Bebelplatz
Roman
In einer Sprache, in der 3000 Jahre jüdischer Schriftkultur mitschwingen, denkt Chaim Be'er über die Passion des Schreibens nach - so leidenschaftlich, so selbstkritisch, klug und gespickt mit Anekdoten, dass dieser Roman jeden Zweifel an der Überlebensfähigkeit des Buches seiner Grundlage beraubt.
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Produktinformationen zu „Bebelplatz “
In einer Sprache, in der 3000 Jahre jüdischer Schriftkultur mitschwingen, denkt Chaim Be'er über die Passion des Schreibens nach - so leidenschaftlich, so selbstkritisch, klug und gespickt mit Anekdoten, dass dieser Roman jeden Zweifel an der Überlebensfähigkeit des Buches seiner Grundlage beraubt.
Klappentext zu „Bebelplatz “
Bücher haben mein Leben zerstört", bekennt Salomon Rappoport, Berliner Antiquar und Bücherjäger. Als er sieben Jahre alt war, entdeckte sein Vater die Spuren der Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz und erahnte, was kommt. Und doch ließ er Frau und Kind allein nach Amerika fliehen, weil die Liebe zu seinen Büchern, die er hätte zurücklassen müssen, unüberwindbar war. Rappoport ist eine der unvergesslichen Figuren, auf die der Erzähler in Berlin trifft. An seiner Seite besucht er die geschichtsträchtigen Orte dieser Stadt, die Gedenkstätte Gleis 17, die Villa der Wannseekonferenz, den Bebelplatz. Die Gespräche der beiden eröffnen ein ganzes Spiegelkabinett von topographischen, historischen, literarischen Beziehungen und führen zu der alten Frage nach der Berechtigung von Literatur: Kann man mit Blick auf das Haus der Wannseekonferenz sitzen und schreiben, während zu Hause der Libanonkrieg geführt wird? Wenn man so schreiben kann wie Chaim Be'er - kann man und muss man. Bebelplatzist ein notwendiges Buch, ein wichtiger Beitrag für das Verhältnis von Deutschen und Juden.
"Bücher haben mein Leben zerstört", bekennt Salomon Rappoport, Ber - liner Antiquar und Bücherjäger. Als er sieben Jahre alt war, entdeckte sein Vater die Spuren der Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz und erahnte, was kommt. Und doch ließ er Frau und Kind allein nach Amerika fliehen, weil die Liebe zu seinen Büchern, die er hätte zurücklassen müssen, unüberwindbar war.
Rappoport ist eine der unvergesslichen Figuren, auf die der Erzähler in Berlin trifft. An seiner Seite besucht er die geschichtsträchtigen Orte dieser Stadt, die Gedenkstätte Gleis 17, die Villa der Wannseekonferenz, den Bebelplatz. Die Gespräche der beiden eröffnen ein ganzes Spiegelkabinett von topographischen, historischen, literarischen Beziehungen und führen zu der alten Frage nach der Berechtigung von Literatur: Kann man mit Blick auf das Haus der Wannseekonferenz sitzen und schreiben, während zu Hause der Libanonkrieg geführt wird? Wenn man so schreiben kann wie Chaim Be'er - kann man und muss man. Bebelplatz ist ein notwendiges Buch, ein wichtiger Beitrag für das Verhältnis von Deutschen und Juden.
Rappoport ist eine der unvergesslichen Figuren, auf die der Erzähler in Berlin trifft. An seiner Seite besucht er die geschichtsträchtigen Orte dieser Stadt, die Gedenkstätte Gleis 17, die Villa der Wannseekonferenz, den Bebelplatz. Die Gespräche der beiden eröffnen ein ganzes Spiegelkabinett von topographischen, historischen, literarischen Beziehungen und führen zu der alten Frage nach der Berechtigung von Literatur: Kann man mit Blick auf das Haus der Wannseekonferenz sitzen und schreiben, während zu Hause der Libanonkrieg geführt wird? Wenn man so schreiben kann wie Chaim Be'er - kann man und muss man. Bebelplatz ist ein notwendiges Buch, ein wichtiger Beitrag für das Verhältnis von Deutschen und Juden.
Lese-Probe zu „Bebelplatz “
Bebelplatz von Chaim Be'er Der Anfang der Begebenheiten, von denen ich in diesem Buch
erzählen möchte, steckt im Schluss eines anderen Buches, das
ich geschrieben habe, ähnlich wie der Schwanz in den Zähnen
jenes mythologischen Urtieres - unklar ob Drache oder Leviathan -
steckt, dessen Bild Veronika mir auf der Terrasse eines Restaurants
am Savignyplatz zeigte, während sie ihre kleine Tochter in den Armen
wiegte.
Die Wiederbelebung jenes früheren Buches verdanke ich in erster Li-
nie Sussman. Wäre er mir nicht im richtigen Moment begegnet, hätte
das Buch vermutlich noch eine Weile in den letzten Zügen gelegen und
wäre schließlich eingegangen.
Wie oft schon hatte ich, meist in den Semesterferien, mit Hoffen
und Zagen die Aktenmappe hervorgeholt, auf die ich allen Warnungen
meiner seligen Schwiegermutter zum Trotz leichtsinnig bereits
seinen Titel geschrieben hatte. Bis heute klingen mir ihre Worte in
den Ohren: »Ungeborenen gibt man keinen Namen. Kinder bekom-
men ihren Namen erst, wenn sie draußen sind.« Die Mappe enthielt
die ersten Kapitel, von meiner Frau in einem Anflug von Edelmut für
mich abgetippt, und Entwürfe für ein weiteres Kapitel, das meine wie-
derholt gescheiterten Versuche dokumentierte, einen Wendepunkt
in der Handlung herbeizuführen. Meine Hoffnung, dass daraus doch
noch ein Buch würde, gründete sich auf Dutzende neuer Zettelchen,
die ich seit dem letzten Wiederbelebungsversuch in diese Mappe
gelegt hatte: Dialogfetzen, auf die Rückseiten von Rechnungen, Vi-
siten- und Eisenbahnkarten notiert, sowie Anekdoten von Bouqui-
nisten und Büchersammlern, die ich beim Schreiben einflechten
wollte.
... mehr
Lange versuchte ich, den Roman aus meinen Entwürfen zu bergen.
Als meine Hoffnung auf einen rettenden Fingerzeig von oben zunichte
wurde, verlegte ich mich auf die Technik der Collage, mischte
die Blätter immer wieder neu und versuchte, sie zu einem Mosaik zusammenzufügen.
Doch in Ermangelung einer Kraft, die die Teilchen
einer inneren Gesetzmäßigkeit folgend anzog und sie um sich herum
ordnete wie ein Magnet verstreute Eisenspäne, blieben sie weiterhin
zusammenhanglose Schnipsel.
Im Winter des letzten Jahres, es waren die ersten Januartage des
Jahres 2005, als ich schon drauf und dran war, mich mit dem traurigen
Schicksal von Wörter ohne Land - so sollte mein Buch heißen -
abzufinden, rief Sussman an.
»Teurer Freund, schenken Sie mir doch bitte einen Augenblick
Ihrer kostbaren Zeit«, begann der mir unbekannte Anrufer. Die höfliche
Zurückhaltung, in die er seine Bitte hüllte, konnte jedoch nicht
den leisen Befehlston verbergen, der nahelegte, dass es sich um eine
sehr vermögende oder einflussreiche Person handelte, bei der jeder
Wunsch einem Befehl gleichkam, den man nicht verweigern oder
ignorieren konnte. Mit seinen äußerst feinen Sinnen bemerkte er
mein Schweigen, deutete es als zögernde Ablehnung und fügte sogleich
hinzu: »Ich werde bei Euch mit meinem Stock und meinem Geld erscheinen,
an jedwedem Ort und zu jedweder Zeit, die Ihr verlangt.«
»Mit Ihrem Geld können Sie gern bei mir vorbeikommen«, flachste
ich, nicht ahnend, dass ich da etwas Prophetisches aussprach, und
zitierte weiter: »aber es soll an dem Tag geschehen, auf den nach Eurer
Berechnung der Versöhnungstag fällt.«
Hier muss ich erklären, warum ich meine anfängliche Zurückhaltung
so schnell aufgab und so bereitwillig auf seine Bitte einging.
