Aqua TM
Thriller
2030: Tornados, Überschwemmungen, Hitze. Die Klimakatastrophe ist Wirklichkeit geworden. Die Welt muss sich mit chaotischen Wetterbedingungen abfinden. Eine Sekte begeht mörderische Attentate, um die Ausrottung des vermeintlich Bösen zu...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Aqua TM “
2030: Tornados, Überschwemmungen, Hitze. Die Klimakatastrophe ist Wirklichkeit geworden. Die Welt muss sich mit chaotischen Wetterbedingungen abfinden. Eine Sekte begeht mörderische Attentate, um die Ausrottung des vermeintlich Bösen zu betreiben. Bei der Sprengung eines Damms sterben Hunderttausende, auch Rudy verliert Frau und Kind. Das Angebot, als Fahrer für eine Hilfsorganisation zu arbeiten, kommt ihm gerade recht. In Afrika, das unter einer tödlichen Dürre leidet, ist ein riesiges Wasserreservoir entdeckt worden, auf das ein amerikanisches Unternehmen Anspruch erhebt. Die Hilfsorganisation eilt dem afrikanischen Land mit Bohrmaterial zu Hilfe. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
2030: Tornados, Überschwemmungen, Hitze. Die Klimakatastrophe ist Wirklichkeit. Die Welt muss sich mit chaotischen Wetterbedingungen abfinden. Eine Sekte begeht mörderische Attentate, um die Ausrottung des vermeintlich Bösen zu beschleunigen. Bei der Sprengung eines Damms sterben Hunderttausende, auch Rudy verliert Frau und Kind. Als Flüchtling in einem Auffanglager macht er so schreckliche Erfahrungen, dass er beschließt, Europa den Rücken zu kehren. Da kommt das Angebot, als Fahrer für eine Hilfsorganisation zu arbeiten, gerade recht. In Afrika, das unter einer tödlichen Dürre leidet, ist ein riesiges Wasserreservoir entdeckt worden, auf das ein amerikanisches Unternehmen Anspruch erhebt. Die Hilfsorganisation eilt dem afrikanischen Land mit Bohrmaterial zu Hilfe. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um das Lebenselixier für alle zu sichern ...
Lese-Probe zu „Aqua TM “
Aqua TM von Jean-Marc LignyErstes Kapitel
276000 Tote und Vermisste, 5,3 Millionen Obdachlose, ein Schaden, der sich in einer Größenordnung zwischen 700 und 800 Milliarden Euro bewegt – so sieht die vorläufige Bilanz der Katastrophe aus, die vorgestern die Niederlande heimgesucht hat. Ein Viertel der Landfläche steht meterhoch unter Wasser, im Rest des Landes gibt es fast nirgendwo mehr Strom. Auch die Nachrichtenverbindungen sind weitestgehend unterbrochen. Experten zufolge sind dies Hinweise darauf, dass die Zerstörung des Abschlussdamms (siehe Skizze) auf etwa einen Kilometer Länge Folge eines Sabotageaktes sein könnte und nicht zwangsläufig auf den Orkan zurückzuführen ist, der zeitgleich über die Region hinwegfegte. Zwar wurde der Ausdruck Anschlag bisher nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch auch nicht ausgeschlossen. Natürlich werden bei Anschlägen sofort Erinnerungen an die Vorgehensweise radikalislamistischer Gruppierungen wie den Islamischen Dschihad wach; in diesem Fall jedoch wird zusätzlich in eine ganz andere Richtung ermittelt. Wie man weiß, existiert in Amerika eine der europäischen Politik extrem feindlich gesonnene Fundamentalistengruppe: die Göttliche Legion.
»Nicht Franzose, nicht Bretone: Ich bin aus Saint-Malo.« Wahlspruch von Saint-Malo seit der Ersten Republik 1590
Laurie steht am Fenster ihres Schlafzimmers und verfolgt mit starrem Blick, wie schlammiges Wasser zwischen den losen Pflastersteinen der gegenüberliegenden Place Vauban hindurchsickert. Eben erst hat es aufgehört zu regnen, aber es sind nicht die häufigen Schauer, die den alten Platz unter Wasser setzen. Es ist das Meer, das in die Stadt eindringt.
