Angstspiel
Thriller
Lebhaftes Chatting, tödliches Stalking
Es beginnt ganz harmlos: Linda lernt einen Typen im Schüler-Chatroom kennen - höflich, unaufdringlich, angenehm. Natürlich verrät Linda ihm nicht ihre privaten Daten, schließlich ist...
Es beginnt ganz harmlos: Linda lernt einen Typen im Schüler-Chatroom kennen - höflich, unaufdringlich, angenehm. Natürlich verrät Linda ihm nicht ihre privaten Daten, schließlich ist...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
9.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Angstspiel “
Lebhaftes Chatting, tödliches Stalking
Es beginnt ganz harmlos: Linda lernt einen Typen im Schüler-Chatroom kennen - höflich, unaufdringlich, angenehm. Natürlich verrät Linda ihm nicht ihre privaten Daten, schließlich ist sie nicht blöd. Doch sie hat die Heimtücke des Unbekannten unterschätzt: Lästige Emails und kitschige Blumenbotschaften gipfeln in einer gehässigen Schmierkampagne. Linda fühlt sich beobachtet, verfolgt, wird fast verrückt vor Angst. Und der Stalker lässt nicht locker - im Gegenteil: Er befindet sich in tödlicher Nähe ...
Es beginnt ganz harmlos: Linda lernt einen Typen im Schüler-Chatroom kennen - höflich, unaufdringlich, angenehm. Natürlich verrät Linda ihm nicht ihre privaten Daten, schließlich ist sie nicht blöd. Doch sie hat die Heimtücke des Unbekannten unterschätzt: Lästige Emails und kitschige Blumenbotschaften gipfeln in einer gehässigen Schmierkampagne. Linda fühlt sich beobachtet, verfolgt, wird fast verrückt vor Angst. Und der Stalker lässt nicht locker - im Gegenteil: Er befindet sich in tödlicher Nähe ...
Klappentext zu „Angstspiel “
Lebhaftes Chatting, tödliches StalkingEs beginnt ganz harmlos: Linda lernt einen Typen im Schüler-Chatroom kennen - höflich, unaufdringlich, angenehm. Natürlich verrät Linda ihm nicht ihre privaten Daten, schließlich ist sie nicht blöd. Doch sie hat die Heimtücke des Unbekannten unterschätzt: Lästige Emails und kitschige Blumenbotschaften gipfeln in einer gehässigen Schmierkampagne. Linda fühlt sich beobachtet, verfolgt, wird fast verrückt vor Angst. Und der Stalker lässt nicht locker - im Gegenteil: Er befindet sich in tödlicher Nähe ...
"Ein wahnsinnig spannender, temporeicher Psychothriller." -- Münchner Merkur
"Internetmobbing, ein aktuelles Thema, wird wunderbar aufgegriffen. Dieses Buch verdient den Titel "Psychothriller" wirklich." -- lizzynet.de
"Ein sehr fesselndes Buch über ein Thema, das viele Jugendliche beschäftigt." -- Main Post
"Internetmobbing, ein aktuelles Thema, wird wunderbar aufgegriffen. Dieses Buch verdient den Titel "Psychothriller" wirklich." -- lizzynet.de
"Ein sehr fesselndes Buch über ein Thema, das viele Jugendliche beschäftigt." -- Main Post
Lese-Probe zu „Angstspiel “
Angstspiel von Birgit Schlieper Es ist vorbei. Es muss jetzt vorbei sein. Mit diesem Knall
soll es zu Ende sein. Endlich. Ich schlage jetzt zurück.
Es hat laut geknallt. Ich hatte nur mit einem Klirren
gerechnet. Wenn ich überhaupt gerechnet habe. Meine
Faust ist von alleine nach vorne geschnellt. Wie bei einem
Boxschlag. Ich bin nicht sportlich. Eine Saison in der
Handballmannschaft. Ein halbes Jahr Schwimmverein.
Zwei Kurse Callanetics. Joggen, ab und zu. Meine Faust
war überraschend schnell. Sie glitt durch das Glas. Der
Knall zerschnitt die Luft. Meine Haut ist auch durchschnitten.
Ich staune über das Blut, darüber, dass es gar
nicht wehtut, wieder über das Blut, und plötzlich schreit
meine Stimme. Es ist kein Wort. Kein »Hilfe«, auch nicht
»Mama« oder so. Es ist eher ein Laut. Ein kehliger Laut.
Katzen schreien manchmal so. Er überrascht mich auch.
Ich bin selten laut.
Mein Opa ist als Erster da. Er stöhnt auf, als er mich
sieht. »Kind«, sagt er nur. Das stimmt natürlich nicht.
Aber er sagt immer »Kind« zu mir. Ich mag das irgendwie.
Er wird von meiner Mutter zur Seite geschubst. Sie ist
noch lauter, als ich es eben war. Aber eher kreischig:
»Linda, was machst du?«
»Ich glaube, ich verblute gerade«, antworte ich. Meine
Stimme zittert nur ein bisschen.
... mehr
Meine Mutter zerrt an ihrer Schürze. Sie fängt immer
wieder Sätze an, die sie nicht beendet. Als sie endlich die
auf ihrem Rücken gebundene Schleife geöffnet hat, wickelt
sie mir den Stoff um das Handgelenk. Er riecht nach
kaltem Fett und heißen Zwiebeln. Auf der Schürze war
der Druck eines nackten Mannes. Das Teil habe ich mal
meinem Dad geschenkt. Direkt oben auf meinem Unterarm
prangt jetzt ein Penis. Sieht irgendwie albern aus.
Ich überlege, ob die Schürze wohl mit fünfundneunzig
Grad gewaschen werden darf. Die Blutflecken werden
sonst niemals rausgehen. Vielleicht sieht der nackte Männerkörper
mit den großflächigen Blutflecken aber auch
viel besser aus. Ich wundere mich über meine Gedanken.
Meine Mutter hat längst angefangen zu weinen. Mein Opa
guckt ungläubig in mein Gesicht und auf den Penis. Ich
bin mir nicht sicher, was ihn an dieser Situation am meisten
irritiert. Es tut mir leid, dass ich ihm das hier zumuten
muss.
Luises Stimme legt sich hart über den Lautsalat in meinem
Zimmer. Sie ist langsam, klar, deutlich.
»Linda, du legst dich hin. Flach. Die Beine auf den Stuhl.
Mama, zieh deine Schuhe an, du fährst mit ins Krankenhaus.
Der Krankenwagen ist gleich da.«
Ich kann sie nicht angucken. War ja klar. Luise, die
Überlegende, die Überlegene. Die Alleskönnerin. Sie
drückt die richtigen Knöpfe, regelt das Leben. Wenn andere
untergehen, geht sie über das Wasser. Echt zum Kotzen.
Ich liege hier auf dem babydurchfallkackbeigen Teppich
und gucke sie von unten an. Von hier sieht sie aus, als sei
sie über zwei Meter groß. Ihre Beine wirken auch total
lang. Oder zumindest normal lang. Sie hat in Wirklichkeit
ziemlich kurze Beine. Vielleicht sollte ich ihr das mal
sagen. Dass ihr die Typen nur deswegen alle zu Füßen
liegen, damit ihre kurzen Stummelbeine annehmbar
wirken. Ich sage das nicht, stöhne nur kurz auf. Mir tut
immer noch nichts weh, komisch eigentlich, aber mein
Hals wird zu eng. Ich kriege nicht mehr genug Luft. Luise
kniet sich neben mich.
»Linda, bleib ganz ruhig. Das ist nur dein Kreislauf, der
gerade in den Keller rauscht. Bleib ganz entspannt. Du
fährst gleich mit Ma ins Krankenhaus. Die tackern dich
wieder zu.«
Sie hört sich an, als würde sie in eine Konservendose
sprechen. In so ein Konservendosentelefon. Das hatten
wir früher. Jeder saß in seinem Zimmer und brüllte in
eine leere Dose. Dazwischen war eine Schnur gespannt.
Wir haben uns stundenlang mithilfe dieser Konstruktion
unterhalten. Ich bin mir nicht sicher, ob durch die Wand
oder wirklich über die Schnur.
Luise hält meine Hand, wie sie sie immer hält. Ihre
Hand umfasst meine Faust. So haben wir uns schon immer
an der Hand gehalten. Ich balle immer die Faust. Ich
bin so froh, dass Luise jetzt hier ist. Trotz allem. Fast
wünschte ich, sie käme mit ins Krankenhaus. Aber wahrscheinlich
will sie gleich wieder hoch zu ihrem Paul. Ich
würde Luise jetzt gerne alles sagen. Ich habe plötzlich
eine Riesenangst, dass es dafür vielleicht bald zu spät sein
könnte. Mir wird total kalt. Als würden alle warmen
Farben gerade in eine alberne Nackte-Männer-Schürze
fließen. Ich werde auch müde. Als wären alle meine Gedanken
in diese Luftbläschenfolie eingepackt. Diese Luftblasen,
die lustig platzen können. Wie kleine Pupse. Ich
schaue zum Fenster. Durch das gezackte Loch, das meine
Faust hinterlassen hat. Von dem Herz sind noch die oberen
Bögen zu sehen. Sieht irgendwie pervers aus. Wie ein
dicker Po. Mir wird noch kälter. Nicht wegen der kühlen
Abendluft, die durch das geschlossene Fenster reinkommt.
Das Herz lässt mich frieren. Ich hatte es sofort
gesehen, als ich die Tür öffnete. Ich wollte nur schnell
was holen. Weiß schon gar nicht mehr, was. Als ich das
Licht anmachte, grinste mich sofort das Herz an. Von
einem dicken Finger war es von außen an die Scheibe geschmiert
worden. Hämisch verhöhnte es mich und wollte
mir nur sagen: ICH BIN IN DEINER NÄHE.
Als mich zwei Zivis schlurfend zum Krankenwagen tragen,
ziehe ich die Decke ein bisschen höher. Ich bin sicher,
dass er hier noch in der Gegend ist. Vielleicht steht
er hinter einem Baum am Straßenrand, vielleicht hockt
er irgendwo im Gebüsch oder sitzt lauernd in einem Auto.
