Authentische Kriminalfälle I, 4 Bände
Interessant und hochspannend werden die Umstände von spektakulären Kriminalfällen aufgearbeitet.
- Jack the Ripper
- Die Samaritermaske
- Mörder von heute auf morgen
- Brisante Fälle auf dem Seziertisch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Authentische Kriminalfälle I, 4 Bände “
Interessant und hochspannend werden die Umstände von spektakulären Kriminalfällen aufgearbeitet.
- Jack the Ripper
- Die Samaritermaske
- Mörder von heute auf morgen
- Brisante Fälle auf dem Seziertisch
Lese-Probe zu „Authentische Kriminalfälle I, 4 Bände “
Jack the Ripper von Hendrik Püstow und Thomas SchachnerProlog
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»FURCHTBARER MORD IN WHITECHAPEL. FRAU ERSTOCHEN. KEINE SPUR VOM TÄTER.« titelte der East London Advertiser am 11. August 1888.
Martha Tabram, eine rundliche 40-jährige Frau, war wenige Tage zuvor im Treppenhaus eines Gebäudes im George Yard in einer großen Blutlache liegend, tot aufgefunden worden. Sie war übersäht mit Messereinstichen. Damit begann eine Mordserie, die in London, das als Millionenmetropole eigentlich an Mord und Totschlag gewohnt sein musste, ihresgleichen suchte. Im ausklingenden Sommer und Herbst 1888 mussten noch weitere Frauen aus dem Armenviertel Whitechapel ihr Leben lassen, getötet offenbar von ein und derselben Hand. 1888/89 rechnete man diesem einen Täter sechs bis zehn Morde zu. Nach heutigem Forschungsstand wird diese Zahl aber üblicherweise auf fünf begrenzt, die so genannten »Kanonischen Fünf«. Ein Name ist bis heute untrennbar mit der blutigen Spur, die sich durch das Londoner East End zog, verbunden: »Jack the Ripper« - ein Pseudonym, das der Täter sich in einem Brief an die Nachrichtenagentur »Central News Agency« vermeintlich selbst gegeben hatte.
Alle Opfer des Rippers waren Frauen und mit einer Ausnahme zwischen 40 und 50 Jahre alt, alle waren sehr arm, alle hatten Alkoholprobleme, alle außer einer hatten keinen ständigen Wohnsitz und alle gingen - zumindest gelegentlich - der Prostitution nach. Sie lebten und starben im Armenviertel von London, dem östlich gelegenen Whitechapel, das mit einem Geflecht von düsteren, engen, oftmals unbeleuchteten und mit Unrat übersäten Straßen durchzogen war. Whitechapel war ein Schmelztiegel gescheiterter Existenzen. Die Vita der Opfer zeigt, dass sie alle schon bessere Zeiten erlebt hatten. Keine von ihnen stammte ursprünglich direkt aus Whitechapel, aber sie alle waren doch in einer Spirale aus Arbeitslosigkeit, Alkoholsucht und gescheiterter Beziehungen im Londoner East End geendet.
Im Jahre 1888 setzte ein Unbekannter ihrem traurigen Dasein ein ebenso jähes wie brutales Ende. Tief in der Nacht lauerte er ihnen in den Straßen des East End auf: Vielleicht gab er sich als potentieller Freier aus, zumindest muss es ihm gelungen sein, das Vertrauen der Opfer zu gewinnen, denn sie gingen mit ihm stets an weniger belebte Orte. Dort muss er sich in wilder Raserei auf sie gestürzt haben. Er würgte sie und durchtrennte ihnen die Kehlen, einige der Opfer wurden auf das Schlimmste verstümmelt, sogar Organe schnitt der Täter aus den Leichen heraus und nahm diese als Trophäen mit. Das alles geschah direkt unter den Augen der Einwohner Whitechapels und so wunderte sich schon die Kölnische Zeitung: » [Die Menschen] können es nicht verstehen, wie ein solcher Mord möglich ist in einer Nachbarschaft, die zu den dichtest bevölkerten gehört, wo die Arbeit schon vor Tagesanbruch beginnt, wo ein beständiger Zu- und Abzug von Menschen stattfindet und wo der von oben bis unten mit Blut bespritzte Mörder nur durch ein Wunder wachsamen Augen entgehen kann.«'
Der Täter tauchte auf wie ein Phantom, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Mordserie mit einem Doppelmord in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1888, als »Jack the Ripper« innerhalb von einer Dreiviertelstunde zweimal zuschlug.
Die Polizei erwies sich in diesen Tagen als hilflos und überfordert. Trotz intensiver Bemühungen gelang es ihr nicht, dem Täter auf die Schliche zu kommen. Dem nicht genug, trafen in Londoner Polizeistationen und Nachrichtenagenturen Hunderte von Briefen ein, die vorgaben, von »Jack the Ripper« zu sein. In ihnen wurden nicht nur die Opfer verhöhnt, sondern auch die fruchtlose Arbeit der Polizei. Viele von den Briefen waren sicherlich makabere Scherze von Trittbrettfahrern, aber es gibt doch einige, bei denen es möglich wäre, dass sie tatsächlich vom Mörder stammten.
Der finale Schlusspunkt der Mordserie wurde am 9. November 1888 gesetzt, als der Ripper Mary Jane Kelly wie ein wildes Tier in ihrer eigenen Wohnung zerfleischte. Die Leiche war so entstellt, dass ihr ehemaliger Lebensgefährte sie nur noch anhand ihrer Augen und Ohren identifizieren konnte. Danach nahm das Morden in Whitechapel ein plötzliches Ende. Warum die Mordserie so abrupt abbrach, ist bis heute ebenso ungewiss wie die Identität des Täters.
Warum erregen die Morde von »Jack the Ripper« bis heute die Faszination vieler Menschen? »Jack the Ripper« war keinesfalls der erste Serienkiller der Geschichte, aber er war zum Ausklang des 19. Jahrhunderts - einer Zeit, in der die Zeitung als Massenmedium ihren endgültigen Durchbruch gefunden hatte - der erste Serienmörder, der weltweiten »Ruhm« erlangte. Seine Untaten sind selbst heute noch, obwohl sich unsere Augen oftmals fast zwangsläufig durch das Fernsehen an blutige Bilder gewöhnt haben, von entmenschter Grausamkeit. Sie haben sich in das kollektive Gedächtnis Londons, Großbritanniens, ja der ganzen Welt gebrannt: Nahezu jedermann auf dem Globus kennt gack the Ripper«, ein Name, der gleichsam kommerziell ausgeschlachtet wie romantisiert wird. Er hat unsere Vorstellungen vom viktorianischen London mit seinen nebelschwangeren Straßen, den über das Kopfsteinpflaster klappernden Kutschen und den in Zylinder und knielangem Mantel gekleideten Gentleman - neben Arthur Conan Doyle's Romanhelden Sherlock Holmes - wie vielleicht kein Zweiter geprägt. Zwei Aspekte faszinieren die Menschen seit jeher am Ripper: Seine blutigen Taten, die die Menschen in entsetzter Fassungslosigkeit zurücklassen, und das Mysterium, das ihn umgibt, da seine Identität bis heute unbekannt geblieben ist.