Seit einiger Zeit ist es bei jeder Springflut das Gleiche: grünliches, stinkendes Meerwasser überschwemmt den Platz,
... mehr
sickert in Lauries Haus ein, setzt für etwa eine Stunde das Erdgeschoss unter Wasser und zieht sich dann wieder zurück. Was bleibt, sind gräuliche Ablagerungen und ein Geruch nach Algen und Schlamm. Die Mauern des Hauses sind mit Wasser vollgesogen; alles ist feucht und schimmelt. Das Erdgeschoss ist so gut wie unbewohnbar geworden. Es sind nicht die Festungsmauern, die an diesem Dilemma schuld sind. Seit Jahrhunderten widerstehen sie den Stürmen aus Nordost, werden regelmäßig mit Silikon imprägniert und lassen allenfalls Gischt durch. Der Baumeister Vauban hatte an alles gedacht – an heftige Stürme ebenso wie feindlich gesonnene Engländer –, doch wie hätte er wissen sollen, dass der Meeresspiegel eines Tages ansteigen würde? Inzwischen dringt regelmäßig Meerwasser in die tiefer gelegenen Teile der Altstadt ein, lässt die Mauern verrotten und macht den Bewohnern das Leben schwer. Man hat alles Mögliche probiert und probiert weiter – Pumpen, Drainagen, Trockenlegung, Erhöhung und Abdichtung –, doch bisher war jeder Versuch zum Scheitern verurteilt. Das Wasser kommt immer wieder zurück. Zwar ist Saint-Malo nicht so stark betroffen wie die Stadt Venedig, die langsam, aber sicher in ihrer Lagune ertrinkt, doch der Vergleich ist nicht von der Hand zu weisen. Viele Bewohner haben die Stadt bereits verlassen.
Laurie zittert, niest und putzt sich mühsam die schon wieder verstopfte Nase. Die blöde Erkältung wird sich den ganzen Winter hindurch festsetzen und den Weg für Bronchitis, Angina und andere Infektionen bereiten. Im Sommer sind es Sonnenbrände und Asthmaanfälle, die Laurie zu schaffen machen. Schlechte Gesundheit, schlechtes Wetter, schlechtes Meer. Was will ich eigentlich noch hier? Sie zieht die Nase hoch, seufzt und betrachtet die Festungsmauern, den einzigen Horizont, den sie sehen kann. Wellen donnern von außen gegen das alte Gemäuer und besprühen den Rundweg mit gelblichem Salz. Seit gestern ist der Sturm ein wenig abgeflaut, und die Wolken erwecken nicht mehr den Eindruck, die Erde unter sich zermalmen zu wollen. Trotzdem – das Wetter ist und bleibt ekelhaft. Und außerdem ist es absolut kein gutes Zeichen, wenn man hören kann, wie sich die Dünung an den Steinen bricht.
Als Laurie ein kleines Mädchen war, hatte sie immer Angst, dass die Festungsmauern den Stürmen nicht standhalten könnten. In ihren Albträumen sah sie eine gigantische schwarze Welle, die über den Platz hereinbrach und ihr Haus unter sich zermalmte. Doch ihre Eltern versicherten ihr, dass die Mauern unzerstörbar wären und allem standhalten würden. Auch Lauries Eltern konnten nicht ahnen, dass das Meer eines Tages unter den Mauern hindurch in die Stadt eindringen würde. Jedenfalls vermochten sie Laurie schon damals nicht wirklich zu beruhigen. Sie hatte einfach Angst vor dem Meer. Lauries Vater aber, der in Saint-Malo geboren und Fischer war, wie zuvor schon sein eigener Vater, schien es undenkbar, dass in seiner Familie jemand Angst vor dem Meer haben könnte. Respekt – das ja. Aber Angst? Niemals! Als die Eltern es endlich geschafft hatten, das kleine, alte Geschäftshaus innerhalb der Festungsmauern für einen horrenden Preis zu kaufen, fühlte Vater Prigent sich wie im Paradies. Zumal die Hausfassade mit einer echten, alten Segelrahe geschmückt war und neben dem Eingang ein riesiger, rostiger Anker stand. Ehe die Fassade verputzt wurde, war auf dem Schaufenster in großen Lettern das Wort Exotarium zu lesen. Von Anfang an fragte Laurie sich, was für exotische Dinge man in diesem Laden wohl hatte erwerben können. Die Antworten der Eltern, die von tropischen Fischen, Fundstücken aus der Zeit der Korsaren und Merkwürdigkeiten aus den Kolonien sprachen, fielen ihrer Meinung nach nie wirklich befriedigend aus. Vielleicht wussten sie selbst nicht, was in dem Geschäft früher verkauft worden war. Nach dem Tod der Eltern nahm Laurie sich vor, es ernsthaft in Erfahrung zu bringen, doch sie hat den Entschluss nie in die Tat umgesetzt. Es interessiert sie nicht einmal mehr. Das Haus widert sie an.
