Carolina
Ein knapper Lebenslauf
Lebe deinen Traum!
Eine wunderbare Lektüre für alle Mädchen, die ihre Ziele erreichen wollen.
Carolina hat einen großen Traum: Tänzerin zu werden. Und sie hat eine große Liebe: Lev. Doch bei den politischen Verhältnissen, die in Tschechien herrschen,...
Eine wunderbare Lektüre für alle Mädchen, die ihre Ziele erreichen wollen.
Carolina hat einen großen Traum: Tänzerin zu werden. Und sie hat eine große Liebe: Lev. Doch bei den politischen Verhältnissen, die in Tschechien herrschen,...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Taschenbuch
6.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Carolina “
Klappentext zu „Carolina “
Lebe deinen Traum!Eine wunderbare Lektüre für alle Mädchen, die ihre Ziele erreichen wollen.
Carolina hat einen großen Traum: Tänzerin zu werden. Und sie hat eine große Liebe: Lev. Doch bei den politischen Verhältnissen, die in Tschechien herrschen, ist beides nicht leicht zu haben. Aber Carolina kann stur sein, wenn es darauf ankommt. Und sie wird kämpfen!
Sensibel und einfühlsam erzählt die preisgekrönte Autorin Iva Procházková von einem starken Mädchen, das allen Widrigkeiten zum Trotz seinen eigenen Weg geht.
Lese-Probe zu „Carolina “
Carolina - Ein knapper Lebenslauf von Iva Procházková Leicht gesagt, ein knapper Lebenslauf! Wie soll man sich denn entscheiden, was man schreibt oder auslässt? Knappheit, wie ich gleich zu Anfang erwähnen muss, war noch nie meine starke Seite. Ich mag Details, scheinbar nebensächliche Bemerkungen - alles im Hintergrund Versteckte ist mir wichtig.
... mehr
Der Zeitraum, das ist mein nächstes Problem. Sie, Frau Haschlerka, finden es höchstwahrscheinlich richtig, wenn ich meinen Lebenslauf mit dem 2. April 1982 beginne, an dem ich geboren wurde, aber schließlich habe ich selber keine Erinnerung an diesen Tag. Es war jedenfalls ein Freitag, so viel ist bekannt. Daddy behauptet, es hätte geregnet, aber Mama sah am Fenster des Kreißsaales kleine Sonnenflecken flimmern. Oma, die schon damals anfing mein Leben zu beeinflussen, weiß noch genau, dass die Drogerie in der Kladenskastraße, wo sie damals arbeitete, mit bunten Nachttöpfen auf kleinen Rädchen beliefert wurde - zu jener Zeit etwas völlig Neues in Prag. Schnell kaufte sie mir einen, da sie sich aber nicht zwischen einem blauen und einem rosafarbenen entscheiden konnte, wählte sie zuletzt einen grünen, womit sie auf mein Schicksal und meinen Geschmack ganz enorm einwirkte. Seit meiner frühen Kindheit liebe ich grün. Es gibt mir Kraft, Mut. Wenn ich nichts Grünes anhabe, weiß ich, dass ich mit Pech und Misserfolg rechnen kann. Damals, als ich vom Kirchturm in Ranow fiel, hatte ich eine Bluejeans und ein gelbes Shirt an. Deswegen brach ich mir das Schien- und das Schlüsselbein. In der Hosentasche war durch ein glückliches Versehen ein grünes Kinoticket versteckt, zerknüllt und verwaschen. Deswegen überlebte ich den Fall. Doch das nur nebenbei.
Von den ersten Jahren meines Lebens weiß ich, kurz gesagt, ungefähr so viel wie von den Kinderjahren Shakespeares. Noch kürzer gesagt: nichts. Angeblich habe ich einigen Unsinn angestellt. Na ja, alles nur Kleinigkeiten, wie bei jedem Kind. Ich verschluckte die Axt eines Playmobilritters. Ich ging meinem Vater auf dem Prager Hauptbahnhof verloren - man fand mich in Pilsen auf dem Marktplatz wieder. Ich trank Mamas Nagellackentferner. Ich vergaß den Wasserhahn zu schließen und verursachte eine Überschwemmung in meinem Kindergarten. Ich schnitt mir ein Stück von Omas bester Theaterbluse ab, weil ich eine Puppendecke nähen wollte. Ich aß Katzenvitamine, die den Haarwuchs verstärken. An all das kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht sind es Lügen. Vielleicht war ich ein braves, langweiliges Kleinkind und die Erwachsenen haben sich diese Geschichten später ausgedacht, um in mein und ihr Leben ein bisschen Spannung zu bringen. Oder aber ich habe das Ganze in einer Art kindlichem Winterschlaf erlebt, aus dem ich erst bei Frau Libalova erwachte.
Frau Libalova hatte einen langen Hals und lange, samtige Haare, die am Hinterkopf mit einer silbernen Haarspange befestigt waren. Sie leitete ein Ballettstudio in der Nähe des Stadtparks und weckte mich aus dem besagten Winterschlaf oder was immer das war, indem sie den großen Schrank in ihrer Garderobenecke öffnete und mir eine Reihe von Tutus und Röckchen zeigte, nach denen sich alle Mädchen sehnen und bestimmt auch viele Jungen, nur haben die Pech, weil sie sie nie bekommen werden.
Ein Röckchen war grün, darauf zeigte ich. Das Tutu schlotterte ein wenig an mir herum, aber Mama kürzte die Ärmelchen und bezahlte dann die Ballettstunden für mich. Sie war jedoch viel zu beschäftigt um mich hinzubringen, so dass Oma es übernahm, mich zu begleiten. Das hatte viele Vorteile. Vor allem den, dass Oma sich mit Ballett auskannte, denn sie hatte früher im Ensemble des Nationaltheaters getanzt. Wenn mir Frau Libalova quer durch den ganzen Saal ihre üblichen Bemerkungen zurief, wie: »Carolina, dein Rücken ist steif! Blas deinen Bauch nicht wie einen Luftballon auf! Arsch rein! Hat deine linke Schulter keine Lust mehr? Atme im Relevé, sonst läufst du blau an!«, dann erschrak Oma weder über die harten Ausdrücke meiner Lehrerin noch über meine scheinbare Unbeweglichkeit, sondern sie übte danach mit mir zu Hause genau die Bewegungen und Positionen ein, die mir zu schaffen machten. Sie kennen sich ja wohl in Prag aus, Frau Haschlerka, also muss ich Ihnen den Weg von unserem Bezirk Klarow bis zum Stadtpark nicht beschreiben. Im Winter fuhren wir mit der Straßenbahn, im Frühling und Herbst liefen wir über die Letna-Ebene. »Oma, erzähl doch was!«, begann ich meistens gleich vor unserer Haustür zu betteln. Oma weigerte sich anfangs immer. Sie tat so, als ob das Erzählen sie erschöpfte, langweilte. Es war nur ein Spiel. Sie spielte es um ihre Geschichten kostbarer zu machen. In Wirklichkeit erzählte sie gerne, weil sie sich dabei Gefühle und Menschen in Erinnerung rief, die sie sonst vielleicht vergessen hätte. Zum Beispiel die dicke Kommissarin, die vor langen Jahren Oma in ihr Büro befohlen hatte um ihr mitzuteilen, dass es nicht möglich sei, Oma weiterhin im Ballettensemble des Nationaltheaters zu behalten, weil ihr Mann ein Verräter sei und im Gefängnis sitze.