Die offiziellen Untersuchungen der Londoner Polizei endeten 1892, der Fall wurde zu den Akten gelegt. Das war aber keinesfalls das Ende der Bemühungen, die Identität des Mörders zu enthüllen. Seit nunmehr über 100 Jahren haben sich Hobby- wie Profifahnder - so genannte »Ripperologen« - daran gemacht, dem Rätsel des Whitechapel-Mörders auf die Spur zu kommen. Dabei sind im Laufe der Zeit die abenteuerlichsten Theorien aufgeworfen worden, die zwar viel zur weiteren Legendenbildung beigetragen haben, bei den sachlichen Bemühungen zur Identifizierung des Täters aber mehr Verwirrung gestiftet haben, als dass sie zur Aufklärung hätten beitragen können. Die Liste der Verdächtigen ist so mit den Jahren um ein Vielfaches erweitert worden, teilweise mit ebenso obskuren wie unhaltbaren Theorien, etwa Personen wie den »Elefantenmenschen« John Merrick, den zeitgenössischen Darsteller des Theaterstückes »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« Richard Mansfield, den Autor von »Alice im Wunderland« Lewis Carroll oder als weiblichen Täter >01 the Ripper« zu verdächtigen.
Ist es denn überhaupt möglich, nachdem die Morde nunmehr über 100 Jahre her sind, etwas Neues über »Jack the Ripper« herauszufinden?
In der Tat besteht diese Möglichkeit, und gerade in den letzten 25 Jahren haben wir die meisten Informationen über die Whitechapel-Morde erhalten. In nahezu steter Regelmäßigkeit tauchen Dokumente auf, die mehr Licht in den Fall bringen. Einer der bekanntesten Funde war der Autopsiebericht des letzten Ripper-Opfers Mary Kelly im Jahre 1987. Das Auffinden solcher Aktenstücke beweist, dass auch nach über 100 Jahren der Fall weiterhin lebendig bleibt und das Interesse an den Ripper-Morden vielleicht heutzutage größer ist, als es jemals seit dem Jahre 1888 war.
Leider ist die Historiographie um »Jack the Ripper« auch eine Geschichte von Fälschungen, Halbwahrheiten und Lügengeschichten.' Das Anliegen dieses Buches ist es, einen wertfreien und nüchternen Rückblick auf die damaligen Ereignisse zu geben, ohne dass versucht wird, krampfhaft eine Theorie zu einem speziellen Verdächtigen zu untermauern, wie es fast ausnahmslos in der heutigen Literatur zu gack the Ripper« zu finden ist. Nach all den Büchern über »Jack the Ripper« mit solch verheißungsvollen Untertiteln wie »des Rätsels Lösung«, »die blutige Wahrheit«, »the simple truth«, »case closed«, »the final solution« oder »the mystery solved« muss doch ernüchternd festgestellt werden, dass kein Einziges dieser Bücher tatsächlich die Identität des Rippers zweifelsfrei klären konnte. Letztlich blieb jeder Lösungsansatz Spekulation.
Publikationen, in denen kein einzelner Verdächtiger im Fokus des Interesses steht und die dadurch nicht Gefahr laufen, Fakten zu verdrehen, zu verfälschen, wegzulassen oder einseitig darzustellen, können an einer Hand abgezählt werden. Für den deutschsprachigen Büchermarkt gab es bisher überhaupt keine Veröffentlichungen dieser Art, denn in den wenigen aus dem Englischen übersetzten Werken versuchten die Autoren stets, ihren Verdächtigen »durchzuboxen«. Letztes Beispiel war das Buch von Patricia Cornwell über Walter Sickert, das von der Fachgemeinde der Ripperologen verrissen wurde.
Bisher gab es also weder ein objektives deutschsprachiges Buch über »Jack the Ripper« noch gab es überhaupt eins, das von deutschen Autoren geschrieben wurde,3 sondern lediglich übersetzte Werke. Dieses Buch wird diese Lücke schließen: Der Leser erhält eine sehr detaillierte Darstellung über die Londoner Mordserie, nahezu allein rekonstruiert auf Basis der damaligen Polizeidokumente und Zeitungsartikel. Hier ist insbesondere erwähnenswert, dass erstmals in der Ripper-Forschung auch der zeitgenössische deutsche Pressespiegel ausgewertet wurde.
Zu guter Letzt werden einige Tatverdächtige vorgestellt, ohne sich dabei auf einen Einzelnen fokussieren zu wollen. Alle jemals mit den Ripper-Morden in Verbindung gebrachte Verdächtige erschöpfend vorzustellen ist nahezu unmöglich. Es sind mittlerweile über 150 Personen, sodass eine Vorauswahl getroffen werden musste, die sich mehr oder weniger auf die allgemein anerkannten »heißesten« Kandidaten beschränkt. Das Leserpublikum sollte schlussendlich für sich selbst in der Lage sein, zu entscheiden, bei welchem Tatverdächtigen die Verdachtsmomente am schwersten wiegen.
London, 1888
»Die Traurigen, die Kranken und die Hilflosen.«
(Thomas Archer in »The Terrible Sights of London«, 1870.)
Das 19. Jahrhundert kann zweifelsohne als ein englisches bezeichnet werden. Zwar hatte Großbritannien Ende des 18. Jahrhunderts in den Unabhängigkeitskriegen große Teile seiner nordamerikanischen Besitztümer verloren, aber im Laufe des 19. Jahrhunderts konnte es riesige Gebiete, vor allem in Afrika und Asien, hinzugewinnen. Die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen verbanden sich mit einer vom Puritanismus beeinflussten Überzeugung eines britischen Sendungsbewusstseins, mit dem man Fortschritt und Zivilisation in die Welt »exportieren« wollte: Thomas Carlyle, englischer Historiker und Philosoph, begründete die britische Weltmission und Sir Charles Dilke, Politiker und Schriftsteller, entwarf das Bild eines »Greater Britain« in einer »täglich englischer werdenden Welt«.
Schon Ende des 18. Jahrhunderts begann der wirtschaftliche Aufschwung Großbritanniens. Zwischen 1760 und 1830 war das Vereinigte Königreich für rund zwei Drittel des europäischen Anstiegs des Produktionsvolumens verantwortlich und sein Anteil an der Weltindustrieproduktion stieg stetig an. Mit Einsetzen der industriellen Revolution baute die Britische Insel ihren Wirtschaftsvorsprung weiter aus und um 1860, als das Land vermutlich auf seinem relativen wirtschaftlichen Höhepunkt angelangt war, förderte das Vereinigte Königreich mehr als die Hälfte des weltweiten Eisen- sowie Stein- und Braunkohlebedarfs. Großbritannien alleine beherrschte rund 20 Prozent des Welthandels und war für einen Großteil des Handels mit Industriegütern verantwortlich. Über ein Drittel der Handelsmarine fuhr unter britischer Flagge. 1888 standen rund 20 Prozent der Erdoberfläche und circa 25 Prozent der Erdbevölkerung unter britischer Herrschaft. Das Verhältnis zwischen der Fläche Großbritanniens und seiner Kolonien maß sich auf rund 1:94. Diese glänzende Epoche des britischen Empire trug den Namen seiner Herrscherin4: das Viktorianische Zeitalter. Zentrum dieses Weltreiches war die Metropole London. Doch der Aufstieg Großbritanniens kam einher mit den Schattenseiten der Industrialisierung, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer offensichtlicher wurden: Ein durch die Industrialisierung erschaffenes Arbeiter-Heer, arm und ungebildet, strömte in der Hoffung auf ein besseres Leben aus allen Himmelsrichtungen nach London, um sich hier vor allem in Tower Hamlets anzusiedeln.
Dieser Bezirk von nur wenigen Quadratkilometern, der aber die meisten Armenviertel Londons umfasste, schloss die Gemeinden Whitechapel5 mit Spitalfields, Stepney, St. George's in The East mit Wapping, Limehouse, Poplar, Mile End Old- und New Town, Bow sowie Bromley ein. Zur damaligen Zeit sprach man allerdings nur noch vom verruchten und dreckigen East End.
Eine natürliche Trennung von anderen Bezirken Londons erfolgte auf der östlichen Seite durch den Fluss Lea, auf der nördlichen Seite durch die Stadtteile Hackney und Shoreditch, die City von London markierte die westliche Grenze und die Themse floss auf der südlichen Seite.