Hier wiederholt sich alles, alles dreht sich im Kreis. Sie rennt gegen Wände an und hat die Befürchtung, auf Dauer im Kopf ebenso zu verschimmeln wie die Fundamente des Hauses. Warum muss sie ausgerechnet jetzt an ihre Eltern denken, obwohl sie doch, sobald es eben ging, auf Abstand ging? Sind es ihre verdammten Seelen, die sie heimsuchen? Sie sind tot, Laurie. Du kannst die Vergangenheit nicht ändern. Aber wenn du natürlich Lust auf eine anständige Depression hast, brauchst du bloß so weiterzumachen.
Oder an Vincent zu denken. Dann ginge es noch schneller.
Vincent. Der attraktive, sanfte, sinnliche Vincent. Vincent, der ihr gezeigt hat, wie schön und heiter die Liebe ist. In einer Welt voller Bösartigkeit und Irrsinn war er ihr ein sicherer Ruhepol. Mit seiner Zärtlichkeit und Weisheit hat er ihr geholfen, den Tod der Eltern zu überwinden. Vincent, der Taoist. Vincent, der Fatalist. Aber auch er war zerbrechlich. Diese Welt, die er vorgab beherrschen zu können und die er glaubte überwunden zu haben, brachte ihn schließlich doch zu Fall. Er wurde computersüchtig, verschanzte sich in der virtuellen Realität und gab sich dem Zipzap hin. Die Teledroge zermürbte sein Hirn innerhalb weniger Wochen und verwandelte ihn in einen krampfenden Zombie, einen Avatar seiner selbst. Er erkannte Laurie nicht mehr, lehnte sie ab, vergaß sie. »Du bist zu gut für mich«, murmelte er an jenem letzten Tag, als sie noch einmal versuchte, ihn seiner Manside und seinen Psycho-Flashs zu entreißen. Er stieß sie zurück, und sie floh vor ihm. Sie akzeptierte den erstbesten Job, der sich bei SOS bot, und fuhr nach Tirana, wo sie aidsinfizierte Prostituierte im Endstadium mit Impfstoff versorgte. Doch trotz eines Monats inmitten finsterster menschlicher und gesundheitlicher Misere konnte sie ihren Liebeskummer nicht vergessen. Von wegen Save OurSelves! Sie hatte es ja nicht einmal fertiggebracht, Vincent vor sich selbst zu retten.
Als sie aus Tirana zurückkehrte, war Vincent verschwunden. In seiner Wohnung in Paramé hatten sich Ökoflüchtlinge einquartiert. MAYA, die große Illusion, hatte Vincents Hirn aufgefressen und ihn wahrscheinlich zu einem gefühllosen Bündel werden lassen, das in irgendeinem Irrenhaus vor sich hin vegetierte. Laurie versuchte gar nicht erst, ihn zu finden. Sie wollte ihn lieber als den Vincent aus glücklichen Zeiten in Erinnerung behalten. Zeiten der Liebe, in denen nichts anderes Bedeutung hatte. Zu spät! Die Erinnerung rührt Laurie zu Tränen. Sie rinnen über ihre Wangen wie die Regentropfen auf der Fensterscheibe.
Na toll! Und jetzt?