Vielleicht sogar mit einem Fotoapparat. Dann kann er
neue Fotos von mir ins Internet stellen. Ich versuche ganz
unter die Decke zu kriechen. Fühle mich so ausgeliefert.
Die Schürze um meinen Arm wird langsam hart. Das Blut
trocknet. Der Pimmel wird hart. Haha. Meine Mutter wird
immer hysterischer. Ich bin kurz davor, Luise zu bitten,
bei mir zu bleiben. Ich schaffe es, es nicht zu sagen. Meine
Mutter ist immer noch nicht in der Lage, mal einen geraden
Satz zu formulieren. Sie streut angefangene Fragen in
alle Richtungen. Unterbricht sich selber immer wieder
oder vergisst auf halber Strecke, was sie eigentlich wissen
wollte. Meine Mutter ist toll. Aber leider nicht für die
Realität gemacht. Sie kann sich aus dem Stegreif eine tolle
Geschichte ausdenken. Sie ist eine Göttin der Verwandlung
und verzauberte uns zu Karneval immer in andere
Wesen. Sie ist die Königin der Dekoration und macht aus
unserem Haus mal einen orientalischen Palast und dann
mit Muscheln und Fischernetzen eine Nordseekate. Eigentlich
weiß man nie so recht, was einen hinter unserer
Haustür erwartet. Auf der anderen Seite der Haustür ist
meine Mutter dagegen völlig aufgeschmissen. Wenn sie
alleine in die Stadt fährt, muss sie sich aufschreiben, wo
sie geparkt hat. Sie hat von meinem Vater eine Uhr mit
Weckfunktion geschenkt bekommen, damit sie in der
Stadt, zum Beispiel in einem neuen Krimskramsladen,
nicht Zeit und Raum vergisst. Vor ein paar Jahren ist sie in
der Stadtbücherei aus Versehen eingeschlossen worden.
Sie hatte sich mit einem Buch in eine Ecke gesetzt und
sich festgelesen. Irgendwann rief sie uns dann an und teilte
uns mit, dass sie erst am nächsten Tag nach Hause
komme. Sie sei vorher beim Bäcker gewesen, habe also
genug zu essen dabei und sie würde das Buch jetzt einfach
zu Ende lesen und sich dann in die Kuschelecke der
Kinderbücherei legen. Mein Vater hat sie am nächsten
Morgen um neun da abgeholt. Vielleicht wollte er wissen,
ob diese abstruse Geschichte wirklich stimmte. Vielleicht
hatte er ja Schiss, sie hätte einen Lover. Aber dafür wäre
meine Mutter echt zu verwirrt. Sie könnte sich niemals
die Namen zweier Männer merken und in den richtigen
Situationen anbringen.
Und mit dieser Frau bin ich jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus.
Sie sieht immer noch so aus, als habe jemand
einen Föhn in ihren Kopf gehalten und alle Gedanken
durcheinandergewirbelt. Aber irgendwann werden die
wieder landen. Und irgendwann wird sie die Frage stellen:
Warum hast du das getan?
Ich kann es ihr nicht erzählen. Sosehr ich mir wünschte,
dass das Eis in mir auftauen, die klirrenden Gedanken
mit den scharfen Kanten wegschmelzen und ich keine
Schatten mehr sehen würde. Sosehr ich mir wünschte,
dass mein Vater mich in den Arm nehmen und ein bisschen
mit mir schimpfen würde. Selbst wenn er mich zur
Polizei schleppen würde, auch das wäre okay, aber womöglich
bräuchte es das gar nicht. Wahrscheinlich müsste
mein Vater nur ein paar Minuten auf seinem Laptop
rumhacken und schon hätte er ihn. Aber ich kann es
nicht sagen. Sie werden mich ansehen und an früher denken.
Wie lange habe ich nicht daran gedacht? Zwei, drei
Jahre? Da war schon mal das Gefühl der Bedrohung.
Schon mal hat sich jemand in mein Leben geschlichen.
Dachte ich damals zumindest. So wurde ich mit neun Jahren
zur absolut jüngsten Patientin von Frau Stanges. Sie
war Psychologin und dafür eigentlich ganz nett. Sie - und
die Tablette am Abend - konnte mich davon überzeugen,
dass niemand mich verfolgte. Angefangen hatte alles mit
einem Unfall. Ich war in der Küche gestolpert, gegen Luise
geknallt, die stieß gegen den Herd und kochendes Wasser
floss über ihr Bein. Mehr als zwei Monate war Luise in
verschiedenen Krankenhäusern. Es hatte nie jemand gesagt,
dass ich schuld war. Aber alle wussten es natürlich.
Ich hatte mich so kacke gefühlt. So allein, so nackt. Ohne
Luise. Irgendwann hat Mama mir ins Ohr geflüstert, dass
Lu doch in Gedanken immer bei mir sei. Das war beruhigend
gemeint, aber es wirkte auf mich wie eine Drohung.
Und ganz plötzlich war da das Gefühl, dass mich jemand
beobachtet. Es war so ein bisschen, wie wenn man sich als
Kind vorstellt, dass der liebe Gott von oben alles sieht. In
mir machte sich eine Panik breit. Als ich daraufhin anfing,
fast jede Nacht ins Bett zu machen, fanden meine
Eltern das erst mal nur blöd. Als ich dann jedoch begann,
fremde Leute auf der Straße anzuschreien, gingen sie mit
mir zu einem Arzt. Von dort ging es zu Frau Stanges. Jeden
Montag, halb vier, war ich dann bei ihr. Wirklich gut
wurde es aber erst, als Luise wieder nach Hause kam. Das
war damals. Wenn ich jetzt erzähle, dass sich da jemand
in mein Leben drängt, wird es sicher nicht lange dauern,
bis ich wieder bei Frau Stanges sitze. Und vielleicht reicht
dann eine Stunde pro Woche nicht mehr? Würden meine
Eltern mich in eine Anstalt einliefern? Ich weiß es nicht,
ich will es aber nicht riskieren. Ich muss es alleine schaffen.
Ich muss es schaffen. Ich will wieder in mein altes
Zimmer ziehen. Wieder ins Licht, ans Licht. Mit Fenstern
zur Straßenseite. Ich will mich nicht mehr im Keller verstecken
müssen. Unser Keller heißt ja eigentlich nicht Keller,
sondern Souterrain. Aber ein bisschen dunkel ist es
schon. Deswegen wollte ich ja auch dahin. Mich da verkriechen.
In meinem Zimmer unterm Dach hatte ich in den
letzten Wochen immer nur noch Kerzen angezündet, um
es ein bisschen hell zu machen. Es durfte nicht zu hell
sein. Bei Lampenschein fühlte ich mich sofort so nackt.
Wie auf einer Bühne. So unheimlich sichtbar. Selbst wenn
die Vorhänge zugezogen waren. Ich war lieber unsichtbar.
Ich hatte meinen Dad gebeten, Rollladen einzubauen. Hatte
was davon gefaselt, dass es nachts nicht richtig dunkel
würde und ich nicht mehr schlafen könne. Luise hat es
mir kaputt gemacht. Sie war blöderweise bei dem Gespräch
dabei und hatte nur kurz aufgelacht: »Linda, du
verkriechst dich unter deiner Decke wie ein Bär zum Winterschlaf.
Du würdest es nicht sehen, wenn nachts plötzlich
die Sonne aufging.«
Keine Ahnung, warum sie das gesagt hat. Ich hab dann
nicht mehr von den Rollladen angefangen und bin eben in
den Keller gezogen. Irgendwie ging mir da oben ja auch
die Dauerpräsenz von Paul auf den Keks. Ich konnte ja
schon gar nicht mehr auf die Toilette gehen, weil ich
immer Schiss haben musste, dass er plötzlich an die Tür
klopft. Allein die Vorstellung, dass er mir beim Pinkeln zuhören
konnte, fand ich doof. Mir ist so was peinlich. Dieses
Plätschern. Ich habe immer jede Menge Klopapier in die
Schüssel gestopft, wenn er da war und ich mal musste.
In letzter Zeit waren da noch andere Gedanken.
Was, wenn er es wäre?
Wenn er sich vielleicht nur deswegen an Luise herangemacht
hat. Nur, um mich fertigzumachen.
Ich habe mich immer eingeschlossen. Sobald ich in
meinem Zimmer war, habe ich den Schlüssel rumgedreht.
Spätestens seit heute Abend weiß ich, dass er es nicht
sein kann. Paul war den ganzen Abend bei Luise im Zimmer
gewesen. Er kann nicht das Herz an die Scheibe
gemalt haben.
Eine Stimme in mir schreit auf: doch! Er kann. Er hätte
es vorher machen können. Bevor er geklingelt hat. Vielleicht
ist er erst in den Garten geschlichen, hat seinen
fiesen Finger in den Mund gesteckt, um dann mit ekliger
Spucke ein Herz ans Fenster zu schmieren.
Er hätte also die Möglichkeit gehabt. War ich in meinem
Zimmer gewesen? Hatte er mich gesehen? Mich
beobachtet, als ich auf dem Bett lag und Musik gehört
habe?
Ich stöhne auf. Meine Mutter greift sofort nach meiner
Hand. Gott sei Dank nimmt sie die Hand am heilen Arm.
Sie streichelt sanft über die Innenfläche.
Im Krankenhaus geht es total schnell. Am längsten
kümmert sich der Arzt um meine Mutter. Sie bekommt
was zur Beruhigung und jede Menge Ansprache. Fehlt
nur noch, dass jemand ihre Hand hält. Die völlig verkrustete
Schürze landet im Müll und die klaffenden
Wunden an meinem Handgelenk werden verklebt. Ich
weiß das, weil mir eine Schwester das erzählt. Ich gucke
nicht hin. Langsam fängt es an wehzutun. Gegen die
Schmerzen bekomme ich ein paar Kügelchen, die ich
unter der Zunge zergehen lassen soll. Meine Mutter hantiert
auch immer gerne mit so einem homöopathischen
Quatsch.
Die Beruhigungstabletten, die meine Ma von dem Doc
bekommen hat, waren keine Kügelchen. Das war was Vernünftiges.
