Anubis
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Mogens Van Andt ist Professor für Archäologie. Ein dunkler Vorfall in seiner Vergangenheit hat ihm seine wissenschaftliche Karriere ruiniert, doch dann bekommt er eine zweite Chance. In Kalifornien wird ein unterirdischer Tempel entdeckt - den es dort allerdings gar nicht geben dürfte. Denn er ist Anubis, dem altägyptischen Gott der Unterwelt, geweiht. Damit nicht genug: Steinerne Hüter bewachen ein merkwürdiges Tor. Was lauert hinter der geheimnisvollen Pforte?
Ebenfalls als Hörbuch erhältlich:
Anubis, Hörbuch, (Best.-Nr.: 782614).
Anubisvon Wolfgang Hohlbein
LESEPROBE
Obwohl der Pazifik so glatt wie einSpiegel aus gehämmertem Kupfer dalag, überzog ihn das Licht der untergehendenSonne doch mit einem Muster aus filigran-flirrender Bewegung. Man konnte esnicht allzu lange ansehen, denn die grellen Lichtreflexe hinterließenschmerzhafte Nachbilder auf den Netzhäuten, die auch dann noch blieben, wennman die Augen schloss und den Blick wandte, dennoch aber den Eindruck vagerBewegung tief unter der Oberfläche des gewaltigen Ozeans noch verstärkten.
Das Meer geriet langsam außerSicht. Zu Mogens insgeheimer Enttäuschung waren sie nicht über die berühmteBrücke gefahren, sondern bewegten sich von der Küste fort landeinwärts. Mogensvermutete, dass das Meer gar nicht mehr zu sehen sein würde, noch bevor dieSonne ganz untergegangen war - also in spätestens einer halben Stunde. DerOzean war schon jetzt zu einer schmalen Kupfersichel zur Linken zusammengeschrumpft,die mit jeder Meile, die sich der große Ford nach Osten mühte, weiter zusammenschmolz.Er verspürte dennoch ein merkwürdiges Gefühl von Erleichterung, das ebensounerklärlich wie intensiv war. Vielleicht, dass unter der Oberfläche desscheinbar so reglos daliegenden Meeres etwas lauerte, das er zwar nicht sehen,dafür aber umso deutlicher fühlen konnte.
Er dachte noch einige Augenblickeüber diesen sonderbaren Gedanken nach und schob ihn dann mit einemSchulterzucken von sich. Solcherlei Überlegungen waren nicht nur müßig, sonderneines Mannes wie ihm auch schlicht unwürdig. Selbstverständlich war da etwasunter der Oberfläche des Meeres. Der Ozean wimmelte geradezu von Leben, dasdieses stille, zum allergrößten Teil lichtlose Universum in ungleich größeremMaße erobert hatte als das Land. Doch in all der gewaltigen Anzahl fremdartigerund möglicherweise sogar bizarrer und tödlicher Kreaturen, die in seinenunerforschten Tiefen lauern mochten, war nicht eine Einzige, die er fürchtenmusste; zumindest nicht jetzt, während er in einem Wagen saß, der sich mitdreißig oder auch vierzig Meilen pro Stunde vom Meer entfernte. Seine eigenenNerven begannen ihm Streiche zu spielen, die offensichtlich umso böser wurden,je weiter der Tag fortschritt. Und er kannte sogar die Gründe dafür.
Einer - und zweifellos derSchwerwiegendste - war Doktor Jonathan Graves, den er vermutlich binnen einerStunde wiedersehen würde. Mogens hatte im Verlauf der zurückliegenden vier Tagean nicht sehr viel anderes gedacht als an sein bevorstehendes Zusammentreffenmit seinem ehemaligen Kommilitonen, und seine Gefühle waren in diesen vierTagen ein reines Wechselbad gewesen, die manchmal binnen einer einzigen Minutevon einem Extrem zum anderen geschwankt hatten: Blanker, unverfälschter Hassauf den Mann, der sein Leben zerstört hatte, hatte sich mit Verachtung abgewechselt- die zu einem nicht geringen Teil ihm selbst galt, dass er es überhaupt inBetracht zog, dieses unwürdige Angebot anzunehmen -, mit kindischem Trotz undAbgründen tiefsten Selbstmitleids bis hin zu einer Überlegung, von der er sichzumindest selbst einreden konnte, dass sie von reiner Vernunft diktiert wurde:Letzten Endes spielte es keine Rolle, warum er sich in der Lage befand, in derer nun einmal war. Fakt war, dass er sich nicht in einer Position befand, wählerischsein zu können. Man biss nicht in die Hand, die einen fütterte; nicht einmaldann, wenn sie einen zuvor geschlagen hatte.
"Es dauert jetzt nicht mehrlange, Professor." Die Stimme des jungen Mannes, der links neben Mogenssaß und hinter dem gewaltigen Lenkrad des Ford mindestens so verloren undhilflos aussah, wie Mogens selbst sich fühlte, riss ihn unsanft aber willkommenaus seinen düsteren Überlegungen. Offensichtlich deutete der Junge Mogens irritierten Blick auch falsch, denn er nahm die rechte Hand vom Steuer und wiesnach vorne, wo ein schmaler Weg von der selbst alles andere als breitenHauptstraße abzweigte, um nach wenigen Metern zwischen wucherndem Gestrüpp undmächtigen Findlingen zu verschwinden. Ohne die deutende Geste seines jugendlichenChauffeurs hätte Mogens ihn vermutlich nicht einmal gesehen, so schmal war er."Noch eine knappe Meile, dann haben wir s geschafft."
"Aha." Die Antwort - daswar Mogens klar - musste aller Wahrscheinlichkeit nach leicht unhöflich wirken,wenn nicht gar wie ein glatter Affront. Aber sein Fahrer war wohl noch junggenug, um die verkappte Beleidigung darin nicht zur Kenntnis nehmen zu können -oder zu wollen. Ganz im Gegenteil wedelte er noch heftiger mit der Hand,während er zugleich mit den Füßen auf Kupplung und Bremse des Ford herumzustampfenbegann.
Mogens folgte den scheinbarziellosen Bewegungen einen Moment mit sachtem Interesse. Er hatte niemals Autofahren gelernt und verspürte auch nicht den Drang, dies zu tun. Der Pragmatikerin ihm sah die Nützlichkeit eines Automobils durchaus ein und wusste auch denUmstand zu schätzen, dass sie die Strecke, für die er zu Pferde oder mit einerDroschke mindestens drei, wenn nicht vier Stunden gebraucht hätte, so in einemBruchteil dieser Zeit zurücklegen konnten. Aber ihm selbst waren Automobilesuspekt, um nicht zu sagen: unheimlich. Möglicherweise lag es einfach an denvier Jahren, die er in Thompson verbracht hatte. Die Zeit war nicht so lang,dass der technische Fortschritt ihn hätte überrollen können, denn es hatteselbst in diesem Kaff Zeitungen gegeben, mit deren Hilfe er sich auf demLaufenden gehalten hatte. Doch schon, als er in San Francisco aus dem Zug gestiegenwar, war ihm klar geworden, dass Thompson offensichtlich nicht wirklich in derVergangenheit, sondern irgendwie neben der Zeit zu existieren schien. Es hatteauch dort Automobile gegeben, natürlich, aber sie waren stets Fremdkörpergeblieben, Absonderlichkeiten, bei deren Anblick man stehen blieb und den Kopfdrehte, vielleicht mit einem angedeuteten Lächeln, das dieser neumodischenVerrücktheit galt, die sich bestimmt nicht lange halten würde. San Francisco hingegenwar das genaue Gegenteil. Und auch, wenn sie sich seit einer halben Stundebeharrlich von der Stadt entfernten und die sanften Hügel, durch die sie nunfuhren, gar nicht so anders waren als die, zwischen denen Thompson eingebettetwar, so hatte er dennoch das Gefühl, sich nicht nur in einer anderen Gegend,sondern gewissermaßen in einer anderen Welt zu befinden, wenn nicht in einemanderen Universum.
"Ich hoffe, es macht Ihnennichts aus, wenn s ein bisschen holperig wird", fuhr sein Chauffeur fort.Mogens blickte fragend, und der Junge mit den fast schulterlangen blondenLocken machte eine wedelnde Handbewegung, von der Mogens inständig hoffte, dasssie nicht dem entsprach, was er gerade als holperig bezeichnet hatte. "DieStraße führt direkt übern Berg. Es gibt ein paar üble Schlaglöcher, aber keineSorge - ich kenn mich aus."
"Und die Hauptstraße?",fragte Mogens zögernd.
"Zwanzig Meilen um den Bergrum, oder eine drüber", sagte der Junge, als sei das Antwort genug. Mogensverzichtete darauf, etwas dazu zu sagen; eine solche Antwort - noch dazu ineinem solchen Ton - konnte nur jemand geben, der noch nicht alt genug war, umzu wissen, mit was für unangenehmen Überraschungen das Leben zuweilenaufzuwarten pflegte. Und mit jemandem, der solche Antworten gab, zu diskutierenwar vollkommen sinnlos.
Dennoch fragte er nach kurzemZögern: "Haben wir es denn so eilig?"
"Sie haben einen anstrengendenTag hinter sich, Professor", antwortete der Junge. "Ich dachte, eswär Ihnen recht, ein bisschen früher anzukommen." Er lachte, aber es klangplötzlich ein ganz kleines bisschen nervös. In seinen hellblauen, sehr klarenAugen zeigte sich zum ersten Mal, seit Mogens zu ihm in den Wagen gestiegenwar, eine Spur von Unsicherheit, während er Mogens rasch und sehr aufmerksammusterte. "Ich kann natürlich auch..."
"Nein, nein, schon gut",fiel ihm Mogens ins Wort. "Nehmen Sie ruhig den Weg, den Sie sich zutrauen.Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, was Sie tun, Mister...?"
"Tom", antwortete derJunge. "Sagen Sie einfach Tom zu mir. Und Sie können mich ruhig duzen.Eigentlich heiß ich Thomas, aber keiner nennt mich so. Auch nicht Doktor Graves."
"Kennst du den Doktor schonlänger, Tom?"
Tom schüttelte den Kopf. "Ichbin hier aufgewachsen."
Mittlerweile hatte er den Wagennahezu auf Schritttempo abgebremst und verlangsamte noch weiter, bis sie nahezuzum Stehen gekommen waren. Ein Knirschen erscholl, als Tom den Ganghebel nachvorne schob. Es kostete ihn sichtbare Mühe, dann vollführten seine Füße wiederjene kompliziert trampelnde Abfolge von Bewegungen, und der Ford bog in rechtemWinkel von der asphaltierten Hauptstraße ab. Noch bevor seine Hinterräder denfesten Untergrund gänzlich verließen, senkte sich das rechte Vorderrad mitsolcher Wucht in ein Schlagloch, dass sich nicht nur der gesamte Wagen wie einwaidwund geschossenes Tier schüttelte, sondern auch Mogens Zähne mit solcherGewalt aufeinander schlugen, dass er nur mit Mühe einen Schmerzlautunterdrückte. Instinktiv sah er nach vorne, halbwegs darauf gefasst, dasabgebrochene Vorderrad noch ein Stück davonrasen zu sehen, ehe es sichschwankend neigte und dann wie ein auslaufender Brummkreisel auf die Seitefiel. Stattdessen jedoch mühte sich der Ford schnaufend aus dem Graben herausund wurde wieder schneller.
" tschuldigung", sagteTom hastig, als Mogens den Kopf drehte und ihn ansah. Er zuckte verlegen mitden Schultern und versuchte ein um Verzeihung heischendes Lächeln auf sein Gesichtzu zaubern, erreichte damit aber nichts anderes, als noch jünger und damitendgültig wie ein Kind auszusehen, das sich den Wagen seines Vaters zu einerverbotenen Spritztour ausgeliehen hatte. "Ich vergess dieses verdammteKaninchenloch immer wieder!"
Mogens fuhr sich mit derZungenspitze über die Zähne und erwartete den Geschmack von Blut, aber er wurdezu seiner Erleichterung enttäuscht. Sein Unterkiefer summte zwar, als hätte ereinen elektrischen Schlag bekommen, aber er schien sich nicht wirklich verletztzu haben.
"So schlimm ist nur das ersteStück", versicherte Tom hastig. Als er keine Antwort bekam - anscheinendlegte er Mogens beharrliches Schweigen als Vorwurf aus, und das nicht ganz zuUnrecht -, fügte er hastig hinzu: "Wenn wir an den Felsen vorbei sind,wird s besser."
