Charakter
Worauf es bei Bildung wirklich ankommt
Was das Herz, den Kopf, die Seele prägt: ein leidenschaftliches Plädoyer für Charakter und Haltung
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Produktinformationen zu „Charakter “
Was das Herz, den Kopf, die Seele prägt: ein leidenschaftliches Plädoyer für Charakter und Haltung
Klappentext zu „Charakter “
Was das Herz, den Kopf, die Seele prägt: ein leidenschaftliches Plädoyer für charakter und HaltungBildung - das war einmal mehr als technisches Wissen und glattes Funktionieren. Bildung betraf einmal den ganzen Menschen, seine tägliche Lebensführung, seine Werte, seine Kultur, seine Leidenschaften und seine Verantwortung der Welt gegenüber. Zur Bildung gehörte einmal all das, was den Charakter formt. Eine solche Charakterbildung ist heute notwendiger denn je. Es herrscht Mangel an reifen, echten Persönlichkeiten, die die drängenden Probleme unserer Zeit mit Originalität, Mut und Eigensinn anpacken. Petra Gerster und Christian Nürnberger plädieren vehement dafür, das knappe Gut Charakter zu fördern - und zeigen, wie der Charakter reift, ein Leben lang.
"Sehr klar, sehr entschieden, sehr ehrlich." (Der Tagesspiegel über "Der Erziehungsnotstand")
In Zeiten der Krise ist Bildung die große Zauberformel - man müsse, so schallt es durchs Land, nur kräftig in Schulen und Universitäten investieren, dann würden sich die Probleme wie von selbst lösen. Hier gerät Bildung zum bloßen Standortvorteil, um auf dem Weltmarkt gegen Indien oder China zu bestehen. Doch all das ist nichts, wenn das Entscheidende fehlt: wirkliche Bildung, Herzensbildung, Haltung, kurz: Charakter. Bildung muss endlich wieder die Formung der Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellen. Es war seine innere Haltung, die Dominik Brunner in der Münchner S-Bahn mutig eingreifen ließ. Es war die Überzeugung, die aus dem einfachen Tischler Georg Elser einen Hitler-Attentäter machte. Charakter wird umso mehr bewundert, je seltener er ist. Petra Gerster und Christian Nürnberger gehen der Frage nach, wie eine mündige, reife Persönlichkeit, wie charakterliche Haltung und Originalität entstehen. Und sie zeigen an vielen Beispielen, wie tägliche Lebensführung und echte Ideale, wie Selbstdisziplin und Phantasie dazu beitragen, den Charakter reifen zu lassen - ein Leben lang. Ein beherztes Plädoyer gegen einen ökonomisierten Bildungsbegriff und glatte Funktionseliten - und eine Anleitung zu Empathie, Unverwechselbarkeit und Eigensinn.
Autoren-Porträt von Petra Gerster, Christian Nürnberger
Petra Gerster, geboren 1955, war zehn Jahre lang Redakteurin und Moderatorin des weltweit ersten TV-Frauenmagazins "Mona Lisa" und wurde dafür mit der Goldenen Kamera und dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis ausgezeichnet. Seit 1998 ist sie Hauptmoderatorin der "heute-Nachrichten" und gibt ihrem Sender ZDF ein Gesicht. Zusammen mit ihrem Mann Christian Nürnberger veröffentlichte sie verschiedene Bestseller.Christian Nürnberger, geboren 1951, studierte Theologie, war Reporter der "Frankfurter Rundschau", Redakteur bei "Capital", Textchef bei "Hightech" und arbeitet seit 1990 als freier Autor. Er lebt mit seiner Frau Petra Gerster und zwei Kindern in Mainz.
Autoren-Interview mit Petra Gerster
Interview mit Petra Gerster und Christian NürnbergerIn Ihrem Buch sprechen Sie von „ökonomischem Kindesmissbrauch". Harte Worte - was geht Ihnen so gegen die Hutschnur am deutschen Bildungssystem?