Komische Prioritäten setzen die hier. Weil
meine Mutter natürlich nicht an mein Impfbuch gedacht
hat - selbst wenn sie daran gedacht hätte, hätte sie nie im
Leben gewusst, wo es ist -, bekomme ich noch eine fette
Tetanusspritze.
Und dann darf ich nicht nach Hause.
Der Arzt bittet meine Mutter vor die Tür. Die Schwester
tut so, als würde sie irgendwas um mich herum aufräumen.
Sie wuselt völlig unkoordiniert hin und her. Mir
wird schlagartig klar: Sie soll mich beobachten. Auf mich
aufpassen. Ich spüre ihre Blicke, obwohl ich sie von der
Liege aus nicht sehen kann.
Nach anderthalb Ewigkeiten kommt meine Mutter wieder
rein. Sie hat rote Augen. Hinter ihr sind der Arzt und
ein Mann in Jeans. Der stellt sich nicht vor, sondern nur
fest, dass ich also die Linda sei. Darauf sage ich nichts.
Was auch? Zu viert - die Schwester hat ihre Scheintätigkeit
aufgegeben und sich auch wieder dazugesellt - stehen
sie um mich rum, gucken auf mich runter.
»Wenn du gleich auf deinem Zimmer bist, würde ich
gerne noch kurz mit dir reden«, sagt der Jeansmann. Er
trägt original ein Jeanshemd zu einer Jeanshose. Irgendjemand
müsste ihm mal sagen, dass man das echt nicht
machen kann.
»Ich habe hier kein Zimmer. Ich habe zu Hause ein Zimmer.
Und da möchte ich jetzt hin«, antworte ich ihm.
Meine Mutter schaltet sich ein. Sie redet schnell. Macht
keine Pausen. Ich höre was von »viel Blut verloren«, »Sorgen
machen«, »reden müssen«. Von »Übersprunghandlung
« und »Hilferuf«. Außerdem sei ja das Fenster in meinem
Zimmer jetzt kaputt und da könne ich also ohnehin
nicht schlafen.
Ich versuche ihre Worte zu verbinden. Es ist wie beim
»Malen nach Zahlen«. Dabei muss man eine Linie von 1
nach 2,
nach 3
und so weiter ziehen. Und wo vorher nur
ein wirrer Haufen Punkte und Zahlen war, entsteht plötzlich
ein Bild. Ich versuche die Halbsätze meiner Mutter so
zu verbinden, dass für mich ein Bild entsteht. Es gelingt
mir nicht. Ich bleibe auf meinem Haufen mit Punkten
und Zahlen sitzen. Wut kommt in mir hoch. Wenn ich
damals nach Luises Unfall nicht so neurotisch reagiert
hätte, könnte ich es jetzt sagen. Wenn ich mich damals
ein bisschen zusammengerissen hätte und nicht durchgeknallt
wäre, würden sie mir jetzt glauben. Wie können sie
das jetzt, wo ich mit neun Jahren schon Psychopharmaka
schlucken musste? Wo jeder glaubt, ich könne ohne Luise
nicht leben? Hätte ich damals nur nicht so rumgesponnen.
Ich könnte es erzählen: Von dem Chatroom, in dem
fast alle aus meiner neuen Klasse sind. Und dass da ein
Kaktus war. Dass ich mich super mit dem unterhalten
konnte. An der Stelle würde mein Vater den Kopf schütteln
und ich würde ihn beruhigen. Dass ich natürlich
nicht meinen richtigen Namen oder gar meine Adresse
verraten hätte. Dass man ja nie genau wüsste, wer sich
hinter den Nicknamen versteckt. Im schlimmsten Fall so
ein alter Sack, der sich an jungen Mädchen aufgeilt. Ein
fieser schmuddeliger Typ mit vergilbten Zähnen und
Raucherfingern.
Ich müsste noch nicht mal lügen. Na ja, ein bisschen
vielleicht. Ich müsste ein paar Sachen weglassen. Das
schon. Vor allem das mit den Fotos im Internet. Ich würde
einfach sagen, dass der Typ mir plötzlich komische Mails
geschrieben hätte. Das hätte mir Angst gemacht. Und
dann würde mein Vater an seinen Computer gehen, ein
paar komische Befehlsketten eingeben und nach ein paar
Minuten wüsste er, wer sich hinter »Kaktus« verbirgt. Und
auf der Stelle würde er sich den Typen vornehmen. Oder
ihn zur Polizei schleifen. Oder ihm nur damit drohen,
falls er mich noch mal belästigt. Dann hätte sich Luise zu
mir auf die Couch gekuschelt. Scheiß-Paul hätten wir vor
dem Familiengespräch natürlich nach Hause geschickt.
Und morgen wäre dann der erste Tag seit gefühlten hundert
Jahren, an dem ich nicht mit einem Klumpen aus
Angst im Bauch aufwachen würde.
So könnte mein Drehbuch aussehen. Wenn das Wörtchen
»wenn« nicht wär ... Aber da ich anscheinend schon
mit einem Bein in der Klapsmühle bin, darf ich jetzt auf
keinen Fall noch mehr erzählen. Mein Drehbuch muss
umgeschrieben werden. Denn hier wird gerade ein anderes
Stück gespielt.
Wir haben in der Schule mal Improvisationstheater gemacht.
Da wusste man auch nie, in welche Richtung das
Ganze gerade geht. Das ist nicht mein Ding. Ich weiß gerne,
was passiert. Aber das Gefühl fehlt mir ja schon seit
Längerem. Mein Kopf beginnt erst langsam zu begreifen.
Ich soll jetzt echt hierbleiben. Im Krankenhaus. Klar,
wahrscheinlich liegt im Schwesternzimmer schon die erste
Tablette für mich bereit.
»Ma, was soll das? Ich habe mich geschnitten. Mehr
nicht. Ruf jetzt bitte Papa an, dass der uns hier abholt.«
»Linda, reg dich nicht auf. Du sollst dich einfach noch
ein bisschen ausruhen. Außerdem möchte der Herr Bleicher
hier noch mal mit dir reden.«
Sie zeigt auf den Jeans-Mann. Bleicher. Das passt. Der
sieht selber genauso stonewashed aus wie sein Outfit.
»Dann kann mich der Herr Bleicher doch mal zu Hause
besuchen. Dann können wir in aller Ruhe quatschen.«
Komisch. Eigentlich ist das nicht meine Art, zu widersprechen.
Normalerweise hätte ich jetzt genickt. Im schlimmsten
Fall noch »gerne« gesagt. Aber es ist nichts mehr normal.
Ich bin nicht mehr normal. Aus dem Augenwinkel
sehe ich, wie der Arzt irgendwas in seinen Computer eintippt.
Schlagartig durchfährt mich ein eiskalter Blitz.
Wenn der Kaktus einfach so meine Urlaubsfotos im Inter-
net manipulieren kann, kann er sich dann auch in den
Krankenhausrechner einloggen? Steht hinter meinem Namen
jetzt vielleicht schon »schizophren« oder »manischneurotisch
«? Wahrscheinlich bekomme ich gleich eine
dubiose Infusion, keine kleine Pille, und versinke für die
nächsten Wochen in einen Dämmerzustand. Obwohl -
der Gedanke fühlt sich fast ein bisschen verlockend an.
Dann würde auch die Angst in Watte gepackt. Die Angst.
Die immerwährende Angst. Denn meine Angst ist IMMER
da. So wie er. Egal, wohin ich meine Gedanken schicke, er
ist schon da. Oder nur sein Schatten. Mittlerweile ist er
da, auch wenn er nicht da ist. Wenn in meinem E-Mail-
Postfach keine Nachricht ist, denke ich trotzdem an ihn:
ER HAT NICHT GESCHRIEBEN.
Als die Bedrohung anfing, war das noch anders. Wenn
zwei, drei Tage kein Zeichen von ihm kam, hat sich wirklich
ein heller Schimmer in mir breitgemacht. Habe gedacht:
Na, siehste, es hört doch schon wieder auf. So wie
ein Schnupfen von alleine kommt und von alleine wieder
geht. Doch manchmal wird aus einer Erkältung eben
doch eine gefährliche Lungenentzündung.
Ich spüre den Blick von dem Jeans-Mann wie einen
Scheinwerfer auf mir. Er steckt die Daumen vorne in die
Hosentaschen, lässt die restlichen Finger locker raushängen.
Mein Mathelehrer macht das auch oft. Sieht total
kacke aus.
»Vielleicht ist es besser, du ruhst dich jetzt erst mal aus.
Ist ja schon spät«, tönt es aus dem Jeans-Wesen. »Wir können
auch morgen noch reden.«
»Willst du gleich schlafen? Dann bringe ich dir deine Sachen
vielleicht erst morgen früh, oder?«, fragt meine Mutter,
als ich mich schließlich in einem Krankenhausbett
wiederfinde. Offensichtlich hatte ich doch zu viel Blut
verloren oder was auch immer - meine Gegenwehr und
meine Proteste waren einfach nicht vehement genug.
»Natürlich kommst du morgen früh. Und zwar, um
mich abzuholen.«
Sie nickt, aber irgendetwas gefällt mir an dem Nicken
nicht.
»Mama! Du holst mich morgen früh hier ab, oder?«
Meine Mutter zerrt jetzt an den Ecken des Kopfkissens.
Sie macht mich echt nervös. Ihr Blick sagt, dass sie nicht
in diesem Raum ist. Ihre Gedanken sind mal wieder abgebogen,
suchen sich ihr eigenes Ziel.
»MAMA.«
»Süße, ja. Natürlich holen wir dich ab. Vielleicht nicht
gleich morgen früh. Dieser Herr Dings will doch noch mit
dir reden. Wer weiß, wann der Zeit hat.«
»Und wenn Herr Dings erst nächste Woche Mittwoch
Zeit hat? Soll ich so lange hier rumliegen und auf die Audienz
warten?«
»Ich bin sicher, er hat morgen Zeit für dich.«
Mittlerweile zerrt sie an mir rum. Nicht feste. Aber
penetrant. Sie streicht mir die Haare immer wieder hinter
die Ohren, spielt mit meinen Fingern, streichelt monoton
die Innenseite meines Unterarms - des unbandagierten
natürlich. Immer wieder der gleiche Weg.