Durch den Schleier aus Tränen und Regentropfen erkennt sie etwas Grauweißes, das, vom Sturm vorwärtsgetrieben, über die Festungsmauern trudelt. Etwa ein Vogel? Er benimmt sich reichlich merkwürdig. Laurie wischt sich die Augen. Aufmerksam beobachtet sie das taumelnde Tier. Tatsächlich, es ist eine große Möwe, die es augenscheinlich nicht mehr schafft, vernünftig zu fliegen. Wie ein Spielball im Wind bringt sie es trotz ihrer ausgebreiteten Flügel nicht fertig, den Auftrieb zu nutzen. Von Zeit zu Zeit flattert sie unkoordiniert. Jetzt ist sie über dem Platz. Der Sturm treibt sie genau auf das Haus zu. Sie müsste landen, müsste irgendwo Schutz suchen! Doch dazu scheint sie nicht fähig zu sein. Windböen werfen sie hin und her. Und plötzlich kracht sie mit voller Wucht gegen das Fenster. Die Scheibe zersplittert. Blutend und zitternd bleibt die Möwe inmitten von tausend Scherben auf dem Holzfußboden liegen. Regenschwaden peitschen durch das zerborstene Fenster. Laurie beugt sich zu dem blutenden Tier hinunter. Sie möchte es in den Arm nehmen, ihm helfen, es trösten. Erst im letzten Augenblick schreckt sie zurück und begreift. Die roten, aus den Höhlen tretenden Augen, die erstarrten Flügel, die verkrümmten Füße, der wie zu einem stummen Schrei geöffnete Schnabel und der schwere, abgehackte Atem können nur eins bedeuten: Der Vogel leidet an Botulismus. Seevögel steckten sich häufig an, wenn sie tote Fische aus gekippten Gewässern fressen oder sich auf mit Schweinejauche gedüngten Feldern aufhalten. Es handelt sich um eine mutierte, extrem ansteckende Form der Krankheit, die sich durch einfachen Kontakt auf den Menschen übertragen kann – vor allem, wenn Blut im Spiel ist. Die neue Form des Botulismus führt innerhalb von drei Tagen zum Tod; ein wirksames Gegenmittel gibt es nicht.
Erschrocken schlägt Laurie die Hand vor den Mund, weicht zurück und sieht zu, wie der Vogel langsam stirbt. Das Tier schaut sie an. Es versucht sogar, den Kopf zu drehen, als wolle es um Hilfe betteln. Qualvoll strengt es sich an, wieder auf die Beine zu kommen, doch seine Füße sind ebenso gelähmt wie die Flügel. Der Vogel atmet schwer. Er wird bald sterben.
»Tut mir leid, altes Haus«, murmelt Laurie. »Ich kann dir nicht helfen. Wenn ich dich anfasse, muss ich auch ins Gras beißen.«
Die Möwe zittert. Ihre Bewegungen werden schwächer. In ihren weit aufgerissenen Augen spiegeln sich Panik und Qual. Der durch das zersplitterte Fenster hereinströmende Regen durchnässt sie, setzt den Holzfußboden unter Wasser und mischt sich mit den Glasscherben. Gerade als sich Laurie fragt, wie sie das Tier aus dem Haus bekommen soll, klingelt ihr Telefon.
© Lübbe Verlag
Übersetzung: Ulrike Werner-Richter
Laurie zittert, niest und putzt sich mühsam die schon wieder verstopfte Nase. Die blöde Erkältung wird sich den ganzen Winter hindurch festsetzen und den Weg für Bronchitis, Angina und andere Infektionen bereiten. Im Sommer sind es Sonnenbrände und Asthmaanfälle, die Laurie zu schaffen machen. Schlechte Gesundheit, schlechtes Wetter, schlechtes Meer. Was will ich eigentlich noch hier? Sie zieht die Nase hoch, seufzt und betrachtet die Festungsmauern, den einzigen Horizont, den sie sehen kann. Wellen donnern von außen gegen das alte Gemäuer und besprühen den Rundweg mit gelblichem Salz. Seit gestern ist der Sturm ein wenig abgeflaut, und die Wolken erwecken nicht mehr den Eindruck, die Erde unter sich zermalmen zu wollen. Trotzdem – das Wetter ist und bleibt ekelhaft. Und außerdem ist es absolut kein gutes Zeichen, wenn man hören kann, wie sich die Dünung an den Steinen bricht.
