Böse Schafe
Geblieben ist ein Schulheft mit undatierten Einträgen, genau neunundachtzig Sätze, in denen Harry festhielt, was ihn beschäftigte, während er mit Soja zusammen war. Vieles kommt vor, eine fehlt: Soja. Jahre später macht sie sich daran, die gemeinsame Geschichte zu erzählen und die Leerstelle zu füllen, die Harry hinterließ. Sie erinnert sich an den Mann, der sie durch seine Entschiedenheit beeindruckt, gleich anfangs mit einem Geschenk verstört und ihr Herz mit einem Kinderkuss erobert hat - und um den sie sich leidenschaftlich und wider alle Vernunft bemüht.
Obwohl er sich in jeder Hinsicht bedeckt hält, gibt Harry einiges preis: nach einem Raubüberfall zehn Jahre im Knast, auf Bewährung draußen, Bewährungsauflagen verletzt, weil Drogentherapie abgebrochen, angewiesen auf neue Maßnahme, sonst umgehende Inhaftierung. Und das bringt Soja nicht gegen ihn auf, sondern auf Trab. Sie organisiert eine neue Therapie, verpflichtet ihre wenigen Freunde zu einer lückenlosen Begleitung und ignoriert doch alle Indizien dafür, dass Harry ihr manches verschwiegen hat. Und tatsächlich dauert es nicht lange, bis die nächste Bombe platzt.
Katja Lange-Müller, vielfach ausgezeichnete Meisterin der Erzählung, greift dem Leser mit diesem lange erwarteten Roman ans Herz: Einfühlsam, komisch und in einer melancholischen Tonlage erzählt sie davon, wie eine unglückliche Liebesgeschichte das größte Glück im Leben sein kann und liefert fast nebenbei ein atmosphärisch dichtes Porträt des geteilten, stillstehenden Berlins der 80er-Jahre.
Böse Schafe von Katja Langen-Müller
LESEPROBE
Wieferngesteuert erreichte ich die Pallas-Athene-Straße12, öffnete die Tür zu der Fünfzimmerwohnung im vierten Stock des zweitenHinterhofs, die sich Christoph mit drei Freunden teilte, und dann, bis zumAnschlag, den breitmäuligen Messinghahn, aus dem das Wasser in disproportionaldünnem, unregelmäßigem Strahl hinunterrann auf denGrund der tiefen, sanft gerundeten Badewanne, die mich jedesmalan die Krankenhaus-Nachttöpfe aus meiner Zeit als Hilfspflegerin erinnerte,nicht nur der Form und des Geräusches wegen, sondern auch, weil sie bestenfallszu einem Drittel gefüllt war, wenn sich der - zum Glück über dem Fußendehängende - schrottreife Dreißig-Liter-Gasboiler nach einer knappen Stundeendlich entleert hatte. Meistens nutzte ich diese Stunde, um mich für dasPrivileg zu revanchieren, spülte Geschirr, bügelte Hemden oder bereitete dieSuppe vor, die ich nach dem Baden gerne kochte, schön langsam; es konnte jasein, daß Christoph ausnahmsweise mal vor Mitternachtheimkehrte oder wenigstens einer seiner Wohngenossen Anton, Sven und Bruce.
Doch anjenem Freitag legte ich unverzüglich meine Sachen ab und mich fröstelnd auf denrostfleckigen Wannenboden. Aber nicht so, daß derfeine, dafür aus beträchtlicher Höhe hinabstürzende Wasserstrahl die leichtmanipulierbare Stelle zwischen meinen Beinen traf, denn beinahe mehr als denmechanisch herbeigeführten Orgasmus, den ich mir sonst immer gönnte, genoß ich es, in Eile zu sein.
Kaumrichtig trockengerubbelt, setzte ich mich nackt anden Küchentisch, frisierte und schminkte mich vor einem Klappspiegel, den ichim Bad entdeckt hatte - und dorthin zurückzubringen vergaß, weil ich nervöswar, so sehr, daß mir der Lidstrich mißriet und mein flüchtig gefönter, toupierter,hochgesteckter, von zuviel Haarspray klebrig-steifer Schopf aussah wie einaufgeplatzter Polsterstuhl, ein gefrorener Ameisenhaufen, ein verlassenesKrähennest Ich schlüpfte wieder in den kleinkariertenSommerhänger, der mir nun lächerlich verfrüht vorkam, fand noch eine blaueHerrenstrickjacke, die Helmut Kohl gepaßt undgestanden hätte, entschuldigte die Leihnahme auf einem Zettel, warf die Türhinter mir zu - und hatte Zeit, noch fast eine Stunde, in der ich hin und herüberlegte, ob ich meine Verabredung mit dir einhalten sollte oder besser nicht.