»Ich habe ihn da nicht hingesetzt«, antwortete Oma, die seit jeher gut kontern konnte.
Die dicke Kommissarin wusste Omas Schlagfertigkeit nicht zu schätzen. »Das Nationaltheater ist die erste Bühne dieses Staates und wir lassen nicht zu, dass dort Leute angestellt sind, die die alte Denkweise befürworten!«, erklärte sie Oma. Die alte Denkweise bedeutete, so sagte mir Oma damals, dass man sich schön kleiden, bequem wohnen, reisen und ohne Schlangestehen einkaufen wollte und es für falsch hielt, dass in den Schulen nur Russisch anstatt Französisch, Deutsch, Englisch und Spanisch unterrichtet wurde. Sie hieß außerdem, dass man nichts Schlechtes darin sah, wenn Eltern ihren Kindern ein Haus, einen Bauernhof oder einen Familienbetrieb vermachten. So einen wie etwa Opas Druckerei.
Die Druckerei, die Opa von seinem Vater geerbt hatte, war nicht groß, aber sie lief gut. Als sie nach dem Putsch im Jahr 1948 eingezogen wurde, durfte Opa anfangs noch dort arbeiten. Aber er war nicht brav. Benutzte bei der Arbeit sein Gehirn. Kritisierte die kommunistische Betriebsleitung. Erklärte den Arbeitern, was sie anders und besser machen sollten und wieso der neue Direktor ein Arschloch sei. Schließlich wurde Opa als Volksfeind bezeichnet und ins Gefängnis gebracht, damit er Ruhe gab.
Für Oma bedeutete das also den Rausschmiss aus dem Theater und sie musste stattdessen Mittagessen in der Schulkantine am Freiheitsplatz kochen. Ihrem Sohn, meinem Daddy, erzählte sie nichts von Opas Haft. Sie vertraute mir auf dem Weg zur Ballettstunde an, dass sie sein Kinderleben nicht mit unnötigen Problemen belasten wollte. Sie behauptete, Opa mache eine Dienstreise. Eine Dienstreise, die sich wahrscheinlich in die Länge ziehen werde. Daddy war sieben Jahre alt; er glaubte ihr. Doch eines Tages, in der Schönschriftstunde, die Daddy besonders liebte, weil er die schönste Schrift der ganzen Klasse hatte, unterbrach plötzlich der Schullautsprecher den Unterricht. Die Stimme des Schulleiters begann den Schülern und Lehrern die Namen der Verräter und Volksfeinde zu nennen, die in der letzten Zeit für ihre Taten verurteilt worden waren. Es waren eine ganze Reihe. Plötzlich tauchte unter den Namen ein kaum verwechselbarer Anastas Rubesch auf. Daddy erstarrte. Er dachte im ersten Moment, dass er sich verhört habe. Dass es ein Irrtum sei. Aber die Schönschriftlehrerin wusste, dass es kein Irrtum war. Sie wartete das Ende der Durchsage ab, dann rief sie meinen Vater zu sich, stellte ihn vor die Klasse und sagte: »Schüler und Schülerinnen, hier seht ihr den Sohn eines Verräters und Volksfeindes, schaut ihn euch gut an!«
Alle schauten Daddy an und der war nicht sicher, was er tun sollte. Sonst wusste er sich vorne an der Tafel immer zu helfen, weil er das Rechnen und Schreiben gut beherrschte. Aber jetzt fragte ihn niemand etwas, niemand stellte ihm eine Rechenaufgabe, und er konnte sich nicht entscheiden, ob er sich verbeugen sollte wie nach einem Gedichtvortrag oder die Hände hinter dem Rücken verschränken wie in den Momenten, wenn die Lehrerin absolute Ruhe verlangte. Letztendlich machte er gar nichts, stand nur da und lächelte. Aber die Lehrerin sagte: »Lach nicht, ein Verrätersohn zu sein ist nicht lustig!«, und schickte ihn zurück in seine Bank.
Es war wohl wirklich nicht sehr lustig. Von einem Tag zum anderen änderte sich alles. Auf einmal wollte keiner mehr Daddys Freund sein. Keiner wollte ihn mehr auf dem Schulweg begleiten. Beim Sportunterricht hatte kein Kind Lust mit meinem Vater eine Zweiergruppe zu bilden. Aus Daddy wurde zuerst ein Ausgestoßener, dann ein Einzelgänger, schließlich ein Individualist. Und das ist er geblieben.
Vielleicht passen Opas Gefängnisaufenthalt und Daddys Individualismus nicht direkt in meinen knappen Lebenslauf, aber mit meinem Leben hängen sie zusammen, das reden Sie mir nicht aus, Frau Haschlerka. Schauen Sie, wenn Oma nicht das Nationaltheater hätte verlassen müssen, hätte sie keine Sehnsucht danach gehabt. Wenn sie keine Sehnsucht nach dem Theater gehabt hätte, hätte sie mich nicht zum Ballettunterricht bei Frau Libalova gebracht. Wenn sie mich nicht zum Ballettunterricht gebracht hätte, den langen Weg von Klarow bis zum Stadtpark, hätte sie mir nicht so viel erzählt. Und wenn sie mir nicht so viel erzählt hätte, wüsste ich nicht, was alles meiner Geburt vorangegangen ist. Was die Leute, die in diesem Leben auf mich warteten, in jener Zeit erlebten. Welche Ereignisse sie vermutlich beeinflussten. Besonders Daddy geht mir da nun mal nicht aus dem Kopf.
Omas Meinung nach war es damals am schwersten für ihn, ihr zu verzeihen, dass sie ihm Opas Knast verheimlicht hatte. Dafür redete er 20 Tage lang nicht mit ihr. Am 21. Tag, als er von der Schule nach Hause kam, fand er in der Küche einen Zettel: Was man nicht benutzt, das verkümmert (können Pinguine etwa fliegen 2). Daddy dachte eine Weile über Omas Zettel nach, dann stellte er sich vor den Spiegel, streckte die Zunge raus und versuchte herauszufinden, ob sie in den letzten drei Wochen kürzer geworden war. Er war sich nicht sicher, also nahm er ein Lineal und maß die Zunge. Von der Wurzel bis zur Spitze war sie sechseinhalb Zentimeter lang. Abends waren es nur noch sechs. Am nächsten Morgen nach dem Aufwachen konnte Daddy nicht mehr als fünf Zentimeter messen. Oma hatte Recht.