Diesmal folgte Mogens Blick seinerGeste nicht. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, seinen jugendlichenChauffeur zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt aus San Francisco wirklich genau inAugenschein zu nehmen. Mogens schlechtes Gewissen regte sich, und er gestandsich ein, dass er Tom bisher gar nicht wirklich als Person zur Kenntnisgenommen hatte, vielmehr hatte er ihn wie dem Ford zugehörig betrachtet;gleichsam eine lebende Verlängerung der mechanischen Kutsche, die Graves geschickthatte, um ihn abzuholen. Er tat Tom in Gedanken Abbitte und führte sich vorAugen, wie jung er tatsächlich noch war. Das gewaltige Lenkrad und die schwerenPedale, die herunterzutreten seine ganze Kraft zu erfordern schien, ließen ihnwirklich ein bisschen wie ein Kind aussehen, aber vermutlich war er letztenEndes auch nicht sehr viel mehr. Er war schmächtig und machte einen irgendwiezerbrechlichen Eindruck. Mogens schätzte ihn auf vielleicht siebzehn Jahre. Dasschulterlange, leicht gelockte Haar gab ihm zusätzlich etwasFeminin-Verletzliches, das Mogens schlechtes Gewissen sich noch stärker rührenließ, als er an die beiden Koffer dachte, die Tom klaglos vom Bahnsteiggetragen und im Kofferraum des Ford verstaut hatte. Sie enthielten seinengesamten weltlichen Besitz, aber da dieser zum Großteil aus Büchern bestand,waren sie sehr schwer.
"Wie alt bist du, Tom?",fragte er gerade heraus.
Mogens bemerkte, dass die Frageseinen Chauffeur in Verlegenheit brachte. Er antwortete nicht sofort, sonderngewann etliche Sekunden damit, scheinbar konzentriert auf die ausgefahrene Spurzu starren, die sich vor ihnen zwischen Gestrüpp, Felsen und braunvertrocknetem Gras entlangschlängelte. Mogens selbst vermied es tunlichst, indieselbe Richtung zu blicken. Es war ihm ein Rätsel, wie der Junge sich hierorientierte. Was ihn anging, so gab es diesen Weg gar nicht.
"Siebzehn", sagte Tomschließlich. Nach einer guten Sekunde und einem unbehaglichen Einatmen fügte erhinzu: "Ungefähr."
"Ungefähr?"
"Ich weiß nicht genau, wannich geboren bin", gestand Tom. "Meine Eltern haben mich - glaube ich- in einem Korb auf die Kirchentreppe gelegt, als ich vielleicht n Jahr altwar. Barmherzige Leute haben mich aufgenommen und mein Alter geschätzt."Er machte ein verlegenes Gesicht, als wäre es seine persönliche Schuld, dassseine Eltern sich nicht um ihn hatten kümmern können oder wollen, und fügtenoch hinzu: "So was passiert hier öfter. Sheriff Wilson hat n paarNachforschungen angestellt, aber ohne Erfolg."
Im allerersten Moment kam Mogensdies sonderbar vor. Aber dann führte er sich vor Augen, wo er sich befand. Dierelative Nähe San Franciscos mit seinen wimmelnden Menschenmassen und denaufstrebenden Industrien und Handelszentren täuschte nur zu leicht darüber hinweg,dass dieser Teil des Landes zu Recht den Beinamen "Wilder Westen"gehabt hatte. Eisenbahnverbindungen, Automobile und Dampfmaschinen alleinmachten aus den Einwohnern hier nicht ganz automatisch auch zivilisierteMenschen. Zumindest nicht aus allen.
"Und jetzt arbeitest du fürGraves", stellte er fest.
"Schon länger",antwortete Tom, ganz offensichtlich froh, das Thema wechseln zu können. Erschaltete wieder in einen anderen Gang und das Getriebe unter ihren Füßen gabeinen Laut von sich, als versuche es, das dünne Blech zu durchschlagen, umseine malträtierten Zahnräder in ihre Waden zu bohren. Tom lachte. "Ichbin so ne Art Mädchen für alles. Ich hack Holz, mach Erledigungen undBotengänge... Was eben so anfällt."
"Und dann und wann holst du Besuchervom Bahnhof ab, die nichts Besseres zu tun haben, als dich zu beleidigen",sagte Mogens.
Er las in Toms Gesicht, dass erschon wieder einen Fehler gemacht hatte. Offensichtlich hatte der Junge die indiesen Worten verborgene Entschuldigung nicht verstanden. Er sah ihn einenMoment lang irritiert an, konzentrierte sich für einen etwas - nicht viel -längeren Moment wieder auf den Weg und sagte dann mit einem Schulterzucken:"Nicht sehr oft. Wir bekommen nur selten Besuch, und Doktor Graves lässtalles, was wir brauchen, von einer Spedition anliefern."
"Und was wäre das?"
"Nicht sehr viel",antwortete Tom mit einem neuerlichen Schulterzucken. "Lebensmittel, dannund wann ein paar Werkzeuge..." Er hob erneut die Schultern. "LetzteWoche sind n paar große Kisten gekommen, aber sie waren leicht. Ich glaub, siewaren leer."
"Leere Kisten?"
"Es waren sehr seltsameKisten", bestätigte Tom. "Fast wie Särge, nur viel größer. DoktorGraves hat das Entladen persönlich überwacht und dafür gesorgt, dass sie nach untengebracht wurden."
Mogens wurde hellhörig. "Nachunten?"
"Ins Allerheiligste desDoktors."
"Er hat dich mit dorthingenommen? Dann weißt du also, worum es sich bei Graves Fund handelt?"
Tom druckste einen Moment herum. Erwich Mogens Blick nun sichtbar aus, und es war nicht mehr zu übersehen, wieunbehaglich er sich fühlte, während Mogens mit stummer Beharrlichkeit daraufwartete, dass er seine Frage beantwortete.
"Nein", sagte erschließlich. "Sie haben da irgendwas gefunden, in einer Höhle, tief unterder Erde. Das ist alles, was ich weiß. Außer dem Doktor dürfen nur seineengsten Mitarbeiter die Grabungsstelle betreten."
"Aber du hast doch sicherschon einmal einen Blick riskiert?", bohrte Mogens in leise angedeutetemVerschwörerton nach.
Tom wand sich jetzt immerdeutlicher in seinem Sitz, aber Mogens war auch klar, dass er diesmal denrichtigen Ton angeschlagen hatte. Junge Menschen waren so leicht zu manipulieren.
"Ich konnte nicht vielerkennen", gestand Tom. "Einmal hat der Doktor vergessen abzuschließen,und ich hab tatsächlich nen Blick riskiert. Da waren Statuen."
"Statuen?"
"Große Figuren, die aus demFels gemeißelt waren", bestätigte Tom. "Und Schriftzeichen. Vielleichtauch Bilder." Er schauderte, als hätte ihn ein plötzlicher, kalter Windzuggetroffen, obwohl es im Wagen eher zu warm als zu kalt war, und seine Fingerschlossen sich fester um das Lenkrad. "Wie gesagt: Es war nicht viel zu sehen,und ich konnte auch nicht lange bleiben. Doktor Graves ist sehr eigen, was seineForschungen angeht. Wir dürfen nicht darüber reden. Keiner, der im Lagerarbeitet, und auch keiner der anderen Forscher."
Zumindest Letzteres kam Mogens sehrunwahrscheinlich vor. Auch wenn er die letzten Jahre seines Lebens infreiwilliger Verbannung verbracht hatte, so war die Zeit seines Aufenthaltsunter Forscherkollegen doch noch nicht so lange her, dass er alles vergessenhatte. Wissenschaftler liebten es, sich mit ihren Entdeckungen undFortschritten zu brüsten und jedem, der etwas darüber hören wollte, davon zu erzählen- oft genug auch jedem, der es nicht wollte.
Dennoch nickte Tom heftig, als erseinen zweifelnden Blick bemerkte, und fügte hinzu: "Der Doktor hat esstrengstens verboten und alle halten sich dran. Ich kann Ihnen nicht sagen, worumes sich bei der Arbeit handelt, nur, dass sie irgendwas gefunden haben und wohldabei sind, es auszugraben." Er streifte Mogens Gesicht mit einemnervösen Blick. "Sie werden doch nicht..."
"Keine Sorge", beruhigteihn Mogens. "Ich verrate dich nicht."
Tom machte ein erleichtertesGesicht. "Danke. Es ist nur... ich glaube, der Doktor wollte sich nichtden Spaß nehmen lassen, Ihnen seinen Fund persönlich zu zeigen. Er ist sehrstolz darauf."
Es fiel Mogens schwer, das Wort Spaßmit der Erinnerung an Jonathan Graves in Einklang zu bringen. Aber er verbisssich jede entsprechende Bemerkung. Er hatte sich mittlerweile ein hinlänglichesBild über Tom gemacht, um sicher zu sein, dass es ihn nur wenige Sätze kostenwürde, ihn zum Weiterreden zu bringen. Aber nun, da er seinen jugendlichenFahrer nicht mehr als bloßes Requisit auf dieser letzten Etappe seiner Reisebetrachtete, sondern als Person, mochte er ihn nicht mehr in eine sounbehagliche Situation bringen. Zumal es um Graves ging. Sollten ihm oder Tomauch nur eine entsprechende Bemerkung entschlüpfen, würde der Junge garantiertdarunter leiden müssen.
"Arbeitet es sich gut mitDoktor Graves?", fragte er.
Tom bugsierte den Ford mit einemheftigen Kurbeln am Lenkrad um einen schubkarrengroßen Felsbrocken herum, dermitten auf der Fahrspur lag, bevor er antwortete. Mogens hatte nicht auf dieStrecke geachtet, aber er wäre trotzdem jede Wette eingegangen, dass er voreinem Augenblick noch nicht da gewesen war. "Das kann ich so nichtsagen", sagte Tom schließlich.
"Wie das?", wunderte sichMogens. "Wo du doch schon länger mit ihm arbeitest?"
"Niemand arbeitet mitdem Doktor", antwortete Tom. "Jedenfalls nicht direkt. Er ist fast immerallein in seinem Allerheiligsten und die übrige Zeit in seiner Blockhütte, dieniemand betreten darf." Er beantwortete Mogens nächste Frage, noch bevorer sie überhaupt stellen konnte. "Ich war einmal dort. Es ist alles vollerBücher und... seltsamer Dinge. Ich weiß nicht, was sie bedeuten."
Im allerersten Moment ließen seineWorte - und viel mehr noch die Art, auf die er sie aussprach - Mogens eineneiskalten Schauer über den Rücken laufen, aber dann breitete sich einamüsiertes Lächeln auf seinen Lippen aus. Die Vertrautheit, die das kurzeGespräch zwischen ihnen geschaffen hatte, durfte ihn nicht vergessen lassen,mit wem er eigentlich redete - nämlich mit einem Jungen vom Lande, demvermutlich alles unheimlich vorkam, was irgendwie mit Wissenschaft zu tunhatte. Mogens beschloss endgültig, sich in Geduld zu fassen.
Auch wenn Tom sich gehütet hatte, auchnur eine entsprechende Bemerkung zu machen, so reichte Mogens Menschenkenntnisdoch allemal, um zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn er nur ein wenig Geschickund Umsicht walten ließ, so hatte er einen - zumindest hypothetischen -Verbündeten gewonnen, noch bevor er Graves auch nur wiedersah.
Auf solche Art einigermaßenversöhnt mit dem bisherigen Verlauf seiner Reise, lehnte sich Mogens im Sitz zurückund versuchte, den Rest ihrer Fahrt zu genießen, so weit die unwegsame Streckedies zuließ. Tom hatte jedoch die Wahrheit gesagt: Die Fahrt dauerte nicht mehrallzu lange. Es begann allmählich zu dämmern, und die dichter werdendenSchatten und das Licht, das sich allmählich ins Rötliche verschob, ließen ihreUmgebung noch unwirklicher und auf schwer beschreibbare Weise bedrohlichererscheinen. Die Straße, die gewiss nicht für Automobile gebaut war, sondernallenfalls für Ochsenkarren oder die im Klettern geübten Hufe von Bergziegen,schlängelte sich in immer steilerem Winkel den Hügel hinauf, und obwohl Tom denWeg tatsächlich wie seine Westentasche zu kennen schien, musste er ein oderzwei Mal anhalten und ein Stück zurücksetzen, um eine besonders scharfe Kehrezu nehmen.