Ich kniffdann doch nicht; wahrscheinlich, weil ich mich später nicht mit sentimentalenSpekulationen über das womöglich Versäumte quälen wollte, und auch, weil ich insolchen, eine Entscheidung fordernden Situationen erkannte oder zu erkennenglaubte, daß, vor allem anderen, meine Mutter schuldwar an meinem »Hang zum Übermut«, den sie oft beklagt und der sie und mich nunfür immer getrennt hatte. Oder war Soja Kosmodemjanskajasschweres Schicksal etwa nicht, von den politischen Weltläuftenabgesehen, das Resultat ihres Kampfes wider den, nicht einmal nur uns Menscheneigenen, Selbsterhaltungstrieb gewesen?!
Peinlicherweisestand ich bereits vor dem Café, als ihr kamt; ja, ihr, denn wieder hattest dudiesen Benno im Schlepptau. Dein Blick war so, daßich einen Moment lang dachte, ich hätte meinen Geburtstag vergessen, du abernicht. Du strecktest mir eine langstielige, etwas angewelkte,nahezu blatt- und dornenlose rote Rose entgegen; mit der anderen Hand verbargstdu etwas hinter deinem Rücken. Dein Fuß stieß die Tür zum Lokal auf, duwähltest für uns einen Tisch in einer weit vom Eingang entfernen Ecke desRaumes und bestelltest bei der Kellnerin, deren einzige Gäste wir waren, dreiKännchen Kakao plus extra Schlagsahne.
Und erst jetzt,da sicher war, daß wir zumindest die nächste Stundemiteinander verbringen würden, musterte ich dein Gesicht in Ruhe und so gut esging in dem Zwielicht aus Sonnen- und Lampenschein. Trotz dieses Fieberglanzesauf deinen Pupillen, die widerspiegelten, was immer du ansahst, ähnelten deinegroßen blaßgrauen Augen denen eines alten Karpfens.Auch das Oval deines weichen, unrasierten Gesichts war blaß,und das linke deiner fleischigen Ohren lag dichter am Kopf als das rechte. Daseinige Zeit nicht geschnittene Haar fiel dir strähnig in die Stirn. Du hattestSchatten unter den Augen, die weder nur deine langen blonden Wimpern warfennoch allein von dem diffusen Licht herrührten. Am besten gefielen mir deinüppiger, aber männlicher Mund und dein kräftiges, in der Mitte gekerbtes Kinn,das für sich betrachtet aussah wie ein stoppliger Babypopo.
DieKellnerin brachte die Gedecke, goß Kakao in unsereTassen, ersetzte den vollen Aschenbecher durch einen leeren. Doch ehe ich inmeiner Gier den ersten Schluck nehmen konnte, legtest du das, was du hinterdeinem Rücken versteckt und dann neben deinem Stuhl geparkt hattest, zu derRose, die ich in ein Glas Wasser und an die Wand gestellt hatte. »Mach auf«,sagtest du strahlend; auch Benno versuchte ein Backgroundlächeln.
Ich hob denDeckel von dem violetten, ein wenig lädierten Karton und erblickte eine inHolzwolle gebettete, atemberaubend scheußliche Pierrot-, Harlekin- oderWeißclownpuppe mit blauem Kegelhütchen, grünerHalskrause, Stupsnäschen, herzförmiger Schnute und schwarzer Träne unter demeinen ihrer dämlich glotzenden Glasaugen.
Für denMoment, womöglich gar minutenlang, war ich so verblüfft, daßich die Kontrolle über meine Mimik verlor; das jedenfalls signalisierte mir derAnflug von Enttäuschung, der auf euren Gesichtern lag, als ich endlich wieder hochschauen konnte - zu Benno - und dann zu dir. Danke,sagte ich fast tonlos.
Duerwidertest nichts; aber Benno begann, als sei er Meister im Überspielenheikler Situationen, davon zu plappern, wie du diese »wertvolle Künstlerpuppe,eine einmalige Handarbeit«, all den kleineren, weniger schönen vorgezogen und»keine müde Mark« gescheut hättest, weil du der Meinung gewesen wärst, die undkeine andere passe zu mir.