Als Laurie ein kleines Mädchen war, hatte sie immer Angst, dass die Festungsmauern den Stürmen nicht standhalten könnten. In ihren Albträumen sah sie eine gigantische schwarze Welle, die über den Platz hereinbrach und ihr Haus unter sich zermalmte. Doch ihre Eltern versicherten ihr, dass die Mauern unzerstörbar wären und allem standhalten würden. Auch Lauries Eltern konnten nicht ahnen, dass das Meer eines Tages unter den Mauern hindurch in die Stadt eindringen würde. Jedenfalls vermochten sie Laurie schon damals nicht wirklich zu beruhigen. Sie hatte einfach Angst vor dem Meer. Lauries Vater aber, der in Saint-Malo geboren und Fischer war, wie zuvor schon sein eigener Vater, schien es undenkbar, dass in seiner Familie jemand Angst vor dem Meer haben könnte. Respekt – das ja. Aber Angst? Niemals! Als die Eltern es endlich geschafft hatten, das kleine, alte Geschäftshaus innerhalb der Festungsmauern für einen horrenden Preis zu kaufen, fühlte Vater Prigent sich wie im Paradies. Zumal die Hausfassade mit einer echten, alten Segelrahe geschmückt war und neben dem Eingang ein riesiger, rostiger Anker stand. Ehe die Fassade verputzt wurde, war auf dem Schaufenster in großen Lettern das Wort Exotarium zu lesen. Von Anfang an fragte Laurie sich, was für exotische Dinge man in diesem Laden wohl hatte erwerben können. Die Antworten der Eltern, die von tropischen Fischen, Fundstücken aus der Zeit der Korsaren und Merkwürdigkeiten aus den Kolonien sprachen, fielen ihrer Meinung nach nie wirklich befriedigend aus. Vielleicht wussten sie selbst nicht, was in dem Geschäft früher verkauft worden war. Nach dem Tod der Eltern nahm Laurie sich vor, es ernsthaft in Erfahrung zu bringen, doch sie hat den Entschluss nie in die Tat umgesetzt. Es interessiert sie nicht einmal mehr. Das Haus widert sie an.
Hier wiederholt sich alles, alles dreht sich im Kreis. Sie rennt gegen Wände an und hat die Befürchtung, auf Dauer im Kopf ebenso zu verschimmeln wie die Fundamente des Hauses. Warum muss sie ausgerechnet jetzt an ihre Eltern denken, obwohl sie doch, sobald es eben ging, auf Abstand ging? Sind es ihre verdammten Seelen, die sie heimsuchen? Sie sind tot, Laurie. Du kannst die Vergangenheit nicht ändern. Aber wenn du natürlich Lust auf eine anständige Depression hast, brauchst du bloß so weiterzumachen.
Oder an Vincent zu denken. Dann ginge es noch schneller.
Vincent. Der attraktive, sanfte, sinnliche Vincent. Vincent, der ihr gezeigt hat, wie schön und heiter die Liebe ist. In einer Welt voller Bösartigkeit und Irrsinn war er ihr ein sicherer Ruhepol. Mit seiner Zärtlichkeit und Weisheit hat er ihr geholfen, den Tod der Eltern zu überwinden. Vincent, der Taoist. Vincent, der Fatalist. Aber auch er war zerbrechlich. Diese Welt, die er vorgab beherrschen zu können und die er glaubte überwunden zu haben, brachte ihn schließlich doch zu Fall. Er wurde computersüchtig, verschanzte sich in der virtuellen Realität und gab sich dem Zipzap hin. Die Teledroge zermürbte sein Hirn innerhalb weniger Wochen und verwandelte ihn in einen krampfenden Zombie, einen Avatar seiner selbst. Er erkannte Laurie nicht mehr, lehnte sie ab, vergaß sie. »Du bist zu gut für mich«, murmelte er an jenem letzten Tag, als sie noch einmal versuchte, ihn seiner Manside und seinen Psycho-Flashs zu entreißen. Er stieß sie zurück, und sie floh vor ihm. Sie akzeptierte den erstbesten Job, der sich bei SOS bot, und fuhr nach Tirana, wo sie aidsinfizierte Prostituierte im Endstadium mit Impfstoff versorgte. Doch trotz eines Monats inmitten finsterster menschlicher und gesundheitlicher Misere konnte sie ihren Liebeskummer nicht vergessen. Von wegen Save OurSelves! Sie hatte es ja nicht einmal fertiggebracht, Vincent vor sich selbst zu retten.