»Guten Morgen, was gibt's zum Frühstück?«, sagte Daddy wenig später, als er die Küche betrat.
»Einen Erdbeerpfannkuchen«, antwortete Oma. Daddy setzte sich an den Tisch. Der Pfannkuchen schmeckte lecker, die Erdbeeren zergingen auf der Zunge, das Schweigen war gebrochen. Ein paar Tage später gelangten sie im Gespräch zum Kern der Sache. Oma erklärte Daddy, dass die ganze Gefängnisangelegenheit blanker Unsinn sei. Opa habe sich nur deshalb strafbar gemacht, weil er sich die Familiendruckerei nicht widerspruchslos habe nehmen lassen. »Es mag nun mal kein Dieb ein schreiendes Opfer. Er bringt es lieber zum Schweigen«, sagte sie. Und sie versicherte meinem Vater: »Denke nicht, dass es so bleibt. Jedes Unrecht kann nur eine begrenzte Zeit dauern.« Als sie das sagte, dachte sie bestimmt nicht daran, dass eine begrenzte Zeit länger sein kann als ein Menschenleben. Leben sind manchmal seltsam kurz.
Nachdem Opa im Gefängnis krank geworden war, brachten sie ihn zuerst ins Krankenhaus und dann nach Hause. Sie wussten, dass er nicht mehr viel schreien würde. Er starb innerhalb eines Monats, und obwohl man im Arztprotokoll als Todesursache Tuberkulose angab, wusste Oma, dass Opa an seinem Schweigen gestorben war. Wenn sie ihn über die derzeitigen politischen Umstände in der Republik und über die gestohlene Druckerei hätten schimpfen lassen, dann wäre er, so schätzte sie, während sie mir davon erzählte, noch heute hier. Ich stelle mir meinen Opa vor: Er würde auf einer Bank am Moldaukai sitzen, Prager Möwen füttern und mit Oma streiten. Tatsächlich kenne ich ihn nur von alten Fotos, vom Erzählen und ein bisschen auch von meinen Blicken in den Spiegel, weil wir die gleiche Stirn und Augenform und, wie Oma behauptet, ein total ähnliches Lachen haben. Ein breites, clowneskes, unzivilisiertes. Daddys Lachen ist anders. Er lacht nur wenig und vorsichtig, als ob er seine Fröhlichkeit mit niemandem teilen wollte. Bestimmt ist das ein Überbleibsel aus seiner Kindheit: Als die Klasse sich von ihm zurückzog, beschloss mein Vater eben, sich auch ohne andere zu helfen zu wissen.
»Glaubst du das ganze Leben ohne Freunde auskommen zu können? «, redete ihm Oma zu. Sein Verhalten irritierte sie. Sie selber hatte eine Menge Freundinnen aus dem Ballett und neue Freunde aus jedem Beruf, den sie später ausübte. Außerdem war sie mit zwei oder drei von Opas ehemaligen Angestellten aus der Druckerei, mit einem seiner Knastkollegen und vielen Kindern befreundet - halt mit jedem, der ihre Freundschaft schätzte. »Ohne Freunde bist du nicht nur nackt, sondern auch arm- und beinlos!«, sagte sie zu Daddy. Der lächelte bloß. Unter einem Freund konnte er sich irgendwie nichts vorstellen.
Ich weiß, ich weiß! Es sieht ernstlich so aus, als ob ich mich mehr mit meinem Vater und meiner Oma als mit mir beschäftigte, aber wenn Sie, Frau Haschlerka, darüber nachdenken, stellen Sie fest, da- dass daran nichts Merkwürdiges ist. Ich bin 16. Alles, was ich bisher erlebt habe, sind Episoden. Wo ihr Ursprung liegt, kann ich einfach nur dann erkennen, wenn ich weit zurückgehe. Es ist so, als ob Sie etwas ausgraben wollten und nicht genau wüssten, welche Form es hat. Sie graben lieber noch etwas tiefer um das Fundstück nicht beschädigen, oder?
Wenn ich meinen Vater heute betrachte, kann ich mir nur schwer vorstellen, wie er mit 18 aussah. Aus der Zeit gibt es zu Hause nur ein paar Fotografien. Auf einer von ihnen steht er in einem dunklen Anzug mit Schlips und einer Mappe in der Hand herum. Den Anzug hatte Oma für ihn zum Geburtstag schneidern lassen und die Mappe verbarg Daddys Abiturzeugnis. Es war das beste der ganzen Schule und der Grund dafür lag auf der Hand. Opa war zwar tot, doch immer noch ein Volksfeind, und das schien meinem Vater keine gute Empfehlung für die Universität zu sein. Studieren wollte er aber unbedingt, das gehörte zu seinem Plan. Und der wiederum war nicht kompliziert, eigentlich drehte er sich um ein einziges Wort: beweisen. Mein Vater wollte sich selber, den Lehrern und Mitschülern, kurzum allen, die sich an seine Demütigung in der Schönschriftstunde erinnerten, beweisen, dass er vorbereitet war, dass er alles konnte. Am besten von allen.
Wenn ich manchmal mit Daddy streite, dann um diesen Punkt. Er begreift nicht, dass ich nichts zu beweisen brauche. Weder mir noch sonst wem. Viel lieber probiere ich dies und jenes. Einfach nur so. Zum Spaß. Aber dazu komme ich noch.
Schließlich verwirklichte mein Vater seinen Plan. Er absolvierte mit Erfolg die Technische Hochschule und bewies allen, dass er kein Dummkopf war - nur nutzte es nicht viel. Ich will damit sagen, dass inzwischen andere Sachen im Vordergrund standen. Man schrieb das Jahr 1968. Und was da los war, brauche ich Ihnen eigentlich nicht zu erzählen, Frau Haschlerka. Überall in Europa streikten und demonstrierten die Studenten. Sie verkündeten, dass sie eine bessere Welt wollten, als ihnen serviert wurde: eine gerechtere, menschlichere und hauptsächlich eine freiere. Es muss eine herrlich verrückte Zeit gewesen sein. Voller Blumen, Musik und Marihuana. Daddy rauchte kein Marihuana und hatte keine besondere Beziehung zu Blumen, aber für Musik interessierte er sich. Er war sogar Mitglied des Studententheaters Plattfuß. Sie machten politisches Kabarett und hatten Erfolg. Daddy spielte Gitarre und sang: Wir Tschechen sind eine Schwejknation, wir fürchten keine russische Invasion ...