Endlich aber hatten sie esgeschafft; der Ford quälte sich auf einen schmalen Grat hinauf, rollte noch einpaar Fuß und blieb dann stehen, als Tom auf die Bremse trat und gleichzeitigden Hebel des Schaltgetriebes nach vorne schob. Der Professor setzte zu einerentsprechenden Frage an, aber dann folgte sein Blick dem Toms und ihm wurdeklar, warum sein Chauffeur angehalten hatte. Der Weg folgte ein gutes Stückweit dem Grat, schlängelte sich dann auf der anderen Seite in womöglich nochsteilerem Winkel den Berg hinab, sodass Mogens es nicht einmal wagte, sichvorzustellen, wie der Rest ihrer Fahrt aussehen mochte. Dahinter aber, wenigerals eine Meile entfernt und in einem unregelmäßigen Drittelkreis an die Flankedes Berges geschmiegt, den sie gerade erklommen hatten, lag eine kleine Stadt,wie sie typisch für diesen Teil des Landes war. Mogens war zwar noch nie hiergewesen, hatte sich aber selbstverständlich in den letzten Tagen so weitinformiert, wie es in einer Stadt wie Thompson mit ihren begrenztenMöglichkeiten ging. Der Ort schien nur aus einer einzigen Straße zu bestehen,die der unregelmäßigen Krümmung der Bergflanke folgte und von unten betrachtetvermutlich schnurgerade wie mit einem Lineal gezogen aussehen musste. DieGebäude waren klein, zum allergrößten Teil nur eingeschossig; nur zur Ortsmittehin erhoben sich einige wenige größere Häuser, deren aufgesetzte Fassaden jenetäuschen mochten, die sie nur im Vorbeifahren eines flüchtigen Blickeswürdigten, von der Höhe des Kammes aus betrachtet die Schäbigkeit der dahinterliegenden Gebäude aber eher noch unterstrichen. Zu seinem Erstaunen entdeckteMogens sogar ein Bahnhofsgebäude samt dem obligatorischen Wasserturm. Aberkeinerlei Schienen. Auf eine entsprechende Frage hin hob Tom die Schultern undzwang ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht.
"Die Bahnlinie nach SanFrancisco ist nur ein paar Meilen entfernt - gleich auf der anderenSeite", sagte er. "Vielleicht hat der Bürgermeister damals geglaubt,der Anschluss käm von selber, sobald der Bahnhof da ist."
"Aber er kam nicht."
"Nein", bestätigte Tomkopfschüttelnd. "Aber das war vor meiner Geburt. Damals gab es vieleEisenbahnarbeiter hier. Etliche sind geblieben, aber die meisten sindweggegangen, nachdem klar war, dass es keinen Bahnhof geben würde."
Toms Erklärung klang beiläufig, unddas war sie wohl auch; etwas, von dem er gehört hatte und das sich zugetragenhatte, lange bevor er überhaupt auf die Welt gekommen war und ihn somit nichtberührte. Mogens jedoch empfand für einen flüchtigen Moment ein sonderbaresGefühl der Trauer, während er auf den kleinen Ort hinabsah, der selbst aus derEntfernung trostlos wirkte. Er kannte die Menschen dort unten nicht und hatteweder Anteil an ihrem Schicksal noch die Möglichkeit, irgendetwas für sie zutun, und dennoch berührte es ihn tiefer, als er es sich im ersten Momenterklären konnte. Dieser Ort war gestorben, noch bevor er jemals richtig gelebthatte, nur weil irgendjemand mit einem willkürlichen Federstrich entschiedenhatte, dass das kleine Bahnhofsgebäude niemals seiner Bestimmung übergeben werdensollte. Dabei lag eine der größten Städte des Landes praktisch zum Greifennahe. Wie dicht doch pulsierendes Leben und allmähliches Dahinsiechen manchmalbeieinander lagen.
Er verscheuchte den Gedanken undgab Tom mit einer Geste zu verstehen, dass er weiterfahren solle. Als sie denGrat erreichten, hatten sie die Dämmerung wieder ein Stück weit hinter sichgelassen, aber sie kroch unerbittlich hinter ihnen her und würde sie vermutlicheingeholt haben, bevor sie die Stadt erreichten. Mogens hätte sich dieGrabungsstätte, von der Tom gesprochen hatte, gerne noch bei Tageslicht angesehen,sagte sich aber selbst, dass sie es vermutlich nicht mehr schaffen würden.
Tom schob den Ganghebel knirschendvor, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Kurz bevor sie den Berggratverließen, drehte Mogens noch einmal den Kopf und sah nach Westen zurück. DasMeer war fast vollkommen verschwunden. Selbst von hier oben aus sah er nur nocheinen kaum fingerbreiten, grell kupferfarbenen Streifen vor dem bereits dunklerwerdenden Horizont. Aber er verspürte ein sonderbares Gefühl der Erleichterung,dass er sich im ersten Moment selbst nicht erklären konnte. Obwohl derrationale Teil seines Denkens sich noch immer weigerte, diesen unheimlichenGefühlen irgendeine Bedeutung zuzumessen, spukten in seinem Kopf weiter Bildervon bizarren Kreaturen, die tief am Meeresgrund lebten und aus gierigen Augenin die endlose Schwärze über sich starrten, die ihre Welt seit Anbeginn der Zeiteneinhüllte.
Es musste an Graves liegen,entschied er. Während der letzten vier Tage war nicht eine Stunde vergangen, inder er nicht mindestens einmal über ihr bizarres Wiedersehen in Thompsonnachgedacht hatte. Mittlerweile hatte er etliches von dem revidiert, was erüber Graves und die unheimliche Veränderung, die mit ihm vonstatten gegangenwar, gedacht hatte. Sicherlich war Jonathan Graves niemals ein angenehmerMensch gewesen, nicht einmal damals, während jener Zeit, als Mogens nochglaubte, in ihm, wenn schon keinen Freund, so doch zumindest einen Kommilitonenzu haben, der sich an die Regeln studentischer Kameradschaft hielt. Aber ihmseine Menschlichkeit abzusprechen war des Guten nun doch etwas zu viel.
Seine Nerven hatten ihm einenStreich gespielt, und das war nach allem Vorgefallenen auch nicht weiter verwunderlich.Mogens gab sich selbst für diesen allerersten Moment intellektueller VerwirrungDispens, rief sich zugleich aber in Gedanken zur Ordnung. Er würde Graves nichtgestatten, Macht über seine Gefühle und damit letzten Endes über sein Denken zuerlangen.
Was nichts daran änderte, dass erhörbar erleichtert aufatmete, als der Wagen die Böschung hinabzurumpeln begannund der Ozean damit außer Sicht geriet.
Tom, der den Laut gehört hatte,deutete ihn falsch und sagte: "Das Schlimmste ist gleich vorbei, keineAngst."
Mogens schluckte die Antwortherunter, die ihm auf der Zunge lag. Mochte Tom ruhig glauben, dass ihm dieFahrt durch das unwegsame Gelände zu schaffen machte; vielleicht trug dies jadazu bei, die Distanz zwischen ihnen etwas kleiner werden zu lassen. Mogens wardurchaus realistisch genug, sich von Toms lockerer Art nicht täuschen zulassen; hinter seiner bewusst zur Schau gestellten Selbstsicherheit verbargsich das genaue Gegenteil. Mogens waren die Zwischentöne in seiner Stimme nichtentgangen. Hinter dem Respekt, mit dem er über Graves sprach, verbarg sich einGutteil Furcht, und hinter der scheinbaren Lockerheit, die er ihm gegenüber anden Tag legte, nichts anderes als Respekt. Mogens war unzähligen Toms begegnet,in seinen Jahren an der Universität von Thompson. Junge Leute, die sich alleMühe gaben, selbstsicher, ja, zuweilen nassforsch aufzutreten, innerlich abervor Furcht zitterten, wenn sie auch nur den Schatten eines Professors sahen.Zweifellos hatte Tom die Gelegenheit begrüßt, der Monotonie seiner täglichenArbeit für ein paar Stunden zu entfliehen und mit dem Wagen in die Stadt zufahren, aber ebenso zweifellos hatte er dem Zusammentreffen mit einemleibhaftigen Professor mit klopfendem Herzen entgegengeblickt. Viel mehr nochals die angehenden Studenten, die Jahr für Jahr in ewig gleichen Anzügen, mitdenselben, ewig gleichen abgewetzten Koffern, denselben ewig gleichen Scherzen- und immer der gleichen, nur unzulänglich verhohlenen Furcht in den Augen -vor ihm erschienen, musste Mogens bloße Anwesenheit ihm schon fastkörperliches Unbehagen bereiten. Für seine angehenden Studenten war erzweifellos eine Respektsperson - auch wenn nur zu viele von ihnen sich Mühegaben, ihn dies nicht spüren zu lassen -, dennoch aber jemand, dessen Statussie eines Tages erlangen konnten - zumindest einige von ihnen. Einem einfachenJungen vom Lande hingegen, der nicht einmal sein genaues Alter kannte und miteiniger Wahrscheinlichkeit auch des Lesens und Schreibens nicht mächtig war,musste er wie ein Bote aus einer Welt erscheinen, die unendlich weit von derseinen entfernt war und die er niemals erreichen konnte. Mogens fragte sich,wie viel Kraft es Tom gekostet haben musste, während der ganzen Fahrt so ruhigzu bleiben und nicht buchstäblich vor Furcht mit den Zähnen zu klappern.Hinsichtlich seiner Überzeugung, in Graves Nähe jeden potenziellen Verbündetenbitter nötig zu haben, tat er vielleicht gut daran, Toms Vertrauen zu erringen.
"Du fährst ausgezeichnet,Tom", versicherte er. "Ich fürchte, ich muss gestehen, dass ich selbstdiese grässliche Straße nicht annähend so souverän bewältigt hätte, wennüberhaupt."
Tom sah ihn zweifelnd an. "Siewollen mir schmeicheln, Professor."
"Keineswegs." Mogensschüttelte bekräftigend den Kopf. "Ich war nie ein sonderlich guterAutofahrer, fürchte ich. Ich komme aus einer kleinen Stadt. Es lohnt sichnicht, dort ein Automobil zu besitzen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich esnoch kann."
"Was?", fragte Tom.
"Auto fahren", antworteteMogens.
"Das ist jetzt einScherz", sagte Tom. "So etwas verlernt man doch nicht."
Tatsache war, dass Mogens esniemals gelernt hatte, aber so weit, dies Tom gegenüber zuzugeben, wollte ernun doch nicht gehen. "Vermutlich nicht", sagte er deshalb."Dennoch fehlt mir eindeutig die Übung."
"Verstehe", sagte Tom."Sie haben sicher Wichtigeres zu tun."
"Auch das", seufzteMogens. Er bedauerte es schon, überhaupt mit dem Thema angefangen zu haben.Dennoch erschien ihm alles besser, als sich weiter mit jenen unheimlichen Gedankenund Empfindungen auseinander zu setzen, die der Anblick des Ozeans in ihmwachriefen. Schon, um Tom keine Gelegenheit zu einer weiteren diesbezüglichenFrage zu geben, drehte er sich demonstrativ wieder ganz in seinem Sitz nachvorne und ließ seinen Blick über den kleinen Ort schweifen, der bisher umkeinen Deut näher gekommen zu sein schien, obgleich sicherlich eine Minutevergangen sein musste, seit Tom losgefahren war. Er wirkte auch um keinen Deutweniger trostlos. Mogens gestand sich ein, dass er bisher nicht einen einzigenGedanken an sein neues Zuhause verschwendet hatte; schon, weil er felsenfestdavon überzeugt gewesen war, dass einfach jeder Ort auf der Welt besser seinmusste als Thompson. Aber mittlerweile war er nicht mehr ganz so überzeugtdavon, tatsächlich einen guten Tausch gemacht zu haben. Wenn es einen Ort aufder Welt gab, der es an Trostlosigkeit mit Thompson aufnehmen konnte, dann wares dieser hier.
Mogens verscheuchte auch diesenGedanken. Er wusste nichts über diese Stadt; nicht einmal ihren Namen. Auf denwortwörtlich allerersten Blick ein - noch dazu so harsches - Urteil über sie zufällen, hieß ihr bitter Unrecht zu tun. Und Mogens hatte in seinem Leben zuviel Unrecht am eigenen Leib erfahren, um nun ins gleiche Horn zu stoßen; nichteinmal einem abstrakten Gebilde wie einer Stadt gegenüber.
Dann gewahrte er etwas, das seineAufmerksamkeit erregte: Ein gutes Stück die Straße entlang, bestimmt fünf,sechs Meilen jenseits der Stadtgrenze - so es denn eine solche gab -, sah ereine Ansammlung kleiner, symmetrischer weißer Flecke; vermutlich Zelte.
