Bis ans Ende ihrer Tage
Auf der Spur eines wahnsinnigen Mörders
In Kopenhagen wird ein sechzehnjähriges Mädchen gefunden, das schwer misshandelt wurde, aber seinem Peiniger entfliehen konnte. Kommissar Thomas Nyland beginnt mit den...
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Produktinformationen zu „Bis ans Ende ihrer Tage “
Auf der Spur eines wahnsinnigen Mörders
In Kopenhagen wird ein sechzehnjähriges Mädchen gefunden, das schwer misshandelt wurde, aber seinem Peiniger entfliehen konnte. Kommissar Thomas Nyland beginnt mit den Nachforschungen. Was er dabei findet, bringt ihn auf die Spur eines wahnsinnigen Mörders, der sich für eine Gestalt aus einer alten slawischen Heldensage hält.
"Ein Debüt weit über das Gewöhnliche hinaus. Atemlos, spannend, überraschend anders."
Horsens Folkeblad
Klappentext zu „Bis ans Ende ihrer Tage “
Und Sie lebten glücklich und zufrieden ... Blutüberströmt bricht eine junge Frau mitten in Kopenhagen zusammen. Seltsamerweise ist sie völlig unverletzt. Kommissar Thomas Nyland steht vor einem Rätsel, denn die Frau schweigt beharrlich über die Geschehnisse. Kurze Zeit später wird die Leiche eines Mannes entdeckt - von einem eisernen Speer durchbohrt. Ist es sein Blut, mit dem die Frau bedeckt war? Nyland versucht Licht ins Dunkel zu bringen, doch seine Ermittlungen führen ihn in die kranke Welt eines wahnsinnigen Mörders ...
Da ist der Drache. Er sieht ihn durch die Risse im Fels. Sieht, wie sich die Köpfe des Ungeheuers bewegen. Wenn er die Schultern kreisen lässt, spürt er die Scheide des Schwertes, das er quer über dem Rücken trägt ...
Lese-Probe zu „Bis ans Ende ihrer Tage “
Bis ans Ende ihrer Tage von Jens Østergaard Aus dem Dänischen von Nora Pröfrock
Da ist der Drache. Er sieht ihn durch die Risse im Fels. Sieht, wie sich die Köpfe des Ungeheuers bewegen.
Wenn er die Schultern kreisen lässt, spürt er die Scheide des Schwertes, das er quer über dem Rücken trägt. Es reicht ihm von den Schulterblättern bis zur Hüfte und ist an einem um seinen Oberkörper geschlungenen Gurt befestigt, der von einer Plastikschnalle zusammengehalten wird.
In der rechten Hand hält er seine Lanze.
Er spielt das Video auf seinem Handy ab. Hält den Film genau in dem Moment an, als die pixelige Nahaufnahme wieder zu sehen ist.
Die Augen.
Wegen der schlechten Bildqualität ist es nicht möglich, wirklich in sie hineinzusehen. Stattdessen sieht er sie einfach lange an. Sieht auch den Schmerz, der sich hinter diesem undeutlichen Motiv verbirgt.
Er hat keine Angst. In wenigen Augenblicken wird er den letzten Punkt setzen und eine Erzählung zu Ende bringen, der er Wort für Wort gefolgt ist, seit er sich seiner Mission bewusst wurde. Ein Lied, das ihm einst genommen wurde, nun aber wieder ihm gehört. Rhythmus und Melodie erfüllen ihn mit Ruhe. Die Worte erzählen ihm, dass er nicht scheitern kann. Dazu kann es einfach nicht kommen. Er weiß, dass er eines Tages Tod, die Grausame, treffen wird, doch er weiß auch genau, wie sie aussehen wird, wenn er vor ihr steht. Und er weiß, dass dieser Tag nicht der heutige ist. Nicht in dieser Erzählung. Er kann jetzt nicht einfach scheitern und sterben. Nicht, weil ihn das in seinem Stolz verletzen würde, sondern weil er einer größeren Sache dient. Dem Land. Dem Volk. Der Geschichte.
Genau so muss ein Held denken, oder?
... mehr
Als er den ersten Schritt in die Höhle tut, dröhnt das Lied in seinem Kopf. Diese Worte sind seine Bestimmung. Sein Schicksal. Er ist der Drachentöter, und das Ungeheuer wird durch seine Hand sterben.
1
Die Beine versagen ihr den Dienst, und sie schlägt dumpf auf dem Küchenboden auf. Wirft einen Blick zurück über die Schulter. Er ist jetzt im Wohnzimmer. Auf dem Weg zu ihr. Der Puls dröhnt ihr wie Paukenschläge in den Ohren und übertönt seine Rufe. Ihr Blickfeld verengt sich, und der blassgrüne Schein der Leuchtstoffröhre über dem Küchentisch wird nach und nach von einer diffusen Dunkelheit verdrängt. Die Welt entgleitet ihr.
Nein, nicht jetzt. Nicht jetzt. Ich darf jetzt nicht ohnmächtig werden.
Sie rollt sich auf den Bauch. Stützt die Hände auf und kämpft sich hoch. Ihre nackten Füße rutschen in einer Blutlache aus. Ihre Kleidung ist mit Blut durchtränkt, aber sie selbst ist nicht verletzt. Noch nicht.
Mit kleinen, hektischen Bewegungen kriecht sie auf allen vieren hinüber zur Tür, die zur Hintertreppe führt. Schaut sich noch einmal um, auch wenn sie genau weiß, dass sie dadurch kostbare Sekunden verliert. Sie greift nach der Türklinke und zieht sich an ihr hoch, bis sie steht. Mit den blutverschmierten Fingern bekommt sie den Schlüssel nicht richtig zu fassen. Sie versucht, ihn im Schloss zu drehen, aber das Metall entgleitet ihr immer wieder. Sie kann den Mann jetzt riechen. Spürt die Wärme seines Körpers. Er steht genau hinter ihr.
Komm schon. Komm schon. Kommschonkommschonkommschon.
Die Tür springt auf. Sie reißt sie ganz auf.
Die Hintertreppe liegt in völliger Dunkelheit. Ihre Hände finden das Geländer. Sie stolpert die Stufen hinunter bis zum ersten Treppenabsatz. Weiter. Runter. Runter. Runter. Allmählich gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. Die Konturen der Treppenstufen treten deutlicher hervor. Plötzlich spürt sie eine unwahrscheinliche Kraft in ihren Beinen, und sie beginnt, an ein mögliches Gelingen ihrer Flucht zu glauben.
Mit ihrem ganzen Gewicht wirft sie sich gegen die Tür zum Innenhof. Stößt sie auf und läuft hinaus in den dichten, schweren Regen. Die Nacht ist eiskalt, und sie trägt nur ein T-Shirt und eine Unterhose. Doch sie nimmt die Kälte nicht wahr. Spürt nur, wie ihr das Blut und der Regen aus dem Haar in die Mundwinkel rinnen und ihren Mund mit dem Geschmack von Shampoo und Eisen erfüllen. Ihr Kopf sitzt auf einem Körper, der sich verselbstständigt hat, einem Körper, der sich einfach immer weiterbewegt, weil das Gehirn zu erschöpft und verängstigt ist, um ihm andere Befehle zu erteilen. Noch ein Schritt und noch einer. Zum Spielplatz. Vorbei an Wippe, Schaukel und Klettergerüst. Sie spürt eine Schicht kleiner Steinchen unter den Fußsohlen. Springt über einen niedrigen Zaun. Jetzt sieht sie das Tor, das aus dem Hof nach draußen führt. Es steht offen. Sie kann ihr Glück kaum fassen, als sie hindurchstürzt und auf die Straße gelangt. Sie läuft immer weiter. Um eine Ecke. Und um noch eine.
Erst als sie nicht mehr weiß, wo sie ist, bleibt sie stehen. Sieht sich um. Versucht, den Blick zu fokussieren. Sie steht mitten auf der Straße. Sieht Gaststätten und kleine Läden. Ein Auto fährt hupend an ihr vorbei. Der Luftzug reißt ihren rechten Arm nach hinten, doch das kümmert sie nicht. Sie hat es geschafft, aus der Wohnung zu entkommen. Hat trotz allem, was passiert ist, die Kraft gefunden, ihren Verfolger abzuschütteln. Alles andere spielt keine Rolle.
Dann sinkt sie in sich zusammen und muss sich mit den Händen auf den Oberschenkeln abstützen, um nicht zu Boden zu gehen. Ihr steht ein einziges Wirrwarr von kleinen Punkten vor Augen, die wie in einem Kaleidoskop die Farbe wechseln. Sie atmet hastig und flach.
Irgendwo in der Nähe hört sie ein Auto bremsen. Eine Autotür, die geöffnet wird, und einen Mann, der ihr etwas in einer fremden Sprache zuruft. Er ruft noch einmal, aber jetzt hört sie ihn nur noch wie aus weiter Ferne. Sie beginnt zu zittern. Ihre Beine geben unter ihr nach. Sie schlägt auf dem Asphalt auf, mit dem Gesicht zuerst, und nun ist das Blut in ihrem Mund ihr eigenes.
Langsam entgleitet ihr die Realität. Ihre Gedanken driften ab. Weg von dem Auto. Dem Regen und dem Asphalt. Fort aus dieser kalten Hauptstadt, die so weit von ihrer Heimat entfernt liegt.
Die Dunkelheit ist nun nicht mehr diffus, sondern tief und warm. Sie breitet sich um sie aus und umschließt sie.
Ruhe, denkt sie. Endlich ein bisschen Ruhe.
2
Die Streifenwagen stehen dicht gedrängt vor dem rotweiß gestreiften Absperrband mitten auf der Arkonagade im Stadtteil Vesterbro. Blaulicht blinkt lautlos im strömenden Regen und wirft flackernde Schatten auf die Hauswände.
Thomas Nyland spürt das dumpfe Rumpeln unter sich, als er über das Kopfsteinpflaster fährt. Er parkt seinen Dienstwagen abseits der anderen neben dem der Hundeführer und schaut durch das Geflimmer der Regentropfen hinauf zu den Hausdächern. Vor ihm peitschen die Scheibenwischer hin und her, und damit die Frontscheibe von innen nicht beschlägt, arbeitet das Gebläse auf höchster Stufe. Es hat den ganzen Februar über geregnet, und auch jetzt, da der Kalender mittlerweile Anfang März anzeigt, hat sich das Wetter noch nicht gebessert. Der Himmel über Kopenhagen ist schwarz wie das Nichts.