Während des kurzen Telefonats hatte ich gemerkt, dass Sussman,
genau wie ich, seine Jugend in einer Talmudschule verbracht hatte,
denn für jeden, dem der Talmud einmal zum Codebuch seiner Sprache
wurde, ist die Wortverbindung »mit meinem Stock und meinem Geld«
nicht einfach ein blumiger Ausdruck, sondern ein Zitat, das auf eine
der dramatischeren Szenen des Talmuds verweist. An einem Jahresanfang
nämlich, an dem stets das genaue Datum des Neumonds bestimmt
werden muss, damit alle weiteren Feiertage des kommenden
Jahres festgelegt werden können, behauptete Rabbi Jehoschua in einer
Disputation mit dem Oberhaupt des Gerichtshofes Rabban Gamliel,
dessen genaue Bestimmung des Neumondtages beruhe auf einem
Fehler. Er habe sich auf falsche Zeugen gestützt, die ihn absichtlich in
die Irre geführt hätten. Rabban Gamliel erkannte, dass sein Kollege
im Recht war, doch um die Glaubwürdigkeit des Gerichtshofes nicht
zu erschüttern, wollte er unmissverständlich demonstrieren, dass
diese Entscheidung, auch wenn sie auf einem Fehler beruhte, schon
geschehen und unwiderruflich war. So verlangte er von dem weitaus
gelehrteren Rabbi Jehoschua, er solle an dem Tag, den dieser als
den Versöhnungstag errechnet hatte, mit Stock und Geld, also wie an
einem gewöhnlichen Werktag, zu ihm kommen, was dieser auch gehorsam
tat, aus Sorge, dass ein Zweifel an der Autorität des Gerichtspräsidenten
das ganze System gefährden würde. Dieser Marsch des
Rabbi Jehoschua nach Jawne am heiligsten Ruhetag, den er damit auf
Anweisung von höchster Stelle entheiligte, und der Ausdruck »mit
meinem Stock und meinem Geld« wurden seitdem zu einer stehenden
Wendung für die ehrliche Anerkennung der Amtsmacht einer Person,
deren Autorität man nicht in Zweifel zieht, selbst wenn sie sich ganz
offensichtlich irrt.
Sussmans höfliche Worte vermochten wie gesagt nicht, den unangenehm
herrischen Unterton seiner Stimme zu verbergen, doch sein
Eingeständnis, dass er trotz seiner gesellschaftlichen Stellung - über
die ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts Genaues wusste - nicht allmächtig
war und dass auch er, wenn er Hilfe brauchte, sich vor seinem
Nächsten beugen würde, weckte mein Mitgefühl, und so erklärte ich
mich bereit, ihn zu uns nach Ramat Gan einzuladen, obgleich ich meinem
getreuen Kant versprochen hatte, meine wenige freie Zeit nicht
mit strapaziösen Nervtötern zu verschwenden, sondern mich meinem
festgefahrenen Roman zu widmen.
An dieser Stelle ist eine weitere Erläuterung vonnöten: »Mein
getreuer Kant« - so nenne ich in Selbstgesprächen meine Frau, so
sehe ich sie vor meinem inneren Auge: als die Unbestechliche, Verlässliche,
die hellsichtige Philosophin, die mir immer wieder uneigennützig
den Weg der Vernunft zeigt und mich schon vor manchem
Fehltritt bewahrt hat. »Was glaubst du denn, wie viele Jahre dir hier
auf Erden noch gegeben sind?«, hatte sie mich oft attackiert und der
Reihe nach unsere Freunde und Bekannten aufgezählt, die schon gestorben
waren.
Als ich ihr abends von meinem Gespräch mit Sussman berichtete,
schaute sie mich verächtlich oder vielleicht auch mitleidig an und
sagte, ich sei wohl wieder einmal Opfer meines schwachen Charakters
geworden. Die Demut, die mein neuer Freund da an den Tag lege, sei
garantiert nur gespielt. »Wie heißt er?«, wollte sie wissen und begann
ein bisschen herumzutelefonieren. »Die Frau erkennt die Gäste besser
als der Mann«, zitierte sie etwas später einen Spruch der alten Weisen,
den sie noch bei Prof. Rappel am Lehrerseminar gelernt hatte, und
triumphierte, auch diesmal habe ihre weibliche Intuition sie nicht
getäuscht. Sussman sei ein berüchtigter Immobilienhai. Sein kometenhafter
Aufstieg beruhe auf zweifelhaften Grundstücksgeschäften in
Schottland. Deshalb und wegen der undurchdringlichen Nebelwand,
hinter der er sein Privatleben verberge, nenne man ihn im Wirtschaftsteil
der Zeitungen auch den »Aal von Loch Ness«. Zum Schluss
hielt mein getreuer Kant mir noch eine Moralpredigt und hoffte, ich
sähe jetzt selbst ein, dass diese gespielte Unterwürfigkeit nur eine
Taktik von Sussman war, um seine Verhandlungspartner dahin zu
bekommen, wo er sie haben wollte.
Als Sussman pünktlich zur vereinbarten Zeit bei uns erschien,
stand er in der Tür, senkte den Kopf und sagte, jetzt, nachdem er zu
mir gekommen sei, müsse ich mich auch genau wie Rabban Gamliel
vom Stuhle erheben und ihn aufs Haupt küssen.
»Friede mit dir, mein Lehrer und mein Schüler«, hieß ich ihn willkommen
und spitzte die Lippen in Richtung seiner Stirn, mit ähnlich
zeremonieller Anmut wie das Oberhaupt des Gerichtshofes gegenüber
seinem Kollegen.
»Mein Lehrer bist du, da du mich öffentlich Tora gelehrt hast, und mein
Schüler, da du meinen Befehl wie ein Schüler befolgt hast«, vollendete
Sussman die überlieferten Worte des Rabban Gamliel, wie ein Geheimagent
in einem alten Spionagefilm, der sich endgültig der Identität
seines Gegenübers versichert, indem er seine durchgerissene
halbe Dollarnote an die andere Hälfte in der Hand des Unbekannten
hält.
»Heil dem Zeitalter, in dem die Großen den Kleinen gehorchen, und umso
mehr die Kleinen den Großen«, zitierten wir beide, als ich ihn in der
Sitzecke unseres Wohnzimmers Platz nehmen hieß. Aus der Küche, wo
ich dann Kaffee kochte und etwas Gebäck bereitstellte, betrachtete ich
heimlich meinen Gast, der sich so große Mühe gab, mich mit seiner
talmudischen Belesenheit zu beeindrucken. Das schwere, fleischige
Gesicht war schon etwas erschlafft, in den Locken schimmerte schon
das Grau des Alters, doch seine vollen Lippen wirkten jugendlich und
voller Begehrlichkeit, und sein Blick, der eines potenziellen Ehebrechers,
schweifte über die Bücher und Zeitschriften, die sich auf
dem Tisch häuften. Wie Peter Ustinov, dessen Memoiren ich in diesen
Tagen las, sah er in diesem Moment aus.
Sussman blätterte missbilligend in dem neuen Roman, den mir
ein Kollege geschickt hatte, und fragte mich, was ich von ihm hielte.
Ich antwortete wie die Frau in dem alten Witz auf die Frage, wie ihr
Mann sei: »Geschmackssache. Mir zum Beispiel liegt er nicht so.« Der
Gast schob das Buch von sich und sagte, was wir unter uns noch klären
müssten, sei die Frage, wer wem gehorche, und fuhr fort: »Ich habe den
Eindruck dass Sie mir gehorcht haben, dass Sie also der Große sind, und
ich dagegen der Kleine bin«.
Mit einer Klugheit und Übung, die seine reiche Erfahrung im Verhandeln
bewies, übernahm mein Gast sogleich die Gesprächsführung.
Als Meister seines Fachs vermied er es, sich plump anzubiedern.
Weder stimmte er ein Loblied auf die Bücher an, um die ich die hebräische
Literatur bereichert hätte und die so viel bedeutender seien
als alles, was meine Kollegen schrieben, obgleich die zu Unrecht das
Lob der Kritiker und den Beifall des Publikums einheimsten, noch
bekundete er gespannte Vorfreude auf mein neues Buch, das so lange
auf sich warten ließ. Er verschwendete seine Zeit nicht auf belangloses
Geschwätz, um die Fremdheit zwischen uns zu überbrücken und
mich einzustimmen, aber er kam auch nicht direkt zur Sache. Vielmehr
stellte er zunächst sein Mobiltelefon stumm, nahm die schwere
Breitling vom Handgelenk, steckte sie in die Tasche und fragte mich
dann leise, ob die zögernde Ablehnung, die er bei unserem Telefonat
in meiner Stimme wahrgenommen habe, von einer Not zeuge, die zu
lindern er mir eventuell behilflich sein könne.
Dieser Ausdruck schlichter und praktischer Menschlichkeit, der
weder Herrschsucht, Neugierde noch die Absicht, sich einzumischen,
anhaftete, berührte mich so, dass ich ihm, ohne es zu wollen, ein
zweites Mal nachgab. Ich sagte, mein Schreiben bedrücke mich. Das
Buch, an dem ich arbeite, stecke in einer Sackgasse, und trotz großer
Anstrengungen gelinge es mir nicht, es auf die richtige Bahn zu setzen.