"Ist das das Lager?",fragte er.
Tom schüttelte den Kopf. Mogens Frage schien ihn aus irgendeinem Grund zu amüsieren. "Nein. Das sind dieanderen. Die Maulwürfe - jedenfalls nennt Doktor Graves sie so."
"Maulwürfe?"
"Geologen." Tom deutetemit einer Kopfbewegung auf die Ansammlung kleiner, rechteckiger Schneeflockenam Horizont, nahm zu Mogens Erleichterung aber diesmal wenigstens nicht dieHand vom Steuer. "Sie sind schon seit über einem Jahr hier. Ich weiß nichtgenau, was sie dort tun, aber ich hab den Doktor einmal sagen hören, dass hierzwei Kontinentalplatten aneinander stoßen." Er runzelte einen Moment langnachdenklich die Stirn. "Die San-Andreas-Verwerfung, glaube ich."
"Das... stimmt", murmelteMogens überrascht. Seine Verblüffung galt jedoch weniger dem Gehörten an sich,als vielmehr dem Umstand, diese Worte aus Toms Mund zu hören. Vielleicht hatteer seinen knabenhaften Chauffeur ja ebenso vorschnell und falsch eingeschätztwie sein zukünftiges Zuhause.
"Und was tun sie dort?",fragte er.
Diesmal bestand Toms Antwort nuraus einem Schulterzucken. "Ich weiß es nicht", gestand er. "Wirhaben nichts mit denen zu schaffen. Einmal war einer von ihnen in unseremLager, um mit dem Doktor zu sprechen, aber er ist nicht lange geblieben. Ichweiß nicht, worum es ging, aber Doktor Graves war hinterher sehrverärgert."
"Du magst Doktor Graves nichtbesonders, wie?", fragte Mogens gerade heraus.
Tom sah ihn nicht an. "Ichkenne ihn zu wenig, um mir ein Urteil zu erlauben."
Für einen Moment begann sichunbehagliches Schweigen zwischen ihnen auszubreiten. Dann räusperte sich Mogensund sagte: "Entschuldige, Tom. Ich wollte dich nicht in eine peinlicheSituation bringen."
Tom lächelte nervös. "Dashaben Sie nicht. Doktor Graves hat mir gesagt, dass Sie diese Frage stellenwerden. Es macht mir nichts aus."
Vielleicht, überlegte Mogens, wares an der Zeit, endgültig das Thema zu wechseln. "Wie viele Mitarbeiterhat Doktor Graves?", fragte er. "Außer dir."
"Drei", antwortete Tom.Als er Mogens erstaunten Blick registrierte, fügte er mit einem bekräftigendenNicken hinzu: "Manchmal heuern wir n paar Hilfskräfte aus der Stadt an.Aber nur, wenn s gar nicht anders geht. Doktor Graves will keine Fremden imLager."
Vermutlich war es eher andersherum, dachte Mogens - er konnte sich nicht vorstellen, dass es allzu viele Fremdegab, die es lange mit Graves aushielten. Er schwieg dazu.
Der Ford rumpelte weiter durchKaninchenlöcher und über Steine, und auf dem restlichen Stück Weg bis zurHauptstraße hinab wurden sie derart durchgeschüttelt, dass Mogens nicht nur dieLust auf jede weitere Frage verging, sondern er sie vermutlich auch gar nichtherausbekommen hätte. Endlich aber hupfte der Wagen mit einem letzten,magenumdrehenden Ruck wieder auf die asphaltierte Hauptstraße, und Mogensatmete hörbar erleichtert auf.
"Das war s", sagte Tom inMogens Meinung nach vollkommen unangemessen fröhlichem Ton. "Jetzt sind snur noch ein paar Meilen."
"Sagtest du nicht vorhin, eswäre nur noch eine Meile?", brummte Mogens.
"Bis zur Stadtgrenze",antwortete Tom. "Aber wir haben bestimmt ne halbe Stunde gespart. DieStraße macht nen ziemlichen Bogen um den Berg rum. Wir sind gleich da."
Trotz Toms unerschütterlichfröhlichem Ton und seines womöglich noch breiter gewordenen Lausbubengrinsensspürte Mogens, wie sich die Stimmung im Wagen zusehends verschlechterte. Erhatte Tom falsch eingeschätzt, aber er schien es mit jedem Versuch, seinenFehler wieder gutzumachen, nur noch zu verschlimmern. Vielleicht wäre er gutberaten, für den Rest des Weges einfach die Klappe zu halten.
Um nicht unabsichtlich bei seinembisher einzigen potenziellen Verbündeten noch mehr Boden zu verlieren, drehteer sich demonstrativ im Sitz zur Seite und betrachtete aufmerksam die Umgebung.Der Ort hielt auch aus der Nähe, was er von weitem versprochen hatte: DieHäuser waren einfach - um nicht zu sagen: schäbig - und wirkten auf Mogens aufsonderbare Weise... ängstlich. Das Wort kam ihm selbst absurd vor in diesemZusammenhang, aber ihm fiel auch keine treffendere Vokabel ein. Wenn er jemalseine Ansammlung von Gebäuden gesehen hatte, die sich wie eine Herdeverängstigter Tiere aneinander drängte, dann diese. Angesichts der Weite dersie umgebenden Landschaft erschien ihm die drückende Enge, in der sich dieeinfachen Holz- und Ziegelsteinbauten aneinander drängten, doppelt bedrohlich.Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Wäre der Gedanke nicht sovollkommen absurd gewesen, er hätte gesagt, dass diese Stadt sich vorirgendetwas fürchtete.
Mogens atmete insgeheim auf, alssie die Stadt schließlich hinter sich hatten. Das allerletzte Gebäude auf derrechten Seite war ein altmodischer Mietstall, was Mogens einigermaßen ungewöhnlichvorkam; soweit er wusste, befanden sich solcherlei Gebäude normalerweise eherim Stadtzentrum. Als sie es passierten, hatte Mogens das unheimliche Gefühl,von einem eisigen Hauch gestreift zu werden; aber das war natürlich vollkommenunmöglich - zumal die Fenster des Ford geschlossen waren. Er versuchte den Gedankenals so lächerlich abzutun, wie er war, aber es gelang ihm nicht. Während dasgedrungene Gebäude aus vom Alter grau gewordenem Holz allmählich hinter ihnenzurückfiel, drehte er sich halb im Sitz herum und sah zurück, und wiederverspürte er ein rasches, eisiges Frösteln. Der Gedanke war fast noch groteskerals der zuvor, aber er hatte für einen Moment das grässliche Gefühl, auchseinerseits angestarrt zu werden - auf eine boshafte, lauernde Art, die diedräuende Furcht in ihm noch zu schüren schien.
"Sie haben die Geschichtegehört?", fragte Tom.
"Nein", antworteteMogens. "Welche Geschichte?"
Tom hob die Schultern und sahflüchtig in den Rückspiegel, bevor er antwortete; fast als müsse er sich davonüberzeugen, dass ihnen nichts folgte. "Ich dachte, weil Sie den Stable soangesehen haben..." Er hob die Schultern. " ne hässliche Sache. Siehat sogar in Frisco in der Zeitung gestanden. Es hat n paar Tote gegeben -aber ich weiß nicht genau, was passiert ist", kam er Mogens nächsterFrage zuvor, noch ehe dieser sie überhaupt stellen konnte. "Die Leutesprechen nicht drüber."
Mogens schwieg auch dazu, aber erdachte sich seinen Teil. Natürlich wusste Tom, welche Art von Verbrechen sichin diesem Gebäude zugetragen hatte; so wie jeder hier. Mogens hatte lange genugin einer Kleinstadt gelebt, um zu wissen, dass es in einem Ort dieser Größekeine Geheimnisse gab. Tom gehörte ganz zweifellos selbst zu den Leuten, dienicht darüber sprachen - was immer es auch war...
"Da vorne ist derFriedhof", sagte Tom plötzlich. "Das Lager ist auf der anderen Seite.Nur noch n kleines Stück, dann sind wir da."
"Am Friedhof?", wundertesich Mogens.
Tom nickte heftig. "Nur nkurzes Stück dahinter", bestätigt er. "Sehen Sie sich nur um. Ichwette, einen solchen Friedhof haben Sie noch nie gesehen." Er blickteweiter scheinbar konzentriert nach vorne, aber Mogens entging keineswegs, dasser ihn aus den Augenwinkeln insgeheim scharf beobachtete. Anscheinend hatte erMogens mit seinen Worten nicht nur eine Information gegeben, sondern einStichwort, und nun wartete er auf eine entsprechende Reaktion.
Mogens sah nach rechts, wo in derimmer rascher fallenden Dämmerung eine halbhohe, zum Großteil von Unkraut undwucherndem Gestrüpp überwachsene Bruchsteinmauer aufgetaucht war. Ihm fiel reingar nichts Ungewöhnliches auf, außer vielleicht, dass der Friedhof für eine sokleine Stadt entschieden zu groß zu sein schien. Aber schließlich tat er Tomden Gefallen und fragte: "Wieso?"
Tom lachte. "Der Doktor sagt,es wär der einzige Friedhof auf der Welt, der auf zwei Kontinenten liegt."Er machte eine Kopfbewegung auf die Mauer, die jetzt links von ihnen vorbeiglitt.Mogens korrigierte seine Schätzung, die Größe des Friedhofes betreffend, nocheinmal ein gutes Stück nach oben. "Die San-Andreas-Spalte verläuft genaudrunter. Ich hab mal gehört, wie sich zwei Geologen aus dem Lager drüberunterhalten haben."
Und das, dachte Mogens, obwohl siedoch mit den Geologen aus dem benachbarten Zeltlager nichts zu tun hatten.Außerdem fiel ihm erneut auf, wie glatt Tom dieses komplizierte Wort von denLippen ging, über das so mancher seiner Studenten in Thompson gestolpert wäre.Er schwieg auch dazu, nahm sich aber fest vor, sich in den nächsten Tagen etwaseingehender über Tom zu erkundigen.
Der Weg wurde schlechter, kaum dasssie die Friedhofsmauer hinter sich gelassen hatten, und verwandelte sich nacheiner weiteren halben Meile endgültig in einen besseren Trampelpfad, der Mogensfast schlimmer vorkam als der steinige Weg, den sie über den Berg genommenhatten. Mogens warf Tom einen schrägen Blick zu, den dieser aber geflissentlichignorierte.
Schließlich verschwand die Straßeganz. Vor ihnen lag nur noch eine Mauer scheinbar undurchdringlichen Gestrüpps,auf die Tom aber unbeirrt zuhielt, ohne auch nur das Tempo zu drosseln.
"Ähm... Tom", begannMogens.
Tom lächelte, reagierte aberansonsten nicht, und er nahm auch das Tempo nicht zurück. Der Ford schoss aufdas Gebüsch zu, und Mogens klammerte sich instinktiv an seinem Sitz fest undwartete auf das Geräusch von splitterndem Holz oder auch zerbrechendem Glas.
Stattdessen fegte der wuchtigeKühlergrill des Ford nur ein paar dünne Äste zur Seite, und vor ihnen lag einelang gestreckte, asymmetrische Freifläche, auf der sich eine Hand voll kleinerBlockhütten um einen zentralen Platz drängte, in dessen Zentrum sich einniedriges weißes Zelt erhob. Ein kleines Stück abseits stapelten sich Balken,gehobelte Bretter und andere Baumaterialien, und jenseits der Blockhüttenentdeckte Mogens gleich drei weitere Automobile; darunter auch einen Lastwagenmit einer offenen Pritsche, auf der sich etliche längliche Holzkistenstapelten. Das mussten wohl die "Särge" sein, von denen Tomgesprochen hatte. Es war kein einziger Mensch zu erblicken.
Während Tom den Ford geschickt umdie Gebäude herumchauffierte und neben den anderen Fahrzeugen abstellte, wandtesich Mogens noch einmal im Sitz um und schaute zurück. Die Lücke im Unterholzhatte sich hinter ihnen wieder geschlossen. Der Weg war nicht mehr zu sehen.Was hatte Tom gesagt? Doktor Graves wollte keine Fremden im Lager.
