Auge zu und durch
Auge zu und durch von Karl Dall
LESEPROBE
KAUM AUF DER WELT, SCHON WIEDER WEG
Überleben in Bensheim und im Gasthof
»Der riskiert nur ein Auge«, hieß esscherzhaft, als sich Tage nach meiner Geburt immer noch nichts tat in Sachenoffener Blick, wie er den Ostfriesen eigen ist - eigentlich. »Es ist noch etwasverklebt«, mutmaßte die Hebamme, »das wird schon.« Esdauerte dann aber doch etwas länger. Drei Jahre lang blieb das rechte Augegeschlossen. Getauft haben sie mich trotzdem, auf den schönen Namen KarlBernhard. So superkreativ war das allerdings nicht, denn mein Vater hieß Karlund ein Saufkumpan von ihm Bernhard. Übliche Praxis damals in Emden.
An jenen 1. Februar 1941 erinnernsich viele Einwohner des verträumten Kriegshafenörtchensnoch heute mit Schrecken. Allerdings nicht meinetwegen, sondern weil englischeBomber Angriff auf Angriff flogen in dieser Nacht. Emden musste als erste deutscheStadt leiden, vermutlich, weil es so nahe an England liegt. Jedenfalls traf dasSchicksal auch die Lehrerfamilie Dall - wir wurden ausquartiert. Meine ältesteSchwester Elisabeth verschlug es erst in die Nähe von Bremen/Rothenburg, dannzu Tante Anna. Die zweitälteste, Inge, sollte zunächst bei irgendeiner Familie inHessen landen. Für meine Mutter, meinen Bruder Otto und den drei Monate altenNesthaken Karl hieß das Ziel Bensheim an der Bergstraße. Johanna Dall hat danndafür gesorgt, dass sie schnellstmöglich alle ihre vier Kinder wieder um sichhatte. Unser Vater konnte nicht helfen, bloß Feldpostbriefe schreiben von der Front.
In Bensheim lebten wir so lange, bisInge hessisch zu babbeln begann. Mich hat das alles ziemlich kalt gelassen, keinWunder, in dem Alter ...
Meinen Geschwistern erging esanders. Elisabeth, auch Anneliese oder Lieschen genannt, musste mich immer inden Keller tragen. Sie war ja schon groß, hieß es, gerade mal sieben Jahrealt. Die Stunden der Angst hat sie bis heute nicht vergessen, Sirenengeheul gehtihr immer noch durch und durch.
Was mein Gedächtnis angeht, bin ichwohl eine Ausnahmeerscheinung. Während Experten behaupten, Erinnerungen an dieKindheit reichten höchstens bis zum dritten oder vierten Lebensjahr zurück,habe ich einige Ereignisse von damals ganz konkret auf der Festplatte. Niemandmag mir das glauben - es stimmt aber trotzdem. Den Sturz vom Arm meinerMutter, zum Beispiel, im Sommer 1942.
Ich höre noch ihren Aufschrei, sehevor mir, dass der Boden, dem ich mich rasend schnell nähere, rot, schwarz undweiß gefliest ist. Mein rechter Arm brach, an Schmerzen erinnere ich michnicht.
Zwanzig Jahre später bin ich in dieGegend an der Bergstraße getrampt. In dem Haus, das wir damals bewohnt hatten,inspizierte ich sofort den Küchenboden: rote, schwarze und weiße Kacheln!
Das Armgelenk war totalzerschmettert - Dr. Vogel, auch Vogel-Doktor genannt, fiel nicht mehr ein alsGipsen. »Warten Sie einfach ab«, sagte der wackere Medizinmann gelassen zumeiner Mutter, »es wird schon zusammenwachsen, was zusammengehört.« Historiker untersuchen übrigens, ob Willy Brandtsberühmte Äußerung nach dem Ende der deutschen Teilung hier ihren Ursprung hatte ...
Jedenfalls lautete die Einschätzungdes Vogel-Doktors, dann hat der Karl eben vielleicht später »so ein Ärmchen«,das kraftlos am Körper baumelt.
Alle rechneten mit dem Schlimmsten.»Er kann ja auch mit links schreiben«, tröstete sich die Familie. Zum Glückblieben mir dauerhafte Schäden erspart. Unser Vater im Krieg durfte davonnatürlich nichts erfahren, er hatte ja so schon ausreichend Sorgen. Mutter verheimlichteihm vieles, aus Rücksicht auf seine Nerven. Sie selbst hatte niemanden, dem sieihr Herz ausschütten konnte - Frauenschicksal zu dieser Zeit.
Noch heute erzählen meineGeschwister - ich kann mich - natürlich - sogar selbst daran erinnern -, dassich allerlei Unrat, Spielzeug und Nützliches in der nach vorne offenenGipsmanschette unterbrachte. Eine Art Handtäschchen ...
Jedenfalls trat mein Sammeltriebwohl schon in jungen Jahren zutage.