Noch während ich das sagte, reute es mich schon.
»Dann hören Sie mir mal zu«, sagte der Gast, und sein Blick folgte
der Sonne, die hinter den Wassertanks auf dem Nachbarhaus unterging,
»jetzt bin ich nämlich an der Reihe, Ihnen eine Geschichte zu
erzählen.«
Anfang der siebziger Jahre, als er an der Hochschule für Wirtschaft
und Betriebswirtschaftslehre in Edinburgh studierte, erzählte Sussman,
erschien der Finanzmarktexperte zu seiner letzten Vorlesung;
ein alter, etwas kauziger Mann, der sich aufgrund seines Hobbys als
begeisterter Insektenforscher weltweit einen Namen gemacht hatte
- eine der Wildbienenarten war nach ihm benannt. Er zog aus einer
alten Einkaufstasche zwei langhalsige Flaschen und erklärte, von ihm
aus dürften wir jetzt alles vergessen, was er uns ein Semester lang
beizubringen versucht habe, wenn wir nur das, was er uns jetzt zeigen
werde, behielten.
Er stellte die Flaschen, deren Öffnungen mit Gaze zugebunden
waren, aufs Pult. In der einen Flasche, sagte er, sei eine Fliege gefangen
und in der anderen eine Biene. Dann ließ er die schwarzen
Verdunklungsrollos herunterziehen und das Licht ausschalten. Im
dunklen Hörsaal knipste er eine Taschenlampe mit einem schmalen
Lichtkegel an und stellte sie etwas entfernt von den Flaschen auf.
»Wer, meinen Sie, kommt als Erste aus der Flasche?«, fragte er und
klopfte auf die Abdeckungen der Flaschen. »Die Biene«, meinten die
Studenten einstimmig, und als er fragte, warum, beeilte sich eine
Studentin, deren Familie eine Imkerei besaß, zu sagen: »Weil ihre Intelligenz
größer ist als die der Fliege.« »Dann wollen wir mal sehen«,
sagte der alte Professor und zog gleichzeitig die Gazestückchen von
den beiden Flaschen. Gespannt starrten alle auf die Flaschen. Nach
ein, zwei Minuten sah man, wie die Fliege durch den Lichtstrahl flog,
während die Biene immer wieder gegen das Flaschenglas stieß, auf das
Licht zuflog und zurückprallte. »Komm, meine Süße, jetzt lass ich dich
frei«, erklang die Stimme des Professors im Dunkeln, »wir wollen
ja nicht dein Leben auf dem Altar der wissenschaftlichen Neugierde
opfern.«
Nachdem die Rollos hochgezogen waren, fasste der Professor das
Ergebnis des Versuchs zusammen. Die Biene, die tatsächlich eine
höhere Intelligenz besitze, habe den Lichtstrahl sofort und völlig zu
Recht als Quelle ihrer Rettung erkannt, doch gerade ihre konsequente
Beharrlichkeit und Zielgerichtetheit sei ihr zum Verhängnis geworden.
Die Fliege dagegen, ein ganz dummes Insekt, habe dem Licht keine
Bedeutung beigemessen, sondern sei, ohne irgendwas zu denken, hin
und her geflogen, bis sie zufällig die Öffnung nach draußen fand.
»Auf den Finanzmärkten ist es wie im Leben. Sie müssen lernen,
Fliegen zu sein. Einigen von Ihnen wird das, wie ich schon beobachten
konnte, nicht sonderlich schwerfallen. Ein bisschen Dummheit hat
noch keinem geschadet, auch nicht den Klugen.« Dies war die Schlussfolgerung
des rotwangigen Schotten aus dem Experiment. Dann legte
er die Flaschen zurück in seine abgewetzte Tasche und verkündete, die
Stunde sei beendet.
Jetzt, etwa eineinhalb Jahre nach Sussmans Besuch in unserer Wohnung
in Ramat Gan, während ich hier in Berlin am Ufer des Wannsees
in meinem Zimmer sitze und meine Geschichte über Rafael Sussman
und Konsorten zu Papier bringe, eine Episode, die sich hauptsächlich
an ebendiesem Ort hier abgespielt hat, kam durch die Balkontür eine
kleine Wildbiene ins Zimmer geflogen. Interessiert inspizierte sie
erst das Foto von Bertolt Brecht an der Wand, auf dem man ihn neben
Helene Weigel mit seinem Hut winkend bei einer Veranstaltung
des Berliner Ensembles sieht, danach meinen bereits abgekühlten
Kaffeebecher, ruhte sich später eine ganze Weile auf dem Blatt aus,
auf das ich nach und nach diese Zeilen schrieb, umkreiste mich dann
wie bei einer Flugschau und schwirrte hinaus zum See und zu den ihn
umgebenden grünen Hügeln, die sich in einer Mischung aus atemberaubender
Schönheit und entsetzlicher Vergangenheit in der halb
offenen Glastür spiegelten. Gesegnet seist du, kleine Biene, denn du
hast mir ein prophetisches Zeichen für meinen ganzen Besuch hier gegeben:
Dein Flug hat meinen Blick gelenkt und mir gezeigt, wie nah die
Schönheit und der Schrecken jener Villa der Wannseekonferenz dort
gegenüber - der Name allein lässt mich erschaudern - beisammen
wohnen können.
»Zielstrebigkeit ist zweifellos eine hohe Tugend«, sagte der Immobilienmagnat,
»doch manchmal muss sie ihre übliche Gestalt ablegen
und eine andere Form annehmen. Statt eigensinnig den Kopf gegen
die Wand zu schlagen, muss man durch kreative Entspannung andere
Wege finden. Schließen Sie doch die Tür Ihres Arbeitszimmers,
lassen Sie Ihr Manuskript liegen und gondeln Sie ein bisschen durch
die Welt! Etwas Bewegung wird Ihnen nicht schaden. Vielleicht werden
Sie gerade in der Fremde Antworten auf die Fragen finden, die Sie
umtreiben.« Sussman richtete sich in seinem Sessel auf und fragte
nun ganz direkt, ob ich bereit sei, mir in zwei Wochen drei, vier Tage
freizunehmen und zu einem Treffen mit ihm nach Berlin zu kommen.
»Ich brauche dort Ihre Ideen«, sagte er und fügte eilig hinzu, er
werde während dieser Fahrt selbstverständlich für all meine Bedürfnisse
aufkommen.
Kühl und distanziert erzählte er mir, was ihm in den letzten Jahren
an Schlimmem widerfahren war, doch gerade diese Zurückhaltung
und Selbstbeherrschung ließen den Gefühlssturm ahnen, der da loszubrechen
drohte. Den Großteil der Führung seiner komplizierten
Geschäfte hatte er einem Team treuer Mitarbeiter übergeben, während
er seine meiste Zeit und Energie der Sache widmete, um derentwillen
er heute zu mir gepilgert war.
»Vor drei Jahren, fünf Monaten und achtundzwanzig Tagen ist es
passiert«, sagte Sussman und zeigte erschütternd nachdrücklich mit
den Fingern beider Hände, vor wie viel Jahren, Monaten und Tagen
seine erstgeborene Tochter Miri gestorben war. Bei passender Gelegenheit,
die sich gewiss bald ergebe, werde er mir erzählen, unter
welchen Umständen sie aus dieser Welt abberufen wurde. Seine vielen
Freunde, unter ihnen auch solche mit ähnlichem Schicksal, hatten
ihm am Ende der dreißigtägigen Trauerzeit, in der er fast verrückt
geworden war, die unterschiedlichsten Vorschläge gemacht, Miris
Andenken zu pflegen. Einige legten ihm nahe, auf ihren Namen einen
Fonds einzurichten, der mittellose Studentinnen unterstütze, andere
drängten ihn zu einer großzügigen Spende an ein Krankenhaus, wieder
andere wollten ihn überreden, Studientage einzurichten, ein Gedenkbuch
für sie herauszubringen oder gleich eine ganze Publikationsreihe
ins Leben zu rufen, die ihren Namen tragen könnte. Der Präsident
einer Universität versuchte ihn dazu zu bewegen, einen Lehrstuhl auf
ihrem Namen einzurichten. Doch er hatte sie alle abgewiesen.