"Wir sind da", sagte Tomüberflüssigerweise und stieg aus. Während Mogens einen Moment lang damit beschäftigtwar, den ihm unvertrauten Öffnungsmechanismus der Tür zu ergründen, eilte Tombereits um den Wagen herum und öffnete die Tür von außen. Mogens lächelteverlegen, aber der Junge war diplomatisch genug, kein Wort über seinevermeintliche Unbeholfenheit zu verlieren, sondern trat nur zwei Schrittezurück und machte eine wedelnde Handbewegung zu der am weitesten entferntenBlockhütte.
"Dort hinten ist IhreUnterkunft", sagte er. "Gehen Sie ruhig schon hin. Ich bring IhnenIhr Gepäck."
Mogens dachte mit einem leisenGefühl von schlechtem Gewissen an die beiden prall gefüllten, schweren Kofferim Gepäckraum des Ford, aber dann wandte er sich dennoch mit einem stummenKopfnicken um und steuerte das bezeichnete Gebäude an. Obwohl die Straße staubtrockengewesen war, war der Boden, über den er nun ging, so morastig, dass seineSchuhsohlen darin einsanken und seine Schritte kleine, schmatzende Laute verursachten,und er schauderte leicht, als er aus dem Windschatten des Wagens heraustrat undihn ein eisiger Luftzug streifte. Und war da nicht ein sachtes Zittern desBodens unter seinen Füßen, so als bewege sich tief im Leib der Erde etwasGroßes, Uraltes, das kurz davor war, aus einem äonenlangen Schlaf zuerwachen...?
Mogens schüttelte den Kopf, lachteüber seine eigenen, närrischen Gedanken und ging schnell weiter. Seine Schritteverursachten noch immer jene schmatzenden Laute, die ihn aber jetzt nicht mehrerschreckten, sondern ihn mit einem Gefühl deutlichen Ärgers an seine fastneuen Lederschuhe denken ließ, die er sich nun möglicherweise ruinierte.
Seine Laune sank noch weiter, alser sich der Blockhütte näherte, die Tom ihm gewiesen hatte. Sie war winzig,allerhöchstens fünf oder sechs Schritte im Geviert und hatte - zumindest aufden beiden Seiten, die Mogens einsehen konnte - nur ein einziges schmalesFenster, dem ein schwerer Laden vorgelegt war. Auch die Tür machte einenäußerst massiven Eindruck und hatte - ebenso wie der Fensterladen - zweifingerbreite, senkrechte Schlitze, ungefähr in Augenhöhe, die aussahen wieSchießscharten. Zusammen mit den dicken, sorgsam aufeinander gefügten Balken,dem wuchtigen Dach und der massiven Tür drängte sich Mogens unwillkürlich derVergleich mit einer kleinen Festung auf. Diese Hütte - zusammen mit den anderen- musste älter sein, als er bisher angenommen hatte. Möglicherweise stammtedieses ganze Lager ja noch aus einer Zeit, in der sich seine Bewohner denAngriffen erzürnter Ureinwohner dieses Landes erwehren mussten, denn jedeseinzelne des knappen halben Dutzends kleiner Gebäude machte einen äußerstwehrhaften Eindruck.
Mogens öffnete die Tür und tratgebückt ein, um sich nicht an dem niedrigen Türsturz den Schädel anzuschlagen.Als er den Kopf wieder hob, erlebte er eine Überraschung.
Das Innere des Gebäudes war weitausgeräumiger, als er erwartet hatte - und vor allem heller. Unter derDecke brannte ein vierarmiger Leuchter mit elektrischen Glühbirnen, und esduftete angenehm nach Seife - und frisch aufgebrühtem Kaffee. Die Einrichtungwar spartanisch, aber durchaus annehmbar. Es gab ein überraschend breites,offenbar frisch bezogenes Bett, Tisch und Stühle sowie ein wohl gefülltesBücherregal und etwas, dessen Anblick Mogens nun wirklich überraschte:Gleich neben dem Bücherbord erhob sich ein zierliches Stehpult. Es war langeher, dass Mogens so etwas auch nur gesehen hatte, aber zu der Zeit, alser selbst noch studiert hatte, hatte er es stets vorgezogen, im Stehen an einemsolchen Möbelstück zu arbeiten. Graves musste sich wohl daran erinnert haben.Offensichtlich legte er wirklich Wert darauf, ihm den Aufenthalt so angenehmwie möglich zu gestalten. Der Gedanke verschlechterte Mogens Laune allerdingseher, statt sie zu heben. Er war nicht bereit, Jonathan Graves auch nur dieSpur einer Chance zu lassen.
Außerdem waren da immer noch seineruinierten Schuhe.
Mogens blickte missmutig zuerst aufdie unregelmäßige Spur brauner schmieriger Fußabdrücke, die er auf dem frischgebohnerten Fußboden hinterlassen hatte, dann auf seine besudeltenWildlederschuhe. Der Anblick erinnerte ihn an einen gewissen Vorfall vor vierTagen, der mit Graves und Miss Preusslers Katze Cleopatra zu tun hatte.
"Machen Sie sich nichts draus,Professor", sagte eine Stimme hinter ihm. "Das passiert hierandauernd, selbst im Hochsommer. Es liegt am Boden, wissen Sie? DerGrundwasserspiegel ist so hoch, dass wir praktisch auf einem Schwammstehen."
Mogens drehte sich fast erschrockenum und blickte ins Gesicht eines vielleicht fünfzigjährigen, grauhaarigenMannes, der ihm allerhöchstens bis zum Kinn reichte, dennoch aber gut doppeltso viel wiegen musste wie er. Trotz dieser unbestreitbaren Fettleibigkeit unddes damit einhergehenden Eindrucks von Unbeholfenheit hatte er die Hütte solautlos betreten, dass Mogens nicht das Geringste gehört hatte. Jetzt stand erzwei Schritte hinter ihm, strahlte ihn an wie ein Weihnachtsmann, der sichversehentlich den Bart abrasiert hatte, und streckte ihm eine fleischige,stummelfingerige Hand entgegen.
"Mercer", sagte erfröhlich. "Doktor Basil Mercer. Aber vergessen Sie den Doktor ruhig. Siemüssen Professor VanAndt sein."
Mogens zögerte einen unmerklichenMoment, Mercers ausgestreckte Hand zu ergreifen; er hatte das Händeschüttelnnie gemocht, zum einen, weil er es für ziemlich unhygienisch hielt, zumanderen, weil ihm diese Geste eine oftmals unangemessene Intimität zwischen zumeistwildfremden Menschen zu schaffen schien. Mercer hatte jedoch etwas soEinnehmendes, dass er nur einen Sekundenbruchteil zögerte, bevor er nach seinerdargebotenen Hand griff.
"Nur wenn Sie den Professor weglassen, Doktor Mercer", sagte er lächelnd. "VanAndt."
Mercer verzog übertrieben dasGesicht. "Dann finde ich Professor doch bedeutend einfacher",meinte er. "Ein holländischer Name?"
"Nein, belgisch",entgegnete Mogens, ein Scherz, den er schon seit seiner Studentenzeit nichtmehr gemacht hatte. Fast niemand auf dieser Seite der Welt wusste, dass daskleine Belgien seinerseits wiederum aus zwei ethnischen Volksgruppen bestanden,die noch dazu äußerst eifersüchtig auf ihrer jeweiligen kulturellen Identitätbeharrten. So mancher, dem sich Mogens auf diese Weise vorgestellt hatte, hatteverstört reagiert und vielleicht insgeheim gemutmaßt, dass er ausTranssylvanien stammen und ein direkter Nachkomme von Vlad dem Pfähler seinmüsse.
Mercer überraschte ihn jedocherneut. "Ein Flame", sagte er fröhlich. "Willkommen in der NeuenWelt!"
Diesmal war es Mogens, der dasGesicht verzog. "Dann doch lieber Professor", sagte er. "Und ichbin nur in Europa geboren. Meine erste Erinnerung ist die an einenschmuddeligen Hinterhof in Philadelphia."
"Na, dann müssten wir unseigentlich kennen", behauptete Mercer.
"Sie stammen ebenfalls ausPhiladelphia?", fragte Mogens.
"Nein." Mercer grinste."Aber ich war auch noch nie in Europa."
Mogens lachte, aber es musste wohletwas gezwungen ausgefallen sein, denn auch Mercers Grienen hielt nur nocheinen kurzen Moment, bevor er Mogens Hand losließ, sich leicht verlegenräusperte und einen halben Schritt zurücktrat.
"Gut", sagte er."Nachdem ich die Begrüßung hinlänglich versaut habe, können wir ebenso gutweitermachen, und ich stelle Ihnen den Rest der Mannschaft vor."
"Ihre Kollegen?",vermutete Mogens.
Mercer streckte den linken Daumenin die Höhe. "Einen Kollegen", sagte er. "Und eine Kollegin.Wir sind hier nur zu viert - zu fünft, jetzt, wo Sie zu uns gestoßensind." Er wedelte aufgeregt mit der Hand. "Kommen Sie, Professor. Dieeinzige Dame in unserer Runde ist schon ganz begierig darauf, Sie kennen zulernen." Mogens sah sich unschlüssig um, aber Mercer kam seinemWiderspruch zuvor.
"Diese Luxussuite läuft Ihnennicht davon", sagte er. "Außerdem wird Tom Ihre Koffer bestimmt nichtauspacken. Er ist ein angenehmer Bursche, aber ein wahrer Meister im Erfindenvon Ausreden, wenn es darum geht, sich vor einer Arbeit zu drücken."
Mogens resignierte, zumal Mercerdurchaus Recht hatte: Seine Unterkunft lief ihm nicht davon, und auch er warbegierig darauf, seine neuen Kollegen kennen zu lernen - und natürlich endlichzu erfahren, warum er eigentlich hier war.
So folgte er Mercer, als dieser dieBlockhütte verließ und sich nach links wandte. Er erwartete, dass sich seinFührer einem der anderen Häuser zuwenden würde, die sich - mit Ausnahme einereinzigen, etwas abseits stehenden Blockhütte, die deutlich größer war - nichtvon seiner eigenen Unterkunft unterschieden, aber Mercer ging schnurstracks aufdas Zelt zu, das sich in der Mitte des Lagerplatzes erhob.
Während Mogens ihm folgte, fiel ihmerneut auf, wie sonderbar sich der Boden unter seinen Füßen anfühlte. Es warennicht nur die quatschenden Geräusche, die seine Schritte verursachten. Ermusste an das denken, was Mercer gerade gesagt hatte: Er hatte tatsächlich dasGefühl, über einen riesigen Schwamm zu gehen. Und Mercers Erklärung machte dasGefühl nicht angenehmer; ganz im Gegenteil.
Mercer betrat das Zelt als Erster,hielt mit der linken Hand die Plane zurück und bedeutete ihm gleichzeitig mitder anderen, vorsichtig zu sein, eine Warnung, die sich als durchaus begründeterwies. Vor ihnen gähnte ein gut zwei Meter durchmessendes, kreisrundes Loch imBoden, aus dem das Ende einer schmalen hölzernen Leiter emporragte. Es gabweder ein Geländer noch irgendeine andere Vorrichtung, die der Sicherheitdiente, und als Mogens sich schaudernd vorbeugte und nach unten sah, erkannteer, dass der Schacht mindestens dreißig Fuß in die Tiefe reichte, wenn nichtnoch mehr.
"Man gewöhnt sich daran",sagte Mercer. Mogens Schaudern war ihm keineswegs verborgen geblieben."Sie sind doch schwindelfrei, hoffe ich."
"Ich weiß es nicht",antwortete Mogens wahrheitsgemäß. "Als Archäologe arbeitet man selten inluftigen Höhen."
"Nach ein paar Tagen macht esIhnen nichts mehr aus", versicherte Mercer. Er griff nach der Leiter,schwang seine gewaltige Körperfülle mit erstaunlicher Leichtigkeit auf dieoberste Sprosse und stieg drei, vier Stufen weit nach unten, bevor er wiederHalt machte und Mogens einen auffordernden Blick zuwarf, es ihm gleich zu tun."Nur keine Sorge, Professor", sagte er spöttisch. "Die Leiterist stabil. Gute amerikanische Wertarbeit."
Mogens lächelte pflichtschuldig,aber er rührte sich trotzdem nicht, bis Mercer fast zur Hälfte den Schacht hinabgeklettertwar, bis auch er zögernd nach der Leiter griff und mit dem Fuß nach derobersten Stufe tastete. Die Leiter ächzte tatsächlich hörbar unter Mercers Gewicht,aber das war nicht der wahre Grund seines Zögerns. Tatsache war, dass erMercers Frage gerade nicht ganz wahrheitsgemäß beantwortet hatte.
