Angstblüte
Martin Walsers neuer Roman handelt von zwei Täuschungen, vom Aufhörenmüssen und vom Geld - von Wahn, Scheinheiligkeit, Freundschaft, Liebe.
Martin Walsers Werk wurde mit unzähligen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der Autor lebt und arbeitet am Bodensee.
"Wie dem Maler die Welt zu einem Andrang von Motiven wird, so boten sich ihm, wo er hinkam, Möglichkeiten an, Geld zu vermehren." Karl von Kahn, Anfang 70, ist Anlageberater, Geldvermehren ist sein Beruf, seine Kunst, seine Leidenschaft. Seine Energieformel, aus Bergwanderungen in den Münchner Firmenalltag übertragen, lautet: "Bergauf beschleunigen." Unterzugehen kann er sich nicht leisten.
Jetzt erfährt er von Gundi, der Frau seines besten Freundes, daß der Freund gelähmt im Krankenhaus liegt. Als er an dessen Bett steht, ist er erschüttert. Gundi bittet ihn, den letzten Wunsch des Freundes zu erfüllen, er unterschreibt den Vertrag, den sie ihm vorlegt. Und eine Firma ist verkauft. Noch am Abend desselben Tages geht es dem Freund besser. Ist Karl von Kahn getäuscht worden? Jetzt verliebt er sich in die Hauptdarstellerin eines Films, den er finanzieren soll. "Sehnsucht ist die einzige Empfindung, in der man sich nicht täuschen kann", glaubt er und wird wieder getäuscht.
Martin Walsers Roman "Angstblüte" ist ein verschwenderisches, weises, radikales, wildes, umwerfendes Buch über eine Geschichte von Alter und Täuschung, von Liebe, Ehe, Freundschaft und einem Leben, das sich von keiner Moral hemmen lassen will, nur von sich selbst.
Angstblüte vonMartin Walser
LESEPROBE
Es war Gundi. Sie klang, als seijemand in ihrer Nähe, der nicht hören dürfe, was sie sagt. Man sah förmlich,wie sie den Kopf senkte, um Mund und Hörer möglichst dicht zusammenzubringen.Und verfügte doch in ihrem Schlößchen in der Menterschwaige über soviel Ungestörtheit, wie sie nurwollte. Eigentlich war sie entspannt. Die Gelassenheit selbst, sagte Diego, seisie. Gelegentlich sprach er ihr sogar eine göttliche Gelassenheit zu. Aberheute gab es einen Grund für diesen Dringlichkeitston.Diego liegt im Schwabinger Krankenhaus. Er konnte morgens nicht aufstehen,konnte keinen Arm, kein Bein mehr bewegen, ist darüber so erschrocken, daß er sofort gekotzt hat. Sie hat den Notarzt gerufen,der hat Diego ins Schwabinger Krankenhaus bringen lassen, da liegt er jetztseit achtundvierzig Stunden, die Ärzte können sich für keine Ursacheentscheiden. Also Schlaganfall ist schon mal ausgeschlossen worden. MS noch nicht.
Als Karl von Kahn hörte, daß das schon vorgestern passiert war, konnte er ein zulautes, fast klagendes Nein nicht zurückhalten.
Gundi sagte: Ja. Sagte das ganzmatt.
Karl, eher heftig: Sag Lambert, ichkomme sofort. Karl, rief sie, Karl!
Er verstand nicht gleich und erfuhr,er habe Diego Lambert genannt. Das tue ihr weh. Jetzt, da Diego so elend daliege,ganz besonders.
Karl rief: Gundi, liebe Gundi, dastut mir so leid, wie ich es nicht sagen kann. Wisch es weg, hab es nichtgehört, laß es bedeutungslos sein. Ich bitte dichdarum.
Gewährt, sagte sie.
Ich danke dir, Gundi, sagte er.
Also um drei, sagte sie.
Und Karl notierte: Haus 4, Abteilung4a, Zimmer 4023. Um drei.
Gundi hauchte ein Ja.
Karl legte nach ihr auf, holte Atemund sagte es Helen weiter.