»Für solches Zeug habe ich mich nie interessiert und tue es auch
heute nicht«, sagte mein Gast und biss sich auf die Lippe, »ich halte
nichts von diesen Formen des Gedenkens. Die Erinnerung an die
Früheren bleibt nicht, und auch die Späteren werden nimmer im Gedächtnis
bleiben, bei denen, die nach ihnen kommen.« Danach erzählte er mir,
er hege, seit er die Nachricht von ihrem Tod erhalten habe, nur noch
einen Wunsch: Wenn irgendwann seine Zeit komme und auch er nach
dort abberufen werde, wo Miris Seele nun weile, wolle er die Abgründe
des Lebens besser verstanden haben als heute. Dann möchten diese
Einsichten und die Weisheit, von der unsere Weisen sagen, nur sie
könne uns das Leben erhalten, sein ewiger Anteil sein, an dem er sich
vielleicht auch in jener Welt erfreuen könne, in der die Seelen Gottes
Ratschluss schon kennen.
Deshalb habe er sich entschlossen, eine Art privates Wissenschaftskolleg
zu gründen und sich mit einer Gruppe handverlesener
Gelehrter, Schriftsteller und Künstler zu umgeben, die ihn an ihrer
Weisheit teilhaben lassen. Die Mitglieder der Gruppe, die sich mit der
Zeit gebildet habe - seines »Gelehrtenzirkels«, unter diesem Namen
erschienen sie im Budget seiner Firma -, erhielten ein festes Forschungsstipendium,
träfen sich hin und wieder in unterschiedlicher
Zusammensetzung und diskutierten ausgewählte Themen. Die einzige
Verpflichtung der Mitglieder dieses »Ordens«, betonte er, sei die zu
absoluter Vertraulichkeit. Ihr Honorar bekämen sie bei ihren Aufenthalten
im Ausland bar ausbezahlt, was sie nicht nur der Pflicht
enthebe, die Steuerbehörden zu informieren, sondern auch von der
Notwendigkeit befreie, ihre Lebenspartner von diesem beträchtlichen
Zusatzeinkommen in Kenntnis zu setzen, das mithin ganz zu ihrer
eigenen Verfügung stehe.
Sein Gelehrtenzirkel, erklärte Sussman weiter, treffe sich einmal
im Jahr in voller Besetzung, abwechselnd in Edinburgh und im
nächsten Jahr in Eilat. An Miris Geburtstag, dem 5. Mai, versammle
man sich alle zwei Jahre in ihrer Geburtsstadt Edinburgh und an ihrem
Todestag in Eilat, nahe der Stelle, an der sie heimgeholt wurde. In
Edinburgh werde jeweils das Thema für die größere Zusammenkunft
in Eilat im folgenden Jahr festgelegt. Dort beleuchteten es die Teilnehmer
aus unterschiedlichen Perspektiven, verschickten Vortragsmanuskripte
an ihre Kollegen und machten ihm Vorschläge, welche
weiteren Dozenten hinzugezogen werden sollten.
»In dieser Sache halte ich es wie unsere frühesten Talmudgelehrten«,
sagte Sussman und putzte seine Brille, »die haben am Grab ihrer
verstorbenen Studienkollegen zusammen Tora studiert.«
Letzten Sommer, bei der Zusammenkunft am 6. Juni im »Princess-
Hotel« in Eilat hätten sie sich mit verschiedenen Metaphern für den
Begriff der Ewigkeit beschäftigt, unter anderem mit dem aus der Asche
auferstehenden Phönix und seinen verschiedenen Manifestationen
in der frühen hebräischen Kultur und der griechischen Mythologie.
Einer der führenden Bischöfe der anglikanischen Kirche habe einen
Vortrag über die Entwicklung des Ewigkeitsbegriffs in den christlichen
Traditionen Anfang des Mittelalters gehalten und ein Altphilologe
der Universität Tübingen einen brillanten Gastvortrag über den
Wandel der Rolle des Feuers im Hellenismus. Eine namhafte Folkloreforscherin,
die regelmäßig mit dabei sei, deren Namen er mir
im Moment noch nicht verraten könne, denn noch hätte ich mich ja
nicht entschlossen, seinem Gelehrtenzirkel beizutreten, hätte einen
äußerst kenntnisreichen Vortrag über den lus, jenes kleine sagenumwobene
Knöchelchen im oberen Teil der Wirbelsäule, gehalten, das
nicht verwest und aus dem der Heilige, Er sei gepriesen, bei der Auf-
erstehung jeden einzelnen Menschen wieder erblühen lassen werde.
In der anschließenden Diskussion habe ein Kabbalaforscher von der
Westküste dem noch hinzugefügt, im Buche Sohar heiße dieser Knochen
»Betuel«, wie der schlaue Vater von Rebekka, weil ebendieses
Knöchelchen, schlau und hellsichtig, wie es war, bereits im Garten
Eden beschlossen hatte, um seine Unsterblichkeit nicht aufs Spiel zu
setzen, nicht von der verbotenen Frucht zu genießen, und deshalb an
keinem der leiblichen Genüsse des Menschen Teil habe außer an der
Mahlzeit am Ausgang des Schabbat. Daher stamme der Brauch, sich
mit einem Tropfen des Weins, den man bei jener Mahlzeit trinke,
den Nacken zu betupfen, um diesen »kleinsten und schlauesten aller
Gerechten« zu nähren.
Den Gelehrten stehe es natürlich frei, ihre Beiträge danach zu
veröffentlichen, er wolle ja niemandes Aufstieg und Karriere behindern.
Unnötig zu wiederholen, dass keiner der Gelehrten erwähnen
dürfe, wo diese Dinge zum ersten Mal vorgetragen und erörtert wurden.
Anfang Mai, an Miris Geburtstag, würden sich die Mitglieder des
Gelehrtenzirkels wieder in Edinburgh treffen und aus der Fülle der
Vorschläge, die er ihnen unterbreite, das Thema für die Versammlung
in Eilat im nächsten Jahr wählen. Während er beim letzten Mal, sagte
Sussman, genau gewusst habe, was ihn interessiere, sei er sich diesmal
nicht ganz klar, und um nicht mit leeren Händen nach Edinburgh zu
kommen, habe er beschlossen einen außerordentlichen Planungsausschuss
einzuberufen, der ihm dabei helfen solle. Der bestehe ausschließlich
aus seinen engsten Vertrauten und werde in zwei Wochen
in Berlin zu einem inoffiziellen Vorbereitungstreffen zusammentreten,
und mein Erscheinen dort sei von größter Bedeutung.
»Warum können wir das nicht in Tel Aviv machen?«, hakte ich ein,
während ich in meinem Kalender blätterte, »ich habe da zwar Semesterferien,
doch ich müsste für dieses Treffen zwei Autorenlesungen
absagen, eine in Or Akiva und die andere in Kirijat Jam.«
»Or Akiva«, grunzte Sussman abfällig, »Sie hoffen wohl, Präsident
Weizman und seine Gattin machen sich die Mühe, von Caesarea nach
Or Akiva hinüberzufahren, um Ihre Lesung mit ihrer Anwesenheit
zu beehren?« Die Wahl sei auf Berlin gefallen, da zwei Mitglieder des
Planungsausschusses dort wohnten und ein dritter, ein namhafter
Professor aus Wien, dazukomme. Sollte die Absage dieser Lesungen
für mich mit einem finanziellen Nachteil verbunden sein, werde er
mich natürlich großzügig dafür entschädigen. Nachdem er sich vergewissert
hatte, ob die Summe, die er für mich auszugeben bereit
war, meinen Widerstand schwächte, fragte er, ob irgendein anderer
Schriftsteller - und hier zählte er einige auf - wegen zwei Lesungen
mit geringem Publikum in unbedeutenden Provinzstädten eine so
verlockende Reise nach Berlin, für die man zudem gut entlohnt werde,
ausschlagen würde.
Als letzte Bastion führte ich nun meine Frau ins Feld. Bevor ich
meine Zustimmung gäbe, müsse ich mich mit ihr beraten.
»Frauen haben schon einmal die Erlösung vereitelt«, lachte der
Gast und fragte, ob ich nicht auch in der Volksschule das Gedicht
von Schimonowitsch über die Anhänger des Heiligen Jizchak Lurija
gelernt habe, die am Freitagabend mit ihrem Rabbi vor die Stadt hinauszogen,
um die Königin Schabbat zu empfangen. Sie verpassten
die Gelegenheit, den Messias herbeizubringen, nur deshalb, weil sie
erst ihre Frauen fragen wollten, bevor sie nach Jerusalem aufbrachen.