Nur dass die Russen unmittelbar darauf einen Haufen Soldaten schickten um meinem Vater und anderen Aufmüpfigen das Singen abzugewöhnen; und wie Sie, Frau Haschlerka, ebenfalls wissen, die Soldaten hatten Erfolg, zwar nicht sofort, aber nach zwei, drei Jahren war es in Böhmen wieder mäuschenstill. Daddy begann als Ingenieur in der Autofabrik von Skoda zu arbeiten. Dabei verstummte er nicht völlig. Von Zeit zu Zeit traf er sich mit seinen früheren Kollegen aus dem Plattfuß Theater und sie sangen in kleinen Studentenklubs spöttische und widerspenstige Lieder. Dann aber zeigte sie jemand an, man machte eine riesige Affäre daraus, Daddy wurde verhaftet und verurteilt und musste für eineinhalb Jahre ins Gefängnis. Wenn es schon nicht lustig war, Sohn eines Verräters zu sein, selbst im Knast zu hocken kam meinem Vater noch weniger unterhaltsam vor. Er begriff bald, dass es nur um eines ging - aushalten und nicht verrückt werden. Das gelang ihm, aber als er nach 18 Monaten herauskam, war er ein anderer als vorher. Er hatte nicht bloß die meisten seiner schon früher spärlichen Haare verloren, zugleich hatte er beinah seine Stimme eingebüßt. Er sang überhaupt nicht mehr und sprach nur wenig. Was man nicht benutzt, das verkümmert, hätte Oma wieder schreiben können und wieder hätte sie Recht gehabt, nur dass Daddy jetzt nicht mehr sieben war und man ihn nicht so leicht zu etwas überreden konnte. In die Skoda-Fabrik wurde er nach der Entlassung aus dem Gefängnis nicht mehr aufgenommen und auch anderswo bekam er keine seiner Ausbildung entsprechende Stelle, also steckte er sein Hochschuldiplom in den Schrank und begann bei einer Tankstelle zu arbeiten.
Sehen Sie? Ich behaupte nicht, Frau Haschlerka, dass meine Art des Erzählens die knappste ist, aber Sie können nicht außer Acht lassen, dass ich erst auf der 13. Buchseite angekommen bin und schon habe ich Sie mit einem Haufen wichtiger Informationen überschüttet! Noch habe ich persönlich die Szene gar nicht betreten und trotzdem wissen Sie alles über mich außer dem bisherigen Verlauf meines eigenen Lebens. Und dazu kommen wir gleich, keine Angst.
Jetzt habe ich eine Aufgabe für Sie, Frau Haschlerka. Sie behaupten oft, dass die Fantasie der Grundstein zu allem sei. Benutzen Sie sie doch! Stellen Sie sich eine Tankstelle vor, am nordwestlichsten Zipfel Prags, neben der Eisenbahn. Es arbeiten dort vier Angestellte, einer davon mein Daddy. Sie erkennen ihn an seinem kahlen Kopf und dem höflichen Auftreten. Wenn er nicht gerade Kunden bedient, sitzt er im verglasten Büro und liest. So sah ihn zum ersten Mal meine Mama. Sie kam zu Fuß, weil ihr blauer Skoda 300 Meter vor der Tankstelle stehen geblieben war und es strikt ablehnte, sich wieder in Gang zu setzen.
»Ich glaube, dass ich keinen Tropfen Sprit mehr im Tank habe«, gab Mama bekannt, als sie ins verglaste Büro trat. »Was machen wir jetzt?«
Daddy wandte die Augen von seinem Buch ab. Die soeben gestellte Frage überraschte ihn. Sie war ein Zeichen dafür, dass die junge Frau an der Tür, eine Frau mit langen, weizenfarbenen Haaren, in einer Schlaghose und einem mexikanischen Poncho mit Fransen, aktive Teilnahme an ihrem Schicksal erwartete. Es störte Daddy nicht.
»Haben Sie einen Kanister?«, fragte er und stand auf. Mama schüttelte den Kopf. Vielleicht wusste sie gar nicht, was Daddy da eigentlich fragte. Begriffe wie Kanister, Simmerring, Keilriemen klangen in ihren Ohren schon immer ein bisschen geheimnisvoll. »Wir können den Wagen herschieben«, schlug sie vor. »Er steht da drüben, an der Straßenecke!«
Daddy ging hinaus, schloss das Büro und steuerte an Mamas Seite auf den blauen Skoda zu. Unterwegs fragte Mama ihn, was für ein Buch er vorhin gelesen habe. »Theorie der Kosmologie«, antwortete Daddy. Das beeindruckte Mama. Etwas später, als sie zusammen den Wagen zur Tankstelle schoben, fragte Daddy, wo sie eigentlich hinwollte.
»Raus aus all dem«, antwortete Mama und zeigte mit der Hand in Richtung der Moldauer Felsen hinter der Bahn. Das entzückte Daddy. Ihm schien, dass sein Interesse für das All und ihre Sehnsucht, die Grenzen von allem zu überschreiten, eigentlich ein und dasselbe seien. An der Tankstelle füllte er den leeren Tank des Skodas mit Benzin und forderte Mama höflich auf öfter vorbeizukommen.
Seit der Zeit tankte Mama regelmäßig an der Tankstelle neben der Eisenbahn. Bald stellte sie fest, dass ihr Daddys graue, immer ein wenig überraschte Augen gefielen und auch die ruhige Art, wie er mit Menschen umging. Er sprach und bewegte sich, als hätte er für alles tonnenweise Zeit. Erstmals verabredete er sich mit Mama nach zwei Monaten.
»Du hast dich endlich verliebt!«, sagte Oma erfreut, als sie bemerkte, dass auf dem Regal neben Daddys Bett Shakespeares Sonette lagen. Ihr Verdacht wurde weder bestätigt noch widerlegt. Daddy redete mit ihr nicht über sein Privatleben. Noch immer wohnte er in ihrer Wohnung, aber nach der Rückkehr aus dem Gefängnis war er noch zurückhaltender als vorher. Erst nach einer eineinhalb Jahre dauernden Bekanntschaft lud er Mama nach Hause zum Mittagessen ein.
»Wir haben beschlossen, dass wir vielleicht heiraten«, gab er zum Besten, während sie den Salat aßen.
»Vielleicht?«, fragte Oma.
»Vielleicht bald«, antwortete Mama. Mehr wurde darüber nicht gesprochen.
Sie heirateten am 14. August 1979. Die Hochzeitsreise führte in die schlesischen Berge. Auf der Rückfahrt tankten sie an einer kleinen Tankstelle in Ranow. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: Wir suchen einen Tankwart!