Als sie aus Tirana zurückkehrte, war Vincent verschwunden. In seiner Wohnung in Paramé hatten sich Ökoflüchtlinge einquartiert. MAYA, die große Illusion, hatte Vincents Hirn aufgefressen und ihn wahrscheinlich zu einem gefühllosen Bündel werden lassen, das in irgendeinem Irrenhaus vor sich hin vegetierte. Laurie versuchte gar nicht erst, ihn zu finden. Sie wollte ihn lieber als den Vincent aus glücklichen Zeiten in Erinnerung behalten. Zeiten der Liebe, in denen nichts anderes Bedeutung hatte. Zu spät! Die Erinnerung rührt Laurie zu Tränen. Sie rinnen über ihre Wangen wie die Regentropfen auf der Fensterscheibe.
Na toll! Und jetzt?
Durch den Schleier aus Tränen und Regentropfen erkennt sie etwas Grauweißes, das, vom Sturm vorwärtsgetrieben, über die Festungsmauern trudelt. Etwa ein Vogel? Er benimmt sich reichlich merkwürdig. Laurie wischt sich die Augen. Aufmerksam beobachtet sie das taumelnde Tier. Tatsächlich, es ist eine große Möwe, die es augenscheinlich nicht mehr schafft, vernünftig zu fliegen. Wie ein Spielball im Wind bringt sie es trotz ihrer ausgebreiteten Flügel nicht fertig, den Auftrieb zu nutzen. Von Zeit zu Zeit flattert sie unkoordiniert. Jetzt ist sie über dem Platz. Der Sturm treibt sie genau auf das Haus zu. Sie müsste landen, müsste irgendwo Schutz suchen! Doch dazu scheint sie nicht fähig zu sein. Windböen werfen sie hin und her. Und plötzlich kracht sie mit voller Wucht gegen das Fenster. Die Scheibe zersplittert. Blutend und zitternd bleibt die Möwe inmitten von tausend Scherben auf dem Holzfußboden liegen. Regenschwaden peitschen durch das zerborstene Fenster. Laurie beugt sich zu dem blutenden Tier hinunter. Sie möchte es in den Arm nehmen, ihm helfen, es trösten. Erst im letzten Augenblick schreckt sie zurück und begreift. Die roten, aus den Höhlen tretenden Augen, die erstarrten Flügel, die verkrümmten Füße, der wie zu einem stummen Schrei geöffnete Schnabel und der schwere, abgehackte Atem können nur eins bedeuten: Der Vogel leidet an Botulismus. Seevögel steckten sich häufig an, wenn sie tote Fische aus gekippten Gewässern fressen oder sich auf mit Schweinejauche gedüngten Feldern aufhalten. Es handelt sich um eine mutierte, extrem ansteckende Form der Krankheit, die sich durch einfachen Kontakt auf den Menschen übertragen kann – vor allem, wenn Blut im Spiel ist. Die neue Form des Botulismus führt innerhalb von drei Tagen zum Tod; ein wirksames Gegenmittel gibt es nicht.
Erschrocken schlägt Laurie die Hand vor den Mund, weicht zurück und sieht zu, wie der Vogel langsam stirbt. Das Tier schaut sie an. Es versucht sogar, den Kopf zu drehen, als wolle es um Hilfe betteln. Qualvoll strengt es sich an, wieder auf die Beine zu kommen, doch seine Füße sind ebenso gelähmt wie die Flügel. Der Vogel atmet schwer. Er wird bald sterben.
»Tut mir leid, altes Haus«, murmelt Laurie. »Ich kann dir nicht helfen. Wenn ich dich anfasse, muss ich auch ins Gras beißen.«
Die Möwe zittert. Ihre Bewegungen werden schwächer. In ihren weit aufgerissenen Augen spiegeln sich Panik und Qual. Der durch das zersplitterte Fenster hereinströmende Regen durchnässt sie, setzt den Holzfußboden unter Wasser und mischt sich mit den Glasscherben. Gerade als sich Laurie fragt, wie sie das Tier aus dem Haus bekommen soll, klingelt ihr Telefon.
© Lübbe Verlag
Übersetzung: Ulrike Werner-Richter
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Bibliographische Angaben
- Autor: Jean-Marc Ligny
- 2009, 813 Seiten, Maße: 15,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Französ. v. Ulrike Werner-Richter
- Übersetzer: Ulrike Werner-Richter
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 378572358X
- ISBN-13: 9783785723586
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