»Jetzt stellen Sie sich nicht so an, mein Lieber«, drängte Sussman,
nun schon schärfer, und erzählte, vor einigen Jahren habe sich einer
unserer gemeinsamen Bekannten, ein Lubavitcher Chassid und hervorragender
Bibliograph, genauso aufgeführt wie ich. Damit habe er
nicht nur eine vielversprechende Karriere verpasst, eine Stelle, die
das Größte war, wovon er persönlich und beruflich hätte träumen
können, sondern auch das Vertrauen eines Menschen verloren, der
ihn sehr verehrte. Der persönliche Sekretär des Lubavitcher Rebben
habe ihn nämlich in Jerusalem angerufen und ihm im Namen seines
Meisters ausgerichtet, dass der amtierende Bibliothekar, Reb Chaim
Liberman, aus Altersgründen ausscheide und seine Stelle nun auf keinen
anderen warte als auf ihn. Unser Jerusalemer Bekannter habe sich
sehr gefreut, aber erst noch die Zustimmung und den Segen seiner
Frau einholen wollen. Der Sekretär habe dazu nichts weiter gesagt,
doch damit seien seine Beziehungen zum Hof der Lubavitcher für
immer abgebrochen gewesen.
Um meine Entscheidung noch etwas hinauszuzögern, fragte ich
Sussman, wer mich ihm denn empfohlen habe, da sich unsere Wege
bis dato ja noch nicht gekreuzt hatten.
»Veronika«, antwortete er kurz, beobachtete mich dabei aber genau.
»Veronika Siegel?«, rief ich mit einer Stimme, die mich selbst
überraschte, »Sie kennen Veronika?«
Im Februar 2001, bei einem für mich enttäuschenden Abend zum
Erscheinen der deutschen Übersetzung meines Romans Stricke im Literaturhaus
in der Fasanenstraße in Berlin, hatte Veronika sich in der
Absicht herbemüht, einen größeren Essay über mein Buch zu schreiben.
Das bescheidene Publikum war die übliche lokale Mischung von
im Exil lebenden Israelis, die sich nicht für mein Buch interessierten,
sondern nach den fernen Klängen ihrer Muttersprache sehnten, jungen
deutschen Frauen, die Sühne suchten, ein paar kulturbeflissenen
älteren Damen und drei, vier radikalen Studenten mit langem Haar
und bohrendem Blick, die sich mit schwarz-weißen Palästinensertüchern
schmückten oder mit Schals in den palästinensischen Nationalfarben.
Veronika gab in jenen Tagen gerade ihre Doktorarbeit
ab über die orientalischen Elemente in der Lyrik Else Lasker-Schülers
als Beispiel für die deutsche Affinität zu Orientalismus und Mystik
an der Wende zum 20. Jahrhundert. Als wir einander am Anfang des
Abends vorgestellt wurden, erklärte sie mir, sie wolle in ihrer Besprechung
vor allem über den Einfluss der mitteleuropäischen Kultur
Für die deutsche Ausgabe
© 2010 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
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Umschlaggestaltung: Nina Rothfos & Patrick Gabler, Hamburg
Typografie: Birgit Thiel, Berlin
Gesetzt aus der Filosofia durch Greiner & Reichel, Köln
Druck & Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
isbn 978-3-8720-0861-9
www. berlinverlage.de
Lange versuchte ich, den Roman aus meinen Entwürfen zu bergen.
Als meine Hoffnung auf einen rettenden Fingerzeig von oben zunichte
wurde, verlegte ich mich auf die Technik der Collage, mischte
die Blätter immer wieder neu und versuchte, sie zu einem Mosaik zusammenzufügen.
Doch in Ermangelung einer Kraft, die die Teilchen
einer inneren Gesetzmäßigkeit folgend anzog und sie um sich herum
ordnete wie ein Magnet verstreute Eisenspäne, blieben sie weiterhin
zusammenhanglose Schnipsel.
Im Winter des letzten Jahres, es waren die ersten Januartage des
Jahres 2005, als ich schon drauf und dran war, mich mit dem traurigen
Schicksal von Wörter ohne Land - so sollte mein Buch heißen -
abzufinden, rief Sussman an.
»Teurer Freund, schenken Sie mir doch bitte einen Augenblick
Ihrer kostbaren Zeit«, begann der mir unbekannte Anrufer. Die höfliche
Zurückhaltung, in die er seine Bitte hüllte, konnte jedoch nicht
den leisen Befehlston verbergen, der nahelegte, dass es sich um eine
sehr vermögende oder einflussreiche Person handelte, bei der jeder
Wunsch einem Befehl gleichkam, den man nicht verweigern oder
ignorieren konnte. Mit seinen äußerst feinen Sinnen bemerkte er
mein Schweigen, deutete es als zögernde Ablehnung und fügte sogleich
hinzu: »Ich werde bei Euch mit meinem Stock und meinem Geld erscheinen,
an jedwedem Ort und zu jedweder Zeit, die Ihr verlangt.«
»Mit Ihrem Geld können Sie gern bei mir vorbeikommen«, flachste
ich, nicht ahnend, dass ich da etwas Prophetisches aussprach, und
zitierte weiter: »aber es soll an dem Tag geschehen, auf den nach Eurer
Berechnung der Versöhnungstag fällt.«
Hier muss ich erklären, warum ich meine anfängliche Zurückhaltung
so schnell aufgab und so bereitwillig auf seine Bitte einging.
Während des kurzen Telefonats hatte ich gemerkt, dass Sussman,
genau wie ich, seine Jugend in einer Talmudschule verbracht hatte,
denn für jeden, dem der Talmud einmal zum Codebuch seiner Sprache
wurde, ist die Wortverbindung »mit meinem Stock und meinem Geld«
nicht einfach ein blumiger Ausdruck, sondern ein Zitat, das auf eine
der dramatischeren Szenen des Talmuds verweist. An einem Jahresanfang
nämlich, an dem stets das genaue Datum des Neumonds bestimmt
werden muss, damit alle weiteren Feiertage des kommenden
Jahres festgelegt werden können, behauptete Rabbi Jehoschua in einer
Disputation mit dem Oberhaupt des Gerichtshofes Rabban Gamliel,
dessen genaue Bestimmung des Neumondtages beruhe auf einem
Fehler. Er habe sich auf falsche Zeugen gestützt, die ihn absichtlich in
die Irre geführt hätten. Rabban Gamliel erkannte, dass sein Kollege
im Recht war, doch um die Glaubwürdigkeit des Gerichtshofes nicht
zu erschüttern, wollte er unmissverständlich demonstrieren, dass
diese Entscheidung, auch wenn sie auf einem Fehler beruhte, schon
geschehen und unwiderruflich war. So verlangte er von dem weitaus
gelehrteren Rabbi Jehoschua, er solle an dem Tag, den dieser als
den Versöhnungstag errechnet hatte, mit Stock und Geld, also wie an
einem gewöhnlichen Werktag, zu ihm kommen, was dieser auch gehorsam
tat, aus Sorge, dass ein Zweifel an der Autorität des Gerichtspräsidenten
das ganze System gefährden würde. Dieser Marsch des
Rabbi Jehoschua nach Jawne am heiligsten Ruhetag, den er damit auf
Anweisung von höchster Stelle entheiligte, und der Ausdruck »mit
meinem Stock und meinem Geld« wurden seitdem zu einer stehenden
Wendung für die ehrliche Anerkennung der Amtsmacht einer Person,
deren Autorität man nicht in Zweifel zieht, selbst wenn sie sich ganz
offensichtlich irrt.
Sussmans höfliche Worte vermochten wie gesagt nicht, den unangenehm
herrischen Unterton seiner Stimme zu verbergen, doch sein
Eingeständnis, dass er trotz seiner gesellschaftlichen Stellung - über
die ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts Genaues wusste - nicht allmächtig
war und dass auch er, wenn er Hilfe brauchte, sich vor seinem
Nächsten beugen würde, weckte mein Mitgefühl, und so erklärte ich
mich bereit, ihn zu uns nach Ramat Gan einzuladen, obgleich ich meinem
getreuen Kant versprochen hatte, meine wenige freie Zeit nicht
mit strapaziösen Nervtötern zu verschwenden, sondern mich meinem
festgefahrenen Roman zu widmen.
An dieser Stelle ist eine weitere Erläuterung vonnöten: »Mein
getreuer Kant« - so nenne ich in Selbstgesprächen meine Frau, so
sehe ich sie vor meinem inneren Auge: als die Unbestechliche, Verlässliche,
die hellsichtige Philosophin, die mir immer wieder uneigennützig
den Weg der Vernunft zeigt und mich schon vor manchem
Fehltritt bewahrt hat. »Was glaubst du denn, wie viele Jahre dir hier
auf Erden noch gegeben sind?«, hatte sie mich oft attackiert und der
Reihe nach unsere Freunde und Bekannten aufgezählt, die schon gestorben
waren.
