Benedikt XVI.
Kaum jemand sonst kann die Persönlichkeit des Papstes aus einer journalistischen Zusammenarbeit so ergründen wie Peter Seewald. Für zwei Bücher, die ''längsten Interviews der Kirchengeschichte'', haben sich Seewald und Ratzinger einander geöffnet. Peter Seewald, von allen Medien als intimer Kenner Ratzingers bezeichnet, schildert nun erstmals ausführlich diese intensiven Begegnungen. Er beleuchtet alle Stationen der Biographie, porträtiert den Menschen Ratzinger und kann dabei auch bislang völlig unbekannte Details aus der Jugend des Papstes erzählen.
Darüber hinaus ist dieses Buch die sehr persönliche Geschichte eines Dialoges, der Seewalds Leben verändert hat - und von dem Ratzinger sagte, man habe dabei versucht ''einen Funken Licht zu empfangen, und ein wenig mehr, als es der Alltag erlaubt, von Gottes Geheimnis, von unserer Bestimmung und unserem Ziel zu verstehen''.
Benedikt XVI. von PeterSeewald
LESEPROBE
ROM, PETERSPLATZ
Es war an einem Montag im November 1992. DerHimmel über Rom war blass, löchrig und unfreundlich. Allerheiligenwetter. Eswar nicht kalt, aber die Leute zogen es vor, ihre Zeit in Trattorienund sündteuren Cafeterias zu verbringen oder besser noch zu Hause zu bleiben.
Auf der riesigen Piazza Venezialangweilten sich einige Carabinieri mit den wenigen Autos, die sie zudirigieren hatten, und als ich mit meinem Kollegen über den Peterspiatzschlenderte, waren wir neben den Tauben so ziemlich die einzigen Passanten.Irgendwo heulte eine Sirene auf. Ein Priester stürmte mit einem Knirps-Schirmin der Hand einer polnischen Pilgergruppe voran. Ich weiß nicht, vielleichtgibt es ja diesen einen, letzten Moment in einem Leben, in dem du noch sagenkönntest: »Halt, ich will das gar nicht. Ich nehm'jetzt lieber den anderen Weg.« Und wenn du es nicht tust, steckst du in einerGeschichte, an die du nie gedacht hast. Es ist wie eine Kettenreaktion vonkleineren und größeren Explosionen, und du hast kaum eine Chance, jemals wiederauszusteigen.
Kurze Zeit später saß ich mit dem FotografenKonrad R. Müller im Empfangszimmer der Sacra congregazione per la dottrina della fede, Adresse Piazza delSanto Uffizio 11, der römischen Glaubenskongregation,ursprünglich bekannt als das Uffizium der heiligenrömischen Inquisition. Man bat uns auf die rot gepolsterten Barocksessel imAudienzzimmer. Der Portier war offensichtlich zugleich der Chauffeur desHauses. Zumindest trug er eine Art Uniform. Müller war nervös, weil erbefürchtete, nicht genügend Zeit für seine Aufnahmen zu bekommen. Die Tür gingauf, und herein kam ein kleiner, zierlicher Herr, kleiner, als ich ihn mirvorgestellt hatte. Er eilte mit einem lang gestreckten »Jaaaa«auf uns zu und streckte mit bischöflicher Geste die Hand aus. Ich wusste nichtrecht, wie ich ihn ansprechen sollte und hatte mich für »Herr Kardinal«entschieden, was er offenbar ganz in Ordnung fand.
Der Händedruck war nicht unbedingt schmerzhaft.Ratzinger trug eine schwarze Soutane mit roten Knöpfen. Überrascht war ich vonder hohen Stimmlage. Sie wirkte brüchig, irgendwie an der Grenze. Obendreinhatte die Klangfarbe seiner Sprache bei bestimmten Wörtern nicht die Färbungdes typisch oberbayerischen, sondern des österreichischen Dialektes. Damalswusste ich noch nicht, dass die Mutter des Kardinals aus Südtirol stammte.