Er zieht den Reißverschluss seines etwas zu dünnen und etwas zu engen Anoraks bis zum Hals hoch und windet sich aus dem Auto. Bei dieser Bewegung kommt er sich jedes Mal vor wie eine Hand, die sich aus einem Gummihandschuh pellt. Er hat breite Schultern, ist kräftig gebaut und hat mächtige Oberarme, was allerdings nicht das Ergebnis vieler Stunden im Fitnesscenter ist. Seine Statur ist vielmehr das Erbe einer Bauernfamilie, die sich über unzählige Generationen hinweg auf den Feldern von Ostjütland abgerackert hat, wo auch er aufgewachsen ist. Und während diese Körperfülle durchaus von Vorteil war, als er damals in seiner Anfangszeit als junger Polizeianwärter diversen Kleinkriminellen auf der Straße einen Schrecken einjagen wollte, und auch heute noch manchmal von Vorteil sein kann, wenn er sich als Leiter ständig wechselnder Ermittlungsgruppen in der Abteilung für Personen gefährdende Kriminalität gegenüber seinen Kollegen durchsetzen muss, so ist sie ein mindestens ebenso großes Hindernis, wenn er in ein Auto hinein- oder wieder hinauswill.
Mit dem üblichen Mangel an Eleganz tritt er zum Abschluss dieses Manövers mit dem linken Fuß in eine tiefe Pfütze. Augenblicklich dringt Wasser durch ein Loch in der Schuhsohle, und seine Socke nimmt es auf wie ein Baby mit außer Kontrolle geratenem Saugreflex.
Er registriert es nicht, weil er im selben Moment auf Adam Zahle aufmerksam wird, der ihn mit ausholenden Armbewegungen zu sich winkt.
»Solltest du nicht ein bisschen mehr anhaben?«, begrüßt ihn der junge Ermittler.
Thomas sieht an sich hinunter: »Ist nicht notwendig. Ich habe noch eine Daunenjacke unter der Haut.«
Diesen Daunenjackenkommentar bringt Thomas beileibe nicht zum ersten Mal, aber Zahle ist trotzdem so höflich, ein kurzes, trockenes Lachen auszustoßen, bevor er fortfährt: »Hast du die Ehre, mit diesem Fall betraut zu sein, oder hältst du nur die Stellung, bis der Chef der Mordkommission da ist?«
»Dies ist mein Fall. Er verfolgt die Sache gewissermaßen von der Seitenlinie aus. Oder wahrscheinlich eher vom Bett aus, wenn man bedenkt, wie spät es ist. Er kommt morgen früh und räumt hier auf.«
»Das ist wirklich eine ganz schöne Sauerei da oben«, sagt der blasse junge Mann. Das feuchte, dunkle Haar klebt ihm in großen Locken auf der Stirn. Er presst die Lippen zusammen, scheint nach geeigneteren Worten zu suchen, wiederholt aber schließlich nur noch einmal: »Ist wirklich eine Sauerei da oben.«
Er deutet auf das mehrstöckige Haus, und gemeinsam gehen sie auf die offene Tür zu. Thomas begrüßt ein paar Kollegen mit einem Kopfnicken.
»Bist du der Einzige aus dem City-Revier?«, fragt Thomas seinen jungen Kollegen, als sie im Treppenhaus sind. Er selbst hat sein Büro im Polizeipräsidium von Kopenhagen, während Zahle im Polizeirevier Vesterbro, dem City-Revier, arbeitet. Bei Morden oder anderen Gewaltverbrechen werden in der Regel ein paar Beamte von der nächstliegenden Wache zum Tatort geschickt, die sich um die Situation kümmern, bis der Chef der Mordkommission oder einer seiner engsten Mitarbeiter da ist. Dann wird eine Gruppe von sechs bis zehn Ermittlern aus der Abteilung für Personen gefährdende Kriminalität mit den schwierigen ersten Phasen der Ermittlungsarbeit betraut.
»Nein, Eggers und Nielsen sind hier auch irgendwo«, sagt Zahle. »Und dann noch sieben, acht Streifenpolizisten. Sie befragen gerade den Anzeigeerstatter und die anderen Nachbarn.«
»Wie ich höre, haben wir es mit einem Mord zu tun«, sagt Thomas.
»Ja, das kann man wohl sagen. Komm, wir müssen ganz hoch in den vierten Stock.«
Thomas tritt seine Schuhe auf der Fußmatte ab, und seine durchnässte Socke gibt ein quatschendes Geräusch von sich.
»Wer hat uns geholt?«, fragt er.
»Um zehn nach drei hat der Nachbar die Einsatzzentrale angerufen. Er hatte ein Krachen gehört, vermutlich als die Tür eingetreten wurde, und dann Rufe aus der Wohnung. Er hat zuerst nicht reagiert, weil er dachte, das wäre nur ein normaler Streit. Aber dann fing eine Frau an, laut zu schreien, und er hat da drinnen irgendwas poltern hören. Danach war alles still.«
»Wie lange hat es gedauert, bis eine Streife hier war?«
Zahle antwortet nicht, sondern bleibt stehen und lehnt sich so unauffällig wie möglich an das Geländer.
»Keine Kondition?«, fragt Thomas.
»Ich gehe jetzt schon zum tausendsten Mal diese Treppe hier hoch. Demnächst hätte ich gern einen Vermerk in meinem Arbeitsvertrag, dass ich nur für Verbrechen im Erdgeschoss infrage komme. Was wolltest du wissen?«
»Wie viel Zeit ist vergangen, bis wir am Tatort waren?«
»Der erste Wagen des City-Reviers war nicht mal vier Minuten nach dem Notruf hier. Wie aus dem Lehrbuch. Aber da war es schon zu spät.«
Sie gehen weiter die Treppe hinauf.
»Ein Streit, sagst du. Ein Mann und eine Frau?«
»Eine Frau und zwei Männer.«
»Und einer der Männer ist tot?«
»Das Opfer heißt Anders Thorgaard. Siebenundzwanzig Jahre alt und Informatikstudent. Er hat die Wohnung gemietet. Dem Nachbarn zufolge hatte Anders gerade eine unbekannte Frau da, als der Täter auftauchte.«
»Und der Nachbar hat keine Ahnung, wer die Frau und der Täter sind?«
»Scheint keine besonders enge Nachbarschaft gewesen zu sein, aber er meint, Anders Thorgaard hätte allein in der Wohnung gelebt. Ihm war nie aufgefallen, dass da noch eine Frau wohnt.«
»Und wo sind die Frau und der andere Mann jetzt?«
»Die beiden Beamten, die zuerst hier waren, haben erzählt, dass zwei blutige Fußspuren die Hintertreppe hinunterführen. Eine barfuß, Größe sechsunddreißig, und die andere Größe siebenundvierzig, ein Paar dreckige Stiefel. Wahrscheinlich Militärstiefel oder so was in der Art. Der Täter scheint das Mädchen die Treppe hinunter verfolgt zu haben, nachdem er Thorgaard umgebracht hatte, und jetzt sind beide verschwunden. Die Hunde sind schon dabei, die Gegend abzusuchen, und ein Personenspürhund ist auch dabei.«
Thomas brummt zustimmend. Personenspürhunde sind speziell ausgebildete Hunde, die bei ihnen nur in besonders ernsten Fällen wie bei Vergewaltigung oder Mord zum Einsatz kommen, unter anderem, um nach DNA-Spuren zu suchen.
Sie betreten den Flur. Es ist dunkel und stickig. Thomas versucht, normal zu atmen, aber der penetrante Geruch von Fett und Eisen legt sich ihm wie ein klebriger Film auf Haut und Mund. Langsam gehen sie weiter hinein. Meiden die Mitte des Ganges, um keine technischen Formspuren zu zerstören, bevor die Kollegen von der Kriminaltechnik Gelegenheit hatten, die Wohnung zu durchforsten. Sie fassen nichts an. Lassen die Finger von den Lichtschaltern und heben nichts vom Boden auf.
Sie kommen ins Wohnzimmer. Eine windschiefe Reispapierlampe hängt von der Decke und verbreitet ein bleichgelbes Licht im Raum. Am Fenster steht ein Esstisch und an der Wand ein Sofa. Auf einem alten Schreibtisch befindet sich ein Laptop, der an zwei große Flachbildschirme angeschlossen ist. Keine Pflanzen auf dem Fensterbrett, keine Kissen auf dem Sofa, kein Kerzenständer auf dem Tisch.
»Hier hat keine Frau gewohnt. Und wenn doch, dann noch nicht sehr lange«, sagt Thomas halb zu sich selbst.
Er deutet mit dem Kopf auf den Computer: »Einer von den IT-Leuten soll sich den mal angucken, sobald sie hier sind. Am besten Hindrik Skulasson, wenn es irgendwie geht.«
Er lässt den Blick über den Fußboden schweifen. Eine breite rote Spur zieht sich vom Schlafzimmer durchs Wohnzimmer und bis in die Küche, wo sich das Blut in einer großen Pfütze gesammelt hat.
»Wann kommen die Kriminaltechniker?«
»Fahren gerade unten vor. Wir hauen lieber ab, bevor sie uns rausschmeißen.«
Thomas dreht sich um.
»Ich will nur noch einen Blick ins Schlafzimmer werfen «, sagt er.
Damit geht er an seinem Kollegen vorbei in das angrenzende Zimmer. Vor den Fenstern hängen dünne weiße Kunststoffrollos, und nur eine einzige Nachttischlampe erleuchtet den Raum. Ihr Strahl ist gegen die Decke gerichtet. Auf einer offenen Reisetasche häufen sich locker hingeworfene Oberteile, Kapuzenpullis und Jeans in Größe XS. Zwischen den Kleidungsstücken liegt billiger Modeschmuck aus Plastik. An allem sind noch die Preisschilder befestigt.
»Sie haben der Frau neue Klamotten gekauft. Und eine Tasche. Ob sie wohl zusammen abhauen wollten?«
Thomas stellt die Frage so leise, dass nur er sie hören kann.
Vor dem Bett liegt die Leiche von Anders Thorgaard. Er liegt mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Rücken, so als hätte er gerade einen Schnee-Engel auf dem harten Holzfußboden machen wollen, als er getötet wurde. Eine etwa zwei Meter lange Metallstange wurde ihm offenbar mit großer Kraft in den Brustkasten gerammt.