Als ich ihr abends von meinem Gespräch mit Sussman berichtete,
schaute sie mich verächtlich oder vielleicht auch mitleidig an und
sagte, ich sei wohl wieder einmal Opfer meines schwachen Charakters
geworden. Die Demut, die mein neuer Freund da an den Tag lege, sei
garantiert nur gespielt. »Wie heißt er?«, wollte sie wissen und begann
ein bisschen herumzutelefonieren. »Die Frau erkennt die Gäste besser
als der Mann«, zitierte sie etwas später einen Spruch der alten Weisen,
den sie noch bei Prof. Rappel am Lehrerseminar gelernt hatte, und
triumphierte, auch diesmal habe ihre weibliche Intuition sie nicht
getäuscht. Sussman sei ein berüchtigter Immobilienhai. Sein kometenhafter
Aufstieg beruhe auf zweifelhaften Grundstücksgeschäften in
Schottland. Deshalb und wegen der undurchdringlichen Nebelwand,
hinter der er sein Privatleben verberge, nenne man ihn im Wirtschaftsteil
der Zeitungen auch den »Aal von Loch Ness«. Zum Schluss
hielt mein getreuer Kant mir noch eine Moralpredigt und hoffte, ich
sähe jetzt selbst ein, dass diese gespielte Unterwürfigkeit nur eine
Taktik von Sussman war, um seine Verhandlungspartner dahin zu
bekommen, wo er sie haben wollte.
Als Sussman pünktlich zur vereinbarten Zeit bei uns erschien,
stand er in der Tür, senkte den Kopf und sagte, jetzt, nachdem er zu
mir gekommen sei, müsse ich mich auch genau wie Rabban Gamliel
vom Stuhle erheben und ihn aufs Haupt küssen.
»Friede mit dir, mein Lehrer und mein Schüler«, hieß ich ihn willkommen
und spitzte die Lippen in Richtung seiner Stirn, mit ähnlich
zeremonieller Anmut wie das Oberhaupt des Gerichtshofes gegenüber
seinem Kollegen.
»Mein Lehrer bist du, da du mich öffentlich Tora gelehrt hast, und mein
Schüler, da du meinen Befehl wie ein Schüler befolgt hast«, vollendete
Sussman die überlieferten Worte des Rabban Gamliel, wie ein Geheimagent
in einem alten Spionagefilm, der sich endgültig der Identität
seines Gegenübers versichert, indem er seine durchgerissene
halbe Dollarnote an die andere Hälfte in der Hand des Unbekannten
hält.
»Heil dem Zeitalter, in dem die Großen den Kleinen gehorchen, und umso
mehr die Kleinen den Großen«, zitierten wir beide, als ich ihn in der
Sitzecke unseres Wohnzimmers Platz nehmen hieß. Aus der Küche, wo
ich dann Kaffee kochte und etwas Gebäck bereitstellte, betrachtete ich
heimlich meinen Gast, der sich so große Mühe gab, mich mit seiner
talmudischen Belesenheit zu beeindrucken. Das schwere, fleischige
Gesicht war schon etwas erschlafft, in den Locken schimmerte schon
das Grau des Alters, doch seine vollen Lippen wirkten jugendlich und
voller Begehrlichkeit, und sein Blick, der eines potenziellen Ehebrechers,
schweifte über die Bücher und Zeitschriften, die sich auf
dem Tisch häuften. Wie Peter Ustinov, dessen Memoiren ich in diesen
Tagen las, sah er in diesem Moment aus.
Sussman blätterte missbilligend in dem neuen Roman, den mir
ein Kollege geschickt hatte, und fragte mich, was ich von ihm hielte.
Ich antwortete wie die Frau in dem alten Witz auf die Frage, wie ihr
Mann sei: »Geschmackssache. Mir zum Beispiel liegt er nicht so.« Der
Gast schob das Buch von sich und sagte, was wir unter uns noch klären
müssten, sei die Frage, wer wem gehorche, und fuhr fort: »Ich habe den
Eindruck dass Sie mir gehorcht haben, dass Sie also der Große sind, und
ich dagegen der Kleine bin«.
Mit einer Klugheit und Übung, die seine reiche Erfahrung im Verhandeln
bewies, übernahm mein Gast sogleich die Gesprächsführung.
Als Meister seines Fachs vermied er es, sich plump anzubiedern.
Weder stimmte er ein Loblied auf die Bücher an, um die ich die hebräische
Literatur bereichert hätte und die so viel bedeutender seien
als alles, was meine Kollegen schrieben, obgleich die zu Unrecht das
Lob der Kritiker und den Beifall des Publikums einheimsten, noch
bekundete er gespannte Vorfreude auf mein neues Buch, das so lange
auf sich warten ließ. Er verschwendete seine Zeit nicht auf belangloses
Geschwätz, um die Fremdheit zwischen uns zu überbrücken und
mich einzustimmen, aber er kam auch nicht direkt zur Sache. Vielmehr
stellte er zunächst sein Mobiltelefon stumm, nahm die schwere
Breitling vom Handgelenk, steckte sie in die Tasche und fragte mich
dann leise, ob die zögernde Ablehnung, die er bei unserem Telefonat
in meiner Stimme wahrgenommen habe, von einer Not zeuge, die zu
lindern er mir eventuell behilflich sein könne.
Dieser Ausdruck schlichter und praktischer Menschlichkeit, der
weder Herrschsucht, Neugierde noch die Absicht, sich einzumischen,
anhaftete, berührte mich so, dass ich ihm, ohne es zu wollen, ein
zweites Mal nachgab. Ich sagte, mein Schreiben bedrücke mich. Das
Buch, an dem ich arbeite, stecke in einer Sackgasse, und trotz großer
Anstrengungen gelinge es mir nicht, es auf die richtige Bahn zu setzen.
Noch während ich das sagte, reute es mich schon.
»Dann hören Sie mir mal zu«, sagte der Gast, und sein Blick folgte
der Sonne, die hinter den Wassertanks auf dem Nachbarhaus unterging,
»jetzt bin ich nämlich an der Reihe, Ihnen eine Geschichte zu
erzählen.«
Anfang der siebziger Jahre, als er an der Hochschule für Wirtschaft
und Betriebswirtschaftslehre in Edinburgh studierte, erzählte Sussman,
erschien der Finanzmarktexperte zu seiner letzten Vorlesung;
ein alter, etwas kauziger Mann, der sich aufgrund seines Hobbys als
begeisterter Insektenforscher weltweit einen Namen gemacht hatte
- eine der Wildbienenarten war nach ihm benannt. Er zog aus einer
alten Einkaufstasche zwei langhalsige Flaschen und erklärte, von ihm
aus dürften wir jetzt alles vergessen, was er uns ein Semester lang
beizubringen versucht habe, wenn wir nur das, was er uns jetzt zeigen
werde, behielten.
Er stellte die Flaschen, deren Öffnungen mit Gaze zugebunden
waren, aufs Pult. In der einen Flasche, sagte er, sei eine Fliege gefangen
und in der anderen eine Biene. Dann ließ er die schwarzen
Verdunklungsrollos herunterziehen und das Licht ausschalten. Im
dunklen Hörsaal knipste er eine Taschenlampe mit einem schmalen
Lichtkegel an und stellte sie etwas entfernt von den Flaschen auf.
»Wer, meinen Sie, kommt als Erste aus der Flasche?«, fragte er und
klopfte auf die Abdeckungen der Flaschen. »Die Biene«, meinten die
Studenten einstimmig, und als er fragte, warum, beeilte sich eine
Studentin, deren Familie eine Imkerei besaß, zu sagen: »Weil ihre Intelligenz
größer ist als die der Fliege.« »Dann wollen wir mal sehen«,
sagte der alte Professor und zog gleichzeitig die Gazestückchen von
den beiden Flaschen. Gespannt starrten alle auf die Flaschen. Nach
ein, zwei Minuten sah man, wie die Fliege durch den Lichtstrahl flog,
während die Biene immer wieder gegen das Flaschenglas stieß, auf das
Licht zuflog und zurückprallte. »Komm, meine Süße, jetzt lass ich dich
frei«, erklang die Stimme des Professors im Dunkeln, »wir wollen
ja nicht dein Leben auf dem Altar der wissenschaftlichen Neugierde
opfern.«
Nachdem die Rollos hochgezogen waren, fasste der Professor das
Ergebnis des Versuchs zusammen. Die Biene, die tatsächlich eine
höhere Intelligenz besitze, habe den Lichtstrahl sofort und völlig zu
Recht als Quelle ihrer Rettung erkannt, doch gerade ihre konsequente
Beharrlichkeit und Zielgerichtetheit sei ihr zum Verhängnis geworden.
Die Fliege dagegen, ein ganz dummes Insekt, habe dem Licht keine
Bedeutung beigemessen, sondern sei, ohne irgendwas zu denken, hin
und her geflogen, bis sie zufällig die Öffnung nach draußen fand.