Trotz der geringen geografischen Größe ist es erstaunlich, dass man in diesem Areal um 1888 etwa 500.000 Bewohner erfasste. Davon lebten 35 Prozent unter der Armutsgrenze, 13 Prozent der Einwohner vegetierten in einem Zustand der Verwahrlosung und blickten täglich dem Hungertod ins Auge.6
Im 17. Jahrhundert war der östliche Teil Londons ein elegantes, angesehenes Viertel mit Wiesen, Gärten und Obsthainen und lebte von der Seidenweberei. Im Zuge der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts verlagerte sich dieses Gewerbe allerdings immer mehr in große, anonyme Fabrikhallen, sodass sich die Produktionsbedingungen enorm änderten. Die Millionenmetropole zog tausende unqualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt magisch an, die hier eine neue Heimat fanden. Dies hatte zur Folge, dass zwar genügend Arbeitskräfte vorhanden waren, allerdings zu wenige freie Stellen. Im East End herrschte somit ein Gemisch aus verschiedenen Kulturen und der ehrwürdige, arbeitsame Bürger lebte im Kreise von gescheiterten menschlichen Existenzen.
Im Laufe der Zeit verkam der ganze Distrikt immer mehr, und vom einstigen Glanz war bald nichts mehr zu sehen. Die schönen, hölzernen Verzierungen der Häuser und Gartenzäune wurden abgerissen und als Feuerholz benutzt. Der Müll der Bewohner wurde achtlos auf die Straßen geschmissen, und so dauerte es nicht lange, bis es überall vor Flöhen und Ratten nur so wimmelte. Fließendes Wasser gab es in keinem Haushalt,
lediglich Tränken, die sich Mensch und Vieh zum Waschen und Trinken teilen mussten. Metzger schlachteten ihre Tiere auf der Straße, und der Gestank muss, gemischt mit dem Geruch menschlicher Fäkalien, an heißen Tagen nahezu unerträglich gewesen sein.
Kinderprostitution war allgegenwärtig, was sich unter anderem darauf zurückführen lässt, dass erst im Jahre 1885 ein Gesetz7 zum Schutze von Kindern erlassen wurde, welches besagte, dass ein sexuelles Verhältnis mit einem Mädchen unter 13 Jahren als Straftat galt. Der Geschlechtsverkehr mit Mädchen im Alter von 13 bis 16 Jahren wurde nun zumindest als Ordnungswidrigkeit geahndet. Fehlender Informationsfluss und Ignoranz vonseiten eines Großteils der männlichen Bevölkerung führten dazu, dass Kinder trotz allem offen auf der Straße ihre Körper verkaufen mussten. Oft war dies die einzige Möglichkeit dem Hungertod zu entgehen, sodass selbst Mütter ihre Kinder auf die Straße schickten, um aus deren Jugend Kapital zu schlagen. Mitunter hörte man, wie Kinder von Männern aus dem West End vor die Wahl gestellt wurden: »verhungern oder sündigen«.8
Die Kriminalitätsrate stieg zu dieser Zeit enorm an und Trickbetrügereien, Diebstahl sowie Schlägereien waren an der Tagesordnung. Viele Frauen verkauften, um überleben zu können, ihre Körper für ein paar Pennies auf der Straße. Illegale Zuhälterbanden, wie beispielsweise die »Old Nichols Gang«, behandelten diese Frauen als ihr Eigentum, und das Abschneiden eines Fingers war noch eine der geringeren Strafen für eine »Ungehorsame«.
Die unterbesetzte Polizei stand diesen Begebenheiten machtlos gegenüber und griff vor allem direkt im Herzen von Whitechapel oder Spitalfields in den seltensten Fällen ein. Man vermied es sogar, in den schlimmsten Straßen, Flower and Dean Street und Dorset Street, Patrouille zu laufen. Den Ordnungshütern zollten die Anwohner keinen Respekt und es war nicht ungewöhnlich, dass Polizisten der H-Division, wie die Polizeiwache in Whitechapel genannt wurde, selbst Ziel von Angriffen wurden. Die einzige Möglichkeit, sich zu verteidigen, bestand darin, den am Gürtel befestigten Gummiknüppel herauszuziehen und einzusetzen. Die weitere Ausstattung der so genannten »Streifen« war recht spärlich und bestand lediglich aus einer Trillerpfeife, um Kollegen ein Verbrechen oder die Bitte um Unterstützung signalisieren zu können, sowie einer schwachen Gaslampe, die nicht annähernd hell genug war, um dunkle Ecken auszuleuchten.
Da viele Frauen in den Armenvierteln keine feste Bleibe hatten und ihre täglich aufs Neue zu bezahlenden Übernachtungsstätten oft wechselten, trugen sie meist ihr ganzes Hab und Gut bei sich. So war es in den Straßen des East End ein allgegenwärtiger Anblick, einer Frau zu begegnen, die drei Kleider übereinander trug. Der Statistiker, Romanschreiber und Gründer der englischen Satirezeitung Punch, Henry Mayhew, schrieb die Aussage einer anonymen Straßenprostituierten nieder, welche die verzweifelte Lage dieser armen Geschöpfe bildhaft wiedergibt. »Ihr Leute mit Ehre und Charakter und Gefühlen und so weiter, Ihr könnt nicht verstehen, wie man das alles aus uns herausgeprügelt hat. Ich fühle nichts, ich bin daran gewöhnt. Einmal habe ich gefühlt, besonders als meine Mutter gestorben ist ... Ich habe geweint und mich aufgeführt, aber Herrgott, was nützt es, wenn ich mich aufrege? Ich bin auch nicht glücklich. Es ist kein Glück, aber ich krieg genug Geld zum Essen und Trinken, und das Trinken vor allem hält mich aufrecht. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich auf meinen Gin freue, der ist für mich alles. Ich glaube nicht, dass ich lange leben werde, und das freut mich auch. Ich sehne mich aber auch nicht genug nach dem Sterben, um mich umzubringen.«9
Keiner konnte ahnen, dass sich in nicht allzu ferner Zukunft ein »unabhängiges Genie«, wie »Jack the Ripper« von George Bernard Shaw' genannt wurde, dazu berufen fühlte, diese Frauen von ihrem Leid zu »erlösen« und damit gleichzeitig auf die katastrophalen Zustände im East End aufmerksam machte. Am 24. September 1888 verfasste Shaw folgenden Brief an den Star:
»Während wir, die konventionellen Sozialdemokraten, unsere Zeit an Erziehung, Agitation und Organisation verschwendeten, hat irgendein unabhängiges Genie die Sache in die Hand genommen und dadurch, dass es einfach vier Frauen tötete und ausweidete, die das Privateigentum vertretende Presse zu einer Art von unvernünftigem Kommunismus bekehrt.""
Die Unterkunftsmöglichkeiten waren im Allgemeinen katastrophal. In einem typischen Haushalt war es nicht ungewöhnlich, dass sechs bis zehn Personen auf engstem Raum zusammenwohnten. Die erwachsenen Töchter und Söhne schliefen auf dem Fußboden. In keiner dieser Wohnungen gab es mehr als ein Bettgestell und die Toilette musste man sich mit anderen Hausbewohnern teilen. Die sanitären Anlagen waren allerdings so dreckig, dass es die Bewohner vorzogen, ihre Nachttöpfe zu benutzen und diese oft tagelang in den Wohnungen stehen ließen, bevor sie im Hinterhof entleert wurden»
Andrew Mearns beschrieb in einem Leitartikel in der Pall Malt Gazette die so genannten Kellerwohnungen, in denen meist »ein oder zwei Familien mit ihren Kindern hausten. In einem dieser besagten Keller fand ein Sanitärbeauftragter Mutter, Vater, drei Kinder und vier Schweine. Die Frau erholte sich gerade von ihrer achten Geburt und die Kinder rannten halbnackt und mit Dreck beschmutzt umher. In einer anderen Wohnung lebten sieben Menschen miteinander, und unter ihnen lag der Körper eines toten Kindes.«'3 Solch erbärmliche Zustände waren für die damaligen Verhältnisse normal, und über 50 Prozent der Kinder starben an Krankheiten oder Unterernährung, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichten.