Mogens war alles andere alsschwindelfrei. Ihm wurde im Gegenteil normalerweise schon beim bloßen Anblickeines hohen Gebäudes mulmig, und auch nur die dreistufigen Trittleitern vor denRegalen in der Universitätsbibliothek zu benutzen, bereitete ihm körperlichesUnbehagen. Es kostete ihn all seine Kraft, auf die Leiter zu treten und hinterMercer nach unten zu klettern. Seine Hände und Knie zitterten, als er nebenMercer in der Tiefe anlangte, und sein Atem ging so schnell, als wäre er eineMeile weit um sein Leben gerannt. Er blieb ein paar Sekunden mit geschlossenenAugen stehen und wartete, bis sich sein hämmernder Herzschlag wieder beruhigthatte.
"Man gewöhnt sich daran",sagte Mercer noch einmal, als Mogens die Augen wieder öffnete und sich mitklopfendem Herzen umsah. Es waren dieselben Worte, aber sein Tonfall hat sichverändert. Mogens hörte nun echtes Mitgefühl in seiner Stimme, vielleicht sogareine Spur von Sorge.
"Ich war nur... ein wenigüberrascht", sagte er nervös. "Damit habe ich nicht gerechnet."
Mercer sah ihn noch einenHerzschlag lang durchdringend an und wechselte dann mit einem unbehaglichenRäuspern das Thema. "Von jetzt an geht es nur noch geradeaus. KommenSie."
Mogens warf noch einenunbehaglichen Blick in die Runde, bevor er sich seinem Führer anschloss. DerSchacht, der oben kreisrund war und einen Durchmesser von gut sieben Fuß hatte,erweiterte sich hier zu einer asymmetrischen Höhle von der gut doppelten Größe.Ein Teil der Wände bestand aus verwittertem grauem Fels. Die Konsistenz desRestes war nicht zu erkennen, denn er war mit groben Brettern abgestützt,zwischen denen hier und da kleine Rinnsale hervorsickerten, die sich am Bodenzu ölig schimmernden Pfützen sammelten. Mogens sah stirnrunzelnd auf seineSchuhe hinab. Der Morast, über den er sich gerade geärgert hatte, warverschwunden, aber dafür waren sie nun völlig durchnässt.
"Ich fürchte, das ist meineSchuld", sagte Mercer in einem Ton ehrlichen Bedauerns. "Ich hätteSie warnen sollen. Aber wir haben uns alle schon so sehr daran gewöhnt..."Er hob entschuldigend die Schultern.
"Das... macht nichts",sagte Mogens. Was Unsinn war. Die Schuhe, die er trug, waren nicht nur seinbestes, sondern zugleich auch sein einziges Paar. "Wohin führtdieser Gang?", fragte er mit einer entsprechenden Geste auf einen knappfünf Fuß hohen, sorgsam mit Brettern und fast armdicken, gehobelten Balkenabgestützten Tunnel, der unmittelbar hinter Mercer tiefer in die Erdehineinführte. An seinem Ende schimmerte ein blasses, gelbes Licht.
"Wir haben hier überallelektrischen Strom", sagte Mercer, dem Mogens erstaunter Blick keineswegsentgangen war. "Graves hat einen Generator herbeischaffen lassen, der dasganze Lager versorgt, sowohl ober- als auch unterirdisch." Er nicktegewichtig. "Man kann gegen den guten Doktor sagen, was man will, aber waser anpackt, das macht er richtig."
"Was kann man denn gegen ihnsagen?", erkundigte sich Mogens.
Statt zu antworten, grinste Mercernur, beugte sich ächzend vor und drang gebückt in den Tunnel ein. Mogens mussteein Grinsen unterdrücken, als er den unbeholfenen Watschelgang sah, zu dem dieniedrige Decke und seine eigene Körperfülle Mercer zwangen, und er ließ ihmeinen angemessenen Vorsprung, bevor er ihm folgte; schon aus ästhetischenGründen. Mercers gewaltiges Hinterteil füllte den Gang vor ihm aus wie einheruntergefallener Vollmond und sein gekrümmter Rücken scharrte unter der Deckeentlang, sodass der Doktor unentwegt ächzte und schnaubte wie einealtersschwache Lokomotive, die sich eine viel zu große Steigung hinaufquälte.Dann und wann lösten sich Holzsplitter oder auch kleine Steinchen von der nurzum Teil verkleideten Decke, sodass es Mogens schon aus diesem Grund angeratenschien, einen gewissen Sicherheitsabstand einzuhalten - er trug nicht nur seineinziges Paar Schuhe, sondern auch seinen besten Anzug.
Gottlob war der Tunnel nichtbesonders lang. Nach kaum drei Dutzend Schritten richtete sich Mercerschnaufend vor ihm wieder auf. Dann trat auch Mogens aus dem Tunnel heraus undin einen unerwartet großen, von einer Anzahl elektrischer Glühbirnen fasttaghell erleuchteten Raum.
Im ersten Moment blinzelte er,geblendet durch das ungewohnt grelle Licht, und er erkannte nur Schemen. Immerhinidentifizierte er zwei oder drei weitere Schemen; vermutlich die anderenKollegen, von denen Mercer gesprochen hatte.
"Kommen Sie, Professor!"Mercer wedelte aufgeregt mit beiden Händen. "Ich stelle Ihnen den Rest derBande vor!"
Mogens blinzelte noch einmal, umseinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an die fast schattenlose Helligkeit zugewöhnen, die das elektrische Licht verbreitete, dann richtete er sich vollendsauf und fuhr sich glättend mit beiden Händen über den zerknitterten Anzug.Nicht, dass da noch viel zu retten gewesen wäre; aber dass er gezwungen war, ineinem so schmuddeligen Loch herumzukriechen bedeutete ja nicht, dass er auchseine Würde aufgeben musste.
Mercer war an einen langen, mitGerätschaften, Büchern und Fundstücken übersäten Holztisch getreten, dem Mogensnur einen flüchtigen Blick schenkte, bevor er sich den beiden Personenzuwandte, die dahinter standen und ihm auf völlig unterschiedliche Weise entgegenblickten.Es handelte sich um einen schlanken, fast asketisch wirkenden Mann ungefähr inMogens Alter und eine deutlich ältere, grauhaarige Frau mit verhärmtemGesicht, die ihn mit einem Ausdruck musterte, den Mogens als feindseligeingestuft hätte, wäre ihm auch nur irgendein Grund dafür eingefallen.
"Darf ich vorstellen?"Mercer deutete händewedelnd auf den asketischen Mann. "Doktor Henry McClure."
McClure nickte kaum merklich, wobeisich seine Lippen zu einem ebenso fast unmerklichen, nichtsdestotrotz aberehrlich wirkenden Lächeln verzogen, das Mogens mit einem angedeutetenKopfnicken beantwortete.
"Doktor Suzan Hyams",erklärte Mercer mit einer entsprechenden Geste auf die Grauhaarige. IhreReaktion entsprach gänzlich den Blicken, mit denen sie Mogens maß: Sie verzogdas Gesicht zu einer Miene, deren Bedeutung sich Mogens wohl aussuchen konnte,die aber keinesfalls freundlich war, und sparte sich sogar das angedeuteteKopfnicken, zu dem sich McClure aufgerafft hatte.
Mogens schenkte ihr trotzdem seinfreundlichstes Lächeln, bevor er sich mit einem fragenden Blick an Mercerwandte. "Graves...?"
"Der Doktor lässt sichentschuldigen", sagte McClure fast hastig. "Er wird später zu uns stoßen.Suzan und ich können Ihnen inzwischen schon einmal alles zeigen."
Mogens war enttäuscht. Es war nichtso, dass er sich auf das Wiedersehen mit Graves gefreut hätte - aber er wolltees hinter sich bringen; schon weil er ahnte, dass auch diese neuerlicheVerzögerung nur Teil von Graves Plan war, ihm seine Machtlosigkeit vor Augenzu führen.
"Herumführen?", fragteer. Er sah sich unbehaglich um. "Für den Anfang würde es mir schon reichen,wenn mir jemand erklären würde, worum es hier eigentlich geht."
"Genau darum habe ichvorgeschlagen, Sie herumzuführen, Professor", sagte Mercer. "Dasmacht es einfacher. Und es geht schneller. Glauben Sie mir."
Mogens ließ seinen Blick nocheinmal über die Gesichter McClures und Hyams schweifen, dann aber hob er nurdie Schultern und wandte seine Konzentration dem ausladenden Holztisch zu,hinter dem die beiden Aufstellung genommen hatten. Es war ein wirklichgewaltiger Tisch, dessen bloße Abmessungen sich Mogens verwundert fragen ließ,wie Mercer und seine Kollegen dieses Monstrum hier herunterbekommen hatten. DiePlatte war annähernd einen Zoll stark und maß sicher drei auf sieben Fuß, wenn nichtmehr, dennoch bog sie sich nahezu unter der Last der darauf gestapelten Bücher,Werkzeuge, wissenschaftlicher Instrumente und Fundstücke. Trotz des schon fastunangenehm hellen Lichtes konnte Mogens nicht auf den ersten Blick erkennen,worum es sich dabei handelte, denn die meisten waren mit Tüchern abgedeckt oderso herumgedreht, dass nur die Rückseiten großer, wie es ihm vorkam teilweiseeher unsachgemäß aus dem Fels gebrochener Steinplatten zu erkennen waren.Mogens streckte die Hand aus, um nach einer der Platten zu greifen, aber Mercerschüttelte rasch den Kopf und streckte sogar die Hand aus, wie um ihnzurückzuhalten.
"Verderben Sie uns doch nichtden Spaß, lieber Professor", sagte er lächelnd. "Wir haben hier soselten Gelegenheit, mit unseren Entdeckungen anzugeben, dass wir diesen Momenteigentlich aus vollen Zügen genießen wollten."
Im ersten Moment reagierte Mogensnahezu verärgert, aber dann gewahrte er das Glitzern in Mercers Augen undmusste fast gegen seinen Willen lächeln. Für einen Mann von wissenschaftlicherReputation, der Mercer zweifellos war, ließ er Mogens Meinung nach die angemesseneErnsthaftigkeit vermissen, aber durch sein unbestritten albernes Gehabeschimmerte doch zugleich eine Herzlichkeit, die es Mogens unmöglich machte, ihmwirklich böse zu sein.
"Also gut", sagte er."Worum geht es?"
McClure trat einen Schritt vomTisch zurück und drehte sich gleichzeitig halb herum, und auch Mercer machteeine seiner typischen wedelnden Handbewegungen in dieselbe Richtung. AlsMogens Blick der Geste folgte, gewahrte er einen weiteren, zu seinerErleichterung allerdings sehr viel höheren Stollen, der auf der anderen Seiteder Höhle tiefer in die Erde hineinführte. Der Zugang war mit einer grob ausLatten zusammengefügten Tür verschlossen, die allerdings einen alles andere alsstabilen Eindruck erweckte. Selbst Mogens, der von eher schwächlicherKonstitution war, traute sich zu, sie ohne besondere Mühe aufzubrechen.
Mercer und McClure eilten voraus,während sich Hyams nicht von ihrem Platz rührte, sondern ihnen nur mit finsteremGesicht nachblickte. "Begleiten Sie uns nicht, meine Liebe?", fragteMercer.
"Ich habe zu tun",antwortete Hyams knapp und mit einer erklärenden Geste auf den überladenenTisch. "Doktor Graves wollte die Übersetzung bis heute Abend fertighaben."
"Er wird Ihnen gewiss nichtden Kopf ab...", begann Mercer, sprach den Satz aber dann nicht zu Ende,sondern beließ es bei einem angedeuteten Achselzucken und einem leisen Seufzen,bevor er sich wieder umwandte und seinen Weg fortsetzte. Schweigend öffnete erdie Lattentür - Mogens fiel auf, dass sie nicht einmal ein Schloss hatte -,trat hindurch und wartete, bis Mogens und McClure ihm gefolgt waren.
"Nehmen Sie es ihr nichtübel", sagte McClure. "Suzan ist im Grunde ganz umgänglich. Sie machtim Moment nur eine... schwierige Zeit durch."
Mogens hatte das sichere Gefühl,dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen, aber er zuckte nurmit den Schultern und wandte sich um, um seine Umgebung in genaueren Augenscheinzu nehmen. Auch dieser Stollen wurde elektrisch beleuchtet; wenn auch nichtannähernd so grell wie die große Höhle, durch die sie gerade gekommen waren. InAbständen von vielleicht fünfzehn oder zwanzig Schritten hingen nackteGlühbirnen unter der Decke, deren gelblicher Schein einen geradezuunglaublichen Anblick enthüllte.