Unter einer weiteren Eigenheit vonmir musste meine Mutter sogar körperlich leiden. Sie hat mich nämlich ziemlichlange gestillt, gelegentlich sogar in ihrem Bett. Einmal habe ich ihr beim Trinkenziemlich heftig in die Brust gebissen. Zum Schmerz gesellte sich Ärger - absofort erhielt ich nur noch feste Nahrung. Sogar daran kann ich mich erinnern.Jedenfalls beiße ich mich seitdem durchs Leben. Übrigens heißt es ja, dassLangzeitsäuglinge später weniger rauchen. Bei mir zumindest trifft dastatsächlich zu, meistens.
Als Zweijähriger entdeckte ich aufeinem Streifzug durch die Gemeinde einen Mann, der sich gerade am Brunnenrandausruhte. Ganz vorsichtig schlich ich an ihn heran, packte seinen Laib Brot undwetzte stolz damit nach Hause. »Hab ich gefunden«, berichtete ich meinerMutter. Sie freute sich auf zusätzliche Nahrung, holte schon das Messer - dastand plötzlich der hungrige Eigentümer hinter uns.
Sie schämte sich fürchterlich fürihren Sprössling. Mehrfach hat sie in späteren Jahren diesen Vorfall erwähnt,wenn ich auch nur ansatzweise in eine kriminelle Handlung verwickelt war. Dasfinde ich nach wie vor ungerecht. Schließlich wollte ich doch bloß die Familiedurchbringen!
Wir wohnten in einer Grabsteinfirma.Auf dem Gelände lag jede Menge alte Munition herum. Ich sammelte alles - sieheauch unter »Trieb« -, was ich finden konnte, in einem Erdhöhlen-Depot. Speziellglänzenden, scharfen, kupferfarbenen Gewehrpatronen ließ ich besondereBehandlung angedeihen, trug sie in die Wohnung und drapierte sie stolz auf denheißen Küchenherd. Das löste jedes Mal erhöhte Aufmerksamkeit aus - Mutter,Bruder und Schwestern taten alles, um mich kurzzeitig abzulenken. In derZwischenzeit ließen sie mein liebstes Spielzeug verschwinden.
Explosive Stimmung herrschte späterauch im Halbstarkenmilieu. Schon Wochen vor Silvester ging die Knallerei los,weit bis ins neue Jahr hinein. Am liebsten saß ich mit meinen Kumpels imGraben. Wenn alte Leute auf dem Rad vorbeifuhren, warfen wir ihnen Kanonenschlägein die Speichen - manchmal mit umwerfender Wirkung.
Für Feuerwerk aus dem Laden hattenwir natürlich meist kein Geld, mussten also selber basteln. Das ging ganzeinfach, mit einer Dose, Karbid und Wasser. Das Rezept verrate ich aber nicht,sonst nehmen mich die halbwüchsige Stadtguerilla von Leer oder andere Terroristennoch als Vorbild.
Ich beendete übrigens dieVersuchsreihen ganz zügig, als ich hörte, wie ein Junge aus unserer Schule beieinem solchen Experiment die halbe Hand verlor. Die Kriegsjahre habe ich alsoziemlich unbeschadet an Leib und Seele überstanden. Zwar erinnere ich mich anbrennende Flugzeuge und an Fallschirmjäger am Himmel, die verfolgten mich abernicht bis in die Träume. Gnade der späten Geburt.
Wenn wir allerdings nachLuftangriffen aus dem Keller in die Wohnung zurückkehrten, sah ichEinschusslöcher am Haus, einmal sogar im Schlafzimmer direkt über dem Bett.Flüchtende Soldaten warfen ihre Waffen bei uns über den Zaun - sie hatten die Schnauzevoll vom Kämpfen. Wir Kinder holten uns die Handgranaten und spielten damit,ohne Folgen Gott sei Dank, manchmal ist das Schicksal gnädig.
Vier Jahre lang wohnten wir in derGrabsteinfirma, heute existiert sie nicht mehr. Die ist dann wohl irgendwiegestorben. Als ich sie Anfang der Sechziger besuchte, erschien mir alles vielkleiner als im Krieg. Muss wohl daran liegen, dass ich inzwischen auf eins zweiundneunziggewachsen war ...
© Verlag Hoffmann und Campe
Interview mit Karl Dall
Sie bekennen sich mitschuldig amUntergang des deutschen Fernsehens. Was meinen Sie damit?
Ich meinees genauso, wie ich es in "Auge zu und durch" geschrieben habe. Das heißt abernicht, dass ich für diese elenden Gerichtsshows verantwortlich bin. Es rührtwohl mehr von den Ausstrahlungen meiner Kinofilme aus den 80er Jahren her.Obwohl, wie die WELT schrieb, "DALL-AS" das Mutigste war, was RTL jemalsgebracht hat. Sollte ich mich vielleicht selbst falsch eingeschätzt haben?