Eine ausgewogene Ernährung leistete man sich nur, wenn gerade genügend Geld erübrigt werden konnte. Die typische Nahrung im East End bestand allerdings üblicherweise aus Bruchzwieback, da dieser billiger zu haben war als ein ganzes, unversehrtes Stück, und Gin. Gelegentlich leistete man sich auch einen getrockneten Fisch oder heiße Kartoffeln." Viele Einwohner hatten keine feste Bleibe und die preiswerteste Alternative war es - wenn man nicht auf der Straße schlafen wollte -, in einem Gasthaus für Arme (einem so genannten »Doss House« oder »Common Lodging House«) zu übernachten, aufrecht an eine Wand gelehnt. Eine Wäscheleine verhinderte, dass die Schlafenden vornüber fielen. Das Aufwecken war im Vergleich zum Schlafen noch wesentlich unangenehmer, denn der Quartiersbesitzer oder -verwalter löste einfach die Leine und sah zu, wie die ganze Personenreihe nach vorne kippte. Dieses »Schlafvergnügen« kostete den Besucher ein oder zwei Pennies.'5 Vergleicht man dies mit dem Verdienst für 17 Stunden Streichholzschachteln-Kleben oder Säcke-Knüpfen, für das man zehn Pennies als Lohn erhielt, erklärt dies auf recht einfache Art und Weise, warum es viele Frauen vorzogen, auf der Straße als Prostituierte zu arbeiten, um dort für ihre Dienste zwei oder drei Pennies zu verdienen.
Da viele der Einwohner im Genuss von Alkohol die einzige Möglichkeit sahen, dem Alltag zu entfliehen, war es nicht ungewöhnlich, dass man sein Geld lieber in billigen Gin investierte, als sich eine Bleibe für die Nacht zu suchen. Damals hatten Pubs in London, wie auch heute wieder, von frühmorgens bis spät in die Nacht geöffnet, und Alkohol war ziemlich günstig und fast ununterbrochen zu erwerben. Um ein gewisses Auskommen zu sichern, vermieteten Bewohner sogar ihre eigenen Wohnungen, egal zu welcher Jahreszeit, stundenweise an Prostituierte,
was zur Folge hatte, dass sich viele Menschen bis in die frühen Morgenstunden auf der Straße aufhalten mussten. Prostitution wurde damals zwar häufig geduldet, weil man sie sowieso nicht unter Kontrolle bringen konnte, trotzdem wurde das älteste Gewerbe der Welt als illegal eingestuft und von der Polizei mehr oder minder schwer geahndet. Aus diesem Grund musste eine Prostituierte in Bewegung bleiben, denn wenn sie länger an einem Ort verharrte, konnte sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ohne weiteres verhaftet werden. Die Christ Church, deren physische Präsenz die Gemeinde Spitalfields überragte, war ein beliebter Ort für Prostituierte auf der Suche nach einem Freier. Nicht selten traf man hier am späten Abend und in der Nacht sehr viele Frauen an, die die Kirche ununterbrochen umkreisten und nur auf ein Glas Gin zum Aufwärmen in den nahe gelegenen »Ten Bells Pub« gingen oder den Platz verließen, wenn sie erfolgreich einen »Kunden« überzeugen konnten.
Viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung gab es für die Einwohner in den Armenvierteln Londons nicht. Zwar fanden regelmäßig Theateraufführungen statt, doch nur wenige konnten sich das Eintrittsgeld leisten. So wurden die Aufführungen der »Buffalo Bill«-Show und das Theaterstück »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, das im Jahre 1888 Uraufführung in London feierte, meist nur von den besser verdienenden Einwohnern der Metropole besucht. Seine Freizeit verbrachte man mit Bekannten oder der Familie in den nahe gelegenen Pubs, um dort das hart verdiente Geld in Alkohol zu investieren. Zynischerweise wurden die Einwohner des East End bald selbst zur Hauptattraktion, denn von den Morden fasziniert, fuhren in regelmäßigen Abständen verzierte Kutschen der reicheren Bevölkerung aus anderen Teilen Londons durch den Ostteil der Stadt, um sich an den Tatorten des Rippers und den Lebensumständen der »Ausgestoßenen« zu ergötzen.
In einem internen Bericht an das Innenministerium im Oktober 1888 berichtete Sir Charles Warren, Chef der Metropolitan Police, von den Zuständen im East End:
»Bisher gab es keine Schätzungen über die Anzahl der Bordelle in London, aber in den letzten Monaten habe ich die Beobachtungen von Streifenpolizisten zusammengezählt und bin zum Entschluss gekommen, dass es allein 62 Bordelle im Bezirk der Whitechapel-Division gibt, vermutlich aber eine weitaus größere Anzahl derartiger Etablissements. Die Anzahl der Armenhäuser beträgt 233, in denen 8.530 Personen wohnen.
Wir haben keine Möglichkeit, die Anzahl der Prostituierten festzustellen, aber es gibt vermutlich um die 1.200 von ihnen, der überwiegende Teil lebt unter ärmsten Bedingungen. Die Armenhäuser der Unterschicht werden überwiegend von Prostituierten, Dieben und Vagabunden frequentiert, da es für sie keine anderen Alternativen gibt und kein Gesetz existiert, um ihr Zusammentreffen dort zu verhindern. Ich fürchte, dass, indem man die Bordellbetreiber versucht aus manchen Gegenden zu vertreiben, sich die Stimmung in London verschlechtern wird, denn solange die Nachfrage besteht, ist es unmöglich, das Angebot unter Kontrolle zu bringen.«'6
Diesen Zuständen stand in dieser Zeit eine Polizeimacht entgegen, über die selbst die Dortmunder Nachrichten berichteten: »In dem Augenblick, wo die Thätigkeit der Londoner Polizei in Folge der jüngsten Straßenmorde im Ostend der Hauptstadt in erhöhten Maße in Anspruch genommen wird, ist der soeben erschienene Bericht des Polizeichefs, Sir Charles Warren, für das Jahr 1887 nicht ohne Interesse. Die hauptstädtische Polizei zählte darnach am 31. Dezember 1887 im Ganzen 12.460 Mann, nämlich 26 Ober-Aufseher, 766 Inspekteure, 1.174 Sergeanten und 10.494 Konstabler. Den Wachtdienst in den Straßen versehen bei Tage 8.773 Konstabler, und 60 pCt. dieser Anzahl ist für den Nachtdienst - von 6 Uhr Abends bis 6 Uhr Morgens - erforderlich. Die Thätigkeit der hauptstädtischen Polizei erstreckt sich über einen Flächenraum von 683 Quadratmeilen. Für den Jahressold der Polizei ist die Summe von 1.096.277 £strl ausgeworfen. Seit 1849, in welchem Jahre die hauptstädtische Polizei nur 5.493 Mann stark war, sind in London 508.852 neue Häuser gebaut worden und neue Straßen und Plätze entstanden, welche eine Ausdehnung von 1.833 (engl.) Meilen haben, während die Bevölkerung von 2.473.758 auf 5.476.447 Seelen stieg. Der Polizei-Chef betont in seinem Bericht an den Minister des Inneren, dass infolge der rapiden Vergrößerung der Hauptstadt und des Wachsthums ihrer Bevölkerung eine Verstärkung der Polizeimacht dringend geboten sei.«'7
Dies war das Jahr 1888 in London, von dem man in Wetterberichten von einem trüben und lichtlosen Jahr und von besonderen Himmelserscheinungen spricht - einem blutroten oder grünen Himmel.