»Bei dem Licht kann man nicht besonders viel erkennen, aber abgesehen von der Metallstange, hat Friis noch ein paar Wunden am Oberkörper des Opfers gefunden. Abwechselnd tiefe und oberflächliche Schnitte. Er meint, die müssten von einem großen Messer oder einer Machete stammen. Hier war ordentlich was los. Das Opfer hat an der linken Hand zwei Finger verloren, und ein paar von den Wunden sind so tief, dass ...«
Adam Zahle wird von einem Anruf unterbrochen. Er kehrt Thomas den Rücken zu und nimmt ihn entgegen.
»Okay«, sagt er in sein Handy. »Wo?«
Thomas tritt einen Schritt vor, um sich die Metallstange näher anzusehen. Das vordere Ende, das im Brustkasten steckt, ist spitz. Wie ein Speer.
Er kniet sich neben die Leiche.
»Hast du das hier gesehen?«, fragt er seinen Kollegen.
Adam Zahle beendet sein Telefongespräch und schaut Thomas an.
»Was hast du gesagt?«
»Ich wollte wissen, ob du das hier gesehen hast.«
Er fischt eine Taschenlampe aus der Innentasche seines Anoraks. Sie ist gerade mal so groß wie ein Kugelschreiber, aber das kühle, blaue Licht ist kräftig. Thomas leuchtet damit eine lange Kerbe im Fußboden neben der Leiche an. Sie ist zwei bis drei Zentimeter tief, etwa zehn Zentimeter lang und einen Zentimeter breit. Die Ränder sind ausgefranst, so als hätte jemand ein Messer in den Boden gestoßen und es hin- und hergedreht, bis das Holz splitterte.
»Was ist das?«, fragt Adam Zahle.
»Keine Ahnung«, antwortet Thomas. »Das muss der Täter gemacht haben. War sicher nicht allzu schwer, weil das Holz vom Blut schon aufgeweicht war, aber es muss eine Weile gedauert haben. Ein paar Minuten vielleicht. Warum hält er sich mit so was auf, mitten im Morden, noch vor der Jagd auf die Frau?«
Adam Zahle zuckt mit den Schultern. »Pass auf, das war die Zentrale, gerade eben. Sie sind sich ziemlich sicher, dass die verschwundene Frau aufgegriffen wurde. Sie ist im Uniklinikum. Ein Autofahrer hat nicht allzu weit von hier eine junge Frau in T-Shirt und Unterhose mitten auf der Straße gefunden und den Krankenwagen gerufen.«
»Zustand?«
»Sie lebt«, antwortet Zahle. »Mehr können sie im Moment nicht sagen.«
Thomas nickt. Holt einmal tief Luft, reibt sich die Hände und sieht sich in der Wohnung um. Betrachtet den jungen Ermittler vor sich. Bevor Thomas die Stelle in der Abteilung für Personen gefährdende Kriminalität bekam, war er als Leiter der Ermittlungseinheit im City-Revier Zahles Vorgesetzter. Und wie er so dasteht und seinen ehemaligen Mitarbeiter ansieht, überkommt ihn plötzlich ein Anflug von Wehmut. Sie haben gut zusammengearbeitet. Hatten so ein ganz besonderes Verständnis füreinander, das er bei seinen neuen Kollegen noch vermisst.
»Lass uns zusammen ins Uniklinikum fahren«, sagt Thomas in einem seltenen Anfall von Spontaneität. »Du kannst mit den Rettungssanitätern und den Ärzten reden, während ich ein erstes Verhör mit dem Mädchen mache. Okay?«
Zahle nickt und lächelt. »Wenn du's sagst, Boss. Wie in alten Zeiten.«
Weiß gekleidete Kriminaltechniker strömen mit Koffern und Fotoapparaten in die Wohnung. Thomas verfolgt ihre präzisen, vorsichtigen Bewegungen.
»Komm«, hört er Zahle sagen. »Lass uns zusehen, dass wir hier wegkommen.«
3
Als Thomas die Tür zum Krankenzimmer hinter sich zuzieht, ist es vollkommen still.
Er bleibt einen Moment stehen und lehnt sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. Das Mädchen sieht nicht zu ihm auf. Sie sitzt einfach regungslos auf dem Bett, die Beine an die Brust gezogen, den Blick auf absolut gar nichts gerichtet. Ihr schwarz gefärbtes Haar hängt herunter und verdeckt den Großteil ihres Gesichts, aber Thomas kann einen Bluterguss auf ihrer Wange erahnen, vermutlich von einem Schlag, und eine Platzwunde an ihrer Oberlippe.
Das Pflegepersonal hat ihr etwas zum Anziehen gegeben. Einen Krankenhausschlafanzug, bestehend aus einer weiten weißen Schlafanzugjacke mit Knöpfen und einer großen weißen Hose. Am Hals, am Kinn und an den Armen hat sie immer noch dunkelrote Blutflecke, die mittlerweile angetrocknet sind. Ihre rissigen Fingernägel sind an beiden Händen schwarz.
Die großen Fensterscheiben hinter dem Bett sind dunkel und nass vom Regen. Tagsüber blickt man von hier oben aus der siebten Etage auf die Dächer der Stadt, nun aber sieht Thomas nur ein verschwommenes Spiegelbild von dem Mädchen, dem Bett und sich selbst.
Er schiebt einen Stuhl neben das Krankenbett und setzt sich hin. Lehnt sich ein wenig zur Seite und versucht, dem Blick des Mädchens zu begegnen. Ohne Erfolg.
»Mein Name ist Thomas Nyland«, beginnt er mit ruhiger und tiefer Stimme. Die Augen des Mädchens reagieren. Nur einen kurzen Moment, aber doch lange genug, dass Thomas es bemerkt. Irgendwo hinter diesem leeren Blick ist also noch Leben. Sie ist nicht katatonisch.
»Wie heißt du?«, fragt er.
Keine Antwort.
»Ich weiß, dass die Polizei einem schon mal Angst einjagen kann. Aber ich bin hier, um dir zu helfen. Ich möchte dir helfen, weil ich glaube, dass du heute Abend überfallen wurdest. Stimmt das?«
Das schwarzhaarige Mädchen wirkt auf dem Krankenbett unendlich klein. Sie muss etwa fünfzehn, sechzehn Jahre alt sein, aber für ihr Alter ist sie nicht besonders groß. Dünn. Die Haut unter den roten Flecken ist nur wenige Nuancen dunkler als das weiße Bettzeug, das einen gelblichen Schimmer hat.
»Willst du mir nicht sagen, wie du heißt?«, fährt Thomas mit gedämpfter Stimme fort.
Das Mädchen zieht die Beine noch etwas enger an sich.
»Ich weiß, du hast heute Abend etwas sehr Schreckliches gesehen, aber wenn ich dir helfen soll, wirst du mir ein paar Dinge erzählen müssen.«
Thomas schlägt das rechte Bein über das linke und lehnt sich so weit vor, wie sein Bauch es zulässt. Der Blick des Mädchens ist wieder tot wie der einer Puppe und völlig verschleiert.
»Woher kennst du Anders Thorgaard?«, fragt er. Lässt dem Mädchen Zeit zum Antworten, bevor er es noch einmal versucht: »Ist er ein Freund von dir? Oder dein Freund? Dein Bruder?«
Er wendet den Blick nicht von dem Mädchen ab. Versucht es anders: »Ich komme gerade aus der Wohnung. Ich habe gesehen, wie sie eingerichtet ist, und ich glaube nicht, dass du dort gewohnt hast. Stimmt das?«
Und noch einmal: »Wie lange kennst du Anders Thorgaard schon?«
Zwecklos.
»Kennst du den Mann, der dich in der Wohnung überfallen hat?«, fragt er. »Beschreib ihn doch mal. Wie groß ist er? Welche Haarfarbe hat er?«
Er erhebt sich mit einem Schnaufen und geht vor dem Bett auf und ab. Merkt, wie ihm das Mädchen mit dem Blick folgt, sobald sie glaubt, er bekäme es nicht mit.
»Hör zu«, sagt Thomas ruhig. »Ich bin gekommen, weil ich auf der Suche nach einem Mörder bin. Du hast Informationen, die verhindern könnten, dass er noch mehr Menschen tötet, deshalb ist es sehr, sehr wichtig, dass du mir erzählst, was du weißt. Egal wie sehr du dich fürchtest. Wenn du uns sagst, was du weißt, dann können meine Kollegen und ich dich viel leichter beschützen. Verstehst du?«
Das Mädchen schweigt.
»Wie sah der Mann aus, der dich und Anders Thorgaard überfallen hat?«
Thomas gibt es auf und setzt sich wieder. Bleibt eine ganze Weile neben dem Bett sitzen, ohne etwas zu sagen. Schließlich steht er mit einer ruckartigen Bewegung auf, zieht eine Visitenkarte aus seiner Innentasche und hält sie dem Mädchen hin. Sie nimmt sie nicht, daher legt er die Karte einfach neben ihr auf die Matratze und tippt mit seinem dicken Zeigefinger darauf.
»Hier ist meine Nummer, falls du doch noch mit mir reden möchtest. Du kannst mir vertrauen. Ich weiß, das ist vielleicht nicht so leicht, aber ich verspreche dir, du kannst mir vertrauen.«
Er dreht sich um und geht zur Tür. Bleibt stehen, als er vom Bett ein leises Summen hört. Schaut das Mädchen an. Sie sitzt immer noch regungslos da, aber aus ihrem Mund entweicht ein schwacher Luftstrom: »Sssssssssssssss...«
Thomas betrachtet sie, ohne etwas zu sagen. Dann geht das Summen, dieses stimmhafte S, in etwas anderes über: »Ssssssssmeeeiiij.«
Es ist nur undeutlich gehaucht, und Thomas weiß nicht genau, wie er es verstehen soll. Ist das ein Wort?
Er macht einen Schritt auf sie zu.
»Was sagst du da?«, fragt er.
Sie verstummt wieder.
Einen Augenblick ist er sich unsicher, ob er noch einmal versuchen soll, mit ihr in Kontakt zu kommen, oder ob er einfach gehen soll. Doch dann beschließt er, sie in Ruhe zu lassen, und verlässt das Zimmer.
4
Thomas grüßt den uniformierten Beamten, der neben der Tür sitzt und Wache hält, und sieht sich nach Adam Zahle um. Entdeckt den jungen Mann mit den großen Stirnlocken ein Stück weiter den Gang hinunter, wo er mit abgewandtem Gesicht telefoniert. Thomas wartet, bis er das Handy vom Ohr nimmt.