Die saß schon an ihrem Schreibtisch,der der Schreibtisch ihres Vaters war. Öfter sagte sie, wenn sie es noch zuetwas bringe, verdanke sie das ihrem zweiten Mann, der ihr erster Mann, ihrMann überhaupt sei. Damit wollte sie sein Frühaufstehen rühmen. Karl von Kahnhatte es zur Lebensbedingung schlechthin gemacht, vor seinen Kunden auf zu sein,die Börsenkurse zu studieren, bevor seine Kunden sie studierten. Er hatte ganzunauffällig aus jedem seiner Kunden die Aufstehzeit herausgefragt. Vor siebensaß keiner vor dem Schirm. Also saß er um sieben vor dem Schirm. Also saß Helenum sieben an ihrem Schreibtisch. Sie war durch Karl zur Frühaufsteheringeworden. Das hätte, sagte sie, ihrem Vater sehr gefallen. Womit sie Karlwissen ließ, daß viel mehr, als ihrem Vater zugefallen, nicht erreichbar war.
Als sie hörte, was Lambert passiertwar, stand sie auf, kam zu Karl, der an der Tür ihres Arbeitszimmers stehengeblieben war, lehnte ihren Kopf an seine Brust undsagte: Mein armer Karl.
Karl sagte: Sag lieber, der armeLambert.
Das war eine Lieblingsstellung: IhrGesicht an seine Brust geschmiegt, sein Kinn in ihren blonden Haaren. Dazu gehörte,daß er seine Arme um sie legte und mit seinem Kinn inihren Haaren hin- und herrieb. Das ging jetzt nicht.
Er sagte: Entschuldige, bitte.
Er richtete Helen vorsichtig auf,dann streichelte er sie. Dann ging er hinauf in sein Arbeitszimmer. Dort ließer sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, kippte den Stuhl und sah auf dieBalken und Bretter seiner schrägen Zimmerdecke.
Der Freund hatte Lambert geheißen,als er vor Karl, der wieder einmal auf seinen von Schwermut geplagten Tennispartnerhatte warten müssen, stehengeblieben war und gesagthatte: Meine Partnerin kommt auch nicht, ich finde, jetzt spielen wir. Ich binLambert Trautmann. Das weiß ich doch, hatte Karl gesagt. Gedacht hatte er, das seh ich doch. Und Sie sind Herr von Kahn, der BruderEreweins, dem ich viel verdanke. Er Ihnen auch, sagte Karl. Das freut mich, sagteLambert.
Dann hatten sie gespielt, Lamberthatte gewonnen, aber nur knapp, und Karl hatte nichts dagegen, gegen dieses Gebirgevon Mann knapp zu verlieren. Der war nicht viel größer, aber massiver,schwerer, wuchtiger. Lambert und Karl hatten dann jahrelang gegeneinandergespielt. Lambert nahm immerzu Stunden. Zuerst in der Tennisakademie bei NikiPilic, dann bei weniger berühmten Lehrern. Karl nahm nie Stunden. Daraus, daß er trotzdem so oft gewann und verlor wie Lambert, schloß er, er sei eigentlich der bessere Spieler. Aber eswar unübersehbar, daß auch Lambert sich für denbesseren Spieler hielt. Lambert überraschte immer wieder mit neuen Taktiken,die er sich von seinen Lehrern beibringen ließ. Geschnittene Aufschläge unddann sofort vor ans Netz. Karl freute sich über jeden Technikimport. Je mehrLambert ihm abverlangte, desto fröhlicher wurde er. Das war doch das reineGlück, dieses ernsthafte Gegeneinanderspielen. Wenn es einmal zweifelhaft war,ob der Ball die Linie noch berührt habe, konnte durchaus Streit entstehen. Siewaren ja Freunde geworden, und Freunde, die nicht streiten, sind keine Freunde.Um so beglückender dann, wenn sie nach einem Streitzurückfanden ins Spiel. Karl wußte immer: WennLambert einmal aufhören würde zu spielen, würde er auch aufhören. Lambert warfünf Jahre jünger als Karl. Nach jedem Spiel pflegten sie den nächsten Terminzu verabreden. Für Lambert wurde es immer schwieriger, noch einen Termin zufinden. Seit Lambert in zwei Etagen in der BriennerStraße residierte, war er praktisch unerreichbar. Karl las in der Zeitung, daß Lambert keine Messe mehr ausließ. In Basel, in Paris,in Maastricht, Hannover, Salzburg und natürlich in München und sonstwo zeigte Lambert seine Potenz als Meister des Kunst-und Antiquitätenhandels. Seine Stände waren immer die größten. Aber daß er inzwischen mehr Zeit mit Gundi in deren Haus aufMenorca verbrachte, verhinderte Tennis gründlicher als alle Geschäftezusammen. Lambert hatte offenbar Gundis Haus und Anwesen dort ins Großartigegesteigert. Auch einen Tennisplatz hatte er anlegen lassen, obwohl Gundi Tenniseher verachtete. Es sei ein Sport für Marionetten, hatte sie formuliert. UndLambert hatte den Satz stolz lachend Karl weitergesagt.
