Briefe für Emily
Briefe fürEmily von Camron Wright
LESEPROBE
Mein Bett ist kalt, und das Zimmer ist dunkel. Ich habe vieleDecken auf mein Bett gelegt, aber die halten den eisigen Wasatch-Wind nicht ab,der mir bis in die Knochen fährt. Während ich durch das Fenster auf meine schneebedecktenPflanzen schaue, merke ich, dass ich meinen Garten vermissen werde. Es wird mirfehlen zu beobachten, wie die Möhren aus den kaum staubkorngroßen Samen sprießen.Es wird mir fehlen, die Rüben im späten Frühjahr auszudünnen. Es wird mirfehlen, im Herbst Kartoffeln auszubuddeln. Es wird mir fehlen, eimerweiseZucchini zu ernten und sie ahnungslosen Nachbarn zu schenken, die nicht wissen,was sie damit anfangen sollen; es wird mir sogar fehlen zu sehen, wie diePflanzen jedes Jahr, wenn der Winter kommt, braun werden und absterben.
Mein Garten hat mich gelehrt, dass jedes Lebewesen sterbenmuss. Ich beobachte es seit vielen Jahren - ich wünschte nur, mir würden nochein paar Sommer bleiben, die ich mit Emily in meinem Garten verbringen könnte.
Ich habe noch mehr Enkelkinder, und ich möchte keinsbevorzugen, aber die anderen wohnen weit weg und kommen nur selten zu Besuch.Emily kommt jeden Freitag mit ihrer Mutter. Trotz des großen
Altersunterschiedssind Emily und ich die besten Freunde.
Mein Nameist Harry. Eigentlich ein lächerlicher Name, vor allem für einen Mann, derschon in jungen Jahren fast völlig kahl war, aber so heiße ich nun einmal. MeinVater hieß auch Harry und mein Großvater ebenfalls. Ich wünschte, ich könntesagen, dass ich den Namen an meinen Sohn weitergegeben hätte. Aber das kannich nicht. Als mein Sohn geboren wurde und wir uns für einen Namen entscheidenmussten, nannten wir ihn Bob. Er besucht mich selten, und er schreibt nie. Heutewünsche ich mir manchmal, ich hätte ihn auch Harry genannt.
Seltsamerweisebin ich nicht verbittert über das, was mit mir geschieht. Warum auch? Ich binnicht besser als alle anderen. Ich bin nicht weiser, nicht kräftiger, nicht intelligenter.(Okay, ich bin weiser als der alte Ross, der nebenan wohnt, aber das zähltnicht.) Warum also sollte es mich nicht treffen?
Ich hoffe,es wird schnell gehen, damit ich als Opa Harry in Erinnerung bleibe und nichtals der Mensch, zu dem ich mich allmählich entwickle. Aber ich fürchte, dassman mich in Erinnerung behalten wird als einen verabscheuungswürdigen, griesgrämigenalten Mann, und dieser Gedanke macht mich ganz krank. Tatsache ist, dass ichdabei bin, den Verstand zu verlieren. Ich habe Alzheimer - eine heimtückischeKrankheit, die Gehirnzellen zerstört. Je mehr die Verwüstung fortschreitet,umso mehr schrumpft das Gehirn - es folgt Demenz, der Mensch wirdorientierungslos und verwirrt. Es gibt keine Heilmethode und keine Möglichkeit,den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen.
DieKrankheit ist eine Diebin. Anfangs lässt sie einen hier und da Kleinigkeitenvergessen, aber sie ruht nicht, bis sie einem alles geraubt hat. Sie raubteinem die Lieblingsfarbe, den Duft des Lieblingsgerichts, die Erinnerung anden ersten Kuss und die Liebe zum Golfspielen. Ein belebender Frühlingsschauer,der die Erde mit glitzernden Wassertropfen reinigt, wird zu simplem Regen.Duftige Schneeflocken, die die Welt zu Beginn des Winters mit einer weißenDecke schmücken, fühlen sich nur noch kalt an. Das Herz schlägt, die Lungenimmt Luft auf, die Augen sehen Bilder, aber innerlich ist man tot. DerLebensgeist ist erloschen. Ich nenne die Krankheit heimtückisch, weil sie einemdie Würde raubt - sogar die Seele. Am Ende werde ich Emily vergessen.
DieKrankheit schreitet unaufhaltsam fort, und schon jetzt fangen die Leute an zulachen. Ich nehme es ihnen nicht übel; sie haben allen Grund zu lachen. Überdie albernen Dinge, die ich tue, würde ich auch lachen. Vor zwei Tagen habe ichin die Einfahrt vor meinem Haus gepinkelt. Ich musste mal, und in demAugenblick schien es mir der richtige Ort zu sein, um mich zu erleichtern. Voreiner Woche bin ich nachts aufgewacht, in die Küche gegangen und habe versucht,mit dem Spülmittel, das ich im Schrank unter der Spüle aufbewahre, zu gurgeln.Ich dachte, ich wäre im Badezimmer, und die grüne Flüssigkeit hatte dieselbeFarbe wie mein Mundwasser. Ich werde häufig nervös. Ich habe häufig Angst. Undich weine; ich weine wie ein kleines Kind über die lächerlichsten Dinge. Bisherhabe ich in meinem Leben kaum jemals geweint. (...)
© für die deutsche Ausgabe: Scherz Verlag, ein Verlag der S.Fischer Verlag GmbH
Übersetzung: Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
- Autor: Camron Wright
- 2003, 254 Seiten, Maße: 12,5 x 19,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Charlotte Breuer, Norbert Möllemann u. a.
- Verlag: FISCHER Scherz
- ISBN-10: 3502118701
- ISBN-13: 9783502118701
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