»Auf den Finanzmärkten ist es wie im Leben. Sie müssen lernen,
Fliegen zu sein. Einigen von Ihnen wird das, wie ich schon beobachten
konnte, nicht sonderlich schwerfallen. Ein bisschen Dummheit hat
noch keinem geschadet, auch nicht den Klugen.« Dies war die Schlussfolgerung
des rotwangigen Schotten aus dem Experiment. Dann legte
er die Flaschen zurück in seine abgewetzte Tasche und verkündete, die
Stunde sei beendet.
Jetzt, etwa eineinhalb Jahre nach Sussmans Besuch in unserer Wohnung
in Ramat Gan, während ich hier in Berlin am Ufer des Wannsees
in meinem Zimmer sitze und meine Geschichte über Rafael Sussman
und Konsorten zu Papier bringe, eine Episode, die sich hauptsächlich
an ebendiesem Ort hier abgespielt hat, kam durch die Balkontür eine
kleine Wildbiene ins Zimmer geflogen. Interessiert inspizierte sie
erst das Foto von Bertolt Brecht an der Wand, auf dem man ihn neben
Helene Weigel mit seinem Hut winkend bei einer Veranstaltung
des Berliner Ensembles sieht, danach meinen bereits abgekühlten
Kaffeebecher, ruhte sich später eine ganze Weile auf dem Blatt aus,
auf das ich nach und nach diese Zeilen schrieb, umkreiste mich dann
wie bei einer Flugschau und schwirrte hinaus zum See und zu den ihn
umgebenden grünen Hügeln, die sich in einer Mischung aus atemberaubender
Schönheit und entsetzlicher Vergangenheit in der halb
offenen Glastür spiegelten. Gesegnet seist du, kleine Biene, denn du
hast mir ein prophetisches Zeichen für meinen ganzen Besuch hier gegeben:
Dein Flug hat meinen Blick gelenkt und mir gezeigt, wie nah die
Schönheit und der Schrecken jener Villa der Wannseekonferenz dort
gegenüber - der Name allein lässt mich erschaudern - beisammen
wohnen können.
»Zielstrebigkeit ist zweifellos eine hohe Tugend«, sagte der Immobilienmagnat,
»doch manchmal muss sie ihre übliche Gestalt ablegen
und eine andere Form annehmen. Statt eigensinnig den Kopf gegen
die Wand zu schlagen, muss man durch kreative Entspannung andere
Wege finden. Schließen Sie doch die Tür Ihres Arbeitszimmers,
lassen Sie Ihr Manuskript liegen und gondeln Sie ein bisschen durch
die Welt! Etwas Bewegung wird Ihnen nicht schaden. Vielleicht werden
Sie gerade in der Fremde Antworten auf die Fragen finden, die Sie
umtreiben.« Sussman richtete sich in seinem Sessel auf und fragte
nun ganz direkt, ob ich bereit sei, mir in zwei Wochen drei, vier Tage
freizunehmen und zu einem Treffen mit ihm nach Berlin zu kommen.
»Ich brauche dort Ihre Ideen«, sagte er und fügte eilig hinzu, er
werde während dieser Fahrt selbstverständlich für all meine Bedürfnisse
aufkommen.
Kühl und distanziert erzählte er mir, was ihm in den letzten Jahren
an Schlimmem widerfahren war, doch gerade diese Zurückhaltung
und Selbstbeherrschung ließen den Gefühlssturm ahnen, der da loszubrechen
drohte. Den Großteil der Führung seiner komplizierten
Geschäfte hatte er einem Team treuer Mitarbeiter übergeben, während
er seine meiste Zeit und Energie der Sache widmete, um derentwillen
er heute zu mir gepilgert war.
»Vor drei Jahren, fünf Monaten und achtundzwanzig Tagen ist es
passiert«, sagte Sussman und zeigte erschütternd nachdrücklich mit
den Fingern beider Hände, vor wie viel Jahren, Monaten und Tagen
seine erstgeborene Tochter Miri gestorben war. Bei passender Gelegenheit,
die sich gewiss bald ergebe, werde er mir erzählen, unter
welchen Umständen sie aus dieser Welt abberufen wurde. Seine vielen
Freunde, unter ihnen auch solche mit ähnlichem Schicksal, hatten
ihm am Ende der dreißigtägigen Trauerzeit, in der er fast verrückt
geworden war, die unterschiedlichsten Vorschläge gemacht, Miris
Andenken zu pflegen. Einige legten ihm nahe, auf ihren Namen einen
Fonds einzurichten, der mittellose Studentinnen unterstütze, andere
drängten ihn zu einer großzügigen Spende an ein Krankenhaus, wieder
andere wollten ihn überreden, Studientage einzurichten, ein Gedenkbuch
für sie herauszubringen oder gleich eine ganze Publikationsreihe
ins Leben zu rufen, die ihren Namen tragen könnte. Der Präsident
einer Universität versuchte ihn dazu zu bewegen, einen Lehrstuhl auf
ihrem Namen einzurichten. Doch er hatte sie alle abgewiesen.
»Für solches Zeug habe ich mich nie interessiert und tue es auch
heute nicht«, sagte mein Gast und biss sich auf die Lippe, »ich halte
nichts von diesen Formen des Gedenkens. Die Erinnerung an die
Früheren bleibt nicht, und auch die Späteren werden nimmer im Gedächtnis
bleiben, bei denen, die nach ihnen kommen.« Danach erzählte er mir,
er hege, seit er die Nachricht von ihrem Tod erhalten habe, nur noch
einen Wunsch: Wenn irgendwann seine Zeit komme und auch er nach
dort abberufen werde, wo Miris Seele nun weile, wolle er die Abgründe
des Lebens besser verstanden haben als heute. Dann möchten diese
Einsichten und die Weisheit, von der unsere Weisen sagen, nur sie
könne uns das Leben erhalten, sein ewiger Anteil sein, an dem er sich
vielleicht auch in jener Welt erfreuen könne, in der die Seelen Gottes
Ratschluss schon kennen.
Deshalb habe er sich entschlossen, eine Art privates Wissenschaftskolleg
zu gründen und sich mit einer Gruppe handverlesener
Gelehrter, Schriftsteller und Künstler zu umgeben, die ihn an ihrer
Weisheit teilhaben lassen. Die Mitglieder der Gruppe, die sich mit der
Zeit gebildet habe - seines »Gelehrtenzirkels«, unter diesem Namen
erschienen sie im Budget seiner Firma -, erhielten ein festes Forschungsstipendium,
träfen sich hin und wieder in unterschiedlicher
Zusammensetzung und diskutierten ausgewählte Themen. Die einzige
Verpflichtung der Mitglieder dieses »Ordens«, betonte er, sei die zu
absoluter Vertraulichkeit. Ihr Honorar bekämen sie bei ihren Aufenthalten
im Ausland bar ausbezahlt, was sie nicht nur der Pflicht
enthebe, die Steuerbehörden zu informieren, sondern auch von der
Notwendigkeit befreie, ihre Lebenspartner von diesem beträchtlichen
Zusatzeinkommen in Kenntnis zu setzen, das mithin ganz zu ihrer
eigenen Verfügung stehe.
Sein Gelehrtenzirkel, erklärte Sussman weiter, treffe sich einmal
im Jahr in voller Besetzung, abwechselnd in Edinburgh und im
nächsten Jahr in Eilat. An Miris Geburtstag, dem 5. Mai, versammle
man sich alle zwei Jahre in ihrer Geburtsstadt Edinburgh und an ihrem
Todestag in Eilat, nahe der Stelle, an der sie heimgeholt wurde. In
Edinburgh werde jeweils das Thema für die größere Zusammenkunft
in Eilat im folgenden Jahr festgelegt. Dort beleuchteten es die Teilnehmer
aus unterschiedlichen Perspektiven, verschickten Vortragsmanuskripte
an ihre Kollegen und machten ihm Vorschläge, welche
weiteren Dozenten hinzugezogen werden sollten.
»In dieser Sache halte ich es wie unsere frühesten Talmudgelehrten«,
sagte Sussman und putzte seine Brille, »die haben am Grab ihrer
verstorbenen Studienkollegen zusammen Tora studiert.«
Letzten Sommer, bei der Zusammenkunft am 6. Juni im »Princess-
Hotel« in Eilat hätten sie sich mit verschiedenen Metaphern für den
Begriff der Ewigkeit beschäftigt, unter anderem mit dem aus der Asche
auferstehenden Phönix und seinen verschiedenen Manifestationen
in der frühen hebräischen Kultur und der griechischen Mythologie.