Es war aber auch ein Jahr, in dem ein unbekannter Killer durch die Straßen des East End wandelte und die armen Kreaturen Londons in Angst und Schrecken versetzte.
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»FURCHTBARER MORD IN WHITECHAPEL. FRAU ERSTOCHEN. KEINE SPUR VOM TÄTER.« titelte der East London Advertiser am 11. August 1888.
Martha Tabram, eine rundliche 40-jährige Frau, war wenige Tage zuvor im Treppenhaus eines Gebäudes im George Yard in einer großen Blutlache liegend, tot aufgefunden worden. Sie war übersäht mit Messereinstichen. Damit begann eine Mordserie, die in London, das als Millionenmetropole eigentlich an Mord und Totschlag gewohnt sein musste, ihresgleichen suchte. Im ausklingenden Sommer und Herbst 1888 mussten noch weitere Frauen aus dem Armenviertel Whitechapel ihr Leben lassen, getötet offenbar von ein und derselben Hand. 1888/89 rechnete man diesem einen Täter sechs bis zehn Morde zu. Nach heutigem Forschungsstand wird diese Zahl aber üblicherweise auf fünf begrenzt, die so genannten »Kanonischen Fünf«. Ein Name ist bis heute untrennbar mit der blutigen Spur, die sich durch das Londoner East End zog, verbunden: »Jack the Ripper« - ein Pseudonym, das der Täter sich in einem Brief an die Nachrichtenagentur »Central News Agency« vermeintlich selbst gegeben hatte.
Alle Opfer des Rippers waren Frauen und mit einer Ausnahme zwischen 40 und 50 Jahre alt, alle waren sehr arm, alle hatten Alkoholprobleme, alle außer einer hatten keinen ständigen Wohnsitz und alle gingen - zumindest gelegentlich - der Prostitution nach. Sie lebten und starben im Armenviertel von London, dem östlich gelegenen Whitechapel, das mit einem Geflecht von düsteren, engen, oftmals unbeleuchteten und mit Unrat übersäten Straßen durchzogen war. Whitechapel war ein Schmelztiegel gescheiterter Existenzen. Die Vita der Opfer zeigt, dass sie alle schon bessere Zeiten erlebt hatten. Keine von ihnen stammte ursprünglich direkt aus Whitechapel, aber sie alle waren doch in einer Spirale aus Arbeitslosigkeit, Alkoholsucht und gescheiterter Beziehungen im Londoner East End geendet.
Im Jahre 1888 setzte ein Unbekannter ihrem traurigen Dasein ein ebenso jähes wie brutales Ende. Tief in der Nacht lauerte er ihnen in den Straßen des East End auf: Vielleicht gab er sich als potentieller Freier aus, zumindest muss es ihm gelungen sein, das Vertrauen der Opfer zu gewinnen, denn sie gingen mit ihm stets an weniger belebte Orte. Dort muss er sich in wilder Raserei auf sie gestürzt haben. Er würgte sie und durchtrennte ihnen die Kehlen, einige der Opfer wurden auf das Schlimmste verstümmelt, sogar Organe schnitt der Täter aus den Leichen heraus und nahm diese als Trophäen mit. Das alles geschah direkt unter den Augen der Einwohner Whitechapels und so wunderte sich schon die Kölnische Zeitung: » [Die Menschen] können es nicht verstehen, wie ein solcher Mord möglich ist in einer Nachbarschaft, die zu den dichtest bevölkerten gehört, wo die Arbeit schon vor Tagesanbruch beginnt, wo ein beständiger Zu- und Abzug von Menschen stattfindet und wo der von oben bis unten mit Blut bespritzte Mörder nur durch ein Wunder wachsamen Augen entgehen kann.«'
Der Täter tauchte auf wie ein Phantom, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Mordserie mit einem Doppelmord in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1888, als »Jack the Ripper« innerhalb von einer Dreiviertelstunde zweimal zuschlug.
Die Polizei erwies sich in diesen Tagen als hilflos und überfordert. Trotz intensiver Bemühungen gelang es ihr nicht, dem Täter auf die Schliche zu kommen. Dem nicht genug, trafen in Londoner Polizeistationen und Nachrichtenagenturen Hunderte von Briefen ein, die vorgaben, von »Jack the Ripper« zu sein. In ihnen wurden nicht nur die Opfer verhöhnt, sondern auch die fruchtlose Arbeit der Polizei. Viele von den Briefen waren sicherlich makabere Scherze von Trittbrettfahrern, aber es gibt doch einige, bei denen es möglich wäre, dass sie tatsächlich vom Mörder stammten.
Der finale Schlusspunkt der Mordserie wurde am 9. November 1888 gesetzt, als der Ripper Mary Jane Kelly wie ein wildes Tier in ihrer eigenen Wohnung zerfleischte. Die Leiche war so entstellt, dass ihr ehemaliger Lebensgefährte sie nur noch anhand ihrer Augen und Ohren identifizieren konnte. Danach nahm das Morden in Whitechapel ein plötzliches Ende. Warum die Mordserie so abrupt abbrach, ist bis heute ebenso ungewiss wie die Identität des Täters.
Warum erregen die Morde von »Jack the Ripper« bis heute die Faszination vieler Menschen? »Jack the Ripper« war keinesfalls der erste Serienkiller der Geschichte, aber er war zum Ausklang des 19. Jahrhunderts - einer Zeit, in der die Zeitung als Massenmedium ihren endgültigen Durchbruch gefunden hatte - der erste Serienmörder, der weltweiten »Ruhm« erlangte. Seine Untaten sind selbst heute noch, obwohl sich unsere Augen oftmals fast zwangsläufig durch das Fernsehen an blutige Bilder gewöhnt haben, von entmenschter Grausamkeit. Sie haben sich in das kollektive Gedächtnis Londons, Großbritanniens, ja der ganzen Welt gebrannt: Nahezu jedermann auf dem Globus kennt gack the Ripper«, ein Name, der gleichsam kommerziell ausgeschlachtet wie romantisiert wird. Er hat unsere Vorstellungen vom viktorianischen London mit seinen nebelschwangeren Straßen, den über das Kopfsteinpflaster klappernden Kutschen und den in Zylinder und knielangem Mantel gekleideten Gentleman - neben Arthur Conan Doyle's Romanhelden Sherlock Holmes - wie vielleicht kein Zweiter geprägt. Zwei Aspekte faszinieren die Menschen seit jeher am Ripper: Seine blutigen Taten, die die Menschen in entsetzter Fassungslosigkeit zurücklassen, und das Mysterium, das ihn umgibt, da seine Identität bis heute unbekannt geblieben ist.
Die offiziellen Untersuchungen der Londoner Polizei endeten 1892, der Fall wurde zu den Akten gelegt. Das war aber keinesfalls das Ende der Bemühungen, die Identität des Mörders zu enthüllen. Seit nunmehr über 100 Jahren haben sich Hobby- wie Profifahnder - so genannte »Ripperologen« - daran gemacht, dem Rätsel des Whitechapel-Mörders auf die Spur zu kommen. Dabei sind im Laufe der Zeit die abenteuerlichsten Theorien aufgeworfen worden, die zwar viel zur weiteren Legendenbildung beigetragen haben, bei den sachlichen Bemühungen zur Identifizierung des Täters aber mehr Verwirrung gestiftet haben, als dass sie zur Aufklärung hätten beitragen können. Die Liste der Verdächtigen ist so mit den Jahren um ein Vielfaches erweitert worden, teilweise mit ebenso obskuren wie unhaltbaren Theorien, etwa Personen wie den »Elefantenmenschen« John Merrick, den zeitgenössischen Darsteller des Theaterstückes »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« Richard Mansfield, den Autor von »Alice im Wunderland« Lewis Carroll oder als weiblichen Täter >01 the Ripper« zu verdächtigen.