»Ma, wenn du noch lange damit weitermachst, ist die
Haut gleich durch. Dann müssen sie mir den Arm auch
noch verbinden.«
Sie guckt mich erschrocken an und ich sehe, dass sie
kurz vorm Heulen ist. Ihre Augen schwappen jeden Moment
über.
»Was ist mit dir?«
Der erste Tropfen fällt auf meinen Arm.
»Ich habe mich halt so erschrocken vorhin. Du und das
ganze Blut. Die Scherben. Wie du dann dalagst.«
Ich nehme sie in den Arm - so gut das im Liegen geht.
Als sie draußen ist, bin ich fast ein bisschen erleichtert.
Ich war gerade einfach zu nah dran, ihr ein bisschen was
von der Wahrheit zu erzählen.
Hätte ich es direkt gesagt. Direkt als alles anfing - es wäre
ein Nebensatz nur gewesen. Wieso habe ich nicht mal von
Kaktus erzählt, als der Gedanke an ihn sich noch gut anfühlte?
Da war er eine reale Person. Jetzt ist da der Unbekannte.
Und natürlich wird das meinen Eltern total bekannt
vorkommen. Jetzt sind da schon so viele Fragen. Ich
müsste so viel erzählen, ein Stück zurück in die Vergangenheit
gehen und erklären, damit sie mir glauben. Dabei
rede ich nicht gerne. Wahrscheinlich bin ich deswegen in
den verdammten Chatroom gegangen. Weil man da reden
kann, ohne angeguckt zu werden. Ich konnte mit hektischen
Flecken oder ganz zittrig vor dem Computer sitzen
und keiner hat mich ausgelacht. Ich habe sofort gefühlt,
dass das meine Welt ist. Alleine und doch mit Menschen
zusammen. Wenn ich genug Worte gewechselt hatte,
habe ich oft einfach nur zugehört. Also mitgelesen. Die
ganzen flapsigen Kommentare, die Diskussionen, die vorsichtigen
Annäherungen. Keiner konnte mich zwingen
mitzumachen. Wenn ich nicht mehr wollte, habe ich einfach
ein »CU« eingehackt und mich ausgeloggt. Fertig.
Keine Nachfragen, keine komischen Blicke, kein blöder
Kommentar.
Von rechts wird mir eine große Flipstüte hingehalten.
»Willste was?«
Ich habe das Mädchen neben mir noch gar nicht wahrgenommen.
Ich winke ab. »Danke. Lass mal.«
»Ich habe auch Schoko. Oder willst du ein Bier?«
»Nee, echt nicht.«
Sie wendet sich wieder dem Fernseher zu, der von der
Wand gegenüber Licht gegen unsere Betten flackert.
»Warum bist du hier?« Das Mädchen will offenbar trotz
der Kopfhörer auf den Ohren eine Unterhaltung mit mir
führen.
»Habe mich geschnitten.«
Sie guckt auf meinen Verband und dann eine Spur zu
lang und unverblümt in mein Gesicht und grinst leicht.
Ich will nicht wissen, warum sie hier ist, und frage sie
auch nicht.
Wir starren beide wieder den Fernseher an.
Irgendwann gehen meine Gedanken auf ihre eigene Reise.
Ich träume, vor der Tür würde ein Aufpasser sitzen. So
wie in Filmen, wenn jemand ganz Wichtiges im Krankenhaus
liegt. Ein Popstar oder ein Kronzeuge gegen die
Mafia oder so. Dann sitzen da immer stiernackige Männer
auf winzigen Stühlen und passen auf. So einen Aufpasser
träume ich mir her. Und weil ich auch gar kein Handy
und keinen Computer mithabe, könnte mir hier auch
nichts passieren. Keine grausamen SMS würden mich erreichen.
Alle E-Mails würden ungelesen in meinem Postfach
vergammeln. Und wenn wieder einmal irgendwo im
Netz auf einem Urlaubsfoto von mir das Bikini-Oberteil
wegretuschiert wird - mir doch egal. Ich sehe es nicht, ich
weiß es nicht und ich sehe auch niemanden, der es weiß.
So einfach wäre das. Ich fühle mich wie in einem Kokon.
Selbst das Knistern der Flipstüte neben mir stört mich
nicht. Im Gegenteil. Das ist ein so schön unschuldiges
Geräusch. Das passt gut in mein kleines Traumtheater.
Als ich wach werde, läuft der Fernseher schon wieder.
Vielleicht auch immer noch. Das Mädchen im Bett nebenan
schiebt Maoams in sich rein und starrt auf den Bildschirm.
Alle paar Minuten nimmt sie einen Schluck aus einer
Anderthalb-Liter-Flasche Cola light. Würde mich nicht wundern,
wenn die wegen einer ausgewachsenen Essstörung
hier ist. Ich bemühe mich, nicht richtig wach zu werden. Mir
das behütete Gefühl aus meinem Traum zu bewahren. Nicht
an gestern Abend zu denken. An den Moment, als meine
Hand durch die Fensterscheibe glitt. An die Angst, die mir
wie eine Ohrfeige ins Gesicht klatschte. Ich habe neulich in
einem Buch den Satz gelesen: »Die Angst kroch in ihr Herz.«
Meine Angst kriecht schon lange nicht mehr. Meine Angst
springt mich an, presst mir die Luft aus der Lunge, zieht mir
die Füße weg, schlägt mir ins Gesicht. Habe ich jetzt drei
oder vier Minuten nicht an ihn gedacht? Wie viele Sekunden
konnte ich die Illusion aufrechterhalten, alles sei in Ordnung.
Ich sei ein ganz normales sechzehnjähriges Mädchen
mit den üblichen Problemen wie Pickeln, nervigen Eltern
und chronischem Geldmangel. Wenn ich jetzt zurück in
mein Leben davor könnte, ich würde sogar fiese Akne in
Kauf nehmen. Könnte ich jetzt einen Deal machen und die
Zeit zurückdrehen, ich würde echt fast alles versprechen.
Aber tief in mir weiß ich, dass ich mich nicht freikaufen
kann. Und das lässt mich so erstarren. Kurz taucht wieder
das fiese Internet-Foto von mir vor meinem inneren Auge
auf. Dazwischen schiebt sich ein Blick von Paul. Ein langer
Blick, der aufdringlich meinen Körper abtastete. Ich hatte
geduscht, war im Handtuch eingewickelt in mein Zimmer
gegangen. An der geöffneten Tür von Luise vorbei. Dahinter
saß Paul. Fläzte sich in einem Sessel. Luise war wohl gerade
unten. Trotz der Dusche hatte ich mich allein durch den
Blick wieder schmutzig gefühlt.
Der Jeansmann kommt, als ich gerade mit einer Schwester
streite. Sie verlangt, dass ich festlege, was ich die Woche
über hier essen will. Ob ich mittags die Vollwertküche
oder die Schonkost bevorzuge. Ob ich morgens ein Ei zum
Frühstück will. Ich versuche der Frau leise klarzumachen,
dass ich hier nach dem Frühstück keine weitere Mahlzeit
zu mir nehmen werde. Und selbst von dem Frühstück
habe ich nicht viel gegessen. Es gab »Schlimme-Augen-
Wurst« mit Glibber und grobe Leberwurst. Dazu Hagebuttentee.
Ich habe jetzt so eine Vorahnung, warum das
Mädchen im Bett neben mir sich ihren eigenen Ernährungsplan
zusammengestellt hat. Der Bleicher guckt
ganz ruhig zwischen der Schwester und mir hin und her.
Als ich gerade ein bisschen lauter werden will, kommt er
mir zuvor.
»Linda, haben Sie einen Moment Zeit? Ich würde jetzt
gerne mit Ihnen reden.«
Er hält die Tür auf. Die Schwester geht raus. Er hält die
Tür immer noch auf. Jetzt erst raffe ich, dass ich mitkommen
soll. Ich gehe hinter ihm her und ärgere mich, dass
ich gestern Abend nur eine alte Leggins und ein Shirt anhatte.
Ich laufe eigentlich nicht gerne in so engen Sachen
rum. Schon gar nicht, wenn mich jemand sehen kann.
Aber eigentlich wollten wir ja gestern Abend gerade zu
Abend essen, als ich noch mal schnell in mein Zimmer
gegangen bin. Ich weiß immer noch nicht, was ich eigent-
lich holen wollte. Und dann war da dieses Herz, dann waren
da die Scherben. Der Rest ist bekannt.
Der Bleicher hält mir die Tür zu einem winzigen Büro
auf. Darin stehen ein Schreibtisch, ein Schreibtischstuhl
und eine schwarze Ledercouch. Klar. Der Typ ist schließlich
ein Psychofritze.
»Soll ich mich jetzt auf diese Couch legen?«
Ich bin irritiert. Damals durfte ich auf einem Stuhl
sitzen.
Er guckt die Couch an, als würde er sie zum ersten Mal
sehen. Als hätte irgendjemand die gerade heimlich in
sein Büro gestellt.
»Wenn es dir lieber ist, setze ich mich darauf.«
Er nimmt echt auf dem Sofa Platz. Ich stehe wie blöd
mitten im Raum.
»Setz dich doch bitte.«
Ich finde beide verbleibenden Alternativen völlig Banane,
aber neben ihn auf die Couch kann ich mich echt
nicht setzen. Das wäre definitiv zu nahe. Ich nehme am
Schreibtisch Platz.
»Linda, wir werden immer aufmerksam, wenn hier
eine junge Frau mit aufgeschlitzten Pulsadern eingeliefert
wird.«
Auf seinem Schreibtisch stehen ein paar Bilderrahmen.
So, wie es sich gehört. Doch in den drei Rahmen sind
nicht Frau, Kind, Hund, sondern Steine, Steine, Steine.
Würde mich mal interessieren, wie das ein Psychologe
deuten würde.
»Aufgeschlitzte Pulsadern sind nämlich oft ein Suizid-
versuch.«
Ganz langsam fange ich an zu begreifen.
Die denken hier, ich hätte gestern Abend versucht mich
umzubringen. Die glauben, ich hätte mir absichtlich mit
einer Scherbe am Arm rumgeritzt. Deswegen musste ich
bleiben. Deswegen war meine Mutter gestern so verstört.