»Was Neues?«
»Nein«, sagt Zahle geistesabwesend. »Nein, das war nur der aktuelle Stand aus der Wohnung. Nichts Interessantes. Was sagt das Mädchen?«
»Nichts. Ich dringe nicht zu ihr durch. Aber sie hat diesen Blick, du weißt schon ...«
»Blick?«
Er seufzt müde: »Sie hat nicht nur heute Abend Prügel bekommen. Das geht schon seit Längerem. Und ihr scheint noch etwas anderes zugestoßen zu sein. Sie ist vergewaltigt worden. Davon gehe ich zu hundert Prozent aus. Wir müssen natürlich das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung abwarten, aber ich bin mir sicher.«
»Von Anders Thorgaard? Oder vom Täter?«
»Keine Ahnung.«
Thomas späht den Gang hinunter.
»Hör mal, ich brauche irgendwas aus dem Getränkeautomaten, wenn ich den Rest der Nacht überstehen will. Möchtest du auch was?«
Zahle kommt mit zu dem Automaten, wo Thomas zwei Plastikbecher mit dünnem, bitterem Kaffee zieht. Thomas reicht seinem Kollegen den einen, während er auf den anderen wartet. Bläst auf sein Getränk, damit es schneller abkühlt, und lässt die Hälfte der dunklen Flüssigkeit in einem Zug im Rachen verschwinden. Er schmatzt mit den Lippen, hält sich aber im nächsten Augenblick die Hand vor den Mund, als ihm auffällt, was für ein lautes Geräusch er soeben hervorgebracht hat.
»Ich habe noch gar nicht gefragt, wie es in den letzten Monaten so bei dir gelaufen ist«, sagt Thomas nach einem Moment des Schweigens. »Scheint ja alles ... ja, so wie immer zu sein.«
»Ja, stimmt schon. Und bei dir?«
»Gut. Ganz gut.«
Thomas sucht nach einer passenden Möglichkeit, das Gespräch fortzuführen, aber ihm fällt nichts ein. Small Talk war noch nie seine Stärke, nicht mal mit einem engen Kollegen. Er wippt mit dem Fuß. In seinem Schuh quatscht es immer noch. Einen kurzen Moment überlegt er, ob er auf seine nasse Socke zu sprechen kommen soll, doch das schlägt er sich schnell wieder aus dem Kopf. Anstatt etwas zu sagen, wendet er sich dem Automaten zu und beginnt, die Liste der Heißgetränke zu studieren. Denkt, dass er eigentlich mehr Lust auf einen Becher Kakao gehabt hätte, aber nie genau weiß, wie das von den Leuten um ihn herum aufgefasst wird. Er nickt. Hauptsächlich, um seinem Körper irgendetwas zu tun zu geben, damit die Pausen zwischen den Worten nicht allzu lang erscheinen.
»Wie läuft's in der neuen Abteilung?«, fragt Zahle, als er seinen Becher leer getrunken hat.
Thomas dreht sich zu ihm um: »Gut. Das ist eigentlich auch nicht viel anders als das, was wir ...«
Plötzlich wandert sein Blick von seinem Kollegen zu einem Punkt ein Stück weiter hinten. Zahle dreht den Kopf, um zu sehen, was Thomas' Interesse geweckt hat: Der uniformierte Beamte vor dem Krankenzimmer des Mädchens ist aufgestanden und hat die Tür geöffnet. Nun hören auch Zahle und Thomas die klagenden Rufe des Mädchens im Zimmer. Der Beamte geht zu ihr hinein und schließt die Tür hinter sich. Ein paar Sekunden später ist ein tiefes, wütendes Geheul von ihm zu hören.
»Ups«, entfährt es Thomas.
Er läuft auf das Krankenzimmer zu. Im nächsten Augenblick stürmt das dünne, bleiche Mädchen mit einer Nierenschale voller Blutspritzer auf den Gang. Sie sieht sich nach beiden Seiten um. Entdeckt Thomas, der auf sie zugerast kommt, und rennt in die andere Richtung. Wirft die Schale von sich. Ihre nackten Füße klatschen auf den Linoleumboden.
Der uniformierte Beamte stürzt aus dem Zimmer und hält sich beide Hände vors Gesicht. Durch seine Finger kann Thomas dickes, verschmiertes Blut unterhalb der Nase erkennen.
»Sie hat mir eins draufgegeben«, ruft der Kollege wütend, sodass Blut und Spucke von seinen Lippen spritzen.
Das Mädchen ist mittlerweile am Ende des Ganges angelangt und biegt um die Ecke. Sie ist schnell. Thomas kommt kaum hinterher, auch wenn er sich die größte Mühe gibt. Als er an der Ecke ist, schlüpft sie gerade zwischen zwei Krankenschwestern hindurch in einen Aufzug, dessen Türen sich langsam schließen.
»Haltet sie auf!«, brüllt er. Doch der Anblick des riesigen Mannes, der über den Gang gepoltert kommt, schlägt die Krankenschwestern umgehend in die Flucht. Thomas erreicht den Aufzug, kurz bevor die Türen endgültig zugehen. Er steckt einen Fuß in den Spalt, sodass sie automatisch wieder aufgleiten. Das Mädchen kauert sich in eine Ecke des Aufzugs und verbirgt ihr Gesicht. Sie schreit.
Erst da wird Thomas klar, dass er einen ziemlich wilden Eindruck machen muss. Er ist ein brüllender Fleischberg, der offenbar eine ebenso Furcht einflößende Wirkung hat wie der Mörder von Anders Thorgaard.
Er bleibt in der Türöffnung stehen und richtet sich auf, während die Türen wieder und wieder versuchen, sich zu schließen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagt er. Sein Atem geht schwer, und er muss sich immer wieder unterbrechen, um Luft zu holen. »Ich bin hier, um dir zu helfen. Ich will herausfinden, wer ...«
Plötzlich hält er inne, als er merkt, dass genau hinter ihm jemand steht. Er fährt herum und erwartet, in Zahles Gesicht zu blicken, doch stattdessen steht dort ein Fremder. Ein schlanker Mann, der gut einen Kopf größer ist als er selbst. Er hat lange, nasse Haare und einen großen, dichten Vollbart. Sein schwarzer Ledermantel hängt offen an ihm herunter.
Der Schrei des Mädchens verstummt, und sie reißt panisch die Augen auf. Thomas versteht sofort den Zusammenhang. Das ist der Mann, der Anders Thorgaard ermordet hat. Und jetzt ist er hier, um auch das Mädchen zu töten.
Thomas greift nach seiner Dienstwaffe, die er im Halfter unter dem linken Arm trägt. Eine Heckler & Koch USP Compact 9 mm. Doch er hat gerade erst den Schaft berührt, als der Fremde ihm auch schon einen kräftigen Hieb in den Magen versetzt, der ihn nach hinten gegen die Wand des Aufzugs schleudert. Der Mann im Mantel kommt herein, die Türen fallen zu, und der Aufzug setzt sich in Bewegung. Nach unten. Dann nimmt der Fremde die Hände hinter den Kopf und zieht zu Thomas' Erstaunen ein langes, schweres Schwert. Thomas' Gehirn schlägt Alarm, um seinen Körper zum Weglaufen zu bewegen, aber er kann nirgendwohin. Stattdessen wirft er sich mit dem Oberkörper gegen den Mann, bevor dieser die Klinge nach vorn führen kann. Er brüllt zum Angriff und stürzt sich mit der Schulter voran auf seinen Feind. Dem entgleitet das Schwert, und die beiden Männer taumeln zu Boden. Betätigen im Fall aus Versehen die Notbremse. Von der Decke ertönt ein dumpfes Geräusch, und mit einem Ruck bleibt der Aufzug stehen. Das Schwert landet genau zwischen Thomas und dem Schwarzgekleideten. In der nächsten Sekunde liegt Thomas auf ihm und drückt ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Die Hände des Fremden suchen nach dem Heft des Schwertes, bekommen es aber nicht zu fassen. Ruckartig stößt er mit dem Kopf zu, sodass seine Stirn mit voller Wucht gegen Thomas' Wange prallt. Nur einen kurzen Moment lockert sich Thomas' Griff, aber das genügt dem Mann, um sich loszureißen. Noch immer auf dem Boden liegend, bekommt er das Schwert zu packen. Er dreht sich um, kommt auf die Knie und stößt mit der Klinge zu. Als sie Thomas ins Fleisch fährt, fühlt es sich für ihn nicht schlimmer an als ein Schlag in den Magen. Er zieht den Oberkörper zurück und befreit sich von dem Schwert. In seinem Kopf surrt es. Seine Arme und Beine werden schwer, und er verliert das Gleichgewicht. Fällt auf die Knie.
Der Schwarzgekleidete kommt auf die Beine. Er setzt den Aufzug wieder in Bewegung, bevor er erneut das Schwert über Thomas erhebt. Thomas schaut auf. Die Klinge rast genau auf ihn zu. Da gleiten die Türen des Aufzugs plötzlich auf, und Adam Zahle kommt zum Vorschein. Er hat seine Pistole auf den Fremden gerichtet. Die Klinge des Schwertes ändert ihren Kurs, und anstatt Thomas' Kopf entzweizuspalten, fährt sie in einem großen Bogen durch die Luft und trifft den jungen Ermittler vor dem Aufzug. Die Pistole fällt zu Boden, bevor Zahle auch nur einen einzigen Schuss abfeuern konnte. Er sinkt nieder und schlägt mit dem Gesicht auf dem Fußboden auf, ohne sich mit den Händen abzustützen. Die Muskeln in seinen Beinen zucken in heftigen Spasmen.
Das Mädchen stößt wieder einen Schrei aus. Ein schrilles, verzweifeltes Wimmern. Auf Händen und Füßen bewegt sie sich rückwärts. Krabbelt über Thomas hinweg, aber kommt nicht an dem schwarz gekleideten Mann vorbei. Er fasst sie an den Haaren und zieht daran, sodass sie den Halt verliert. Zerrt sie hinter sich her aus dem Aufzug. Thomas erhebt sich mühsam auf alle viere. Wirft sich nach vorn und umklammert ein Bein des Fremden. Verblüfft lässt dieser das Mädchen los. Er tritt nach Thomas und trifft ihn an der Stirn. Der Dreck unter den Stiefeln knirscht auf Thomas' Haut. Er sieht, wie das Mädchen hinter dem Fremden auf die Beine kommt. Sie rennt auf den Ausgang zu. Dann trifft ihn ein weiterer Fußtritt wie eine Explosion aus weißem Licht. Dieses Mal gegen die Nase. Er hört sich selbst aufstöhnen, als seine Arme unter ihm nachgeben und er kraftlos zu Boden sinkt.