Wir setzten uns ans Fenster und kamen leicht insGespräch. Ratzinger ist ein ländlich geprägter Mensch. Seine Herkunft hat er nieverleugnet. Wir stammen beide aus dem Bistum Passau, bald sprachen wir halbMundart, und es begann uns zu amüsieren. Mein erster persönlicher Eindruck warder eines sehr feinfühligen, freundlichen Menschen: jemand, der gernekommuniziert, ein geduldiger Zuhörer, auch wenn er dabei in gehöriger Distanzverbleibt, fast so, als sei er zwar da, zugleich aber auch noch woanders. Wedersetzt sich die Autorität seines gewichtigen Amtes in körperliche Präsenz um,noch nahm er sein Gegenüber in den Griff, ob mit den Augen oder dem Gestusseiner Bewegungen. Gleichsam hatte er eine sehr leidenschaftliche Art zusprechen, temperamentvoll und spritzig. Die Hände gestikulierten, die Augenblitzten auf. Er formulierte gewählt, ohne mit sprachlichen Übertreibungen imponierenzu wollen, und man brauchte keinen Universitätsabschluss, um ihn verstehen zukönnen. Manche seiner Satzkonstruktionen freilich hatten die Qualität einermusikalischen Komposition, und wenn es irgendwie ging, rundete er längereAusführungen mit einer Pointe ab, um sie noch geschmeidiger zu machen.
In den Archivunterlagen hatte ich sehen können,welche Verrenkungen manche Kollegen anstellten, um dem Kardinal zu imponieren.Oder dem Chefredakteur, dem sie ihre Interviews vorlegten. Ich interessiertemich für die Person, und das tat der Begegnung gut. »Was geht in seinem Kopfvor?«, hatte ich mich gefragt. Gibt es da profaneDinge wie: Friseurtermin nicht vergessen, Grußkarten schicken? Als es um seineKindheit ging, versank er mehr und mehr in seinem Stuhl. Es tat ihm gut,darüber zu sprechen, und ich hatte den Eindruck, als wolle er am liebsten nocheinmal ganz in diese andere Welt eintauchen. Dreißig Minuten vergingen,vierzig. Der Sekretär steckte bereits seinen Kopf durch die Tür: »Eminenz, derNuntius ... « Eminenz winkte ab. Als sich der Kopf erneut durch den Türspaltschob, entschied er: »Hören sie ihm halt gut zu und berichten sie mir dannalles.« Ich machte ein unschuldiges Gesicht RichtungSekretär, innerlich aber jubelte ich auf.
Ich hatte nicht das Gefühl, der angeblich somachtbesessene Kirchenfürst fühle sich besonders glücklich und zu Hause indieser Umgebung. Das war nicht der Auftritt eines Ich-bin-derHerr-im-Hause.Als der Fotograf ihn bat, ihn auch in einer betenden Haltung ablichten zu dürfen,stimmte Ratzinger nach einigem Zögern zu. Aber niemand konnte uns sagen, wo inder Behörde sich eigentlich die Kapelle befand. Noch nicht mal seinBischofskreuz war zur Hand. Schließlich sprintete der Portier und Chauffeur zurPrivatwohnung des Kardinals, um dieses Signum der Autorität, das viele fürunverzichtbar halten, doch noch herbeizuschleppen.
Erst sehr viel später wurde mir klar, dass wirden Kardinal in einer sehr schwierigen persönlichen Situation angetroffenhatten. Er beklagte sich nicht, aber die jahrelangen Anfeindungen hattenWirkung gezeigt. Er hatte dieses Amt nie gewollt. Nun stemmte sich derfeinfühlige Bayer im Dienst für Kirche und Papst seit bereits mehr als zehnJahren wie ein »Kardinal Sisy phos«gegen den unaufhörlichen Ansturm feindlicher Truppen. Es hatte Kraft gekostet.Und er hatte darüber seine frühere Lebensfreude, die Leichtigkeit des Seinsverloren. Tatsächlich bekannte er am Ende unseres Gespräches, dass er sich müdeund erschöpft fühle. Er sei alt und verbraucht. Es war im Grunde eineSensation. Der oberste Wächter des katholischen Glaubens gestand völligungeschützt ein, er wolle nicht mehr. »Ich bin jetzt schon alt, an der Grenze«,sagte der Kardinal, »ich fühle mich physisch immer weniger imstande, das zutun, und ich fühle mich auch ausgeschöpft.«
»Sindsie ein glücklicher Mensch?«, hatte ich nachgefragt.»Ich bin einverstanden mit meinem Leben.«
© Ullstein
- Autor: Peter Seewald
- 2005, 304 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 3550078331
- ISBN-13: 9783550078330
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