Also, noch verstörter als sonst.
»Ich habe nicht versucht mir das Leben zu nehmen.«
»Das freut mich sehr. Deine Mutter hat mir allerdings
erzählt, dass du in letzter Zeit sehr verschlossen und sehr
ängstlich warst.«
»Ich war schon immer sehr verschlossen und ängstlich.
Das hat meine Mutter vielleicht nicht erzählt. Vielleicht
ist ihr das aber auch gar nicht so bewusst.«
»Bist du wütend auf deine Mutter?«
Ich muss echt kurz grinsen.
»Weil ich das gerade gesagt habe? Nein. Ich bin nicht
die Bohne wütend auf sie. Sie ist einfach, wie sie ist.
Manchmal macht sie mich wahnsinnig. Meistens muss
ich aber nur staunen über sie.«
»Wenn das gestern Abend nur ein Unfall war - hast du
denn schon mal an Selbstmord gedacht?«
»Eigentlich nicht. Aber wo sie es jetzt ansprechen, kann
ich das ja mal tun.«
Er reagiert darauf gar nicht. Ich rede einfach weiter.
»Auf jeden Fall würde ich nicht an mir rumritzen. Ich
würde auf Nummer sicher gehen. Mit Schlaftabletten in
die Badewanne. Im wohligen Wasser langsam einschlafen.
Und dann wirken entweder die Tabletten oder man
erfriert in dem kälter werdenden Wasser. Das ist doch
mal wirklich ein sauberer Tod, oder?«
»Woher weißt du so was?«
»Habe ich irgendwo gelesen.«
»Und dir gemerkt.«
»Ja, blöd, was? Matheformeln, Grammatikregeln, Vokabeln
- nichts kann ich mir behalten. Aber so einen Mist
speichere ich ab.«
»Wieso Mist?«
cbt ist der Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
Zert.-Nr. SGS-COC-001940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete
FSC-zertifizierte Papier Super Snowbright
liefert Hellefoss AS, Hokksund, Schweden.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2010
© 2010 für cbt Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: iStockphoto / Christine Glade
Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld
he • Herstellung: AnG
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-570-16084-8
Printed in Germany
www.cbt-jugendbuch.de
Meine Mutter zerrt an ihrer Schürze. Sie fängt immer
wieder Sätze an, die sie nicht beendet. Als sie endlich die
auf ihrem Rücken gebundene Schleife geöffnet hat, wickelt
sie mir den Stoff um das Handgelenk. Er riecht nach
kaltem Fett und heißen Zwiebeln. Auf der Schürze war
der Druck eines nackten Mannes. Das Teil habe ich mal
meinem Dad geschenkt. Direkt oben auf meinem Unterarm
prangt jetzt ein Penis. Sieht irgendwie albern aus.
Ich überlege, ob die Schürze wohl mit fünfundneunzig
Grad gewaschen werden darf. Die Blutflecken werden
sonst niemals rausgehen. Vielleicht sieht der nackte Männerkörper
mit den großflächigen Blutflecken aber auch
viel besser aus. Ich wundere mich über meine Gedanken.
Meine Mutter hat längst angefangen zu weinen. Mein Opa
guckt ungläubig in mein Gesicht und auf den Penis. Ich
bin mir nicht sicher, was ihn an dieser Situation am meisten
irritiert. Es tut mir leid, dass ich ihm das hier zumuten
muss.
Luises Stimme legt sich hart über den Lautsalat in meinem
Zimmer. Sie ist langsam, klar, deutlich.
»Linda, du legst dich hin. Flach. Die Beine auf den Stuhl.
Mama, zieh deine Schuhe an, du fährst mit ins Krankenhaus.
Der Krankenwagen ist gleich da.«
Ich kann sie nicht angucken. War ja klar. Luise, die
Überlegende, die Überlegene. Die Alleskönnerin. Sie
drückt die richtigen Knöpfe, regelt das Leben. Wenn andere
untergehen, geht sie über das Wasser. Echt zum Kotzen.
Ich liege hier auf dem babydurchfallkackbeigen Teppich
und gucke sie von unten an. Von hier sieht sie aus, als sei
sie über zwei Meter groß. Ihre Beine wirken auch total
lang. Oder zumindest normal lang. Sie hat in Wirklichkeit
ziemlich kurze Beine. Vielleicht sollte ich ihr das mal
sagen. Dass ihr die Typen nur deswegen alle zu Füßen
liegen, damit ihre kurzen Stummelbeine annehmbar
wirken. Ich sage das nicht, stöhne nur kurz auf. Mir tut
immer noch nichts weh, komisch eigentlich, aber mein
Hals wird zu eng. Ich kriege nicht mehr genug Luft. Luise
kniet sich neben mich.
»Linda, bleib ganz ruhig. Das ist nur dein Kreislauf, der
gerade in den Keller rauscht. Bleib ganz entspannt. Du
fährst gleich mit Ma ins Krankenhaus. Die tackern dich
wieder zu.«
Sie hört sich an, als würde sie in eine Konservendose
sprechen. In so ein Konservendosentelefon. Das hatten
wir früher. Jeder saß in seinem Zimmer und brüllte in
eine leere Dose. Dazwischen war eine Schnur gespannt.
Wir haben uns stundenlang mithilfe dieser Konstruktion
unterhalten. Ich bin mir nicht sicher, ob durch die Wand
oder wirklich über die Schnur.
Luise hält meine Hand, wie sie sie immer hält. Ihre
Hand umfasst meine Faust. So haben wir uns schon immer
an der Hand gehalten. Ich balle immer die Faust. Ich
bin so froh, dass Luise jetzt hier ist. Trotz allem. Fast
wünschte ich, sie käme mit ins Krankenhaus. Aber wahrscheinlich
will sie gleich wieder hoch zu ihrem Paul. Ich
würde Luise jetzt gerne alles sagen. Ich habe plötzlich
eine Riesenangst, dass es dafür vielleicht bald zu spät sein
könnte. Mir wird total kalt. Als würden alle warmen
Farben gerade in eine alberne Nackte-Männer-Schürze
fließen. Ich werde auch müde. Als wären alle meine Gedanken
in diese Luftbläschenfolie eingepackt. Diese Luftblasen,
die lustig platzen können. Wie kleine Pupse. Ich
schaue zum Fenster. Durch das gezackte Loch, das meine
Faust hinterlassen hat. Von dem Herz sind noch die oberen
Bögen zu sehen. Sieht irgendwie pervers aus. Wie ein
dicker Po. Mir wird noch kälter. Nicht wegen der kühlen
Abendluft, die durch das geschlossene Fenster reinkommt.
Das Herz lässt mich frieren. Ich hatte es sofort
gesehen, als ich die Tür öffnete. Ich wollte nur schnell
was holen. Weiß schon gar nicht mehr, was. Als ich das
Licht anmachte, grinste mich sofort das Herz an. Von
einem dicken Finger war es von außen an die Scheibe geschmiert
worden. Hämisch verhöhnte es mich und wollte
mir nur sagen: ICH BIN IN DEINER NÄHE.
Als mich zwei Zivis schlurfend zum Krankenwagen tragen,
ziehe ich die Decke ein bisschen höher. Ich bin sicher,
dass er hier noch in der Gegend ist. Vielleicht steht
er hinter einem Baum am Straßenrand, vielleicht hockt
er irgendwo im Gebüsch oder sitzt lauernd in einem Auto.
Vielleicht sogar mit einem Fotoapparat. Dann kann er
neue Fotos von mir ins Internet stellen. Ich versuche ganz
unter die Decke zu kriechen. Fühle mich so ausgeliefert.
Die Schürze um meinen Arm wird langsam hart. Das Blut
trocknet. Der Pimmel wird hart. Haha. Meine Mutter wird
immer hysterischer. Ich bin kurz davor, Luise zu bitten,
bei mir zu bleiben. Ich schaffe es, es nicht zu sagen. Meine
Mutter ist immer noch nicht in der Lage, mal einen geraden
Satz zu formulieren. Sie streut angefangene Fragen in
alle Richtungen. Unterbricht sich selber immer wieder
oder vergisst auf halber Strecke, was sie eigentlich wissen
wollte. Meine Mutter ist toll. Aber leider nicht für die
Realität gemacht. Sie kann sich aus dem Stegreif eine tolle
Geschichte ausdenken. Sie ist eine Göttin der Verwandlung
und verzauberte uns zu Karneval immer in andere
Wesen. Sie ist die Königin der Dekoration und macht aus
unserem Haus mal einen orientalischen Palast und dann
mit Muscheln und Fischernetzen eine Nordseekate. Eigentlich
weiß man nie so recht, was einen hinter unserer
Haustür erwartet. Auf der anderen Seite der Haustür ist
meine Mutter dagegen völlig aufgeschmissen. Wenn sie
alleine in die Stadt fährt, muss sie sich aufschreiben, wo
sie geparkt hat. Sie hat von meinem Vater eine Uhr mit
Weckfunktion geschenkt bekommen, damit sie in der
Stadt, zum Beispiel in einem neuen Krimskramsladen,
nicht Zeit und Raum vergisst. Vor ein paar Jahren ist sie in
der Stadtbücherei aus Versehen eingeschlossen worden.
Sie hatte sich mit einem Buch in eine Ecke gesetzt und
sich festgelesen. Irgendwann rief sie uns dann an und teilte
uns mit, dass sie erst am nächsten Tag nach Hause
komme. Sie sei vorher beim Bäcker gewesen, habe also
genug zu essen dabei und sie würde das Buch jetzt einfach
zu Ende lesen und sich dann in die Kuschelecke der
Kinderbücherei legen. Mein Vater hat sie am nächsten
Morgen um neun da abgeholt. Vielleicht wollte er wissen,
ob diese abstruse Geschichte wirklich stimmte. Vielleicht
hatte er ja Schiss, sie hätte einen Lover. Aber dafür wäre
meine Mutter echt zu verwirrt. Sie könnte sich niemals
die Namen zweier Männer merken und in den richtigen
Situationen anbringen.
Und mit dieser Frau bin ich jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus.
Sie sieht immer noch so aus, als habe jemand
einen Föhn in ihren Kopf gehalten und alle Gedanken
durcheinandergewirbelt. Aber irgendwann werden die
wieder landen. Und irgendwann wird sie die Frage stellen:
Warum hast du das getan?