"Aber das ist doch..."Mogens ächzte, trat mit zwei raschen Schritten an Mercer und McClure vorbei andie Wand und ließ seinen Blick ungläubig über den grauen Fels gleiten. Was ersah, war... unmöglich!
"Ich wusste, dass es Ihnengefällt", sagte Mercer fröhlich.
Mogens hörte seine Worte gar nicht.Er starrte die Wand vor sich an, das Unglaubliche, das darauf zu sehen war, hobden Arm und ließ die Hand dann wieder sinken, als hätte er Angst, das Bildkönne wie eine Seifenblase zerplatzen, wenn er es berührte. Verwirrt drehte erden Kopf und starrte abwechselnd Mercer und McClure an.
"Das... das ist ein Scherz,oder?", murmelte er.
"Keineswegs", antworteteMercer. Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd, und auch McClure lächelte mitunübersehbarem Stolz. Und natürlich war es kein Scherz. Ganz davon abgesehen,dass nicht einmal der infantilste Witzbold der Welt einen solchen Aufwandbetrieben hätte, nur um sich einen Jux zu machen, hätte es niemand gekonnt.Was er sah, war echt.
Ebenso echt wie unmöglich. Die Wandvor ihm war übersät mit Bildern. Etliche waren gemalt, mit kräftigen, plakativenFarben, denen das blasse elektrische Licht den Großteil der Leuchtkraft nahm,die sie zweifellos hatten, die meisten aber waren mit tiefen Linien in denStein hineingemeißelt, Bilder, die vor einer Ewigkeit und für die Ewigkeitgeschaffen worden waren.
Da war eine riesige, hundeköpfigeGestalt mit nachtschwarzer Haut und glühenden Augen, daneben die katzenköpfigeBastet und Isis, ein Stück weiter der krokodilsgesichtige Sobek, Seth, Aton undAmun-Ra... auf dem vielleicht zwanzig Schritte messenden Teilstück der Wand,das Mogens überblicken konnte, tummelte sich ein ganzer Reigen ägyptischerGottheiten und Pharaonen. Manche der abgebildeten Gestalten waren Mogensgänzlich unbekannt, viele wirkten auf sonderbare Weise... falsch, als wären sienach demselben Vorbild erschaffen, aber von einem vollkommen anderen Künstler,der aus einer anderen Schule mit gänzlich verschiedener Tradition stammte,viele aber waren Mogens so vertraut, dass ihm ein eisiger Schauer nach demanderen über den Rücken lief. Erneut streckte er die Hand aus, um das Relief zuberühren, und wieder wagte er es nicht und zog die Finger unverrichteter Dingezurück.
"Nun?", griente Mercer."Ist die Überraschung gelungen?"
Mogens schwieg. Er konnte nichtssagen. Fassungslos starrte er abwechselnd Mercer, die Wandreliefs und-malereien, McClure und wieder die unglaublichen Bilder vor sich an.
"Das... das ist..."
" noch nicht einmal dasBeste", fiel ihm Mercer ins Wort. Er begann so aufgeregt mit beiden Händenin der Luft herumzufuchteln, als versuchte er Fliegen zu verscheuchen."Kommen Sie, mein Lieber." Er grabschte nach Mogens Arm und zog ihneinfach mit sich.
Mogens war viel zu perplex, um sichüber Mercers plumpe Vertraulichkeit zu ärgern. Widerspruchslos folgte erMercer, der ihn wie ein Kind an der Hand ergriffen hatte und ihn einfach hintersich her zerrte. Dabei schrie alles in ihm danach, sich loszureißen, um wiederan die Wand heranzutreten und das unglaubliche Bild anzustarren, dasUnmögliche, das sich dennoch wahrhaftig und real vor ihm erhob, eingemeißelt inJahrmillionen alten Stein und so fassbar, wie etwas nur sein konnte. Er mussteträumen. Mogens hatte während seiner Studienzeit - und auch in den Jahrendanach - mehr als eine Unwahrscheinlichkeit erlebt, und doch war dies hieretwas vollkommen anderes. Es war etwas, das nicht sein konnte, weil esnicht sein durfte.
Aber es war.
Der Tunnel war sicherlich hundertSchritte lang, wenn nicht mehr, und führte dabei in sanftem Gefälle tiefer indie Erde hinein. Da es nur wenige Glühbirnen gab, wechselten sich Bereicheausreichender Helligkeit mit solchen schattenerfüllten Halbdunkels ab, in denendie gemeißelten und gemalten Figuren zu unheimlichem Eigenleben zu erwachenschienen.
Mogens glaubte ein sonderbares,helles Flüstern und Wispern zu hören, das allmählich an Lautstärke zunahm, jetiefer sie in die Erde eindrangen, zweifellos aber nur seiner eigenenEinbildung entstammte. Seine Fantasie schlug Kapriolen, aber das war nunwirklich kein Wunder.
Der Tunnel endete vor einerweiteren Tür, die jedoch diesmal aus massiven Eisenstäben bestand und ein wuchtiges,sichtbar nagelneues Vorhängeschloss besaß, das ganz den Eindruck vermittelte,selbst einer Attacke mit einem Schweißbrenner gelassen standzuhalten. Es warjedoch nicht eingerastet. Als Mercer die Hand um einen der fast daumendickenEisenstäbe schloss, schwang das Gitter mit einem leisen Quietschen auf, und siebetraten den dahinter liegenden Raum.
Und mit ihm vollends eine andereZeit.
Der Raum war quadratisch, maßmindestens sechzig Fuß im Geviert und war mehr als fünfzehn Fuß hoch. Auchseine Wände waren mit prachtvollen Bildern und Reliefarbeiten übersät, dieMotive aus der altägyptischen Götter- und Pharaonenwelt zeigten, denen Mogensaber kaum mehr als einen flüchtigen Blick schenkte.
Was er draußen als Wandmalerei undflaches Relief gesehen hatte, das stand nun dreidimensional und überlebensgroßvor ihm. Rechts und links des Einganges, unter dem sie stehen geblieben waren,erhoben sich zwei mehr als mannshohe Horus-Statuen aus poliertem Alabaster,deren Schnäbel vergoldet waren und deren Augen aus faustgroßen Rubinenbestanden, die vom Licht der elektrischen Glühlampen auf unheimliche Weise zumLeben erweckt zu werden schienen. Direkt vor Mogens, dennoch die gesamte Mittedes Raumes beherrschend, erhob sich eine gewaltige, über und über mit Gold undkunstvollen Malereien übersäte Totenbarke aus glänzendem schwarzem Holz, dievon jeweils zwei sieben Fuß großen Anubis-Statuen an Bug und Heck vorwärtsgestakt wurde - des Herrn und Wächters der Totenwelt, mit Menschenleib undSchakalskopf, mit Juwelenaugen, die von innen heraus zu glühen schienen. DieBarke stand auf einem riesigen Quader, der aus purem Gold zu bestehen schien.Flankiert wurde sie von zwei lebensgroßen Streitwagen samt Lenkern undprachtvoll aufgezäumten Pferden aus poliertem Marmor, und längs der Wändeerhoben sich buchstäblich Dutzende weiterer lebensgroßer Statuen, dieägyptische Götter und Fabelwesen darstellten. Nicht alle davon waren Mogensbekannt, was aber nichts an ihrer Glaubhaftigkeit ändern musste. Mogens warkein Ägyptologe, auch wenn er sich durchaus für das Gebiet interessiert hatte -aber das änderte nichts an der Erkenntnis, die ihn wie ein Schlag traf:
Sie befanden sich in einerägyptischen Grabkammer!
"Nun?", fragte Mercer."Habe ich zu viel versprochen?"
Es war Mogens nicht möglich, zuantworten. Er wollte zumindest nicken, aber nicht einmal das gelang ihm. Erstand einfach da, bewegungslos, unfähig, sich zu rühren, auch nur zu blinzeln,ja, für einen Moment sogar, zu atmen. Er hörte, dass auch McClure irgendetwaszu ihm sagte, aber er verstand die Worte nicht, und es war ihm auch nichtmöglich, sich darauf zu konzentrieren oder auch nur einen klaren Gedanken zufassen.
"Das... das ist..."
"Beeindruckend, nichtwahr?"
Mogens Herz begann in jähemEntsetzen zu hämmern, als eine der lebensgroßen Gestalten aus ihrer jahrtausendelangenStarre erwachte und mit einem staksigen Schritt von ihrem Podest heruntertrat.Elektrisches Licht brach sich auf riesigen, schimmernden Augen ohne dasmindeste menschliche Gefühl, riss furchtbare Krallen aus dem äonenalten Halbdunkelund verlieh den gleitenden Bewegungen der raubtierhaften Gestalt nochzusätzlich etwas Bedrohliches, das weit über die Grenzen des Sichtbaren hinausging.
Dann machte die unheimliche Gestalteinen zweiten Schritt, der sie vollends ins gelbe Licht der Glühbirnen hinausbrachte,und Mogens erkannte seinen Irrtum und unterdrückte im letzten Moment einen keuchendenSchrei. Es war kein jahrtausendealter ägyptischer Dämon, sondern niemandanderes als Doktor Jonathan Graves; er trat auch nicht von einem Steinsockelherunter, sondern aus dem Schatten einer großen Steinstatue heraus, hinter derer bisher unsichtbar gestanden hatte. Statt grässlicher Raubtierkrallenerblickte Mogens die altvertrauten schwarzen Lederhandschuhe, und dasgnadenlose Schimmern in seinem Gesicht war das reflektierte Licht, das von denGläsern einer randlosen Brille zurückgeworfen wurde, die er mit zweiGummibändern hinter seinen Ohren befestigt hatte. Dennoch war dieErleichterung, die Mogens verspürte, nicht vollkommen. Die Chimäre war wiederzum Menschen geworden, aber sie bewegte sich nicht wie ein Mensch, sondernschien sich vielmehr auf eine unheimliche, schlängelnde Art in die Wirklichkeitzurückzuwinden.
Es war Mercer, der den Bann brach."Doktor Graves", sagte er tadelnd. "Ihren ausgeprägten Sinn fürdramatische Auftritte in Ehren, aber Sie sollten bedenken, dass es Menschen mitschwachem Herzen gibt!"
Graves lachte; ein meckernder,unangenehmer Laut, der auf unheimliche Weise gebrochen von den bemalten Wändenzurückhallte. "In diesem Falle haben Sie es nicht mehr besonders weit,mein lieber Doktor", sagte er. "Immerhin ist das hier ja einGrab."
Hätte Mogens noch Zweifel gehabt,was die Identität seines Gegenübers anging, spätestens diese Bemerkung hättesie beseitigt. Aber er hatte sie nicht. Vor ihm stand Jonathan Graves, keinDämon, der über den Abgrund der Zeiten hinweggeeilt war, um ihn zu verderben.
Nicht, dass er sich dadurch bessergefühlt hätte.
"Jonathan", sagte erlahm. Es war nicht unbedingt eine eloquente Begrüßung, und dennoch schon fastmehr, als er in diesem Moment hervorbrachte. Mogens hätte seinen eigenen Zustandkaum in Worte fassen können. Er fühlte sich... erschlagen. Der Wissenschaftlerin ihm beharrte unbeeindruckt von allem was er sah darauf, dass es einfach unmöglichwar, aber seine Augen beharrten auf dem Gegenteil.
"Mogens." Graves zauberteeinen Ausdruck auf sein Gesicht, den Mogens noch vor einer Minute auf der Physiognomiedieses Mannes für einfach nicht denkbar gehalten hätte: nämlich ein ehrliches,durch und durch echtes Lächeln. Ohne Mercer - der nachdenklich die Stirnrunzelte und anscheinend vergeblich versuchte, seine Bemerkung richtigeinzuordnen - auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, trat er auf denProfessor zu und steckte ihm die behandschuhte Rechte entgegen. "Ich freuemich, dass du gekommen bist. Genau genommen habe ich nie daran gezweifelt, aberum ehrlich zu sein, bin ich in den letzten ein, zwei Tagen doch ein wenignervös geworden. Aber nun bist du ja da."