Der Fremde läuft dem Mädchen hinterher.
Immer noch auf dem Boden liegend, benutzt Thomas seine Arme, um sich durch eine körperwarme Pfütze Blut zu Zahle hinüberzuziehen. Mit den Händen bekommt er das Hemd seines Kollegen zu fassen und krampft sich darin fest.
Dann kommen von allen Seiten Menschen herbei. Eine Frau in einem weißen Kittel hockt sich neben Zahle. Gedämpft und konzentriert spricht sie zu ihm. Thomas spürt eine Hand auf der Schulter und schaut nach oben.
»Können Sie mich hören?«, fragt ein verschwommenes Gesicht.
Thomas nickt.
»Zahle ...«, bringt er stammelnd hervor.
»Wir kümmern uns um ihn«, sagt das Gesicht. Es sind nur drei dunkle Löcher, ein Dreieck auf einem weißen Hintergrund. Wie ein Kind, das Löcher in ein Laken geschnitten und sich als Gespenst verkleidet hat. »Bleiben Sie ganz ruhig liegen. Wir kümmern uns um Sie beide.«
Die Frau wendet sich an ihre Kollegen. Thomas hört sie hektisch und schnell reden, aber ihre Worte sind dumpf und undeutlich. In seinem Kopf surrt es immer noch, und seine Arme sind mittlerweile so schwer, dass er sie nicht mehr bewegen kann. Ein Gefühl von Leere breitet sich wie ein Sog in seinem ganzen Körper aus, und als es seinen Kopf erreicht, wird er davon ins Nichts gesogen.
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Als er den ersten Schritt in die Höhle tut, dröhnt das Lied in seinem Kopf. Diese Worte sind seine Bestimmung. Sein Schicksal. Er ist der Drachentöter, und das Ungeheuer wird durch seine Hand sterben.
1
Die Beine versagen ihr den Dienst, und sie schlägt dumpf auf dem Küchenboden auf. Wirft einen Blick zurück über die Schulter. Er ist jetzt im Wohnzimmer. Auf dem Weg zu ihr. Der Puls dröhnt ihr wie Paukenschläge in den Ohren und übertönt seine Rufe. Ihr Blickfeld verengt sich, und der blassgrüne Schein der Leuchtstoffröhre über dem Küchentisch wird nach und nach von einer diffusen Dunkelheit verdrängt. Die Welt entgleitet ihr.
Nein, nicht jetzt. Nicht jetzt. Ich darf jetzt nicht ohnmächtig werden.
Sie rollt sich auf den Bauch. Stützt die Hände auf und kämpft sich hoch. Ihre nackten Füße rutschen in einer Blutlache aus. Ihre Kleidung ist mit Blut durchtränkt, aber sie selbst ist nicht verletzt. Noch nicht.
Mit kleinen, hektischen Bewegungen kriecht sie auf allen vieren hinüber zur Tür, die zur Hintertreppe führt. Schaut sich noch einmal um, auch wenn sie genau weiß, dass sie dadurch kostbare Sekunden verliert. Sie greift nach der Türklinke und zieht sich an ihr hoch, bis sie steht. Mit den blutverschmierten Fingern bekommt sie den Schlüssel nicht richtig zu fassen. Sie versucht, ihn im Schloss zu drehen, aber das Metall entgleitet ihr immer wieder. Sie kann den Mann jetzt riechen. Spürt die Wärme seines Körpers. Er steht genau hinter ihr.
Komm schon. Komm schon. Kommschonkommschonkommschon.
Die Tür springt auf. Sie reißt sie ganz auf.
Die Hintertreppe liegt in völliger Dunkelheit. Ihre Hände finden das Geländer. Sie stolpert die Stufen hinunter bis zum ersten Treppenabsatz. Weiter. Runter. Runter. Runter. Allmählich gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. Die Konturen der Treppenstufen treten deutlicher hervor. Plötzlich spürt sie eine unwahrscheinliche Kraft in ihren Beinen, und sie beginnt, an ein mögliches Gelingen ihrer Flucht zu glauben.
Mit ihrem ganzen Gewicht wirft sie sich gegen die Tür zum Innenhof. Stößt sie auf und läuft hinaus in den dichten, schweren Regen. Die Nacht ist eiskalt, und sie trägt nur ein T-Shirt und eine Unterhose. Doch sie nimmt die Kälte nicht wahr. Spürt nur, wie ihr das Blut und der Regen aus dem Haar in die Mundwinkel rinnen und ihren Mund mit dem Geschmack von Shampoo und Eisen erfüllen. Ihr Kopf sitzt auf einem Körper, der sich verselbstständigt hat, einem Körper, der sich einfach immer weiterbewegt, weil das Gehirn zu erschöpft und verängstigt ist, um ihm andere Befehle zu erteilen. Noch ein Schritt und noch einer. Zum Spielplatz. Vorbei an Wippe, Schaukel und Klettergerüst. Sie spürt eine Schicht kleiner Steinchen unter den Fußsohlen. Springt über einen niedrigen Zaun. Jetzt sieht sie das Tor, das aus dem Hof nach draußen führt. Es steht offen. Sie kann ihr Glück kaum fassen, als sie hindurchstürzt und auf die Straße gelangt. Sie läuft immer weiter. Um eine Ecke. Und um noch eine.
Erst als sie nicht mehr weiß, wo sie ist, bleibt sie stehen. Sieht sich um. Versucht, den Blick zu fokussieren. Sie steht mitten auf der Straße. Sieht Gaststätten und kleine Läden. Ein Auto fährt hupend an ihr vorbei. Der Luftzug reißt ihren rechten Arm nach hinten, doch das kümmert sie nicht. Sie hat es geschafft, aus der Wohnung zu entkommen. Hat trotz allem, was passiert ist, die Kraft gefunden, ihren Verfolger abzuschütteln. Alles andere spielt keine Rolle.
Dann sinkt sie in sich zusammen und muss sich mit den Händen auf den Oberschenkeln abstützen, um nicht zu Boden zu gehen. Ihr steht ein einziges Wirrwarr von kleinen Punkten vor Augen, die wie in einem Kaleidoskop die Farbe wechseln. Sie atmet hastig und flach.
Irgendwo in der Nähe hört sie ein Auto bremsen. Eine Autotür, die geöffnet wird, und einen Mann, der ihr etwas in einer fremden Sprache zuruft. Er ruft noch einmal, aber jetzt hört sie ihn nur noch wie aus weiter Ferne. Sie beginnt zu zittern. Ihre Beine geben unter ihr nach. Sie schlägt auf dem Asphalt auf, mit dem Gesicht zuerst, und nun ist das Blut in ihrem Mund ihr eigenes.
Langsam entgleitet ihr die Realität. Ihre Gedanken driften ab. Weg von dem Auto. Dem Regen und dem Asphalt. Fort aus dieser kalten Hauptstadt, die so weit von ihrer Heimat entfernt liegt.
Die Dunkelheit ist nun nicht mehr diffus, sondern tief und warm. Sie breitet sich um sie aus und umschließt sie.
Ruhe, denkt sie. Endlich ein bisschen Ruhe.
2
Die Streifenwagen stehen dicht gedrängt vor dem rotweiß gestreiften Absperrband mitten auf der Arkonagade im Stadtteil Vesterbro. Blaulicht blinkt lautlos im strömenden Regen und wirft flackernde Schatten auf die Hauswände.
Thomas Nyland spürt das dumpfe Rumpeln unter sich, als er über das Kopfsteinpflaster fährt. Er parkt seinen Dienstwagen abseits der anderen neben dem der Hundeführer und schaut durch das Geflimmer der Regentropfen hinauf zu den Hausdächern. Vor ihm peitschen die Scheibenwischer hin und her, und damit die Frontscheibe von innen nicht beschlägt, arbeitet das Gebläse auf höchster Stufe. Es hat den ganzen Februar über geregnet, und auch jetzt, da der Kalender mittlerweile Anfang März anzeigt, hat sich das Wetter noch nicht gebessert. Der Himmel über Kopenhagen ist schwarz wie das Nichts.
Er zieht den Reißverschluss seines etwas zu dünnen und etwas zu engen Anoraks bis zum Hals hoch und windet sich aus dem Auto. Bei dieser Bewegung kommt er sich jedes Mal vor wie eine Hand, die sich aus einem Gummihandschuh pellt. Er hat breite Schultern, ist kräftig gebaut und hat mächtige Oberarme, was allerdings nicht das Ergebnis vieler Stunden im Fitnesscenter ist. Seine Statur ist vielmehr das Erbe einer Bauernfamilie, die sich über unzählige Generationen hinweg auf den Feldern von Ostjütland abgerackert hat, wo auch er aufgewachsen ist. Und während diese Körperfülle durchaus von Vorteil war, als er damals in seiner Anfangszeit als junger Polizeianwärter diversen Kleinkriminellen auf der Straße einen Schrecken einjagen wollte, und auch heute noch manchmal von Vorteil sein kann, wenn er sich als Leiter ständig wechselnder Ermittlungsgruppen in der Abteilung für Personen gefährdende Kriminalität gegenüber seinen Kollegen durchsetzen muss, so ist sie ein mindestens ebenso großes Hindernis, wenn er in ein Auto hinein- oder wieder hinauswill.
Mit dem üblichen Mangel an Eleganz tritt er zum Abschluss dieses Manövers mit dem linken Fuß in eine tiefe Pfütze. Augenblicklich dringt Wasser durch ein Loch in der Schuhsohle, und seine Socke nimmt es auf wie ein Baby mit außer Kontrolle geratenem Saugreflex.
Er registriert es nicht, weil er im selben Moment auf Adam Zahle aufmerksam wird, der ihn mit ausholenden Armbewegungen zu sich winkt.
»Solltest du nicht ein bisschen mehr anhaben?«, begrüßt ihn der junge Ermittler.