Ich kann es ihr nicht erzählen. Sosehr ich mir wünschte,
dass das Eis in mir auftauen, die klirrenden Gedanken
mit den scharfen Kanten wegschmelzen und ich keine
Schatten mehr sehen würde. Sosehr ich mir wünschte,
dass mein Vater mich in den Arm nehmen und ein bisschen
mit mir schimpfen würde. Selbst wenn er mich zur
Polizei schleppen würde, auch das wäre okay, aber womöglich
bräuchte es das gar nicht. Wahrscheinlich müsste
mein Vater nur ein paar Minuten auf seinem Laptop
rumhacken und schon hätte er ihn. Aber ich kann es
nicht sagen. Sie werden mich ansehen und an früher denken.
Wie lange habe ich nicht daran gedacht? Zwei, drei
Jahre? Da war schon mal das Gefühl der Bedrohung.
Schon mal hat sich jemand in mein Leben geschlichen.
Dachte ich damals zumindest. So wurde ich mit neun Jahren
zur absolut jüngsten Patientin von Frau Stanges. Sie
war Psychologin und dafür eigentlich ganz nett. Sie - und
die Tablette am Abend - konnte mich davon überzeugen,
dass niemand mich verfolgte. Angefangen hatte alles mit
einem Unfall. Ich war in der Küche gestolpert, gegen Luise
geknallt, die stieß gegen den Herd und kochendes Wasser
floss über ihr Bein. Mehr als zwei Monate war Luise in
verschiedenen Krankenhäusern. Es hatte nie jemand gesagt,
dass ich schuld war. Aber alle wussten es natürlich.
Ich hatte mich so kacke gefühlt. So allein, so nackt. Ohne
Luise. Irgendwann hat Mama mir ins Ohr geflüstert, dass
Lu doch in Gedanken immer bei mir sei. Das war beruhigend
gemeint, aber es wirkte auf mich wie eine Drohung.
Und ganz plötzlich war da das Gefühl, dass mich jemand
beobachtet. Es war so ein bisschen, wie wenn man sich als
Kind vorstellt, dass der liebe Gott von oben alles sieht. In
mir machte sich eine Panik breit. Als ich daraufhin anfing,
fast jede Nacht ins Bett zu machen, fanden meine
Eltern das erst mal nur blöd. Als ich dann jedoch begann,
fremde Leute auf der Straße anzuschreien, gingen sie mit
mir zu einem Arzt. Von dort ging es zu Frau Stanges. Jeden
Montag, halb vier, war ich dann bei ihr. Wirklich gut
wurde es aber erst, als Luise wieder nach Hause kam. Das
war damals. Wenn ich jetzt erzähle, dass sich da jemand
in mein Leben drängt, wird es sicher nicht lange dauern,
bis ich wieder bei Frau Stanges sitze. Und vielleicht reicht
dann eine Stunde pro Woche nicht mehr? Würden meine
Eltern mich in eine Anstalt einliefern? Ich weiß es nicht,
ich will es aber nicht riskieren. Ich muss es alleine schaffen.
Ich muss es schaffen. Ich will wieder in mein altes
Zimmer ziehen. Wieder ins Licht, ans Licht. Mit Fenstern
zur Straßenseite. Ich will mich nicht mehr im Keller verstecken
müssen. Unser Keller heißt ja eigentlich nicht Keller,
sondern Souterrain. Aber ein bisschen dunkel ist es
schon. Deswegen wollte ich ja auch dahin. Mich da verkriechen.
In meinem Zimmer unterm Dach hatte ich in den
letzten Wochen immer nur noch Kerzen angezündet, um
es ein bisschen hell zu machen. Es durfte nicht zu hell
sein. Bei Lampenschein fühlte ich mich sofort so nackt.
Wie auf einer Bühne. So unheimlich sichtbar. Selbst wenn
die Vorhänge zugezogen waren. Ich war lieber unsichtbar.
Ich hatte meinen Dad gebeten, Rollladen einzubauen. Hatte
was davon gefaselt, dass es nachts nicht richtig dunkel
würde und ich nicht mehr schlafen könne. Luise hat es
mir kaputt gemacht. Sie war blöderweise bei dem Gespräch
dabei und hatte nur kurz aufgelacht: »Linda, du
verkriechst dich unter deiner Decke wie ein Bär zum Winterschlaf.
Du würdest es nicht sehen, wenn nachts plötzlich
die Sonne aufging.«
Keine Ahnung, warum sie das gesagt hat. Ich hab dann
nicht mehr von den Rollladen angefangen und bin eben in
den Keller gezogen. Irgendwie ging mir da oben ja auch
die Dauerpräsenz von Paul auf den Keks. Ich konnte ja
schon gar nicht mehr auf die Toilette gehen, weil ich
immer Schiss haben musste, dass er plötzlich an die Tür
klopft. Allein die Vorstellung, dass er mir beim Pinkeln zuhören
konnte, fand ich doof. Mir ist so was peinlich. Dieses
Plätschern. Ich habe immer jede Menge Klopapier in die
Schüssel gestopft, wenn er da war und ich mal musste.
In letzter Zeit waren da noch andere Gedanken.
Was, wenn er es wäre?
Wenn er sich vielleicht nur deswegen an Luise herangemacht
hat. Nur, um mich fertigzumachen.
Ich habe mich immer eingeschlossen. Sobald ich in
meinem Zimmer war, habe ich den Schlüssel rumgedreht.
Spätestens seit heute Abend weiß ich, dass er es nicht
sein kann. Paul war den ganzen Abend bei Luise im Zimmer
gewesen. Er kann nicht das Herz an die Scheibe
gemalt haben.
Eine Stimme in mir schreit auf: doch! Er kann. Er hätte
es vorher machen können. Bevor er geklingelt hat. Vielleicht
ist er erst in den Garten geschlichen, hat seinen
fiesen Finger in den Mund gesteckt, um dann mit ekliger
Spucke ein Herz ans Fenster zu schmieren.
Er hätte also die Möglichkeit gehabt. War ich in meinem
Zimmer gewesen? Hatte er mich gesehen? Mich
beobachtet, als ich auf dem Bett lag und Musik gehört
habe?
Ich stöhne auf. Meine Mutter greift sofort nach meiner
Hand. Gott sei Dank nimmt sie die Hand am heilen Arm.
Sie streichelt sanft über die Innenfläche.
Im Krankenhaus geht es total schnell. Am längsten
kümmert sich der Arzt um meine Mutter. Sie bekommt
was zur Beruhigung und jede Menge Ansprache. Fehlt
nur noch, dass jemand ihre Hand hält. Die völlig verkrustete
Schürze landet im Müll und die klaffenden
Wunden an meinem Handgelenk werden verklebt. Ich
weiß das, weil mir eine Schwester das erzählt. Ich gucke
nicht hin. Langsam fängt es an wehzutun. Gegen die
Schmerzen bekomme ich ein paar Kügelchen, die ich
unter der Zunge zergehen lassen soll. Meine Mutter hantiert
auch immer gerne mit so einem homöopathischen
Quatsch.
Die Beruhigungstabletten, die meine Ma von dem Doc
bekommen hat, waren keine Kügelchen. Das war was Vernünftiges.
Komische Prioritäten setzen die hier. Weil
meine Mutter natürlich nicht an mein Impfbuch gedacht
hat - selbst wenn sie daran gedacht hätte, hätte sie nie im
Leben gewusst, wo es ist -, bekomme ich noch eine fette
Tetanusspritze.
Und dann darf ich nicht nach Hause.
Der Arzt bittet meine Mutter vor die Tür. Die Schwester
tut so, als würde sie irgendwas um mich herum aufräumen.
Sie wuselt völlig unkoordiniert hin und her. Mir
wird schlagartig klar: Sie soll mich beobachten. Auf mich
aufpassen. Ich spüre ihre Blicke, obwohl ich sie von der
Liege aus nicht sehen kann.
Nach anderthalb Ewigkeiten kommt meine Mutter wieder
rein. Sie hat rote Augen. Hinter ihr sind der Arzt und
ein Mann in Jeans. Der stellt sich nicht vor, sondern nur
fest, dass ich also die Linda sei. Darauf sage ich nichts.
Was auch? Zu viert - die Schwester hat ihre Scheintätigkeit
aufgegeben und sich auch wieder dazugesellt - stehen
sie um mich rum, gucken auf mich runter.
»Wenn du gleich auf deinem Zimmer bist, würde ich
gerne noch kurz mit dir reden«, sagt der Jeansmann. Er
trägt original ein Jeanshemd zu einer Jeanshose. Irgendjemand
müsste ihm mal sagen, dass man das echt nicht
machen kann.
»Ich habe hier kein Zimmer. Ich habe zu Hause ein Zimmer.
Und da möchte ich jetzt hin«, antworte ich ihm.
Meine Mutter schaltet sich ein. Sie redet schnell. Macht
keine Pausen. Ich höre was von »viel Blut verloren«, »Sorgen
machen«, »reden müssen«. Von »Übersprunghandlung
« und »Hilferuf«. Außerdem sei ja das Fenster in meinem
Zimmer jetzt kaputt und da könne ich also ohnehin
nicht schlafen.
Ich versuche ihre Worte zu verbinden. Es ist wie beim
»Malen nach Zahlen«. Dabei muss man eine Linie von 1
nach 2,
nach 3
und so weiter ziehen. Und wo vorher nur
ein wirrer Haufen Punkte und Zahlen war, entsteht plötzlich
ein Bild. Ich versuche die Halbsätze meiner Mutter so
zu verbinden, dass für mich ein Bild entsteht. Es gelingt
mir nicht. Ich bleibe auf meinem Haufen mit Punkten
und Zahlen sitzen. Wut kommt in mir hoch. Wenn ich
damals nach Luises Unfall nicht so neurotisch reagiert
hätte, könnte ich es jetzt sagen. Wenn ich mich damals
ein bisschen zusammengerissen hätte und nicht durchgeknallt
wäre, würden sie mir jetzt glauben. Wie können sie
das jetzt, wo ich mit neun Jahren schon Psychopharmaka
schlucken musste? Wo jeder glaubt, ich könne ohne Luise
nicht leben? Hätte ich damals nur nicht so rumgesponnen.