Daddy schaute sich um. Er sah Wiesen hinter der Straße und Hügel, die den Rand des Tales säumten. Auch den Kirchturm und Kinder auf dem Spielplatz eines Kindergartens sah er. »Was wäre, wenn wir hierher umziehen würden?«, fragte er Mama. »Benzin kann ich in Ranow genauso gut wie in Prag verkaufen.«
Mama nickte. »Und ich werde Rosen züchten«, fügte sie hinzu.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Der Zeitraum, das ist mein nächstes Problem. Sie, Frau Haschlerka, finden es höchstwahrscheinlich richtig, wenn ich meinen Lebenslauf mit dem 2. April 1982 beginne, an dem ich geboren wurde, aber schließlich habe ich selber keine Erinnerung an diesen Tag. Es war jedenfalls ein Freitag, so viel ist bekannt. Daddy behauptet, es hätte geregnet, aber Mama sah am Fenster des Kreißsaales kleine Sonnenflecken flimmern. Oma, die schon damals anfing mein Leben zu beeinflussen, weiß noch genau, dass die Drogerie in der Kladenskastraße, wo sie damals arbeitete, mit bunten Nachttöpfen auf kleinen Rädchen beliefert wurde - zu jener Zeit etwas völlig Neues in Prag. Schnell kaufte sie mir einen, da sie sich aber nicht zwischen einem blauen und einem rosafarbenen entscheiden konnte, wählte sie zuletzt einen grünen, womit sie auf mein Schicksal und meinen Geschmack ganz enorm einwirkte. Seit meiner frühen Kindheit liebe ich grün. Es gibt mir Kraft, Mut. Wenn ich nichts Grünes anhabe, weiß ich, dass ich mit Pech und Misserfolg rechnen kann. Damals, als ich vom Kirchturm in Ranow fiel, hatte ich eine Bluejeans und ein gelbes Shirt an. Deswegen brach ich mir das Schien- und das Schlüsselbein. In der Hosentasche war durch ein glückliches Versehen ein grünes Kinoticket versteckt, zerknüllt und verwaschen. Deswegen überlebte ich den Fall. Doch das nur nebenbei.
Von den ersten Jahren meines Lebens weiß ich, kurz gesagt, ungefähr so viel wie von den Kinderjahren Shakespeares. Noch kürzer gesagt: nichts. Angeblich habe ich einigen Unsinn angestellt. Na ja, alles nur Kleinigkeiten, wie bei jedem Kind. Ich verschluckte die Axt eines Playmobilritters. Ich ging meinem Vater auf dem Prager Hauptbahnhof verloren - man fand mich in Pilsen auf dem Marktplatz wieder. Ich trank Mamas Nagellackentferner. Ich vergaß den Wasserhahn zu schließen und verursachte eine Überschwemmung in meinem Kindergarten. Ich schnitt mir ein Stück von Omas bester Theaterbluse ab, weil ich eine Puppendecke nähen wollte. Ich aß Katzenvitamine, die den Haarwuchs verstärken. An all das kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht sind es Lügen. Vielleicht war ich ein braves, langweiliges Kleinkind und die Erwachsenen haben sich diese Geschichten später ausgedacht, um in mein und ihr Leben ein bisschen Spannung zu bringen. Oder aber ich habe das Ganze in einer Art kindlichem Winterschlaf erlebt, aus dem ich erst bei Frau Libalova erwachte.
Frau Libalova hatte einen langen Hals und lange, samtige Haare, die am Hinterkopf mit einer silbernen Haarspange befestigt waren. Sie leitete ein Ballettstudio in der Nähe des Stadtparks und weckte mich aus dem besagten Winterschlaf oder was immer das war, indem sie den großen Schrank in ihrer Garderobenecke öffnete und mir eine Reihe von Tutus und Röckchen zeigte, nach denen sich alle Mädchen sehnen und bestimmt auch viele Jungen, nur haben die Pech, weil sie sie nie bekommen werden.
Ein Röckchen war grün, darauf zeigte ich. Das Tutu schlotterte ein wenig an mir herum, aber Mama kürzte die Ärmelchen und bezahlte dann die Ballettstunden für mich. Sie war jedoch viel zu beschäftigt um mich hinzubringen, so dass Oma es übernahm, mich zu begleiten. Das hatte viele Vorteile. Vor allem den, dass Oma sich mit Ballett auskannte, denn sie hatte früher im Ensemble des Nationaltheaters getanzt. Wenn mir Frau Libalova quer durch den ganzen Saal ihre üblichen Bemerkungen zurief, wie: »Carolina, dein Rücken ist steif! Blas deinen Bauch nicht wie einen Luftballon auf! Arsch rein! Hat deine linke Schulter keine Lust mehr? Atme im Relevé, sonst läufst du blau an!«, dann erschrak Oma weder über die harten Ausdrücke meiner Lehrerin noch über meine scheinbare Unbeweglichkeit, sondern sie übte danach mit mir zu Hause genau die Bewegungen und Positionen ein, die mir zu schaffen machten. Sie kennen sich ja wohl in Prag aus, Frau Haschlerka, also muss ich Ihnen den Weg von unserem Bezirk Klarow bis zum Stadtpark nicht beschreiben. Im Winter fuhren wir mit der Straßenbahn, im Frühling und Herbst liefen wir über die Letna-Ebene. »Oma, erzähl doch was!«, begann ich meistens gleich vor unserer Haustür zu betteln. Oma weigerte sich anfangs immer. Sie tat so, als ob das Erzählen sie erschöpfte, langweilte. Es war nur ein Spiel. Sie spielte es um ihre Geschichten kostbarer zu machen. In Wirklichkeit erzählte sie gerne, weil sie sich dabei Gefühle und Menschen in Erinnerung rief, die sie sonst vielleicht vergessen hätte. Zum Beispiel die dicke Kommissarin, die vor langen Jahren Oma in ihr Büro befohlen hatte um ihr mitzuteilen, dass es nicht möglich sei, Oma weiterhin im Ballettensemble des Nationaltheaters zu behalten, weil ihr Mann ein Verräter sei und im Gefängnis sitze.
»Ich habe ihn da nicht hingesetzt«, antwortete Oma, die seit jeher gut kontern konnte.
Die dicke Kommissarin wusste Omas Schlagfertigkeit nicht zu schätzen. »Das Nationaltheater ist die erste Bühne dieses Staates und wir lassen nicht zu, dass dort Leute angestellt sind, die die alte Denkweise befürworten!«, erklärte sie Oma. Die alte Denkweise bedeutete, so sagte mir Oma damals, dass man sich schön kleiden, bequem wohnen, reisen und ohne Schlangestehen einkaufen wollte und es für falsch hielt, dass in den Schulen nur Russisch anstatt Französisch, Deutsch, Englisch und Spanisch unterrichtet wurde. Sie hieß außerdem, dass man nichts Schlechtes darin sah, wenn Eltern ihren Kindern ein Haus, einen Bauernhof oder einen Familienbetrieb vermachten. So einen wie etwa Opas Druckerei.