Einer der führenden Bischöfe der anglikanischen Kirche habe einen
Vortrag über die Entwicklung des Ewigkeitsbegriffs in den christlichen
Traditionen Anfang des Mittelalters gehalten und ein Altphilologe
der Universität Tübingen einen brillanten Gastvortrag über den
Wandel der Rolle des Feuers im Hellenismus. Eine namhafte Folkloreforscherin,
die regelmäßig mit dabei sei, deren Namen er mir
im Moment noch nicht verraten könne, denn noch hätte ich mich ja
nicht entschlossen, seinem Gelehrtenzirkel beizutreten, hätte einen
äußerst kenntnisreichen Vortrag über den lus, jenes kleine sagenumwobene
Knöchelchen im oberen Teil der Wirbelsäule, gehalten, das
nicht verwest und aus dem der Heilige, Er sei gepriesen, bei der Auf-
erstehung jeden einzelnen Menschen wieder erblühen lassen werde.
In der anschließenden Diskussion habe ein Kabbalaforscher von der
Westküste dem noch hinzugefügt, im Buche Sohar heiße dieser Knochen
»Betuel«, wie der schlaue Vater von Rebekka, weil ebendieses
Knöchelchen, schlau und hellsichtig, wie es war, bereits im Garten
Eden beschlossen hatte, um seine Unsterblichkeit nicht aufs Spiel zu
setzen, nicht von der verbotenen Frucht zu genießen, und deshalb an
keinem der leiblichen Genüsse des Menschen Teil habe außer an der
Mahlzeit am Ausgang des Schabbat. Daher stamme der Brauch, sich
mit einem Tropfen des Weins, den man bei jener Mahlzeit trinke,
den Nacken zu betupfen, um diesen »kleinsten und schlauesten aller
Gerechten« zu nähren.
Den Gelehrten stehe es natürlich frei, ihre Beiträge danach zu
veröffentlichen, er wolle ja niemandes Aufstieg und Karriere behindern.
Unnötig zu wiederholen, dass keiner der Gelehrten erwähnen
dürfe, wo diese Dinge zum ersten Mal vorgetragen und erörtert wurden.
Anfang Mai, an Miris Geburtstag, würden sich die Mitglieder des
Gelehrtenzirkels wieder in Edinburgh treffen und aus der Fülle der
Vorschläge, die er ihnen unterbreite, das Thema für die Versammlung
in Eilat im nächsten Jahr wählen. Während er beim letzten Mal, sagte
Sussman, genau gewusst habe, was ihn interessiere, sei er sich diesmal
nicht ganz klar, und um nicht mit leeren Händen nach Edinburgh zu
kommen, habe er beschlossen einen außerordentlichen Planungsausschuss
einzuberufen, der ihm dabei helfen solle. Der bestehe ausschließlich
aus seinen engsten Vertrauten und werde in zwei Wochen
in Berlin zu einem inoffiziellen Vorbereitungstreffen zusammentreten,
und mein Erscheinen dort sei von größter Bedeutung.
»Warum können wir das nicht in Tel Aviv machen?«, hakte ich ein,
während ich in meinem Kalender blätterte, »ich habe da zwar Semesterferien,
doch ich müsste für dieses Treffen zwei Autorenlesungen
absagen, eine in Or Akiva und die andere in Kirijat Jam.«
»Or Akiva«, grunzte Sussman abfällig, »Sie hoffen wohl, Präsident
Weizman und seine Gattin machen sich die Mühe, von Caesarea nach
Or Akiva hinüberzufahren, um Ihre Lesung mit ihrer Anwesenheit
zu beehren?« Die Wahl sei auf Berlin gefallen, da zwei Mitglieder des
Planungsausschusses dort wohnten und ein dritter, ein namhafter
Professor aus Wien, dazukomme. Sollte die Absage dieser Lesungen
für mich mit einem finanziellen Nachteil verbunden sein, werde er
mich natürlich großzügig dafür entschädigen. Nachdem er sich vergewissert
hatte, ob die Summe, die er für mich auszugeben bereit
war, meinen Widerstand schwächte, fragte er, ob irgendein anderer
Schriftsteller - und hier zählte er einige auf - wegen zwei Lesungen
mit geringem Publikum in unbedeutenden Provinzstädten eine so
verlockende Reise nach Berlin, für die man zudem gut entlohnt werde,
ausschlagen würde.
Als letzte Bastion führte ich nun meine Frau ins Feld. Bevor ich
meine Zustimmung gäbe, müsse ich mich mit ihr beraten.
»Frauen haben schon einmal die Erlösung vereitelt«, lachte der
Gast und fragte, ob ich nicht auch in der Volksschule das Gedicht
von Schimonowitsch über die Anhänger des Heiligen Jizchak Lurija
gelernt habe, die am Freitagabend mit ihrem Rabbi vor die Stadt hinauszogen,
um die Königin Schabbat zu empfangen. Sie verpassten
die Gelegenheit, den Messias herbeizubringen, nur deshalb, weil sie
erst ihre Frauen fragen wollten, bevor sie nach Jerusalem aufbrachen.
»Jetzt stellen Sie sich nicht so an, mein Lieber«, drängte Sussman,
nun schon schärfer, und erzählte, vor einigen Jahren habe sich einer
unserer gemeinsamen Bekannten, ein Lubavitcher Chassid und hervorragender
Bibliograph, genauso aufgeführt wie ich. Damit habe er
nicht nur eine vielversprechende Karriere verpasst, eine Stelle, die
das Größte war, wovon er persönlich und beruflich hätte träumen
können, sondern auch das Vertrauen eines Menschen verloren, der
ihn sehr verehrte. Der persönliche Sekretär des Lubavitcher Rebben
habe ihn nämlich in Jerusalem angerufen und ihm im Namen seines
Meisters ausgerichtet, dass der amtierende Bibliothekar, Reb Chaim
Liberman, aus Altersgründen ausscheide und seine Stelle nun auf keinen
anderen warte als auf ihn. Unser Jerusalemer Bekannter habe sich
sehr gefreut, aber erst noch die Zustimmung und den Segen seiner
Frau einholen wollen. Der Sekretär habe dazu nichts weiter gesagt,
doch damit seien seine Beziehungen zum Hof der Lubavitcher für
immer abgebrochen gewesen.
Um meine Entscheidung noch etwas hinauszuzögern, fragte ich
Sussman, wer mich ihm denn empfohlen habe, da sich unsere Wege
bis dato ja noch nicht gekreuzt hatten.
»Veronika«, antwortete er kurz, beobachtete mich dabei aber genau.
»Veronika Siegel?«, rief ich mit einer Stimme, die mich selbst
überraschte, »Sie kennen Veronika?«
Im Februar 2001, bei einem für mich enttäuschenden Abend zum
Erscheinen der deutschen Übersetzung meines Romans Stricke im Literaturhaus
in der Fasanenstraße in Berlin, hatte Veronika sich in der
Absicht herbemüht, einen größeren Essay über mein Buch zu schreiben.
Das bescheidene Publikum war die übliche lokale Mischung von
im Exil lebenden Israelis, die sich nicht für mein Buch interessierten,
sondern nach den fernen Klängen ihrer Muttersprache sehnten, jungen
deutschen Frauen, die Sühne suchten, ein paar kulturbeflissenen
älteren Damen und drei, vier radikalen Studenten mit langem Haar
und bohrendem Blick, die sich mit schwarz-weißen Palästinensertüchern
schmückten oder mit Schals in den palästinensischen Nationalfarben.
Veronika gab in jenen Tagen gerade ihre Doktorarbeit
ab über die orientalischen Elemente in der Lyrik Else Lasker-Schülers
als Beispiel für die deutsche Affinität zu Orientalismus und Mystik
an der Wende zum 20. Jahrhundert. Als wir einander am Anfang des
Abends vorgestellt wurden, erklärte sie mir, sie wolle in ihrer Besprechung
vor allem über den Einfluss der mitteleuropäischen Kultur
Für die deutsche Ausgabe
© 2010 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Rothfos & Patrick Gabler, Hamburg
Typografie: Birgit Thiel, Berlin
Gesetzt aus der Filosofia durch Greiner & Reichel, Köln
Druck & Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
isbn 978-3-8720-0861-9
www. berlinverlage.de
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Autoren-Porträt von Chaim Be'er
Chaim Be'er, geboren 1945 in Jerusalem, Militärdienst, danach Korrektor im Militär-Rabbinat, schließlich Kolumnist für eine Tageszeitung. Lehrt Literatur an den Universitäten Be'er Scheva und Tel Aviv. Buchveröffentlichungen, mehrfache Auszeichnungen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Chaim Be'er
- 2010, 320 Seiten, Maße: 14,5 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Übers. a. d. Hebräischen u. mit einem Nachwort versehen v. Anne Birkenhauer
- Übersetzer: Anne Birkenauer
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827008611
- ISBN-13: 9783827008619
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