Ich könnte es erzählen: Von dem Chatroom, in dem
fast alle aus meiner neuen Klasse sind. Und dass da ein
Kaktus war. Dass ich mich super mit dem unterhalten
konnte. An der Stelle würde mein Vater den Kopf schütteln
und ich würde ihn beruhigen. Dass ich natürlich
nicht meinen richtigen Namen oder gar meine Adresse
verraten hätte. Dass man ja nie genau wüsste, wer sich
hinter den Nicknamen versteckt. Im schlimmsten Fall so
ein alter Sack, der sich an jungen Mädchen aufgeilt. Ein
fieser schmuddeliger Typ mit vergilbten Zähnen und
Raucherfingern.
Ich müsste noch nicht mal lügen. Na ja, ein bisschen
vielleicht. Ich müsste ein paar Sachen weglassen. Das
schon. Vor allem das mit den Fotos im Internet. Ich würde
einfach sagen, dass der Typ mir plötzlich komische Mails
geschrieben hätte. Das hätte mir Angst gemacht. Und
dann würde mein Vater an seinen Computer gehen, ein
paar komische Befehlsketten eingeben und nach ein paar
Minuten wüsste er, wer sich hinter »Kaktus« verbirgt. Und
auf der Stelle würde er sich den Typen vornehmen. Oder
ihn zur Polizei schleifen. Oder ihm nur damit drohen,
falls er mich noch mal belästigt. Dann hätte sich Luise zu
mir auf die Couch gekuschelt. Scheiß-Paul hätten wir vor
dem Familiengespräch natürlich nach Hause geschickt.
Und morgen wäre dann der erste Tag seit gefühlten hundert
Jahren, an dem ich nicht mit einem Klumpen aus
Angst im Bauch aufwachen würde.
So könnte mein Drehbuch aussehen. Wenn das Wörtchen
»wenn« nicht wär ... Aber da ich anscheinend schon
mit einem Bein in der Klapsmühle bin, darf ich jetzt auf
keinen Fall noch mehr erzählen. Mein Drehbuch muss
umgeschrieben werden. Denn hier wird gerade ein anderes
Stück gespielt.
Wir haben in der Schule mal Improvisationstheater gemacht.
Da wusste man auch nie, in welche Richtung das
Ganze gerade geht. Das ist nicht mein Ding. Ich weiß gerne,
was passiert. Aber das Gefühl fehlt mir ja schon seit
Längerem. Mein Kopf beginnt erst langsam zu begreifen.
Ich soll jetzt echt hierbleiben. Im Krankenhaus. Klar,
wahrscheinlich liegt im Schwesternzimmer schon die erste
Tablette für mich bereit.
»Ma, was soll das? Ich habe mich geschnitten. Mehr
nicht. Ruf jetzt bitte Papa an, dass der uns hier abholt.«
»Linda, reg dich nicht auf. Du sollst dich einfach noch
ein bisschen ausruhen. Außerdem möchte der Herr Bleicher
hier noch mal mit dir reden.«
Sie zeigt auf den Jeans-Mann. Bleicher. Das passt. Der
sieht selber genauso stonewashed aus wie sein Outfit.
»Dann kann mich der Herr Bleicher doch mal zu Hause
besuchen. Dann können wir in aller Ruhe quatschen.«
Komisch. Eigentlich ist das nicht meine Art, zu widersprechen.
Normalerweise hätte ich jetzt genickt. Im schlimmsten
Fall noch »gerne« gesagt. Aber es ist nichts mehr normal.
Ich bin nicht mehr normal. Aus dem Augenwinkel
sehe ich, wie der Arzt irgendwas in seinen Computer eintippt.
Schlagartig durchfährt mich ein eiskalter Blitz.
Wenn der Kaktus einfach so meine Urlaubsfotos im Inter-
net manipulieren kann, kann er sich dann auch in den
Krankenhausrechner einloggen? Steht hinter meinem Namen
jetzt vielleicht schon »schizophren« oder »manischneurotisch
«? Wahrscheinlich bekomme ich gleich eine
dubiose Infusion, keine kleine Pille, und versinke für die
nächsten Wochen in einen Dämmerzustand. Obwohl -
der Gedanke fühlt sich fast ein bisschen verlockend an.
Dann würde auch die Angst in Watte gepackt. Die Angst.
Die immerwährende Angst. Denn meine Angst ist IMMER
da. So wie er. Egal, wohin ich meine Gedanken schicke, er
ist schon da. Oder nur sein Schatten. Mittlerweile ist er
da, auch wenn er nicht da ist. Wenn in meinem E-Mail-
Postfach keine Nachricht ist, denke ich trotzdem an ihn:
ER HAT NICHT GESCHRIEBEN.
Als die Bedrohung anfing, war das noch anders. Wenn
zwei, drei Tage kein Zeichen von ihm kam, hat sich wirklich
ein heller Schimmer in mir breitgemacht. Habe gedacht:
Na, siehste, es hört doch schon wieder auf. So wie
ein Schnupfen von alleine kommt und von alleine wieder
geht. Doch manchmal wird aus einer Erkältung eben
doch eine gefährliche Lungenentzündung.
Ich spüre den Blick von dem Jeans-Mann wie einen
Scheinwerfer auf mir. Er steckt die Daumen vorne in die
Hosentaschen, lässt die restlichen Finger locker raushängen.
Mein Mathelehrer macht das auch oft. Sieht total
kacke aus.
»Vielleicht ist es besser, du ruhst dich jetzt erst mal aus.
Ist ja schon spät«, tönt es aus dem Jeans-Wesen. »Wir können
auch morgen noch reden.«
»Willst du gleich schlafen? Dann bringe ich dir deine Sachen
vielleicht erst morgen früh, oder?«, fragt meine Mutter,
als ich mich schließlich in einem Krankenhausbett
wiederfinde. Offensichtlich hatte ich doch zu viel Blut
verloren oder was auch immer - meine Gegenwehr und
meine Proteste waren einfach nicht vehement genug.
»Natürlich kommst du morgen früh. Und zwar, um
mich abzuholen.«
Sie nickt, aber irgendetwas gefällt mir an dem Nicken
nicht.
»Mama! Du holst mich morgen früh hier ab, oder?«
Meine Mutter zerrt jetzt an den Ecken des Kopfkissens.
Sie macht mich echt nervös. Ihr Blick sagt, dass sie nicht
in diesem Raum ist. Ihre Gedanken sind mal wieder abgebogen,
suchen sich ihr eigenes Ziel.
»MAMA.«
»Süße, ja. Natürlich holen wir dich ab. Vielleicht nicht
gleich morgen früh. Dieser Herr Dings will doch noch mit
dir reden. Wer weiß, wann der Zeit hat.«
»Und wenn Herr Dings erst nächste Woche Mittwoch
Zeit hat? Soll ich so lange hier rumliegen und auf die Audienz
warten?«
»Ich bin sicher, er hat morgen Zeit für dich.«
Mittlerweile zerrt sie an mir rum. Nicht feste. Aber
penetrant. Sie streicht mir die Haare immer wieder hinter
die Ohren, spielt mit meinen Fingern, streichelt monoton
die Innenseite meines Unterarms - des unbandagierten
natürlich. Immer wieder der gleiche Weg.
»Ma, wenn du noch lange damit weitermachst, ist die
Haut gleich durch. Dann müssen sie mir den Arm auch
noch verbinden.«
Sie guckt mich erschrocken an und ich sehe, dass sie
kurz vorm Heulen ist. Ihre Augen schwappen jeden Moment
über.
»Was ist mit dir?«
Der erste Tropfen fällt auf meinen Arm.
»Ich habe mich halt so erschrocken vorhin. Du und das
ganze Blut. Die Scherben. Wie du dann dalagst.«
Ich nehme sie in den Arm - so gut das im Liegen geht.
Als sie draußen ist, bin ich fast ein bisschen erleichtert.
Ich war gerade einfach zu nah dran, ihr ein bisschen was
von der Wahrheit zu erzählen.
Hätte ich es direkt gesagt. Direkt als alles anfing - es wäre
ein Nebensatz nur gewesen. Wieso habe ich nicht mal von
Kaktus erzählt, als der Gedanke an ihn sich noch gut anfühlte?
Da war er eine reale Person. Jetzt ist da der Unbekannte.
Und natürlich wird das meinen Eltern total bekannt
vorkommen. Jetzt sind da schon so viele Fragen. Ich
müsste so viel erzählen, ein Stück zurück in die Vergangenheit
gehen und erklären, damit sie mir glauben. Dabei
rede ich nicht gerne. Wahrscheinlich bin ich deswegen in
den verdammten Chatroom gegangen. Weil man da reden
kann, ohne angeguckt zu werden. Ich konnte mit hektischen
Flecken oder ganz zittrig vor dem Computer sitzen
und keiner hat mich ausgelacht. Ich habe sofort gefühlt,
dass das meine Welt ist. Alleine und doch mit Menschen
zusammen. Wenn ich genug Worte gewechselt hatte,
habe ich oft einfach nur zugehört. Also mitgelesen. Die
ganzen flapsigen Kommentare, die Diskussionen, die vorsichtigen
Annäherungen. Keiner konnte mich zwingen
mitzumachen. Wenn ich nicht mehr wollte, habe ich einfach
ein »CU« eingehackt und mich ausgeloggt. Fertig.
Keine Nachfragen, keine komischen Blicke, kein blöder
Kommentar.
Von rechts wird mir eine große Flipstüte hingehalten.
»Willste was?«
Ich habe das Mädchen neben mir noch gar nicht wahrgenommen.
Ich winke ab. »Danke. Lass mal.«
»Ich habe auch Schoko. Oder willst du ein Bier?«
»Nee, echt nicht.«
Sie wendet sich wieder dem Fernseher zu, der von der
Wand gegenüber Licht gegen unsere Betten flackert.
»Warum bist du hier?« Das Mädchen will offenbar trotz
der Kopfhörer auf den Ohren eine Unterhaltung mit mir
führen.