Thomas sieht an sich hinunter: »Ist nicht notwendig. Ich habe noch eine Daunenjacke unter der Haut.«
Diesen Daunenjackenkommentar bringt Thomas beileibe nicht zum ersten Mal, aber Zahle ist trotzdem so höflich, ein kurzes, trockenes Lachen auszustoßen, bevor er fortfährt: »Hast du die Ehre, mit diesem Fall betraut zu sein, oder hältst du nur die Stellung, bis der Chef der Mordkommission da ist?«
»Dies ist mein Fall. Er verfolgt die Sache gewissermaßen von der Seitenlinie aus. Oder wahrscheinlich eher vom Bett aus, wenn man bedenkt, wie spät es ist. Er kommt morgen früh und räumt hier auf.«
»Das ist wirklich eine ganz schöne Sauerei da oben«, sagt der blasse junge Mann. Das feuchte, dunkle Haar klebt ihm in großen Locken auf der Stirn. Er presst die Lippen zusammen, scheint nach geeigneteren Worten zu suchen, wiederholt aber schließlich nur noch einmal: »Ist wirklich eine Sauerei da oben.«
Er deutet auf das mehrstöckige Haus, und gemeinsam gehen sie auf die offene Tür zu. Thomas begrüßt ein paar Kollegen mit einem Kopfnicken.
»Bist du der Einzige aus dem City-Revier?«, fragt Thomas seinen jungen Kollegen, als sie im Treppenhaus sind. Er selbst hat sein Büro im Polizeipräsidium von Kopenhagen, während Zahle im Polizeirevier Vesterbro, dem City-Revier, arbeitet. Bei Morden oder anderen Gewaltverbrechen werden in der Regel ein paar Beamte von der nächstliegenden Wache zum Tatort geschickt, die sich um die Situation kümmern, bis der Chef der Mordkommission oder einer seiner engsten Mitarbeiter da ist. Dann wird eine Gruppe von sechs bis zehn Ermittlern aus der Abteilung für Personen gefährdende Kriminalität mit den schwierigen ersten Phasen der Ermittlungsarbeit betraut.
»Nein, Eggers und Nielsen sind hier auch irgendwo«, sagt Zahle. »Und dann noch sieben, acht Streifenpolizisten. Sie befragen gerade den Anzeigeerstatter und die anderen Nachbarn.«
»Wie ich höre, haben wir es mit einem Mord zu tun«, sagt Thomas.
»Ja, das kann man wohl sagen. Komm, wir müssen ganz hoch in den vierten Stock.«
Thomas tritt seine Schuhe auf der Fußmatte ab, und seine durchnässte Socke gibt ein quatschendes Geräusch von sich.
»Wer hat uns geholt?«, fragt er.
»Um zehn nach drei hat der Nachbar die Einsatzzentrale angerufen. Er hatte ein Krachen gehört, vermutlich als die Tür eingetreten wurde, und dann Rufe aus der Wohnung. Er hat zuerst nicht reagiert, weil er dachte, das wäre nur ein normaler Streit. Aber dann fing eine Frau an, laut zu schreien, und er hat da drinnen irgendwas poltern hören. Danach war alles still.«
»Wie lange hat es gedauert, bis eine Streife hier war?«
Zahle antwortet nicht, sondern bleibt stehen und lehnt sich so unauffällig wie möglich an das Geländer.
»Keine Kondition?«, fragt Thomas.
»Ich gehe jetzt schon zum tausendsten Mal diese Treppe hier hoch. Demnächst hätte ich gern einen Vermerk in meinem Arbeitsvertrag, dass ich nur für Verbrechen im Erdgeschoss infrage komme. Was wolltest du wissen?«
»Wie viel Zeit ist vergangen, bis wir am Tatort waren?«
»Der erste Wagen des City-Reviers war nicht mal vier Minuten nach dem Notruf hier. Wie aus dem Lehrbuch. Aber da war es schon zu spät.«
Sie gehen weiter die Treppe hinauf.
»Ein Streit, sagst du. Ein Mann und eine Frau?«
»Eine Frau und zwei Männer.«
»Und einer der Männer ist tot?«
»Das Opfer heißt Anders Thorgaard. Siebenundzwanzig Jahre alt und Informatikstudent. Er hat die Wohnung gemietet. Dem Nachbarn zufolge hatte Anders gerade eine unbekannte Frau da, als der Täter auftauchte.«
»Und der Nachbar hat keine Ahnung, wer die Frau und der Täter sind?«
»Scheint keine besonders enge Nachbarschaft gewesen zu sein, aber er meint, Anders Thorgaard hätte allein in der Wohnung gelebt. Ihm war nie aufgefallen, dass da noch eine Frau wohnt.«
»Und wo sind die Frau und der andere Mann jetzt?«
»Die beiden Beamten, die zuerst hier waren, haben erzählt, dass zwei blutige Fußspuren die Hintertreppe hinunterführen. Eine barfuß, Größe sechsunddreißig, und die andere Größe siebenundvierzig, ein Paar dreckige Stiefel. Wahrscheinlich Militärstiefel oder so was in der Art. Der Täter scheint das Mädchen die Treppe hinunter verfolgt zu haben, nachdem er Thorgaard umgebracht hatte, und jetzt sind beide verschwunden. Die Hunde sind schon dabei, die Gegend abzusuchen, und ein Personenspürhund ist auch dabei.«
Thomas brummt zustimmend. Personenspürhunde sind speziell ausgebildete Hunde, die bei ihnen nur in besonders ernsten Fällen wie bei Vergewaltigung oder Mord zum Einsatz kommen, unter anderem, um nach DNA-Spuren zu suchen.
Sie betreten den Flur. Es ist dunkel und stickig. Thomas versucht, normal zu atmen, aber der penetrante Geruch von Fett und Eisen legt sich ihm wie ein klebriger Film auf Haut und Mund. Langsam gehen sie weiter hinein. Meiden die Mitte des Ganges, um keine technischen Formspuren zu zerstören, bevor die Kollegen von der Kriminaltechnik Gelegenheit hatten, die Wohnung zu durchforsten. Sie fassen nichts an. Lassen die Finger von den Lichtschaltern und heben nichts vom Boden auf.
Sie kommen ins Wohnzimmer. Eine windschiefe Reispapierlampe hängt von der Decke und verbreitet ein bleichgelbes Licht im Raum. Am Fenster steht ein Esstisch und an der Wand ein Sofa. Auf einem alten Schreibtisch befindet sich ein Laptop, der an zwei große Flachbildschirme angeschlossen ist. Keine Pflanzen auf dem Fensterbrett, keine Kissen auf dem Sofa, kein Kerzenständer auf dem Tisch.
»Hier hat keine Frau gewohnt. Und wenn doch, dann noch nicht sehr lange«, sagt Thomas halb zu sich selbst.
Er deutet mit dem Kopf auf den Computer: »Einer von den IT-Leuten soll sich den mal angucken, sobald sie hier sind. Am besten Hindrik Skulasson, wenn es irgendwie geht.«
Er lässt den Blick über den Fußboden schweifen. Eine breite rote Spur zieht sich vom Schlafzimmer durchs Wohnzimmer und bis in die Küche, wo sich das Blut in einer großen Pfütze gesammelt hat.
»Wann kommen die Kriminaltechniker?«
»Fahren gerade unten vor. Wir hauen lieber ab, bevor sie uns rausschmeißen.«
Thomas dreht sich um.
»Ich will nur noch einen Blick ins Schlafzimmer werfen «, sagt er.
Damit geht er an seinem Kollegen vorbei in das angrenzende Zimmer. Vor den Fenstern hängen dünne weiße Kunststoffrollos, und nur eine einzige Nachttischlampe erleuchtet den Raum. Ihr Strahl ist gegen die Decke gerichtet. Auf einer offenen Reisetasche häufen sich locker hingeworfene Oberteile, Kapuzenpullis und Jeans in Größe XS. Zwischen den Kleidungsstücken liegt billiger Modeschmuck aus Plastik. An allem sind noch die Preisschilder befestigt.
»Sie haben der Frau neue Klamotten gekauft. Und eine Tasche. Ob sie wohl zusammen abhauen wollten?«
Thomas stellt die Frage so leise, dass nur er sie hören kann.
Vor dem Bett liegt die Leiche von Anders Thorgaard. Er liegt mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Rücken, so als hätte er gerade einen Schnee-Engel auf dem harten Holzfußboden machen wollen, als er getötet wurde. Eine etwa zwei Meter lange Metallstange wurde ihm offenbar mit großer Kraft in den Brustkasten gerammt.
»Bei dem Licht kann man nicht besonders viel erkennen, aber abgesehen von der Metallstange, hat Friis noch ein paar Wunden am Oberkörper des Opfers gefunden. Abwechselnd tiefe und oberflächliche Schnitte. Er meint, die müssten von einem großen Messer oder einer Machete stammen. Hier war ordentlich was los. Das Opfer hat an der linken Hand zwei Finger verloren, und ein paar von den Wunden sind so tief, dass ...«
Adam Zahle wird von einem Anruf unterbrochen. Er kehrt Thomas den Rücken zu und nimmt ihn entgegen.
»Okay«, sagt er in sein Handy. »Wo?«
Thomas tritt einen Schritt vor, um sich die Metallstange näher anzusehen. Das vordere Ende, das im Brustkasten steckt, ist spitz. Wie ein Speer.
Er kniet sich neben die Leiche.
»Hast du das hier gesehen?«, fragt er seinen Kollegen.
Adam Zahle beendet sein Telefongespräch und schaut Thomas an.
»Was hast du gesagt?«
»Ich wollte wissen, ob du das hier gesehen hast.«
Er fischt eine Taschenlampe aus der Innentasche seines Anoraks. Sie ist gerade mal so groß wie ein Kugelschreiber, aber das kühle, blaue Licht ist kräftig. Thomas leuchtet damit eine lange Kerbe im Fußboden neben der Leiche an. Sie ist zwei bis drei Zentimeter tief, etwa zehn Zentimeter lang und einen Zentimeter breit. Die Ränder sind ausgefranst, so als hätte jemand ein Messer in den Boden gestoßen und es hin- und hergedreht, bis das Holz splitterte.
»Was ist das?«, fragt Adam Zahle.