Lambert hieß Lambert, bis er Gundioder bis Gundi Lambert entdeckte. Sie nannte ihn von Anfang an Diego. Nach derHochzeit erklärte sie, sie könne ihren Mann nicht mit einem Namen rufen, mitdem andere - und sie meinte die beiden Frauen, mit denen Lambert vor ihrverheiratet gewesen war - ihn gerufen hätten. Lambert war gerührt. Das war dochein Liebessturm. Daß sie in der Villa in der Menterschwaige alle Schlösser ersetzen ließ, konnte einepraktische Maßnahme sein. Aber sie ließ alles ersetzen und erneuern, was durcheine ihrer beiden Vorgängerinnen ins Haus gekommen war. In ein paar Wochenhatte sie, ohne daß Lambert das jedesmalgleich begriff, herausgefragt, daß alle Keshans durch die erste Frau, und alles, was Biedermeierwar, durch die zweite Frau ins Haus gekommen war. Hinaus damit. Lambert erlebtejede Säuberungswelle als Liebesbeweis der einundzwanzig Jahre jüngeren Gundi.
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© Rowohlt Verlag
Interview mit MartinWalser
Um es in Ihrer Wortwahl zu sagen: Wir erleben hier dieGenerationen 70 plus, 80 plus und 90 plus. Finanziell gut gepolstert, rastlosund sexuell aufgeladen. Warum herrscht in der öffentlichen und kulturellenWahrnehmung ein ganz anderes Bild vor: das von einer Lebensphase, die vonGebrechlichkeit und kontemplativem Erinnern geprägt ist? Haben Sie den Kontrastgesucht?
Jeder kann es sehen, wie er will. Ich jedenfalls habeversucht darzustellen, dass Karl von Kahn mit seiner Leidenschaft für dieFinanzwelt auch seine Kunden für das Marktgeschehen interessiert und sovitalisiert. Und ob man es glaubt oder nicht: Drei Jahre nachGeschäftseröffnung stirbt kein einziger seiner Kunden mehr - weil sie so vonihm belebt werden. Und das belebt auch ihn. Dabei gibt er zu, dass er die Dingemitunter schönredet. Er muss dies tun, er muss seinen Kunden die Welt sodarstellen, auch wenn sie so nicht ist. Auch das ist eine Form derVitalisierung. Ganz unrealistisch ist das nicht, Leute in diesem Alter für dasspannende Auf und Ab des Marktes zu interessieren, sie mitverhandeln zu lassenin ihrem eigenen Interesse, das ist allemal besser als Scherenschnitte imAltersheim zu basteln. Meistens ist bei uns vom Alter nur in Statistiken undAlarmmeldungen die Rede. In einem früheren Roman von mir steht der Satz: "Werein Jahr jünger ist, hat keine Ahnung." In der "Angstblüte" ist eben derwichtigste Satz: "Bergauf beschleunigen". Egal ob Liebe oder Finanzen, man kannsich zum Blühen bringen. Das zeigt Karl von Kahn.
Wie schon in Ihren früheren Romanen gibt auch "Angstblüte"so etwas wie ein Sittengemälde unserer heutigen Zeit. Sind das Geldvermehren,die sexuelle Begierde und die schwindende Moral Merkmale der Generation, dieSie beschreiben, oder gar der Zeit insgesamt, in der wir leben?