Die Druckerei, die Opa von seinem Vater geerbt hatte, war nicht groß, aber sie lief gut. Als sie nach dem Putsch im Jahr 1948 eingezogen wurde, durfte Opa anfangs noch dort arbeiten. Aber er war nicht brav. Benutzte bei der Arbeit sein Gehirn. Kritisierte die kommunistische Betriebsleitung. Erklärte den Arbeitern, was sie anders und besser machen sollten und wieso der neue Direktor ein Arschloch sei. Schließlich wurde Opa als Volksfeind bezeichnet und ins Gefängnis gebracht, damit er Ruhe gab.
Für Oma bedeutete das also den Rausschmiss aus dem Theater und sie musste stattdessen Mittagessen in der Schulkantine am Freiheitsplatz kochen. Ihrem Sohn, meinem Daddy, erzählte sie nichts von Opas Haft. Sie vertraute mir auf dem Weg zur Ballettstunde an, dass sie sein Kinderleben nicht mit unnötigen Problemen belasten wollte. Sie behauptete, Opa mache eine Dienstreise. Eine Dienstreise, die sich wahrscheinlich in die Länge ziehen werde. Daddy war sieben Jahre alt; er glaubte ihr. Doch eines Tages, in der Schönschriftstunde, die Daddy besonders liebte, weil er die schönste Schrift der ganzen Klasse hatte, unterbrach plötzlich der Schullautsprecher den Unterricht. Die Stimme des Schulleiters begann den Schülern und Lehrern die Namen der Verräter und Volksfeinde zu nennen, die in der letzten Zeit für ihre Taten verurteilt worden waren. Es waren eine ganze Reihe. Plötzlich tauchte unter den Namen ein kaum verwechselbarer Anastas Rubesch auf. Daddy erstarrte. Er dachte im ersten Moment, dass er sich verhört habe. Dass es ein Irrtum sei. Aber die Schönschriftlehrerin wusste, dass es kein Irrtum war. Sie wartete das Ende der Durchsage ab, dann rief sie meinen Vater zu sich, stellte ihn vor die Klasse und sagte: »Schüler und Schülerinnen, hier seht ihr den Sohn eines Verräters und Volksfeindes, schaut ihn euch gut an!«
Alle schauten Daddy an und der war nicht sicher, was er tun sollte. Sonst wusste er sich vorne an der Tafel immer zu helfen, weil er das Rechnen und Schreiben gut beherrschte. Aber jetzt fragte ihn niemand etwas, niemand stellte ihm eine Rechenaufgabe, und er konnte sich nicht entscheiden, ob er sich verbeugen sollte wie nach einem Gedichtvortrag oder die Hände hinter dem Rücken verschränken wie in den Momenten, wenn die Lehrerin absolute Ruhe verlangte. Letztendlich machte er gar nichts, stand nur da und lächelte. Aber die Lehrerin sagte: »Lach nicht, ein Verrätersohn zu sein ist nicht lustig!«, und schickte ihn zurück in seine Bank.
Es war wohl wirklich nicht sehr lustig. Von einem Tag zum anderen änderte sich alles. Auf einmal wollte keiner mehr Daddys Freund sein. Keiner wollte ihn mehr auf dem Schulweg begleiten. Beim Sportunterricht hatte kein Kind Lust mit meinem Vater eine Zweiergruppe zu bilden. Aus Daddy wurde zuerst ein Ausgestoßener, dann ein Einzelgänger, schließlich ein Individualist. Und das ist er geblieben.
Vielleicht passen Opas Gefängnisaufenthalt und Daddys Individualismus nicht direkt in meinen knappen Lebenslauf, aber mit meinem Leben hängen sie zusammen, das reden Sie mir nicht aus, Frau Haschlerka. Schauen Sie, wenn Oma nicht das Nationaltheater hätte verlassen müssen, hätte sie keine Sehnsucht danach gehabt. Wenn sie keine Sehnsucht nach dem Theater gehabt hätte, hätte sie mich nicht zum Ballettunterricht bei Frau Libalova gebracht. Wenn sie mich nicht zum Ballettunterricht gebracht hätte, den langen Weg von Klarow bis zum Stadtpark, hätte sie mir nicht so viel erzählt. Und wenn sie mir nicht so viel erzählt hätte, wüsste ich nicht, was alles meiner Geburt vorangegangen ist. Was die Leute, die in diesem Leben auf mich warteten, in jener Zeit erlebten. Welche Ereignisse sie vermutlich beeinflussten. Besonders Daddy geht mir da nun mal nicht aus dem Kopf.
Omas Meinung nach war es damals am schwersten für ihn, ihr zu verzeihen, dass sie ihm Opas Knast verheimlicht hatte. Dafür redete er 20 Tage lang nicht mit ihr. Am 21. Tag, als er von der Schule nach Hause kam, fand er in der Küche einen Zettel: Was man nicht benutzt, das verkümmert (können Pinguine etwa fliegen 2). Daddy dachte eine Weile über Omas Zettel nach, dann stellte er sich vor den Spiegel, streckte die Zunge raus und versuchte herauszufinden, ob sie in den letzten drei Wochen kürzer geworden war. Er war sich nicht sicher, also nahm er ein Lineal und maß die Zunge. Von der Wurzel bis zur Spitze war sie sechseinhalb Zentimeter lang. Abends waren es nur noch sechs. Am nächsten Morgen nach dem Aufwachen konnte Daddy nicht mehr als fünf Zentimeter messen. Oma hatte Recht.
»Guten Morgen, was gibt's zum Frühstück?«, sagte Daddy wenig später, als er die Küche betrat.
»Einen Erdbeerpfannkuchen«, antwortete Oma. Daddy setzte sich an den Tisch. Der Pfannkuchen schmeckte lecker, die Erdbeeren zergingen auf der Zunge, das Schweigen war gebrochen. Ein paar Tage später gelangten sie im Gespräch zum Kern der Sache. Oma erklärte Daddy, dass die ganze Gefängnisangelegenheit blanker Unsinn sei. Opa habe sich nur deshalb strafbar gemacht, weil er sich die Familiendruckerei nicht widerspruchslos habe nehmen lassen. »Es mag nun mal kein Dieb ein schreiendes Opfer. Er bringt es lieber zum Schweigen«, sagte sie. Und sie versicherte meinem Vater: »Denke nicht, dass es so bleibt. Jedes Unrecht kann nur eine begrenzte Zeit dauern.« Als sie das sagte, dachte sie bestimmt nicht daran, dass eine begrenzte Zeit länger sein kann als ein Menschenleben. Leben sind manchmal seltsam kurz.