»Keine Ahnung«, antwortet Thomas. »Das muss der Täter gemacht haben. War sicher nicht allzu schwer, weil das Holz vom Blut schon aufgeweicht war, aber es muss eine Weile gedauert haben. Ein paar Minuten vielleicht. Warum hält er sich mit so was auf, mitten im Morden, noch vor der Jagd auf die Frau?«
Adam Zahle zuckt mit den Schultern. »Pass auf, das war die Zentrale, gerade eben. Sie sind sich ziemlich sicher, dass die verschwundene Frau aufgegriffen wurde. Sie ist im Uniklinikum. Ein Autofahrer hat nicht allzu weit von hier eine junge Frau in T-Shirt und Unterhose mitten auf der Straße gefunden und den Krankenwagen gerufen.«
»Zustand?«
»Sie lebt«, antwortet Zahle. »Mehr können sie im Moment nicht sagen.«
Thomas nickt. Holt einmal tief Luft, reibt sich die Hände und sieht sich in der Wohnung um. Betrachtet den jungen Ermittler vor sich. Bevor Thomas die Stelle in der Abteilung für Personen gefährdende Kriminalität bekam, war er als Leiter der Ermittlungseinheit im City-Revier Zahles Vorgesetzter. Und wie er so dasteht und seinen ehemaligen Mitarbeiter ansieht, überkommt ihn plötzlich ein Anflug von Wehmut. Sie haben gut zusammengearbeitet. Hatten so ein ganz besonderes Verständnis füreinander, das er bei seinen neuen Kollegen noch vermisst.
»Lass uns zusammen ins Uniklinikum fahren«, sagt Thomas in einem seltenen Anfall von Spontaneität. »Du kannst mit den Rettungssanitätern und den Ärzten reden, während ich ein erstes Verhör mit dem Mädchen mache. Okay?«
Zahle nickt und lächelt. »Wenn du's sagst, Boss. Wie in alten Zeiten.«
Weiß gekleidete Kriminaltechniker strömen mit Koffern und Fotoapparaten in die Wohnung. Thomas verfolgt ihre präzisen, vorsichtigen Bewegungen.
»Komm«, hört er Zahle sagen. »Lass uns zusehen, dass wir hier wegkommen.«
3
Als Thomas die Tür zum Krankenzimmer hinter sich zuzieht, ist es vollkommen still.
Er bleibt einen Moment stehen und lehnt sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. Das Mädchen sieht nicht zu ihm auf. Sie sitzt einfach regungslos auf dem Bett, die Beine an die Brust gezogen, den Blick auf absolut gar nichts gerichtet. Ihr schwarz gefärbtes Haar hängt herunter und verdeckt den Großteil ihres Gesichts, aber Thomas kann einen Bluterguss auf ihrer Wange erahnen, vermutlich von einem Schlag, und eine Platzwunde an ihrer Oberlippe.
Das Pflegepersonal hat ihr etwas zum Anziehen gegeben. Einen Krankenhausschlafanzug, bestehend aus einer weiten weißen Schlafanzugjacke mit Knöpfen und einer großen weißen Hose. Am Hals, am Kinn und an den Armen hat sie immer noch dunkelrote Blutflecke, die mittlerweile angetrocknet sind. Ihre rissigen Fingernägel sind an beiden Händen schwarz.
Die großen Fensterscheiben hinter dem Bett sind dunkel und nass vom Regen. Tagsüber blickt man von hier oben aus der siebten Etage auf die Dächer der Stadt, nun aber sieht Thomas nur ein verschwommenes Spiegelbild von dem Mädchen, dem Bett und sich selbst.
Er schiebt einen Stuhl neben das Krankenbett und setzt sich hin. Lehnt sich ein wenig zur Seite und versucht, dem Blick des Mädchens zu begegnen. Ohne Erfolg.
»Mein Name ist Thomas Nyland«, beginnt er mit ruhiger und tiefer Stimme. Die Augen des Mädchens reagieren. Nur einen kurzen Moment, aber doch lange genug, dass Thomas es bemerkt. Irgendwo hinter diesem leeren Blick ist also noch Leben. Sie ist nicht katatonisch.
»Wie heißt du?«, fragt er.
Keine Antwort.
»Ich weiß, dass die Polizei einem schon mal Angst einjagen kann. Aber ich bin hier, um dir zu helfen. Ich möchte dir helfen, weil ich glaube, dass du heute Abend überfallen wurdest. Stimmt das?«
Das schwarzhaarige Mädchen wirkt auf dem Krankenbett unendlich klein. Sie muss etwa fünfzehn, sechzehn Jahre alt sein, aber für ihr Alter ist sie nicht besonders groß. Dünn. Die Haut unter den roten Flecken ist nur wenige Nuancen dunkler als das weiße Bettzeug, das einen gelblichen Schimmer hat.
»Willst du mir nicht sagen, wie du heißt?«, fährt Thomas mit gedämpfter Stimme fort.
Das Mädchen zieht die Beine noch etwas enger an sich.
»Ich weiß, du hast heute Abend etwas sehr Schreckliches gesehen, aber wenn ich dir helfen soll, wirst du mir ein paar Dinge erzählen müssen.«
Thomas schlägt das rechte Bein über das linke und lehnt sich so weit vor, wie sein Bauch es zulässt. Der Blick des Mädchens ist wieder tot wie der einer Puppe und völlig verschleiert.
»Woher kennst du Anders Thorgaard?«, fragt er. Lässt dem Mädchen Zeit zum Antworten, bevor er es noch einmal versucht: »Ist er ein Freund von dir? Oder dein Freund? Dein Bruder?«
Er wendet den Blick nicht von dem Mädchen ab. Versucht es anders: »Ich komme gerade aus der Wohnung. Ich habe gesehen, wie sie eingerichtet ist, und ich glaube nicht, dass du dort gewohnt hast. Stimmt das?«
Und noch einmal: »Wie lange kennst du Anders Thorgaard schon?«
Zwecklos.
»Kennst du den Mann, der dich in der Wohnung überfallen hat?«, fragt er. »Beschreib ihn doch mal. Wie groß ist er? Welche Haarfarbe hat er?«
Er erhebt sich mit einem Schnaufen und geht vor dem Bett auf und ab. Merkt, wie ihm das Mädchen mit dem Blick folgt, sobald sie glaubt, er bekäme es nicht mit.
»Hör zu«, sagt Thomas ruhig. »Ich bin gekommen, weil ich auf der Suche nach einem Mörder bin. Du hast Informationen, die verhindern könnten, dass er noch mehr Menschen tötet, deshalb ist es sehr, sehr wichtig, dass du mir erzählst, was du weißt. Egal wie sehr du dich fürchtest. Wenn du uns sagst, was du weißt, dann können meine Kollegen und ich dich viel leichter beschützen. Verstehst du?«
Das Mädchen schweigt.
»Wie sah der Mann aus, der dich und Anders Thorgaard überfallen hat?«
Thomas gibt es auf und setzt sich wieder. Bleibt eine ganze Weile neben dem Bett sitzen, ohne etwas zu sagen. Schließlich steht er mit einer ruckartigen Bewegung auf, zieht eine Visitenkarte aus seiner Innentasche und hält sie dem Mädchen hin. Sie nimmt sie nicht, daher legt er die Karte einfach neben ihr auf die Matratze und tippt mit seinem dicken Zeigefinger darauf.
»Hier ist meine Nummer, falls du doch noch mit mir reden möchtest. Du kannst mir vertrauen. Ich weiß, das ist vielleicht nicht so leicht, aber ich verspreche dir, du kannst mir vertrauen.«
Er dreht sich um und geht zur Tür. Bleibt stehen, als er vom Bett ein leises Summen hört. Schaut das Mädchen an. Sie sitzt immer noch regungslos da, aber aus ihrem Mund entweicht ein schwacher Luftstrom: »Sssssssssssssss...«
Thomas betrachtet sie, ohne etwas zu sagen. Dann geht das Summen, dieses stimmhafte S, in etwas anderes über: »Ssssssssmeeeiiij.«
Es ist nur undeutlich gehaucht, und Thomas weiß nicht genau, wie er es verstehen soll. Ist das ein Wort?
Er macht einen Schritt auf sie zu.
»Was sagst du da?«, fragt er.
Sie verstummt wieder.
Einen Augenblick ist er sich unsicher, ob er noch einmal versuchen soll, mit ihr in Kontakt zu kommen, oder ob er einfach gehen soll. Doch dann beschließt er, sie in Ruhe zu lassen, und verlässt das Zimmer.
4
Thomas grüßt den uniformierten Beamten, der neben der Tür sitzt und Wache hält, und sieht sich nach Adam Zahle um. Entdeckt den jungen Mann mit den großen Stirnlocken ein Stück weiter den Gang hinunter, wo er mit abgewandtem Gesicht telefoniert. Thomas wartet, bis er das Handy vom Ohr nimmt.
»Was Neues?«
»Nein«, sagt Zahle geistesabwesend. »Nein, das war nur der aktuelle Stand aus der Wohnung. Nichts Interessantes. Was sagt das Mädchen?«
»Nichts. Ich dringe nicht zu ihr durch. Aber sie hat diesen Blick, du weißt schon ...«
»Blick?«
Er seufzt müde: »Sie hat nicht nur heute Abend Prügel bekommen. Das geht schon seit Längerem. Und ihr scheint noch etwas anderes zugestoßen zu sein. Sie ist vergewaltigt worden. Davon gehe ich zu hundert Prozent aus. Wir müssen natürlich das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung abwarten, aber ich bin mir sicher.«
»Von Anders Thorgaard? Oder vom Täter?«
»Keine Ahnung.«
Thomas späht den Gang hinunter.
»Hör mal, ich brauche irgendwas aus dem Getränkeautomaten, wenn ich den Rest der Nacht überstehen will. Möchtest du auch was?«
Zahle kommt mit zu dem Automaten, wo Thomas zwei Plastikbecher mit dünnem, bitterem Kaffee zieht. Thomas reicht seinem Kollegen den einen, während er auf den anderen wartet. Bläst auf sein Getränk, damit es schneller abkühlt, und lässt die Hälfte der dunklen Flüssigkeit in einem Zug im Rachen verschwinden. Er schmatzt mit den Lippen, hält sich aber im nächsten Augenblick die Hand vor den Mund, als ihm auffällt, was für ein lautes Geräusch er soeben hervorgebracht hat.
»Ich habe noch gar nicht gefragt, wie es in den letzten Monaten so bei dir gelaufen ist«, sagt Thomas nach einem Moment des Schweigens. »Scheint ja alles ... ja, so wie immer zu sein.«
»Ja, stimmt schon. Und bei dir?«
»Gut. Ganz gut.«
Thomas sucht nach einer passenden Möglichkeit, das Gespräch fortzuführen, aber ihm fällt nichts ein. Small Talk war noch nie seine Stärke, nicht mal mit einem engen Kollegen. Er wippt mit dem Fuß. In seinem Schuh quatscht es immer noch. Einen kurzen Moment überlegt er, ob er auf seine nasse Socke zu sprechen kommen soll, doch das schlägt er sich schnell wieder aus dem Kopf. Anstatt etwas zu sagen, wendet er sich dem Automaten zu und beginnt, die Liste der Heißgetränke zu studieren. Denkt, dass er eigentlich mehr Lust auf einen Becher Kakao gehabt hätte, aber nie genau weiß, wie das von den Leuten um ihn herum aufgefasst wird. Er nickt. Hauptsächlich, um seinem Körper irgendetwas zu tun zu geben, damit die Pausen zwischen den Worten nicht allzu lang erscheinen.