»Habe mich geschnitten.«
Sie guckt auf meinen Verband und dann eine Spur zu
lang und unverblümt in mein Gesicht und grinst leicht.
Ich will nicht wissen, warum sie hier ist, und frage sie
auch nicht.
Wir starren beide wieder den Fernseher an.
Irgendwann gehen meine Gedanken auf ihre eigene Reise.
Ich träume, vor der Tür würde ein Aufpasser sitzen. So
wie in Filmen, wenn jemand ganz Wichtiges im Krankenhaus
liegt. Ein Popstar oder ein Kronzeuge gegen die
Mafia oder so. Dann sitzen da immer stiernackige Männer
auf winzigen Stühlen und passen auf. So einen Aufpasser
träume ich mir her. Und weil ich auch gar kein Handy
und keinen Computer mithabe, könnte mir hier auch
nichts passieren. Keine grausamen SMS würden mich erreichen.
Alle E-Mails würden ungelesen in meinem Postfach
vergammeln. Und wenn wieder einmal irgendwo im
Netz auf einem Urlaubsfoto von mir das Bikini-Oberteil
wegretuschiert wird - mir doch egal. Ich sehe es nicht, ich
weiß es nicht und ich sehe auch niemanden, der es weiß.
So einfach wäre das. Ich fühle mich wie in einem Kokon.
Selbst das Knistern der Flipstüte neben mir stört mich
nicht. Im Gegenteil. Das ist ein so schön unschuldiges
Geräusch. Das passt gut in mein kleines Traumtheater.
Als ich wach werde, läuft der Fernseher schon wieder.
Vielleicht auch immer noch. Das Mädchen im Bett nebenan
schiebt Maoams in sich rein und starrt auf den Bildschirm.
Alle paar Minuten nimmt sie einen Schluck aus einer
Anderthalb-Liter-Flasche Cola light. Würde mich nicht wundern,
wenn die wegen einer ausgewachsenen Essstörung
hier ist. Ich bemühe mich, nicht richtig wach zu werden. Mir
das behütete Gefühl aus meinem Traum zu bewahren. Nicht
an gestern Abend zu denken. An den Moment, als meine
Hand durch die Fensterscheibe glitt. An die Angst, die mir
wie eine Ohrfeige ins Gesicht klatschte. Ich habe neulich in
einem Buch den Satz gelesen: »Die Angst kroch in ihr Herz.«
Meine Angst kriecht schon lange nicht mehr. Meine Angst
springt mich an, presst mir die Luft aus der Lunge, zieht mir
die Füße weg, schlägt mir ins Gesicht. Habe ich jetzt drei
oder vier Minuten nicht an ihn gedacht? Wie viele Sekunden
konnte ich die Illusion aufrechterhalten, alles sei in Ordnung.
Ich sei ein ganz normales sechzehnjähriges Mädchen
mit den üblichen Problemen wie Pickeln, nervigen Eltern
und chronischem Geldmangel. Wenn ich jetzt zurück in
mein Leben davor könnte, ich würde sogar fiese Akne in
Kauf nehmen. Könnte ich jetzt einen Deal machen und die
Zeit zurückdrehen, ich würde echt fast alles versprechen.
Aber tief in mir weiß ich, dass ich mich nicht freikaufen
kann. Und das lässt mich so erstarren. Kurz taucht wieder
das fiese Internet-Foto von mir vor meinem inneren Auge
auf. Dazwischen schiebt sich ein Blick von Paul. Ein langer
Blick, der aufdringlich meinen Körper abtastete. Ich hatte
geduscht, war im Handtuch eingewickelt in mein Zimmer
gegangen. An der geöffneten Tür von Luise vorbei. Dahinter
saß Paul. Fläzte sich in einem Sessel. Luise war wohl gerade
unten. Trotz der Dusche hatte ich mich allein durch den
Blick wieder schmutzig gefühlt.
Der Jeansmann kommt, als ich gerade mit einer Schwester
streite. Sie verlangt, dass ich festlege, was ich die Woche
über hier essen will. Ob ich mittags die Vollwertküche
oder die Schonkost bevorzuge. Ob ich morgens ein Ei zum
Frühstück will. Ich versuche der Frau leise klarzumachen,
dass ich hier nach dem Frühstück keine weitere Mahlzeit
zu mir nehmen werde. Und selbst von dem Frühstück
habe ich nicht viel gegessen. Es gab »Schlimme-Augen-
Wurst« mit Glibber und grobe Leberwurst. Dazu Hagebuttentee.
Ich habe jetzt so eine Vorahnung, warum das
Mädchen im Bett neben mir sich ihren eigenen Ernährungsplan
zusammengestellt hat. Der Bleicher guckt
ganz ruhig zwischen der Schwester und mir hin und her.
Als ich gerade ein bisschen lauter werden will, kommt er
mir zuvor.
»Linda, haben Sie einen Moment Zeit? Ich würde jetzt
gerne mit Ihnen reden.«
Er hält die Tür auf. Die Schwester geht raus. Er hält die
Tür immer noch auf. Jetzt erst raffe ich, dass ich mitkommen
soll. Ich gehe hinter ihm her und ärgere mich, dass
ich gestern Abend nur eine alte Leggins und ein Shirt anhatte.
Ich laufe eigentlich nicht gerne in so engen Sachen
rum. Schon gar nicht, wenn mich jemand sehen kann.
Aber eigentlich wollten wir ja gestern Abend gerade zu
Abend essen, als ich noch mal schnell in mein Zimmer
gegangen bin. Ich weiß immer noch nicht, was ich eigent-
lich holen wollte. Und dann war da dieses Herz, dann waren
da die Scherben. Der Rest ist bekannt.
Der Bleicher hält mir die Tür zu einem winzigen Büro
auf. Darin stehen ein Schreibtisch, ein Schreibtischstuhl
und eine schwarze Ledercouch. Klar. Der Typ ist schließlich
ein Psychofritze.
»Soll ich mich jetzt auf diese Couch legen?«
Ich bin irritiert. Damals durfte ich auf einem Stuhl
sitzen.
Er guckt die Couch an, als würde er sie zum ersten Mal
sehen. Als hätte irgendjemand die gerade heimlich in
sein Büro gestellt.
»Wenn es dir lieber ist, setze ich mich darauf.«
Er nimmt echt auf dem Sofa Platz. Ich stehe wie blöd
mitten im Raum.
»Setz dich doch bitte.«
Ich finde beide verbleibenden Alternativen völlig Banane,
aber neben ihn auf die Couch kann ich mich echt
nicht setzen. Das wäre definitiv zu nahe. Ich nehme am
Schreibtisch Platz.
»Linda, wir werden immer aufmerksam, wenn hier
eine junge Frau mit aufgeschlitzten Pulsadern eingeliefert
wird.«
Auf seinem Schreibtisch stehen ein paar Bilderrahmen.
So, wie es sich gehört. Doch in den drei Rahmen sind
nicht Frau, Kind, Hund, sondern Steine, Steine, Steine.
Würde mich mal interessieren, wie das ein Psychologe
deuten würde.
»Aufgeschlitzte Pulsadern sind nämlich oft ein Suizid-
versuch.«
Ganz langsam fange ich an zu begreifen.
Die denken hier, ich hätte gestern Abend versucht mich
umzubringen. Die glauben, ich hätte mir absichtlich mit
einer Scherbe am Arm rumgeritzt. Deswegen musste ich
bleiben. Deswegen war meine Mutter gestern so verstört.
Also, noch verstörter als sonst.
»Ich habe nicht versucht mir das Leben zu nehmen.«
»Das freut mich sehr. Deine Mutter hat mir allerdings
erzählt, dass du in letzter Zeit sehr verschlossen und sehr
ängstlich warst.«
»Ich war schon immer sehr verschlossen und ängstlich.
Das hat meine Mutter vielleicht nicht erzählt. Vielleicht
ist ihr das aber auch gar nicht so bewusst.«
»Bist du wütend auf deine Mutter?«
Ich muss echt kurz grinsen.
»Weil ich das gerade gesagt habe? Nein. Ich bin nicht
die Bohne wütend auf sie. Sie ist einfach, wie sie ist.
Manchmal macht sie mich wahnsinnig. Meistens muss
ich aber nur staunen über sie.«
»Wenn das gestern Abend nur ein Unfall war - hast du
denn schon mal an Selbstmord gedacht?«
»Eigentlich nicht. Aber wo sie es jetzt ansprechen, kann
ich das ja mal tun.«
Er reagiert darauf gar nicht. Ich rede einfach weiter.
»Auf jeden Fall würde ich nicht an mir rumritzen. Ich
würde auf Nummer sicher gehen. Mit Schlaftabletten in
die Badewanne. Im wohligen Wasser langsam einschlafen.
Und dann wirken entweder die Tabletten oder man
erfriert in dem kälter werdenden Wasser. Das ist doch
mal wirklich ein sauberer Tod, oder?«
»Woher weißt du so was?«
»Habe ich irgendwo gelesen.«
»Und dir gemerkt.«
»Ja, blöd, was? Matheformeln, Grammatikregeln, Vokabeln
- nichts kann ich mir behalten. Aber so einen Mist
speichere ich ab.«
»Wieso Mist?«
cbt ist der Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
Zert.-Nr. SGS-COC-001940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete
FSC-zertifizierte Papier Super Snowbright
liefert Hellefoss AS, Hokksund, Schweden.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2010
© 2010 für cbt Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: iStockphoto / Christine Glade
Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld
he • Herstellung: AnG
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-570-16084-8
Printed in Germany
www.cbt-jugendbuch.de
... weniger
Autoren-Porträt von Birgit Schlieper
Birgit Schlieper, geb. 1968 in Iserlohn, hat Amerikanistik, Romanistik und Anglistik studiert, ihr Studium aber abgebrochen, als ihr ein Zeitungsvolontariat angeboten wurde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Birgit Schlieper
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2010, 332 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 357016084X
- ISBN-13: 9783570160848
Rezension zu „Angstspiel “
"Ein sehr fesselndes Buch über ein Thema, das viele Jugendliche beschäftigt."
Kommentar zu "Angstspiel"
0 Gebrauchte Artikel zu „Angstspiel“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Angstspiel".
Kommentar verfassen