Einmal gaben Sie dem Dall ein JahrFernsehverbot, nein dem Fernsehen ein Jahr Dallverbot, oder wie nun? Wie kam esdenn dazu?
NachdemRadio Bremen verkündet hatte, mich nicht mehr zu engagieren, habe ich (ausRache oder Enttäuschung?) über ein volles Jahr kein TV-Studio mehr betreten.
Ihre Kindheit beschreiben Sie inIhrer Biografie als unbeschwert. War es wirklich so leicht für Sie, der zumKriegsende vier Jahre alt war?
Natürlichwar es nicht so leicht - aber die guten Erinnerungen bleiben für immer, dieschlechten verdrängt man. Das ist doch eine angenehme Sache, oder?
Mit 13 haben Sie Ihre Mitschülererheitert und den Deutschlehrer verärgert, als Sie in einem Aufsatz schrieben,in zehn Jahren wollten Sie mit einem Cabrio und einem blonden Mädchen durchOstfriesland, ihre Heimat, brausen. Wann wurde dieser Traum denn tatsächlichwahr?
Das warzwanzig Jahre später, und es war keine blonde Frau, sondern eine dunkle, unddie Tochter Janina war sechs Wochen alt. Ein Cabrio sollte es auch nicht sein -aber ich war dennoch nicht suizidgefährdet.
Sie beschreiben sich selbst alsKlassenclown. Die Schule war nicht ihr größter Freund. Wie schwer wiegt es da,in einem Lehrerhaushalt aufzuwachsen?
Ich denkemal, der Lehrerhaushalt war mit ein Auslöser für das Desaster. Lehrerkindersollen immer die besten Schüler sein. Das hat noch in keiner Familie geklappt.
Bei der Bundeswehr haben Sie esgenau elf Tage ausgehalten. Sie arbeiteten als Schriftsetzer und Komparse undhaben eine Zeitschrift von Wolfgang Neuss in Kneipen verkauft. Es scheinenlustige Zeiten gewesen zu sein. Wie schwer war es wirklich, den Erfolg zuhaben, den Sie immer wollten? Und wie ehrgeizig ist Karl Dall tatsächlich?
Das ist jadas Problem - ich bin kaum ehrgeizig. Mir sind sehr viele Dinge im Leben zugeflogen.Nur: Wenn ich etwas gemacht habe, wollte ich auch nicht versagen. MeinImprovisationstalent hat mir dabei sehr geholfen.
Zu behaupten, Sie seien nicht immerernst oder voller Respekt, wäre eine glatte Untertreibung. Ihre Ausführungen zuIngo Insterburg allerdings, Ihrem legendären "Bandleader" bei "Insterburg &Co.", sind fast ehrfürchtig. Ertappt?
Nö, Ingokann sehr schwierig sein - das habe ich in meinem Buch auch geschrieben. Ichzolle ihm nur den Respekt, den er als Künstler verdient. Er hat die schönstenLieder und Verse gemacht, die ich kenne.
In Ihrer Biografie ist vonüberraschenden Begegnungen die Rede. Georg Kreisler war Untermieter bei Ihnen,mit Udo Jürgens sind Sie befreundet, Sie sind ein Bewunderer von Inge Meysel.Was verbindet Sie mit diesen Menschen?
Kreisler,Jürgens und Meysel sind Menschen mit eigenen Persönlichkeiten. Die ziehen oderzogen ihr "Ding" durch. Das ist in der Branche leider sehr selten geworden,überall sieht man nur noch diese Angepassten, diese berufsfreundlichenGrinsemänner. Nun ja, auch die muss es geben. Aber warum so viele?
Live-Sendungen mit Karl Dall warenein Sicherheitsrisiko für die Fernsehstationen. So beschreiben Sie im Bucheinen Eklat im "Musikladen" 1980. Was war da los, und ist es immer noch so"gefährlich", Sie live auftreten zu lassen?
Nichts istgefährlicher. Heino und Peter Alexander habe ich damals veräppelt und mir dafüreine "rote Nase" geholt. Heute kann man fast alle beschimpfen, aber das machtkaum noch Spaß! Man macht sie nur noch größer damit.
Wie anstrengend ist es eigentlich zuvermeiden, in Schubladen gesteckt zu werden. Oder anders gefragt: Wollen Sie,wenn schon, lieber eine Schublade ganz für sich allein?
Ich habemehrere Schubladen für mich allein. Wenn ich raus will, dann hüpfe ich von dereinen in die andere. Dadurch habe ich schon ein richtiges "Schubladen-Denken"entwickelt.
Karl Dall weiß hauptsächlich, was ernicht will - ein Zitat aus Ihrem Buch, das sich auf Ihre Jugendzeit bezieht.Gilt diese Aussage noch immer?
Was icheinmal gesagt oder geschrieben habe, dazu stehe ich.
Die Fragen stellte Mathias Voigt,Literaturtest.
- Autor: Karl Dall
- 2006, 1, 302 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455500005
- ISBN-13: 9783455500004
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