»Wie läuft's in der neuen Abteilung?«, fragt Zahle, als er seinen Becher leer getrunken hat.
Thomas dreht sich zu ihm um: »Gut. Das ist eigentlich auch nicht viel anders als das, was wir ...«
Plötzlich wandert sein Blick von seinem Kollegen zu einem Punkt ein Stück weiter hinten. Zahle dreht den Kopf, um zu sehen, was Thomas' Interesse geweckt hat: Der uniformierte Beamte vor dem Krankenzimmer des Mädchens ist aufgestanden und hat die Tür geöffnet. Nun hören auch Zahle und Thomas die klagenden Rufe des Mädchens im Zimmer. Der Beamte geht zu ihr hinein und schließt die Tür hinter sich. Ein paar Sekunden später ist ein tiefes, wütendes Geheul von ihm zu hören.
»Ups«, entfährt es Thomas.
Er läuft auf das Krankenzimmer zu. Im nächsten Augenblick stürmt das dünne, bleiche Mädchen mit einer Nierenschale voller Blutspritzer auf den Gang. Sie sieht sich nach beiden Seiten um. Entdeckt Thomas, der auf sie zugerast kommt, und rennt in die andere Richtung. Wirft die Schale von sich. Ihre nackten Füße klatschen auf den Linoleumboden.
Der uniformierte Beamte stürzt aus dem Zimmer und hält sich beide Hände vors Gesicht. Durch seine Finger kann Thomas dickes, verschmiertes Blut unterhalb der Nase erkennen.
»Sie hat mir eins draufgegeben«, ruft der Kollege wütend, sodass Blut und Spucke von seinen Lippen spritzen.
Das Mädchen ist mittlerweile am Ende des Ganges angelangt und biegt um die Ecke. Sie ist schnell. Thomas kommt kaum hinterher, auch wenn er sich die größte Mühe gibt. Als er an der Ecke ist, schlüpft sie gerade zwischen zwei Krankenschwestern hindurch in einen Aufzug, dessen Türen sich langsam schließen.
»Haltet sie auf!«, brüllt er. Doch der Anblick des riesigen Mannes, der über den Gang gepoltert kommt, schlägt die Krankenschwestern umgehend in die Flucht. Thomas erreicht den Aufzug, kurz bevor die Türen endgültig zugehen. Er steckt einen Fuß in den Spalt, sodass sie automatisch wieder aufgleiten. Das Mädchen kauert sich in eine Ecke des Aufzugs und verbirgt ihr Gesicht. Sie schreit.
Erst da wird Thomas klar, dass er einen ziemlich wilden Eindruck machen muss. Er ist ein brüllender Fleischberg, der offenbar eine ebenso Furcht einflößende Wirkung hat wie der Mörder von Anders Thorgaard.
Er bleibt in der Türöffnung stehen und richtet sich auf, während die Türen wieder und wieder versuchen, sich zu schließen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagt er. Sein Atem geht schwer, und er muss sich immer wieder unterbrechen, um Luft zu holen. »Ich bin hier, um dir zu helfen. Ich will herausfinden, wer ...«
Plötzlich hält er inne, als er merkt, dass genau hinter ihm jemand steht. Er fährt herum und erwartet, in Zahles Gesicht zu blicken, doch stattdessen steht dort ein Fremder. Ein schlanker Mann, der gut einen Kopf größer ist als er selbst. Er hat lange, nasse Haare und einen großen, dichten Vollbart. Sein schwarzer Ledermantel hängt offen an ihm herunter.
Der Schrei des Mädchens verstummt, und sie reißt panisch die Augen auf. Thomas versteht sofort den Zusammenhang. Das ist der Mann, der Anders Thorgaard ermordet hat. Und jetzt ist er hier, um auch das Mädchen zu töten.
Thomas greift nach seiner Dienstwaffe, die er im Halfter unter dem linken Arm trägt. Eine Heckler & Koch USP Compact 9 mm. Doch er hat gerade erst den Schaft berührt, als der Fremde ihm auch schon einen kräftigen Hieb in den Magen versetzt, der ihn nach hinten gegen die Wand des Aufzugs schleudert. Der Mann im Mantel kommt herein, die Türen fallen zu, und der Aufzug setzt sich in Bewegung. Nach unten. Dann nimmt der Fremde die Hände hinter den Kopf und zieht zu Thomas' Erstaunen ein langes, schweres Schwert. Thomas' Gehirn schlägt Alarm, um seinen Körper zum Weglaufen zu bewegen, aber er kann nirgendwohin. Stattdessen wirft er sich mit dem Oberkörper gegen den Mann, bevor dieser die Klinge nach vorn führen kann. Er brüllt zum Angriff und stürzt sich mit der Schulter voran auf seinen Feind. Dem entgleitet das Schwert, und die beiden Männer taumeln zu Boden. Betätigen im Fall aus Versehen die Notbremse. Von der Decke ertönt ein dumpfes Geräusch, und mit einem Ruck bleibt der Aufzug stehen. Das Schwert landet genau zwischen Thomas und dem Schwarzgekleideten. In der nächsten Sekunde liegt Thomas auf ihm und drückt ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Die Hände des Fremden suchen nach dem Heft des Schwertes, bekommen es aber nicht zu fassen. Ruckartig stößt er mit dem Kopf zu, sodass seine Stirn mit voller Wucht gegen Thomas' Wange prallt. Nur einen kurzen Moment lockert sich Thomas' Griff, aber das genügt dem Mann, um sich loszureißen. Noch immer auf dem Boden liegend, bekommt er das Schwert zu packen. Er dreht sich um, kommt auf die Knie und stößt mit der Klinge zu. Als sie Thomas ins Fleisch fährt, fühlt es sich für ihn nicht schlimmer an als ein Schlag in den Magen. Er zieht den Oberkörper zurück und befreit sich von dem Schwert. In seinem Kopf surrt es. Seine Arme und Beine werden schwer, und er verliert das Gleichgewicht. Fällt auf die Knie.
Der Schwarzgekleidete kommt auf die Beine. Er setzt den Aufzug wieder in Bewegung, bevor er erneut das Schwert über Thomas erhebt. Thomas schaut auf. Die Klinge rast genau auf ihn zu. Da gleiten die Türen des Aufzugs plötzlich auf, und Adam Zahle kommt zum Vorschein. Er hat seine Pistole auf den Fremden gerichtet. Die Klinge des Schwertes ändert ihren Kurs, und anstatt Thomas' Kopf entzweizuspalten, fährt sie in einem großen Bogen durch die Luft und trifft den jungen Ermittler vor dem Aufzug. Die Pistole fällt zu Boden, bevor Zahle auch nur einen einzigen Schuss abfeuern konnte. Er sinkt nieder und schlägt mit dem Gesicht auf dem Fußboden auf, ohne sich mit den Händen abzustützen. Die Muskeln in seinen Beinen zucken in heftigen Spasmen.
Das Mädchen stößt wieder einen Schrei aus. Ein schrilles, verzweifeltes Wimmern. Auf Händen und Füßen bewegt sie sich rückwärts. Krabbelt über Thomas hinweg, aber kommt nicht an dem schwarz gekleideten Mann vorbei. Er fasst sie an den Haaren und zieht daran, sodass sie den Halt verliert. Zerrt sie hinter sich her aus dem Aufzug. Thomas erhebt sich mühsam auf alle viere. Wirft sich nach vorn und umklammert ein Bein des Fremden. Verblüfft lässt dieser das Mädchen los. Er tritt nach Thomas und trifft ihn an der Stirn. Der Dreck unter den Stiefeln knirscht auf Thomas' Haut. Er sieht, wie das Mädchen hinter dem Fremden auf die Beine kommt. Sie rennt auf den Ausgang zu. Dann trifft ihn ein weiterer Fußtritt wie eine Explosion aus weißem Licht. Dieses Mal gegen die Nase. Er hört sich selbst aufstöhnen, als seine Arme unter ihm nachgeben und er kraftlos zu Boden sinkt.
Der Fremde läuft dem Mädchen hinterher.
Immer noch auf dem Boden liegend, benutzt Thomas seine Arme, um sich durch eine körperwarme Pfütze Blut zu Zahle hinüberzuziehen. Mit den Händen bekommt er das Hemd seines Kollegen zu fassen und krampft sich darin fest.
Dann kommen von allen Seiten Menschen herbei. Eine Frau in einem weißen Kittel hockt sich neben Zahle. Gedämpft und konzentriert spricht sie zu ihm. Thomas spürt eine Hand auf der Schulter und schaut nach oben.
»Können Sie mich hören?«, fragt ein verschwommenes Gesicht.
Thomas nickt.
»Zahle ...«, bringt er stammelnd hervor.
»Wir kümmern uns um ihn«, sagt das Gesicht. Es sind nur drei dunkle Löcher, ein Dreieck auf einem weißen Hintergrund. Wie ein Kind, das Löcher in ein Laken geschnitten und sich als Gespenst verkleidet hat. »Bleiben Sie ganz ruhig liegen. Wir kümmern uns um Sie beide.«
Die Frau wendet sich an ihre Kollegen. Thomas hört sie hektisch und schnell reden, aber ihre Worte sind dumpf und undeutlich. In seinem Kopf surrt es immer noch, und seine Arme sind mittlerweile so schwer, dass er sie nicht mehr bewegen kann. Ein Gefühl von Leere breitet sich wie ein Sog in seinem ganzen Körper aus, und als es seinen Kopf erreicht, wird er davon ins Nichts gesogen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
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Autoren-Porträt von JENS OSTERGAARD
Jens Østergaard hat Journalismus studiert und unter anderem als Redakteur bei einem dänischen Radiosender gearbeitet. Heute ist er als Kommunikationsberater tätig. Sein erster Roman hat in Dänemark für großes Aufsehen gesorgt. Weitere Informationen unter: www.jensostergaard.com
Bibliographische Angaben
- Autor: JENS OSTERGAARD
- 2013, 1, 280 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863653971
- ISBN-13: 9783863653972
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