Das nunbrachte mich gleich noch einmal aus der Fassung, jedoch nicht in dem Sinne, daß mich Zweifel allein an dir befallen hätten. Nein, ichfragte mich, was an meiner Erscheinung so zu deuten sei, daßes dir möglich war, zwischen diesem kitschigen Monstrum und mir irgendeineVerbindung herzustellen oder gar Ähnlichkeit zu entdecken.
Ichentschuldigte mich, ging zur Toilette, betrachtete die im Spiegel über demWaschbecken sichtbaren Teile meiner Person: die dilettantische Hochfrisur, dieich jetzt nicht einmal mehr mit einem zerrissenen Polster, einem Vogelnest odereinem Insektenbau vergleichen wollte, meinen kleinen roten Mund und meineschwarz umrandeten Augen. Tatsächlich, sagte ich zu der Erscheinung, die michdarstellte, wenn du dir jetzt noch eine Träne erlaubst, kannst du dich auch indie Holzwolle hauen.
Ich weißnicht, Harry, ob eine andere als ich zu euch zurückgekommen wäre, wenn sie ihreHandtasche dabei- und das Klofenster keine Gitter gehabt hätte.
Daß iches fertiggebracht hatte, meine Tasche stehenzulassen - und dann noch bei fremden, wenig Vertrauenerweckenden Männern, signalisierte mir nichts Gutes. Jäh überrollt von einerPanikwelle, die mich nur aus einem Grund nicht umwarf, nämlich dem, daß ich mein Geld seit dem Portemonnaieverlust tagsüber imBH aufbewahrte, unterdrückte ich jenes Bedürfnis, das mich diesen Ort hatteaufsuchen lassen, und ebenso das kaum geringere, mit dem letzten bräunlich ausdem Spender lugenden Papierhandtuch verbessernd an mir herumzuwischen.
Glücklicherweisefand ich euch dort wieder, wo ihr sein solltet, in der hinteren Ecke des Cafés,und war zumindest die Sorge um meine Tasche los. Du schautest mich nicht an,als ich mich seufzend auf den Stuhl plumpsen ließ, der jetzt zwischen euch freiwar und nicht identisch mit jenem, den ich vor wenigen Minuten verlassen hatte.Ihr wirktet verstimmt, ja richtig sauer. Ich fragte mich, ob die Ursache dafürnoch immer meine mäßige Freude über dein Geschenk sein konnte und ihr euchwomöglich deswegen gestritten hattet, oder ob euch etwas ganz anderes dieGesichter entstellte, etwas, wovon ich nun gar keine Ahnung hatte.
Ich griffnach der Puppe, sagte schrill: schönes Ding - und erschrak über meine falscheStimme.
»Nun nimmsie schon in den Arm«, setzte Benno nach und klang dabei nicht minder verlogenund vollends onkelhaft, als hätte ich diese fiese Puppe mit einem von ihmspendierten Los auf dem Rummel gewonnen, fügte er hinzu: »Die kann dir keinermehr wegnehmen.«
»Jetztreißt euch mal bloß nicht das Futter aus der Jacke«, das waren die Worte, mitdenen du unserem Laienspiel ein Ende machtest. Und obgleich du zu grinsenversuchtest, verriet dein sowohl Benno als auch mir ausweichender Blick, daß ich dir gründlich die Laune verdorben hatte. Nicht nurdir; die Stimmung war hin. Wir schwiegen wie die Steine; Kakao hatten wir auchkeinen mehr.
Nie wiederseither hätte ich so leicht, so souverän, ja elegant die Kurve nehmen, mich fürimmer rausziehen können aus jedweder Art von Verkehr mit dir; ich hätte nurmeine Tasche, die mickrige Rose, den peinlichen Clown greifen, etwas Geld zwischendie leeren Tassen legen und war nett zu sagen brauchen. Denn einige Schritteweg von dem Tisch, an dem wir drei das Denkmal des vergeigten Rendezvous gaben,stand sperrangelweit die Tür offen, hinter der Menschen wandelten, die sichwahrscheinlich allesamt besser fühlten als ich - in dem einen entscheidendenMoment, in dem ich nicht den Arsch hochkriegte, sondern die Torheit beging,nochmals deinen Blick zu suchen, der jetzt rabenschwarz war, Pupille durch unddurch, und meinem lange standhielt.
© Kiepenheuer& Witsch
- Autor: Katja Lange-Müller
- 2007, 9. Aufl., 208 Seiten, Maße: 12 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462039148
- ISBN-13: 9783462039146
- Erscheinungsdatum: 27.08.2007
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