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Die OECD hatte neulich vorgerechnet, dass die jetzt lebende Schülergeneration durch ein paar Punkte mehr beim PISA-Test im Lauf ihres Berufslebens acht Billionen Dollar mehr erwirtschaften könnte. Diese Gleichung „Bildung gleich Dollar" (oder Euro) ist es, die uns so wahnsinnig nervt, denn hier wird Bildung mit Wettbewerbsfähigkeit verwechselt. Die OECD-Gleichung zeigt auch die unhinterfragte Selbstverständlichkeit, mit der heutzutage alles dem ökonomischen Verwertungsinteresse unterworfen wird, auch die Schulen und Universitäten, und demnächst wohl noch die Kindergärten und Krippen. So missrät unser Bildungssystem zu einer Fabrik für „human ressources", in die man vorne ein Kind hineinschiebt und hinten einen Ingenieur oder Betriebswirt herauszieht. In dieser Fabrik geht es dann nur noch um das Eine, nämlich um die Anpassung des Nachwuchses an von der Wirtschaft definierte Markterfordernisse. Und alles andere, echte Bildung, Charakterbildung oder die Erziehung zum mündigen Bürger, der sich für sein Gemeinwesen verantwortlich fühlt, fällt weg. Unter dieser totalitären Sichtweise werden dann eben auch Kinder nur noch als ökonomische Faktoren wahrgenommen und behandelt, als künftige Wachstumsgaranten, Produzenten, Konsumenten, Rentenzahler, Schuldenberg-Abtrager. Dieser kalte Blick auf Kinder ist unmenschlich und skandalös, eine Form des Kindesmissbrauchs.
Unser Protest dagegen bedeutet aber natürlich nicht, dass wir die Augen verschließen vor dem Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Nur sind wir überzeugt: Dort gewinnt auf Dauer der wirklich Gebildete gegen den bloß Markt-Angepassten, denn nur der wirklich Gebildete reagiert kreativ auf unvorhergesehene Änderungen.
Was genau macht für Sie beide einen sogenannten guten Charakter aus und wo sehen Sie die Defizite?
Einen guten Charakter erkennt man an seiner Prioritätenliste und der Deckung dieser Liste mit seinem Leben. Wenn auf dieser Liste so Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit weit oben stehen, dazu Verlässlichkeit, Treue, Freundschaft, Familie, Mut, Zivilcourage, Verantwortungsbewusstsein, und wenn diese Werte dann auch tatsächlich gelebt und beispielsweise dem Geld, der Karriere, dem Ruhm, der Macht und den eigenen Lüsten und Launen übergeordnet werden, dann hat man es mit einem guten Charakter zu tun.
Wo die Defizite liegen, lesen wir täglich in der Zeitung. Wenn die Manager von BP über Verantwortungsbewusstsein verfügt hätten, hätten sie in ihre Ölbohrinseln Sicherheitsventile eingebaut, und die Ölpest im Golf von Mexiko wäre uns erspart geblieben. Die Finanzkrise, die Euro-, Griechenland- und Irlandkrise wären uns erspart worden, wenn die vielen Akteure in der Politik und in der Finanzbranche gelernt hätten, langfristig und verantwortungsbewusst zu handeln. Aber sie haben offensichtlich nur gelernt, ihren kurzfristigen Vorteil wahrzunehmen und sich für die Folgen ihres Handelns nicht verantwortlich zu fühlen. Dass sie sich auch jetzt noch gegen alles wehren, was solche Krisen für die Zukunft ausschließen könnte, dass sie keinerlei Reue oder Scham oder wenigstens Nachdenklichkeit und Einsicht zeigen, beweist, dass in der Erziehung und Bildung dieser Menschen irgend etwas grundlegend schief gelaufen sein muss.
Nach mir die Sintflut, Geiz ist geil: Warum springen so viele Menschen auf den Ego-Zug auf. Was denken Sie?
Der Fisch stinkt immer vom Kopf her. Wenn die da unten sehen, wie sich die da oben bereichern, und wenn die da unten dann auch noch zahlen und ausbaden müssen, was die da oben angerichtet haben, ist es logisch, dass auch unten jeder versucht, seinen kurzfristigen Vorteil - notfalls auf Kosten der Allgemeinheit - wahrzunehmen. Auf diese Weise werden alle ärmer, und die Ärmsten haben dann gar keine andere Wahl mehr, als geizig zu sein. Langfristig löst sich ein Gemeinwesen auf, in dem jeder jeden auszutricksen versucht.
Was sagen Ihre zwei Kinder, 17 und 20 Jahre alt, zu dem Thema Charakter? Haben sie das Buch vorab gelesen? Wird/Wurde im Hause Gerster/Nürnberger darüber diskutiert?
Ja, sie haben es gelesen, aber sie wissen eh, was ihre Eltern denken, weil bei uns tatsächlich an fast jedem Tag bei fast jeder Mahlzeit über Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und Gott und die Welt diskutiert wird. Wir sind nun mal zwei Journalisten, die sich schon Berufs wegen mit ihrer Welt auseinandersetzen müssen. Das haben die Kinder von Anfang an mitbekommen, und dadurch sind sie zu unserer Freude auch politisch bewusste Menschen geworden.
Was gibt es für konkrete kleine oder größere Beispiele für den für die Charakterbildung so wichtigen Widerstand gegen die Mehrheitsmeinung?