Ist es denn überhaupt möglich, nachdem die Morde nunmehr über 100 Jahre her sind, etwas Neues über »Jack the Ripper« herauszufinden?
In der Tat besteht diese Möglichkeit, und gerade in den letzten 25 Jahren haben wir die meisten Informationen über die Whitechapel-Morde erhalten. In nahezu steter Regelmäßigkeit tauchen Dokumente auf, die mehr Licht in den Fall bringen. Einer der bekanntesten Funde war der Autopsiebericht des letzten Ripper-Opfers Mary Kelly im Jahre 1987. Das Auffinden solcher Aktenstücke beweist, dass auch nach über 100 Jahren der Fall weiterhin lebendig bleibt und das Interesse an den Ripper-Morden vielleicht heutzutage größer ist, als es jemals seit dem Jahre 1888 war.
Leider ist die Historiographie um »Jack the Ripper« auch eine Geschichte von Fälschungen, Halbwahrheiten und Lügengeschichten.' Das Anliegen dieses Buches ist es, einen wertfreien und nüchternen Rückblick auf die damaligen Ereignisse zu geben, ohne dass versucht wird, krampfhaft eine Theorie zu einem speziellen Verdächtigen zu untermauern, wie es fast ausnahmslos in der heutigen Literatur zu gack the Ripper« zu finden ist. Nach all den Büchern über »Jack the Ripper« mit solch verheißungsvollen Untertiteln wie »des Rätsels Lösung«, »die blutige Wahrheit«, »the simple truth«, »case closed«, »the final solution« oder »the mystery solved« muss doch ernüchternd festgestellt werden, dass kein Einziges dieser Bücher tatsächlich die Identität des Rippers zweifelsfrei klären konnte. Letztlich blieb jeder Lösungsansatz Spekulation.
Publikationen, in denen kein einzelner Verdächtiger im Fokus des Interesses steht und die dadurch nicht Gefahr laufen, Fakten zu verdrehen, zu verfälschen, wegzulassen oder einseitig darzustellen, können an einer Hand abgezählt werden. Für den deutschsprachigen Büchermarkt gab es bisher überhaupt keine Veröffentlichungen dieser Art, denn in den wenigen aus dem Englischen übersetzten Werken versuchten die Autoren stets, ihren Verdächtigen »durchzuboxen«. Letztes Beispiel war das Buch von Patricia Cornwell über Walter Sickert, das von der Fachgemeinde der Ripperologen verrissen wurde.
Bisher gab es also weder ein objektives deutschsprachiges Buch über »Jack the Ripper« noch gab es überhaupt eins, das von deutschen Autoren geschrieben wurde,3 sondern lediglich übersetzte Werke. Dieses Buch wird diese Lücke schließen: Der Leser erhält eine sehr detaillierte Darstellung über die Londoner Mordserie, nahezu allein rekonstruiert auf Basis der damaligen Polizeidokumente und Zeitungsartikel. Hier ist insbesondere erwähnenswert, dass erstmals in der Ripper-Forschung auch der zeitgenössische deutsche Pressespiegel ausgewertet wurde.
Zu guter Letzt werden einige Tatverdächtige vorgestellt, ohne sich dabei auf einen Einzelnen fokussieren zu wollen. Alle jemals mit den Ripper-Morden in Verbindung gebrachte Verdächtige erschöpfend vorzustellen ist nahezu unmöglich. Es sind mittlerweile über 150 Personen, sodass eine Vorauswahl getroffen werden musste, die sich mehr oder weniger auf die allgemein anerkannten »heißesten« Kandidaten beschränkt. Das Leserpublikum sollte schlussendlich für sich selbst in der Lage sein, zu entscheiden, bei welchem Tatverdächtigen die Verdachtsmomente am schwersten wiegen.
London, 1888
»Die Traurigen, die Kranken und die Hilflosen.«
(Thomas Archer in »The Terrible Sights of London«, 1870.)
Das 19. Jahrhundert kann zweifelsohne als ein englisches bezeichnet werden. Zwar hatte Großbritannien Ende des 18. Jahrhunderts in den Unabhängigkeitskriegen große Teile seiner nordamerikanischen Besitztümer verloren, aber im Laufe des 19. Jahrhunderts konnte es riesige Gebiete, vor allem in Afrika und Asien, hinzugewinnen. Die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen verbanden sich mit einer vom Puritanismus beeinflussten Überzeugung eines britischen Sendungsbewusstseins, mit dem man Fortschritt und Zivilisation in die Welt »exportieren« wollte: Thomas Carlyle, englischer Historiker und Philosoph, begründete die britische Weltmission und Sir Charles Dilke, Politiker und Schriftsteller, entwarf das Bild eines »Greater Britain« in einer »täglich englischer werdenden Welt«.
Schon Ende des 18. Jahrhunderts begann der wirtschaftliche Aufschwung Großbritanniens. Zwischen 1760 und 1830 war das Vereinigte Königreich für rund zwei Drittel des europäischen Anstiegs des Produktionsvolumens verantwortlich und sein Anteil an der Weltindustrieproduktion stieg stetig an. Mit Einsetzen der industriellen Revolution baute die Britische Insel ihren Wirtschaftsvorsprung weiter aus und um 1860, als das Land vermutlich auf seinem relativen wirtschaftlichen Höhepunkt angelangt war, förderte das Vereinigte Königreich mehr als die Hälfte des weltweiten Eisen- sowie Stein- und Braunkohlebedarfs. Großbritannien alleine beherrschte rund 20 Prozent des Welthandels und war für einen Großteil des Handels mit Industriegütern verantwortlich. Über ein Drittel der Handelsmarine fuhr unter britischer Flagge. 1888 standen rund 20 Prozent der Erdoberfläche und circa 25 Prozent der Erdbevölkerung unter britischer Herrschaft. Das Verhältnis zwischen der Fläche Großbritanniens und seiner Kolonien maß sich auf rund 1:94. Diese glänzende Epoche des britischen Empire trug den Namen seiner Herrscherin4: das Viktorianische Zeitalter. Zentrum dieses Weltreiches war die Metropole London. Doch der Aufstieg Großbritanniens kam einher mit den Schattenseiten der Industrialisierung, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer offensichtlicher wurden: Ein durch die Industrialisierung erschaffenes Arbeiter-Heer, arm und ungebildet, strömte in der Hoffung auf ein besseres Leben aus allen Himmelsrichtungen nach London, um sich hier vor allem in Tower Hamlets anzusiedeln.
Dieser Bezirk von nur wenigen Quadratkilometern, der aber die meisten Armenviertel Londons umfasste, schloss die Gemeinden Whitechapel5 mit Spitalfields, Stepney, St. George's in The East mit Wapping, Limehouse, Poplar, Mile End Old- und New Town, Bow sowie Bromley ein. Zur damaligen Zeit sprach man allerdings nur noch vom verruchten und dreckigen East End.
Eine natürliche Trennung von anderen Bezirken Londons erfolgte auf der östlichen Seite durch den Fluss Lea, auf der nördlichen Seite durch die Stadtteile Hackney und Shoreditch, die City von London markierte die westliche Grenze und die Themse floss auf der südlichen Seite.