Nachdem Opa im Gefängnis krank geworden war, brachten sie ihn zuerst ins Krankenhaus und dann nach Hause. Sie wussten, dass er nicht mehr viel schreien würde. Er starb innerhalb eines Monats, und obwohl man im Arztprotokoll als Todesursache Tuberkulose angab, wusste Oma, dass Opa an seinem Schweigen gestorben war. Wenn sie ihn über die derzeitigen politischen Umstände in der Republik und über die gestohlene Druckerei hätten schimpfen lassen, dann wäre er, so schätzte sie, während sie mir davon erzählte, noch heute hier. Ich stelle mir meinen Opa vor: Er würde auf einer Bank am Moldaukai sitzen, Prager Möwen füttern und mit Oma streiten. Tatsächlich kenne ich ihn nur von alten Fotos, vom Erzählen und ein bisschen auch von meinen Blicken in den Spiegel, weil wir die gleiche Stirn und Augenform und, wie Oma behauptet, ein total ähnliches Lachen haben. Ein breites, clowneskes, unzivilisiertes. Daddys Lachen ist anders. Er lacht nur wenig und vorsichtig, als ob er seine Fröhlichkeit mit niemandem teilen wollte. Bestimmt ist das ein Überbleibsel aus seiner Kindheit: Als die Klasse sich von ihm zurückzog, beschloss mein Vater eben, sich auch ohne andere zu helfen zu wissen.
»Glaubst du das ganze Leben ohne Freunde auskommen zu können? «, redete ihm Oma zu. Sein Verhalten irritierte sie. Sie selber hatte eine Menge Freundinnen aus dem Ballett und neue Freunde aus jedem Beruf, den sie später ausübte. Außerdem war sie mit zwei oder drei von Opas ehemaligen Angestellten aus der Druckerei, mit einem seiner Knastkollegen und vielen Kindern befreundet - halt mit jedem, der ihre Freundschaft schätzte. »Ohne Freunde bist du nicht nur nackt, sondern auch arm- und beinlos!«, sagte sie zu Daddy. Der lächelte bloß. Unter einem Freund konnte er sich irgendwie nichts vorstellen.
Ich weiß, ich weiß! Es sieht ernstlich so aus, als ob ich mich mehr mit meinem Vater und meiner Oma als mit mir beschäftigte, aber wenn Sie, Frau Haschlerka, darüber nachdenken, stellen Sie fest, da- dass daran nichts Merkwürdiges ist. Ich bin 16. Alles, was ich bisher erlebt habe, sind Episoden. Wo ihr Ursprung liegt, kann ich einfach nur dann erkennen, wenn ich weit zurückgehe. Es ist so, als ob Sie etwas ausgraben wollten und nicht genau wüssten, welche Form es hat. Sie graben lieber noch etwas tiefer um das Fundstück nicht beschädigen, oder?
Wenn ich meinen Vater heute betrachte, kann ich mir nur schwer vorstellen, wie er mit 18 aussah. Aus der Zeit gibt es zu Hause nur ein paar Fotografien. Auf einer von ihnen steht er in einem dunklen Anzug mit Schlips und einer Mappe in der Hand herum. Den Anzug hatte Oma für ihn zum Geburtstag schneidern lassen und die Mappe verbarg Daddys Abiturzeugnis. Es war das beste der ganzen Schule und der Grund dafür lag auf der Hand. Opa war zwar tot, doch immer noch ein Volksfeind, und das schien meinem Vater keine gute Empfehlung für die Universität zu sein. Studieren wollte er aber unbedingt, das gehörte zu seinem Plan. Und der wiederum war nicht kompliziert, eigentlich drehte er sich um ein einziges Wort: beweisen. Mein Vater wollte sich selber, den Lehrern und Mitschülern, kurzum allen, die sich an seine Demütigung in der Schönschriftstunde erinnerten, beweisen, dass er vorbereitet war, dass er alles konnte. Am besten von allen.
Wenn ich manchmal mit Daddy streite, dann um diesen Punkt. Er begreift nicht, dass ich nichts zu beweisen brauche. Weder mir noch sonst wem. Viel lieber probiere ich dies und jenes. Einfach nur so. Zum Spaß. Aber dazu komme ich noch.
Schließlich verwirklichte mein Vater seinen Plan. Er absolvierte mit Erfolg die Technische Hochschule und bewies allen, dass er kein Dummkopf war - nur nutzte es nicht viel. Ich will damit sagen, dass inzwischen andere Sachen im Vordergrund standen. Man schrieb das Jahr 1968. Und was da los war, brauche ich Ihnen eigentlich nicht zu erzählen, Frau Haschlerka. Überall in Europa streikten und demonstrierten die Studenten. Sie verkündeten, dass sie eine bessere Welt wollten, als ihnen serviert wurde: eine gerechtere, menschlichere und hauptsächlich eine freiere. Es muss eine herrlich verrückte Zeit gewesen sein. Voller Blumen, Musik und Marihuana. Daddy rauchte kein Marihuana und hatte keine besondere Beziehung zu Blumen, aber für Musik interessierte er sich. Er war sogar Mitglied des Studententheaters Plattfuß. Sie machten politisches Kabarett und hatten Erfolg. Daddy spielte Gitarre und sang: Wir Tschechen sind eine Schwejknation, wir fürchten keine russische Invasion ...
Nur dass die Russen unmittelbar darauf einen Haufen Soldaten schickten um meinem Vater und anderen Aufmüpfigen das Singen abzugewöhnen; und wie Sie, Frau Haschlerka, ebenfalls wissen, die Soldaten hatten Erfolg, zwar nicht sofort, aber nach zwei, drei Jahren war es in Böhmen wieder mäuschenstill. Daddy begann als Ingenieur in der Autofabrik von Skoda zu arbeiten. Dabei verstummte er nicht völlig. Von Zeit zu Zeit traf er sich mit seinen früheren Kollegen aus dem Plattfuß Theater und sie sangen in kleinen Studentenklubs spöttische und widerspenstige Lieder. Dann aber zeigte sie jemand an, man machte eine riesige Affäre daraus, Daddy wurde verhaftet und verurteilt und musste für eineinhalb Jahre ins Gefängnis. Wenn es schon nicht lustig war, Sohn eines Verräters zu sein, selbst im Knast zu hocken kam meinem Vater noch weniger unterhaltsam vor. Er begriff bald, dass es nur um eines ging - aushalten und nicht verrückt werden. Das gelang ihm, aber als er nach 18 Monaten herauskam, war er ein anderer als vorher. Er hatte nicht bloß die meisten seiner schon früher spärlichen Haare verloren, zugleich hatte er beinah seine Stimme eingebüßt. Er sang überhaupt nicht mehr und sprach nur wenig. Was man nicht benutzt, das verkümmert, hätte Oma wieder schreiben können und wieder hätte sie Recht gehabt, nur dass Daddy jetzt nicht mehr sieben war und man ihn nicht so leicht zu etwas überreden konnte. In die Skoda-Fabrik wurde er nach der Entlassung aus dem Gefängnis nicht mehr aufgenommen und auch anderswo bekam er keine seiner Ausbildung entsprechende Stelle, also steckte er sein Hochschuldiplom in den Schrank und begann bei einer Tankstelle zu arbeiten.