Große Beispiele sind natürlich so Menschen wie Dietrich Bonhoeffer, Georg Elser, Stauffenberg, Nelson Mandela, Mahatma Gandhi, Willy Brandt, oder Martin Luther, dessen Motto stellvertretend für alle gilt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen." Kürzlich hörten wir von Aung San Suu Kyi, jene birmanische Oppositionelle, die gerade aus ihrem 15jährigen Hausarrest befreit wurde. Oder von dem chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo, dem gerade der Friedensnobelpreis zugesprochen wurde. Bärbel Bohley und die DDR-Oppositionellen zählen ebenfalls zu den großartig widerständigen Menschen. Vor solchen Menschen, die einfach nur die Wahrheit sagen, zittern alle waffenstarrenden Päpste, Kaiser, Könige und Diktatoren. Eine Nummer kleiner, weil nie mit dem Tode bedroht, aber auch nicht von Pappe, ist Alice Schwarzer. Auch die Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali ist ein Beispiel für Widerständigkeit. Normale Zivilcourage bewies Dominik Brunner, der in der Münchner S-Bahn eingriff, als gewalttätige Jugendliche versuchten, Angst und Schrecken zu verbreiten im S-Bahn-Wagen. Unnormal war daran, dass Brunner dafür sterben musste. Normale, letztlich gefahrlose, aber dennoch unbequeme Widerständigkeit beweisen immer wieder Helmut Schmidt, aber auch so Typen wie Uli Hoeneß oder Louis van Gaal, weil sie sich um die veröffentlichte Meinung nicht scheren, nicht um die Gunst irgendeines Publikums buhlen, diesem nicht nach dem Munde reden, sondern sich mit allen anlegen, mit den Medien, mit den Fans, den eigenen Mitarbeitern oder Parteifreunden. Ein weiteres Beispiel ist Sabine Czerny, die Lehrerin, die gegen die Selektion in der Schule rebelliert und sich weigert, schlechte Zensuren zu erteilen. Es gibt zum Glück noch viel mehr als die hier genannten Beispiele.
Wie könnte eine Schule aussehen, die Menschen bildet und keine Bildungsfabrik ist? Ganz konkret: Wie wahrscheinlich schätzen Sie beide eine Veränderungsmöglichkeit dahingehend ein?
Oh je, das lässt sich jetzt aber nicht in einem Satz sagen. Also: Zwei Dinge halten wir für entscheidend, und fünf weitere sollten hinzukommen: Erstens, dass jede Schule den großen Ehrgeiz hat, ihren Schülern Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Zweitens, dass Schüler nicht für gute Noten und Zeugnisse lernen, sondern für sich selbst. Dass sie erfahren, dass Lernen zwar anstrengend, aber spannend ist und der Lohn des Lernens im Glück besteht, etwas geleistet zu haben. Damit so etwas möglich wird, muss jeder Lehrer und jeder Direktor von der Leidenschaft beseelt sein, aus jedem Schüler herauszukitzeln, was in ihm steckt. Es gibt kein Kind, das gar nichts kann. Dazu wäre dann aber auch nötig, ein viel größeres Lernangebot bereit zu halten. Ein Kind, das gut tanzen oder Theater spielen könnte, fällt heute meist durchs Raster, weil diese Fähigkeit nicht abgerufen wird. Statt dessen muss es vor allem kognitive Leistung zeigen, muss gut sein in Mathe, Physik, Chemie, Biologie, Geschichte, Erdkunde, Deutsch. Und selbst in diesen Fächern wird oft einseitig der Symbolanalytiker belohnt, also in Deutsch beispielsweise derjenige, der gut Texte interpretieren kann. Vielleicht kann einer das nicht besonders gut, kann aber dafür sehr gut schreiben, bekommt jedoch selten oder nie die Chance, das zu beweisen. Ein anderer tut sich schwer im Notenlesen und hat noch mehr Probleme mit der Musiktheorie und Musikgeschichte, aber wenn er eine Melodie hört, kann er sie auf dem Klavier oder der Geige nachspielen, was eine ungeheure Intelligenzleistung ist, aber sie wird nicht abgerufen, und der Betreffende weiß vielleicht nicht einmal etwas von seiner Begabung. Manch einer hat einen ausgeprägten Geruchs- und Geschmackssinn und verfügt über die Kreativität eines guten Kochs oder Sommeliers, aber die Schule fragt nicht danach. Und so gäbe es noch viele Möglichkeiten, Talente zu entdecken, handwerkliche, technische, musische, künstlerische, unternehmerische, gärtnerische, politische, journalistische - aber nichts davon kann sich in der Schule entfalten. Der einzige Typ, der sich dort zuverlässig entfaltet, ist der Streber.