Trotz der geringen geografischen Größe ist es erstaunlich, dass man in diesem Areal um 1888 etwa 500.000 Bewohner erfasste. Davon lebten 35 Prozent unter der Armutsgrenze, 13 Prozent der Einwohner vegetierten in einem Zustand der Verwahrlosung und blickten täglich dem Hungertod ins Auge.6
Im 17. Jahrhundert war der östliche Teil Londons ein elegantes, angesehenes Viertel mit Wiesen, Gärten und Obsthainen und lebte von der Seidenweberei. Im Zuge der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts verlagerte sich dieses Gewerbe allerdings immer mehr in große, anonyme Fabrikhallen, sodass sich die Produktionsbedingungen enorm änderten. Die Millionenmetropole zog tausende unqualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt magisch an, die hier eine neue Heimat fanden. Dies hatte zur Folge, dass zwar genügend Arbeitskräfte vorhanden waren, allerdings zu wenige freie Stellen. Im East End herrschte somit ein Gemisch aus verschiedenen Kulturen und der ehrwürdige, arbeitsame Bürger lebte im Kreise von gescheiterten menschlichen Existenzen.
Im Laufe der Zeit verkam der ganze Distrikt immer mehr, und vom einstigen Glanz war bald nichts mehr zu sehen. Die schönen, hölzernen Verzierungen der Häuser und Gartenzäune wurden abgerissen und als Feuerholz benutzt. Der Müll der Bewohner wurde achtlos auf die Straßen geschmissen, und so dauerte es nicht lange, bis es überall vor Flöhen und Ratten nur so wimmelte. Fließendes Wasser gab es in keinem Haushalt,
lediglich Tränken, die sich Mensch und Vieh zum Waschen und Trinken teilen mussten. Metzger schlachteten ihre Tiere auf der Straße, und der Gestank muss, gemischt mit dem Geruch menschlicher Fäkalien, an heißen Tagen nahezu unerträglich gewesen sein.
Kinderprostitution war allgegenwärtig, was sich unter anderem darauf zurückführen lässt, dass erst im Jahre 1885 ein Gesetz7 zum Schutze von Kindern erlassen wurde, welches besagte, dass ein sexuelles Verhältnis mit einem Mädchen unter 13 Jahren als Straftat galt. Der Geschlechtsverkehr mit Mädchen im Alter von 13 bis 16 Jahren wurde nun zumindest als Ordnungswidrigkeit geahndet. Fehlender Informationsfluss und Ignoranz vonseiten eines Großteils der männlichen Bevölkerung führten dazu, dass Kinder trotz allem offen auf der Straße ihre Körper verkaufen mussten. Oft war dies die einzige Möglichkeit dem Hungertod zu entgehen, sodass selbst Mütter ihre Kinder auf die Straße schickten, um aus deren Jugend Kapital zu schlagen. Mitunter hörte man, wie Kinder von Männern aus dem West End vor die Wahl gestellt wurden: »verhungern oder sündigen«.8
Die Kriminalitätsrate stieg zu dieser Zeit enorm an und Trickbetrügereien, Diebstahl sowie Schlägereien waren an der Tagesordnung. Viele Frauen verkauften, um überleben zu können, ihre Körper für ein paar Pennies auf der Straße. Illegale Zuhälterbanden, wie beispielsweise die »Old Nichols Gang«, behandelten diese Frauen als ihr Eigentum, und das Abschneiden eines Fingers war noch eine der geringeren Strafen für eine »Ungehorsame«.
Die unterbesetzte Polizei stand diesen Begebenheiten machtlos gegenüber und griff vor allem direkt im Herzen von Whitechapel oder Spitalfields in den seltensten Fällen ein. Man vermied es sogar, in den schlimmsten Straßen, Flower and Dean Street und Dorset Street, Patrouille zu laufen. Den Ordnungshütern zollten die Anwohner keinen Respekt und es war nicht ungewöhnlich, dass Polizisten der H-Division, wie die Polizeiwache in Whitechapel genannt wurde, selbst Ziel von Angriffen wurden. Die einzige Möglichkeit, sich zu verteidigen, bestand darin, den am Gürtel befestigten Gummiknüppel herauszuziehen und einzusetzen. Die weitere Ausstattung der so genannten »Streifen« war recht spärlich und bestand lediglich aus einer Trillerpfeife, um Kollegen ein Verbrechen oder die Bitte um Unterstützung signalisieren zu können, sowie einer schwachen Gaslampe, die nicht annähernd hell genug war, um dunkle Ecken auszuleuchten.
Da viele Frauen in den Armenvierteln keine feste Bleibe hatten und ihre täglich aufs Neue zu bezahlenden Übernachtungsstätten oft wechselten, trugen sie meist ihr ganzes Hab und Gut bei sich. So war es in den Straßen des East End ein allgegenwärtiger Anblick, einer Frau zu begegnen, die drei Kleider übereinander trug. Der Statistiker, Romanschreiber und Gründer der englischen Satirezeitung Punch, Henry Mayhew, schrieb die Aussage einer anonymen Straßenprostituierten nieder, welche die verzweifelte Lage dieser armen Geschöpfe bildhaft wiedergibt. »Ihr Leute mit Ehre und Charakter und Gefühlen und so weiter, Ihr könnt nicht verstehen, wie man das alles aus uns herausgeprügelt hat. Ich fühle nichts, ich bin daran gewöhnt. Einmal habe ich gefühlt, besonders als meine Mutter gestorben ist ... Ich habe geweint und mich aufgeführt, aber Herrgott, was nützt es, wenn ich mich aufrege? Ich bin auch nicht glücklich. Es ist kein Glück, aber ich krieg genug Geld zum Essen und Trinken, und das Trinken vor allem hält mich aufrecht. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich auf meinen Gin freue, der ist für mich alles. Ich glaube nicht, dass ich lange leben werde, und das freut mich auch. Ich sehne mich aber auch nicht genug nach dem Sterben, um mich umzubringen.«9
Keiner konnte ahnen, dass sich in nicht allzu ferner Zukunft ein »unabhängiges Genie«, wie »Jack the Ripper« von George Bernard Shaw' genannt wurde, dazu berufen fühlte, diese Frauen von ihrem Leid zu »erlösen« und damit gleichzeitig auf die katastrophalen Zustände im East End aufmerksam machte. Am 24. September 1888 verfasste Shaw folgenden Brief an den Star:
»Während wir, die konventionellen Sozialdemokraten, unsere Zeit an Erziehung, Agitation und Organisation verschwendeten, hat irgendein unabhängiges Genie die Sache in die Hand genommen und dadurch, dass es einfach vier Frauen tötete und ausweidete, die das Privateigentum vertretende Presse zu einer Art von unvernünftigem Kommunismus bekehrt.""
Die Unterkunftsmöglichkeiten waren im Allgemeinen katastrophal. In einem typischen Haushalt war es nicht ungewöhnlich, dass sechs bis zehn Personen auf engstem Raum zusammenwohnten. Die erwachsenen Töchter und Söhne schliefen auf dem Fußboden. In keiner dieser Wohnungen gab es mehr als ein Bettgestell und die Toilette musste man sich mit anderen Hausbewohnern teilen. Die sanitären Anlagen waren allerdings so dreckig, dass es die Bewohner vorzogen, ihre Nachttöpfe zu benutzen und diese oft tagelang in den Wohnungen stehen ließen, bevor sie im Hinterhof entleert wurden»
Andrew Mearns beschrieb in einem Leitartikel in der Pall Malt Gazette die so genannten Kellerwohnungen, in denen meist »ein oder zwei Familien mit ihren Kindern hausten. In einem dieser besagten Keller fand ein Sanitärbeauftragter Mutter, Vater, drei Kinder und vier Schweine. Die Frau erholte sich gerade von ihrer achten Geburt und die Kinder rannten halbnackt und mit Dreck beschmutzt umher. In einer anderen Wohnung lebten sieben Menschen miteinander, und unter ihnen lag der Körper eines toten Kindes.«'3 Solch erbärmliche Zustände waren für die damaligen Verhältnisse normal, und über 50 Prozent der Kinder starben an Krankheiten oder Unterernährung, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichten.