Sehen Sie? Ich behaupte nicht, Frau Haschlerka, dass meine Art des Erzählens die knappste ist, aber Sie können nicht außer Acht lassen, dass ich erst auf der 13. Buchseite angekommen bin und schon habe ich Sie mit einem Haufen wichtiger Informationen überschüttet! Noch habe ich persönlich die Szene gar nicht betreten und trotzdem wissen Sie alles über mich außer dem bisherigen Verlauf meines eigenen Lebens. Und dazu kommen wir gleich, keine Angst.
Jetzt habe ich eine Aufgabe für Sie, Frau Haschlerka. Sie behaupten oft, dass die Fantasie der Grundstein zu allem sei. Benutzen Sie sie doch! Stellen Sie sich eine Tankstelle vor, am nordwestlichsten Zipfel Prags, neben der Eisenbahn. Es arbeiten dort vier Angestellte, einer davon mein Daddy. Sie erkennen ihn an seinem kahlen Kopf und dem höflichen Auftreten. Wenn er nicht gerade Kunden bedient, sitzt er im verglasten Büro und liest. So sah ihn zum ersten Mal meine Mama. Sie kam zu Fuß, weil ihr blauer Skoda 300 Meter vor der Tankstelle stehen geblieben war und es strikt ablehnte, sich wieder in Gang zu setzen.
»Ich glaube, dass ich keinen Tropfen Sprit mehr im Tank habe«, gab Mama bekannt, als sie ins verglaste Büro trat. »Was machen wir jetzt?«
Daddy wandte die Augen von seinem Buch ab. Die soeben gestellte Frage überraschte ihn. Sie war ein Zeichen dafür, dass die junge Frau an der Tür, eine Frau mit langen, weizenfarbenen Haaren, in einer Schlaghose und einem mexikanischen Poncho mit Fransen, aktive Teilnahme an ihrem Schicksal erwartete. Es störte Daddy nicht.
»Haben Sie einen Kanister?«, fragte er und stand auf. Mama schüttelte den Kopf. Vielleicht wusste sie gar nicht, was Daddy da eigentlich fragte. Begriffe wie Kanister, Simmerring, Keilriemen klangen in ihren Ohren schon immer ein bisschen geheimnisvoll. »Wir können den Wagen herschieben«, schlug sie vor. »Er steht da drüben, an der Straßenecke!«
Daddy ging hinaus, schloss das Büro und steuerte an Mamas Seite auf den blauen Skoda zu. Unterwegs fragte Mama ihn, was für ein Buch er vorhin gelesen habe. »Theorie der Kosmologie«, antwortete Daddy. Das beeindruckte Mama. Etwas später, als sie zusammen den Wagen zur Tankstelle schoben, fragte Daddy, wo sie eigentlich hinwollte.
»Raus aus all dem«, antwortete Mama und zeigte mit der Hand in Richtung der Moldauer Felsen hinter der Bahn. Das entzückte Daddy. Ihm schien, dass sein Interesse für das All und ihre Sehnsucht, die Grenzen von allem zu überschreiten, eigentlich ein und dasselbe seien. An der Tankstelle füllte er den leeren Tank des Skodas mit Benzin und forderte Mama höflich auf öfter vorbeizukommen.
Seit der Zeit tankte Mama regelmäßig an der Tankstelle neben der Eisenbahn. Bald stellte sie fest, dass ihr Daddys graue, immer ein wenig überraschte Augen gefielen und auch die ruhige Art, wie er mit Menschen umging. Er sprach und bewegte sich, als hätte er für alles tonnenweise Zeit. Erstmals verabredete er sich mit Mama nach zwei Monaten.
»Du hast dich endlich verliebt!«, sagte Oma erfreut, als sie bemerkte, dass auf dem Regal neben Daddys Bett Shakespeares Sonette lagen. Ihr Verdacht wurde weder bestätigt noch widerlegt. Daddy redete mit ihr nicht über sein Privatleben. Noch immer wohnte er in ihrer Wohnung, aber nach der Rückkehr aus dem Gefängnis war er noch zurückhaltender als vorher. Erst nach einer eineinhalb Jahre dauernden Bekanntschaft lud er Mama nach Hause zum Mittagessen ein.
»Wir haben beschlossen, dass wir vielleicht heiraten«, gab er zum Besten, während sie den Salat aßen.
»Vielleicht?«, fragte Oma.
»Vielleicht bald«, antwortete Mama. Mehr wurde darüber nicht gesprochen.
Sie heirateten am 14. August 1979. Die Hochzeitsreise führte in die schlesischen Berge. Auf der Rückfahrt tankten sie an einer kleinen Tankstelle in Ranow. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: Wir suchen einen Tankwart!
Daddy schaute sich um. Er sah Wiesen hinter der Straße und Hügel, die den Rand des Tales säumten. Auch den Kirchturm und Kinder auf dem Spielplatz eines Kindergartens sah er. »Was wäre, wenn wir hierher umziehen würden?«, fragte er Mama. »Benzin kann ich in Ranow genauso gut wie in Prag verkaufen.«
Mama nickte. »Und ich werde Rosen züchten«, fügte sie hinzu.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
... weniger
Autoren-Porträt von Iva Procházková
Procházková, IvaIva Procházková, geboren 1953 in Tschechien, lebte zehn Jahre lang mit ihrer Familie in Deutschland und kehrte danach wieder nach Prag zurück. Seit vielen Jahren schreibt sie für Kinder und Jugendliche. Ihre Romane wurden für die Hans-Christian-Andersen-Medaille und den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis nominiert und mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Evangelischen Buchpreis sowie dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.Literaturpreise:'Wir treffen uns ...': Empfehlungsliste des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2008'Die Nackten': Empfehlungsliste des Evangelischen Buchpreises 2010 Orangentage
Bibliographische Angaben
- Autor: Iva Procházková
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2013, 176 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER KJB
- ISBN-10: 3596811406
- ISBN-13: 9783596811403
- Erscheinungsdatum: 21.02.2013
Rezension zu „Carolina “
Gerade Iva Procházkovás Tänzeln zwischen Abgründen, Ebenen und lichten Höhen macht diese Geschichte so liebenswert. Siggi Seuss Süddeutsche Zeitung
Kommentar zu "Carolina"
0 Gebrauchte Artikel zu „Carolina“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Carolina".
Kommentar verfassen