstedurch einen noch kleineren
Pinsel und befreite dieBrosche mit leichten Strichen vom letzten
Schmutz. Er zeigte mitdem Pinselstiel auf ihren oberen
Teil.
»Die hier hat das Hemdfestgehalten - das dünne Kleidungsstück,
das unmittelbar auf derHaut getragen wurde. Wenn wir
Glück haben, dann findenwir auch eine größere Ringbrosche
an der Schulter. Alsolasst uns weitersuchen.«
Er nickte Steven, derstolz und glücklich aussah, aufmunternd
zu.
»Sei aber vorsichtig undtritt nicht zu dicht an das Skelett
heran. Es kann hier nochmehr Fundstücke geben.«
Die anderen kehrtenvoller Tatkraft an ihre Arbeit zurück.
Die Vorstellung, baldeinen interessanten Fund zu machen,
schenkte ihnen neueEnergie. Martina grub weiter. Nach einer
Weile musste sie ihrenEimer leeren. Sie ging zu einem der
großen Siebe, die amRand des Grabungsfeldes aufgestellt waren.
Vorsichtig kippte sieden Inhalt des Eimers in das Sieb,
das aus einemviereckigen Holzkasten mit einem feinmaschigen
Drahtnetz bestand. Esruhte auf einem Eisengestell, das
es ermöglichte, denKasten hin- und herzurollen. Sie packte
die beiden Holzgriffeauf der einen Seite und schüttelte den
Kasten energisch, umErde und Sand zu entfernen. Es war
eine schwere Arbeit, undnach einigen Minuten war sie in
Schweiß gebadet. Als sieden ärgsten Dreck weggesiebt hatte,
ging sie die Restesorgfältig durch, um keinen Fund zu übersehen.
Zuerst entdeckte sieeinen Tierknochen, dann noch
einen. Und einen kleinenMetallgegenstand, vermutlich einen
Nagel.
Nichts durfteweggeworfen werden, alles musste sorgfältig
aufbewahrt undregistriert werden, da nach ihnen niemand
mehr graben konnte. Wennein Gelände einmal ausgegraben
war, war es für alleZukunft »zerstört«, und deshalb ruhte
auf den Archäologen diegroße Verantwortung, alles zu bewahren,
was vom Leben derMenschen an diesem Ort berichten
konnte.
Martina musste einePause von einigen Minuten einlegen.
Sie hatte Durst undgriff nach ihrem Rucksack, in dem die Wasserflasche
lag. Sie setzte sich aufeinen umgekippten Holzkasten,
massierte sich dieSchultern und beobachtete während dieser
Verschnaufpause dieanderen. Die arbeiteten konzentriert
auf den Knien, in derHocke oder auf dem Bauch, und durchsuchten
eifrig die dunkle Erde.
Sie spürte Marks Blicke,ohne sich etwas anmerken zu lassen.
Ihre Gefühle waren anjemand anderen gebunden, deshalb wollte
sie ihn nicht ermutigen.Sie waren gute Freunde, und ihr war
das genug.
Jonas, ein sympathischerSchone mit einem Ring im Ohr und
einem Seeräuberkopftuch,sah ihre Lockerungsübungen.
»Tut das weh? Soll ichmassieren?«
»Ja, tu das, bitte«,sagte Martina in ungelenkem Schwedisch.
Sie beherrschte dieseltsame Sprache ihrer verstorbenen
Mutter nicht gut, undauch wenn alle anderen in der Gruppe
fließend Englisch sprachen, wollte sie ihr Schwedisch gern
üben.
Jonas war einer ihrerbesten Freunde hier auf Gotland, und
sie hatten viel Spaßmiteinander. Sie freute sich über sein Angebot,
auch wenn sie sich schondenken konnte, dass es nicht nur
aus Fürsorglichkeiterfolgt war. Die Aufmerksamkeit, die ihr
manche Männer in derGruppe widmeten, war angenehm, aber
eigentlich legte siekeinen Wert darauf.
© Heyne Verlag
Übersetzung: GabrieleHaefs
- Autor: Mari Jungstedt
- 2006, 351 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Haefs, Gabriele
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453019857
- ISBN-13: 9783453019850
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