Eine ausgewogene Ernährung leistete man sich nur, wenn gerade genügend Geld erübrigt werden konnte. Die typische Nahrung im East End bestand allerdings üblicherweise aus Bruchzwieback, da dieser billiger zu haben war als ein ganzes, unversehrtes Stück, und Gin. Gelegentlich leistete man sich auch einen getrockneten Fisch oder heiße Kartoffeln." Viele Einwohner hatten keine feste Bleibe und die preiswerteste Alternative war es - wenn man nicht auf der Straße schlafen wollte -, in einem Gasthaus für Arme (einem so genannten »Doss House« oder »Common Lodging House«) zu übernachten, aufrecht an eine Wand gelehnt. Eine Wäscheleine verhinderte, dass die Schlafenden vornüber fielen. Das Aufwecken war im Vergleich zum Schlafen noch wesentlich unangenehmer, denn der Quartiersbesitzer oder -verwalter löste einfach die Leine und sah zu, wie die ganze Personenreihe nach vorne kippte. Dieses »Schlafvergnügen« kostete den Besucher ein oder zwei Pennies.'5 Vergleicht man dies mit dem Verdienst für 17 Stunden Streichholzschachteln-Kleben oder Säcke-Knüpfen, für das man zehn Pennies als Lohn erhielt, erklärt dies auf recht einfache Art und Weise, warum es viele Frauen vorzogen, auf der Straße als Prostituierte zu arbeiten, um dort für ihre Dienste zwei oder drei Pennies zu verdienen.
Da viele der Einwohner im Genuss von Alkohol die einzige Möglichkeit sahen, dem Alltag zu entfliehen, war es nicht ungewöhnlich, dass man sein Geld lieber in billigen Gin investierte, als sich eine Bleibe für die Nacht zu suchen. Damals hatten Pubs in London, wie auch heute wieder, von frühmorgens bis spät in die Nacht geöffnet, und Alkohol war ziemlich günstig und fast ununterbrochen zu erwerben. Um ein gewisses Auskommen zu sichern, vermieteten Bewohner sogar ihre eigenen Wohnungen, egal zu welcher Jahreszeit, stundenweise an Prostituierte,
was zur Folge hatte, dass sich viele Menschen bis in die frühen Morgenstunden auf der Straße aufhalten mussten. Prostitution wurde damals zwar häufig geduldet, weil man sie sowieso nicht unter Kontrolle bringen konnte, trotzdem wurde das älteste Gewerbe der Welt als illegal eingestuft und von der Polizei mehr oder minder schwer geahndet. Aus diesem Grund musste eine Prostituierte in Bewegung bleiben, denn wenn sie länger an einem Ort verharrte, konnte sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ohne weiteres verhaftet werden. Die Christ Church, deren physische Präsenz die Gemeinde Spitalfields überragte, war ein beliebter Ort für Prostituierte auf der Suche nach einem Freier. Nicht selten traf man hier am späten Abend und in der Nacht sehr viele Frauen an, die die Kirche ununterbrochen umkreisten und nur auf ein Glas Gin zum Aufwärmen in den nahe gelegenen »Ten Bells Pub« gingen oder den Platz verließen, wenn sie erfolgreich einen »Kunden« überzeugen konnten.
Viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung gab es für die Einwohner in den Armenvierteln Londons nicht. Zwar fanden regelmäßig Theateraufführungen statt, doch nur wenige konnten sich das Eintrittsgeld leisten. So wurden die Aufführungen der »Buffalo Bill«-Show und das Theaterstück »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, das im Jahre 1888 Uraufführung in London feierte, meist nur von den besser verdienenden Einwohnern der Metropole besucht. Seine Freizeit verbrachte man mit Bekannten oder der Familie in den nahe gelegenen Pubs, um dort das hart verdiente Geld in Alkohol zu investieren. Zynischerweise wurden die Einwohner des East End bald selbst zur Hauptattraktion, denn von den Morden fasziniert, fuhren in regelmäßigen Abständen verzierte Kutschen der reicheren Bevölkerung aus anderen Teilen Londons durch den Ostteil der Stadt, um sich an den Tatorten des Rippers und den Lebensumständen der »Ausgestoßenen« zu ergötzen.
In einem internen Bericht an das Innenministerium im Oktober 1888 berichtete Sir Charles Warren, Chef der Metropolitan Police, von den Zuständen im East End:
»Bisher gab es keine Schätzungen über die Anzahl der Bordelle in London, aber in den letzten Monaten habe ich die Beobachtungen von Streifenpolizisten zusammengezählt und bin zum Entschluss gekommen, dass es allein 62 Bordelle im Bezirk der Whitechapel-Division gibt, vermutlich aber eine weitaus größere Anzahl derartiger Etablissements. Die Anzahl der Armenhäuser beträgt 233, in denen 8.530 Personen wohnen.
Wir haben keine Möglichkeit, die Anzahl der Prostituierten festzustellen, aber es gibt vermutlich um die 1.200 von ihnen, der überwiegende Teil lebt unter ärmsten Bedingungen. Die Armenhäuser der Unterschicht werden überwiegend von Prostituierten, Dieben und Vagabunden frequentiert, da es für sie keine anderen Alternativen gibt und kein Gesetz existiert, um ihr Zusammentreffen dort zu verhindern. Ich fürchte, dass, indem man die Bordellbetreiber versucht aus manchen Gegenden zu vertreiben, sich die Stimmung in London verschlechtern wird, denn solange die Nachfrage besteht, ist es unmöglich, das Angebot unter Kontrolle zu bringen.«'6
Diesen Zuständen stand in dieser Zeit eine Polizeimacht entgegen, über die selbst die Dortmunder Nachrichten berichteten: »In dem Augenblick, wo die Thätigkeit der Londoner Polizei in Folge der jüngsten Straßenmorde im Ostend der Hauptstadt in erhöhten Maße in Anspruch genommen wird, ist der soeben erschienene Bericht des Polizeichefs, Sir Charles Warren, für das Jahr 1887 nicht ohne Interesse. Die hauptstädtische Polizei zählte darnach am 31. Dezember 1887 im Ganzen 12.460 Mann, nämlich 26 Ober-Aufseher, 766 Inspekteure, 1.174 Sergeanten und 10.494 Konstabler. Den Wachtdienst in den Straßen versehen bei Tage 8.773 Konstabler, und 60 pCt. dieser Anzahl ist für den Nachtdienst - von 6 Uhr Abends bis 6 Uhr Morgens - erforderlich. Die Thätigkeit der hauptstädtischen Polizei erstreckt sich über einen Flächenraum von 683 Quadratmeilen. Für den Jahressold der Polizei ist die Summe von 1.096.277 £strl ausgeworfen. Seit 1849, in welchem Jahre die hauptstädtische Polizei nur 5.493 Mann stark war, sind in London 508.852 neue Häuser gebaut worden und neue Straßen und Plätze entstanden, welche eine Ausdehnung von 1.833 (engl.) Meilen haben, während die Bevölkerung von 2.473.758 auf 5.476.447 Seelen stieg. Der Polizei-Chef betont in seinem Bericht an den Minister des Inneren, dass infolge der rapiden Vergrößerung der Hauptstadt und des Wachsthums ihrer Bevölkerung eine Verstärkung der Polizeimacht dringend geboten sei.«'7
Dies war das Jahr 1888 in London, von dem man in Wetterberichten von einem trüben und lichtlosen Jahr und von besonderen Himmelserscheinungen spricht - einem blutroten oder grünen Himmel.
Es war aber auch ein Jahr, in dem ein unbekannter Killer durch die Straßen des East End wandelte und die armen Kreaturen Londons in Angst und Schrecken versetzte.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Karl Häusler , Volkmar Schneider , Toni Feller , Thomas Schachner , Hendrik Püstow
- 876 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4026411113838
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