Also ich stimme Ihrer Aufzählung zu - nur nicht derschwindenden Moral. Wie kommen Sie darauf? Glauben Sie, das war jemals anders?Die "Relativitätstheorie der Moral muss noch geschrieben werden", sagtProfessor Schertenleib im Roman. Es geht dabei um die Moral, die allgemein alssolche anerkannt wird, und darum, wie jeder sie auf seine Art bricht. Karl vonKahn würde lieber eine Moral haben, die man einhalten kann. Vielleicht nichtdie bürgerliche, eine wahrhaftigere. Ich habe natürlich nicht zugelassen, dasssich das Motiv im Roman verselbständigt. Ich wehre mich nur gegen die Annahmeeiner schwindenden Moral, das kann ich so einfach nicht empfinden. Übrigens,was im "Spiegel" über Warren Buffett stand, dass er 35 Milliarden fürwohltätige Zwecken spendet, das zeugt von einer hohen Moralität diesesFinanzgurus. Das Wort "Zurückgeben" kommt da vor.
Der "Finanzdienstleister" Karl von Kahn sinniert darüber,dass man mit dem Alter weniger moralisch wird. Das triebhafte Bedürfnis seieinfach da. Der Seitensprung ist eher ein organisatorisches denn ein ethischesProblem. Später beschreibt Karl den "Drang, rücksichtslos zu sein". Ist diesauch ein Produkt der "Angstblüte"? Wie stark ist man diesem Zwang ausgeliefert?Wie steht es mit der Verantwortung für das eigene Tun?
Mit "rücksichtslos" haben Sie Karl jetzt in eine Umgebunggebracht, wie sie im Roman, glaube ich, nicht vorkommt. Karl meintRücksichtslosigkeit im Sinne einer Offenheit in der Beziehung. Karl von Kahnhat ein kompliziertes Verhältnis zu Lüge und Wahrheit. Er kommt sogar zu demSatz: "Die Lüge ist kein moralisches, sondern ein linguistisches Problem."Verantwortung - dieses Wort kommt, glaube ich, nicht vor. Er hat in einer sehrguten Ehe gelebt mit seiner Helen. Bis er der Schauspielerin Joni begegnet, waser ja nicht herbeigesehnt hatte. Vorher war er ein glücklicher Ehemann. Aberjetzt kostet es ihn fast seine Existenz. Er glaubt, er kann nicht mehr lebenohne diese jüngere Frau. Er schreibt dann diese zwei Briefe an seine Frau, ausdenen der Leser hoffentlich schließen kann, ob die Ehe noch eine Chance hatoder nicht. Nicht ganz unwichtig: Seine Frau ist erfolgreich tätig alsEheberaterin.
Mit "Angstblüte" nähern Sie sich stark dem Thema Tod,beschreiben z.B. den Tod des Bruders der Hauptfigur. Sie selbst sagten einmalvon sich, Sie seien "todesscheu". Hat sich in der Zwischenzeit etwas an dieserEinschätzung geändert?
Ja, ich habe zum ersten Mal eine wichtige Figur sterbenlassen müssen, weil sie nicht mehr leben konnte. Ich habe es nicht gernegemacht, aber sie war von Anfang an, d.h. von 1945 an, so angelegt, dass ichsie den Roman nicht überleben lassen konnte.
In einem Aufsatz in der "Welt" im Sommer 2004 kritisiertenSie "die fortgesetzte Trübsinnsorgie", die u.a. einer "medialenSelbstbefriedigung" geschuldet ist. Hat sich das Klima inzwischen gewandelt?Hat etwa die Fußball-Weltmeisterschaft mit diesem spontanen Optimismus undPatriotismus etwas bewegt?
Das Wort Patriotismus verwende ich dafür nicht. DieMedien, die diese schöne Freude der Menschen zeigen, nennen das Patriotismus.Ich wurde schon für ein Interview zur "Patriotismus-Welle" angefragt. Ich findedas schade, wenn so etwas Natürliches Patriotismus genannt werden muss. DieLeute, die die Fähnchen schwenken, denken doch nicht eine Sekunde anPatriotismus. Die sind einfach nur hin und weg. Für mich ist dieseEtikettierung das Resultat einer Überaktivität der Medien, die nichts ohne eineWertung wiedergeben können.
Die Fragen stellte Roland Große Holtforth,Literaturtest.
- Autor: Martin Walser
- 2006, 3. Aufl., 476 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2000000015903
- Erscheinungsdatum: 21.07.2006
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