VanAndt griff ganz automatisch nachseiner ausgestreckten Hand, und der winzige, noch zu rationalem Denken fähigeTeil seines Bewusstseins registrierte fast beiläufig, dass Graves Händedruckvollkommen anders war, als er erwartet hatte, nämlich nicht schwammig und vonunheimlicher kribbelnder Bewegung erfüllt, als wäre da unter dem schwarzenLeder seines Handschuhs nicht nur Haut und Muskulatur und Knochen, sondern nochetwas anderes, auf widernatürliche Art lebendig Kriechendes, das beständig undbeharrlich versuchte, aus seinem von Menschenhand geschaffenem Gefängnisauszubrechen, sondern ein ganz normaler, ja, durchaus angenehmer Händedruck,fest und beinahe schon vertrauenerweckend. Selbst in diesem Moment emotionalerund intellektueller Aufgewühltheit begriff Mogens, dass er einfach nicht ausseiner Haut konnte. Etwas in ihm war einfach nicht bereit, Graves auch nur einesolche Kleinigkeit wie einen ganz normalen menschlichen Händedruckzuzubilligen.
"Ich bin...", begann erungeschickt, sprach aber nicht weiter, sondern flüchtete sich in ein hilflosesSchulterzucken.
"Du bist ein klitzekleinesbisschen überrascht, das ist mir klar", sprang Graves ein. "Und ichmuss gestehen, ich wäre zutiefst enttäuscht, wenn es nicht so wäre."
Mogens konnte immer noch nichtantworten. Der Schock sollte nachlassen, aber das Gegenteil schien der Fall.Das Gefühl von Unwirklichkeit, das ihn ergriffen hatte, wurde immer heftiger.Seit Jonathan Graves so unvermittelt wieder in seinem Leben aufgetaucht war,hatte alles, was geschehen war, etwas von einem Albtraum an sich gehabt; nunaber begann dieser Traum eindeutig absurde Züge zu entwickeln. Sie befandensich in einem ägyptischen Tempel, tief unter der Erde und keine fünfzigMeilen von San Francisco entfernt!
"Das ist... unglaublich",stieß er schließlich hervor.
"Aber wahr, wie dusiehst", feixte Graves. Er ließ Mogens Hand los, trat zurück und machteeine weit ausladende Geste. "Willkommen in meinem Reich, mein lieberProfessor."
Mein Reich? Mogensregistrierte diese sonderbare Formulierung nur am Rande. Er versuchte mitMacht, seinen Blick von der unglaublichen Umgebung loszureißen und sichgänzlich auf Graves zu konzentrieren, aber es wollte ihm nicht gelingen.
"Ich bin... tiefbeeindruckt", murmelte er. Das war nicht das, was Graves hören wollte, aberin seinen Gedanken herrschte noch immer ein heilloses Chaos.
"Vielleicht sollte ichzurückgehen und den Cognac holen, den Suzan unter ihrem Arbeitsplatz versteckthat", sagte Mercer. "Der gute Professor sieht mir ganz so aus, alskönnte er einen kräftigen Schluck gebrauchen."
"Das wird... nicht nötigsein", antwortete Mogens schleppend. "Danke."
"Unser lieber Professorverabscheut Alkohol", sagte Graves. "Jedenfalls war das früher so.Und ich nehme nicht an, dass sich daran etwas geändert hat, oder?" Erwartete einen Moment vergebens auf eine Antwort, deutete schließlich einSchulterzucken an und wandte sich vollends zu Mercer um.
"Vielen Dank, Doktor. Sie undDoktor McClure können jetzt wieder an Ihre Arbeit gehen. Ich übernehme dann denRest."
Mercer setzte dazu an, etwas zusagen, beließ es aber dann bei einem resignierenden Seufzen und der Andeutungeines Schulterzuckens, während sich McClure kommentarlos umwandte und ging.Graves hatte seine Leute anscheinend gut im Griff.
Graves wartete nicht nur, bis diebeiden gegangen waren und die Gittertür hinter sich geschlossen hatten, sondernauch, bis ihre Schritte leiser geworden und schließlich ganz verklungen waren.Als er sich endlich wieder zu Mogens umwandte, hatte sich der Ausdruck aufseinem Gesicht verändert. Er lächelte nach wie vor, aber es war jetzt keinalbernes Schuljungengrinsen mehr, sondern nur noch ein Lächeln; aber in seinenAugen schien auch plötzlich etwas... Lauerndes zu sein.
Mogens rief sich in Gedanken zurOrdnung. Was er sah, war einfach zu gewaltig, als dass seine persönlichenGefühle Graves gegenüber dabei eine Rolle spielen oder gar sein Urteilsvermögentrüben durften. Er atmete tief ein, straffte die Schultern und zwang sich,Graves Blick nicht nur standzuhalten, sondern sein Lächeln zu erwidern. Zuseiner eigenen Überraschung gelang es ihm sogar. "Ich muss mich wohl beidir entschuldigen, Jonathan", begann er mit einem unbehaglichen Räuspern."Ich weiß selbst nicht genau, was ich erwartet habe, aber dashier..."
"Hast du nicht erwartet, ichweiß", sagte Graves. "Ich wäre auch höchst erstaunt, wenn es andersgewesen wäre." Das Lächeln verschwand endgültig von seinen Zügen undmachte einem Ausdruck großen Ernstes Platz. "Auch ich muss mich für meingeheimnistuerisches Benehmen entschuldigen. Aber nun, nachdem du weißt, worumes geht, kannst du sicherlich verstehen, dass ich nicht einmal eine Andeutungmachen konnte - so schwer es mir auch gefallen ist."
Mogens nickte. Weitere Erklärungenwaren kaum vonnöten, aber Graves fuhr trotzdem fort: "Du kannst dir zweifellosvorstellen, welch katastrophale Folgen es hätte, wenn davon auch nur eineinziges Wort an die Öffentlichkeit dringen würde." Er wedelte wieder mitbeiden Händen, wenn auch jetzt nicht mehr ganz so ausholend wie gerade."Aber genug davon, Mogens. Komm, ich führe dich herum." Ganz flüchtigerschien noch einmal das breite Schuljungengrinsen auf seinem Gesicht."Ich vermute, du platzt innerlich schon vor Neugier."
Das entsprach der Wahrheit, sodassMogens nur wortlos nickte, aber da war zugleich auch noch mehr. Es würdezweifellos noch lange dauern, bis sich sein Intellekt von der jähen Erkenntnisdes Unmöglichen, mit dem er konfrontiert worden war, erholt hatte, aberzugleich begann auch das Gefühl der Unwirklichkeit, das ihn ergriffen hatte,immer stärker zu werden. Er folgte Graves widerspruchslos, aber es fiel ihmnach wie vor schwer, sich auf seine Erklärungen und Ausführungen zukonzentrieren. Vermutlich tat er ihm damit bitter Unrecht. Mogens war wederÄgyptologe, noch interessierte er sich über das normale Maß hinaus für diesenThemenkreis. Dennoch schlugen ihn Graves Erklärungen in ihren Bann. Er sahnicht auf die Uhr, aber es musste mehr als eine Stunde vergehen, in der ihmGraves voller unübersehbarem Besitzerstolz "sein Reich" präsentierte,und Mogens erfuhr in dieser Zeit mehr über die Mythologie des alten Ägypten undhörte mehr Namen von Gottheiten, Herrschern und Dämonen als in seinen gesamtenJahren an der Universität zuvor. Er verstand nicht die Hälfte von dem, was ihmGraves in immer größer werdendem Überschwang wissenschaftlichen Entdeckerstolzeserklärte, und von dieser Hälfte wiederum hatte er einen Gutteil schon wieder vergessen,noch bevor Graves improvisierte Führung auch nur halb vorüber war.
"Du siehst, Mogens",schloss Graves, nachdem er ihm jede einzelne Statue erklärt, ihm die Bedeutungjedes einzelnen Reliefs und den Sinn nicht aller, aber doch vieler Hieroglyphendargelegt hatte, "ich habe keineswegs übertrieben, als ich von derBedeutung meines", er verbesserte sich, " unseres Fundes gesprochenhabe."
"Aber hier!" Mogensschüttelte den Kopf, trotz allem, was er in der letzten Stunde gehört hatte,auf eine Art noch immer genau so fassungslos wie im allerersten Moment."Auf dem nordamerikanischen Kontinent! Das ist..."
Er konnte nicht weitersprechen.Auch wenn dies hier nicht sein ausgewiesenes Fachgebiet war, so schwindelte ihndoch allein bei der Vorstellung des Erdbebens, das diese Entdeckung in derFachwelt auslösen musste, sollte sie sich als echt erweisen. Und selbstverständlichwar sie echt. Ganz davon zu schweigen, dass das hier selbst dieDimensionen des verrücktesten Witzbolds der Welt sprengte und sich jeder denkenkonnte, dass eine Fälschung diesen Ausmaßes nicht die geringste Aussicht auf Erfolghaben konnte, da sich zweifellos die gesamte wissenschaftliche Fachwelt daraufstürzen und akribisch nach dem allergeringsten Hinweis auf einen Betrug odereine Täuschung suchen würde, wusste er einfach, dass dieser Tempelauthentisch war. Er konnte das Alter der ihn umgebenden Wände spüren, den Atemder Jahrhunderte, die an den gemeißelten Augen der lebensgroßen Steinstatuenvorübergezogen waren. Nichts hier war falsch. Und zugleich war hier auch nichtsrichtig. Graves hatte ihm noch nicht alles gesagt, das spürte er. Bei allem zurSchau getragenen wissenschaftlichem Überschwang, mit dem ihm Graves seinefantastische Entdeckung präsentierte, hatte er ihm doch bisher noch etwasWichtiges vorenthalten, vielleicht sogar das Wichtigste überhaupt. Ein noch vielgrößeres, möglicherweise bedrohliches Geheimnis, das seit Äonen unter dersichtbaren Oberfläche der Dinge lauerte.
"Ich weiß, was du sagenwillst, und glaub mir, auch mir erging es nicht anders, als ich diesen Raum daserste Mal zu Gesicht bekam." Graves schüttelte heftig den Kopf, wie umeinen Widerspruch, zu dem Mogens gar nicht angesetzt hatte, im Keim zuersticken. "Aber es ist durchaus denkbar, dass Menschen aus dem altenÄgypten vor langer Zeit die Küsten dieses Landes erreicht haben. Vergiss nicht,dass das Reich der Pharaonen mehrere Jahrtausende lang Bestand hatte! Es gibtTheorien - sie sind umstritten, das gebe ich zu, aber es gibt sie -,wonach die Kultur der südamerikanischen Ureinwohner auf ein viel älteres Volkzurückgeht, dessen Ursprung und Herkunft bis heute unbekannt sind. Denke nur andie Ähnlichkeit zwischen den Pyramiden der Maya und denen des alten Ägypten.Und Mexiko ist nicht so weit entfernt von hier." Er wedelte wiederaufgeregt mit beiden Händen. "Aber was rede ich! Suzan kann dir das allesviel besser erklären."
"Doktor Hyams?"
Wieder nickte Graves so heftig,dass seine Brille von der Nase zu rutschen drohte. Seltsam: Mogens konnte sichgar nicht erinnern, dass Graves jemals eine Sehhilfe gebraucht hatte. "Sieist Ägyptologin", sagte er. "Und zwar eine sehr gute."
"Was mich zu meiner nächstenFrage bringt." Mogens machte eine weit ausholende Geste: "Das alleshier ist ja höchst interessant, um nicht zu sagen sensationell - aber waswillst du von mir? Ich bin zwar Archäologe, aber das alte Ägypten ist nunwahrlich nicht mein Spezialgebiet - ganz davon abgesehen, dass du ja bereitseine Spezialistin auf diesem Gebiet hast."
"Eine Koryphäe, um genau zusein", bestätigte Graves. "Doktor Hyams gehört zu den führendenKöpfen auf ihrem Gebiet."
Und als solche, dachte Mogens, warsie vermutlich alles andere als glücklich über den Umstand, dass Graves nocheinen weiteren Spezialisten zurate gezogen hatte. Mogens glaubte dievermeintlich grundlose Feindseligkeit in Hyams Augen jetzt ein wenig besser zuverstehen; was aber nicht bedeutete, dass er sich dadurch besser fühlte.
"Du hast natürlich Recht,Mogens", fuhr Graves fort. "Es gibt einen Grund, aus dem du hierbist. Einen sehr triftigen Grund sogar. Aber es ist spät geworden. Du hast zweifelloseinen anstrengenden Tag hinter dir und musst müde und hungrig sein. Ich habedir noch eine Menge zu erklären, aber für den Moment soll es genug sein."
© für die deutschsprachige Ausgabe 2005 by VerlagsgruppeLübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach - All rights reserved.
- Autor: Wolfgang Hohlbein
- 2006, 1, 762 Seiten, Maße: 13,3 x 20,9 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828978800
- ISBN-13: 9783828978805
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