Außerdem wichtig wäre dann drittens noch, dass in unsere Schulen die „amerikanische Lehrerhaltung" einzieht. Die haben unsere beiden Kinder in den USA kennengelernt, und sie besteht darin, dass sich der Lehrer verantwortlich fühlt, wenn ein Kind schlechte Noten schreibt. Dann setzt er sich nachmittags mit dem Kind hin und erklärt und übt solange, bis die Note besser wird. Bei uns sind die Schüler und die Eltern schuld, wenn‘s nicht klappt, also erwartet die Schule, dass die Eltern sich hinsetzen und nochmals Abitur machen oder Nachhilfestunden bezahlen.
Ein Viertes wäre, dass Lehrer nicht mehr als Einzelkämpfer arbeiten, sondern Teams bilden, die sich nach dem Unterricht austauschen, sich gegenseitig im Unterricht besuchen und durch konstruktive Kritik gemeinsam versuchen, als Team immer besser zu werden.
Fünftens: Eine andere Lehrerausbildung. Lehrer, vor allem Gymnasiallehrer, studieren an der Uni ein Fach, und in der Schule haben sie es plötzlich mit Menschen zu tun. Der Mathelehrer hat sich an der Uni viele Stunden lang mit Nichteuklidischer Geometrie und allerhöchster Mathematik herumgeschlagen, die er in der Schule nie mehr braucht. Aber wie man Schülern den Pythagoräischen Lehrsatz beibringt, wurde ihm an der Uni nicht beigebracht, auch nicht, wie man starke, durchschnittliche und schwache Schüler gleichzeitig fördert, wie man mit Störern umgeht, mit Problemkindern, mit Aggressivlingen, mit Unmotivierten. Wie man sich im Unterricht durchsetzt, wie man Konflikte austrägt, wie man mit Eltern umgeht - nichts davon wird den Lehramtsstudenten an der Uni beigebracht. Lehrer ist ein sozialer und praktischer Beruf, aber ausgebildet wird er zum Theoretiker und Wissenschaftler.
Sechstens: Mehr Freiheit für den Direktor. Er muss sich seine Lehrer selbst aussuchen, und er muss auch mal einen Lehrer feuern dürfen.
Siebtens, und das ist jetzt keinesfalls der unwichtigste Punkt: Wenn wir mündige, demokratische Staatsbürger wollen, dann muss Demokratie auch in der Schule praktiziert werden, und das heißt: Nicht der Direktor oder der Kultusminister stülpen den Schülern eine Schulordnung über, an die sie sich zu halten haben, sondern Schüler und Lehrer erarbeiten sich ihre Ordnung selbst, bestimmen selbst ihre Regeln des Zusammenlebens und wachen über deren Einhaltung und beraten über Sanktionen bei Regelverstößen.
Das alles klingt nach Utopie, dessen sind wir uns bewusst. Aber wir fordern nichts Unrealisierbares. Wenn hier von einer Bildungsrepublik Deutschland gesprochen wird und das Ernst gemeint ist, müsste es auch den Willen geben, den Worten taten Folgen zu lassen.
Wie wichtig ist Schule als gemeinschaftsbildendes Instrument heute noch mit - im Extremfall - überforderten Lehrern, Kindern, die gewalttätig oder apathisch sind und/oder die Sprache nicht verstehen?
Gerade wegen der vielen Migrantenkinder und wegen der vielen Probleme mit Gewalt ist Schule als gemeinschaftsbildendes Instrument wichtiger denn je. Alles weitere siehe unten.
Gemischte Klassen mit Schülern aller Schichten und Nationalitäten sind wichtig, sagen Sie beide. Doch was tun, wenn die Elite die Kleinen ins feine Internat schickt, der gehobene Mittelstand den Nachwuchs immerhin noch auf eine kirchliche Einrichtung. „wo die Welt noch in Ordnung ist"?
Wenn wir 1990 in Berlin-Neukölln gewohnt hätten, wären wir spätestens 1996 aus Neukölln weggezogen. In diesem Jahr wurde unsere Tochter schulpflichtig. Wir verurteilen daher niemand, der seine Kinder ins „feine Internat" oder in die „kirchliche Einrichtung" schickt. Im Gegenteil. Solche Eltern handeln verantwortungsbewusster als jene Politiker, die so beinhart ihre Kulturhoheit und ihre Herrschaft über das Bildungssystem verteidigen, aber nichts dafür tun. Lehrer, Schüler und Eltern sind mit ihren Problemen von der Politik und der Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg allein gelassen worden. Daher kann man es keinem Elternpaar verdenken, wenn es nach Alternativen zur verwahrlosten Staats-Schule sucht.
Die Folge dieser Suche nach Alternativen ist aber natürlich eine weitere Segmentierung der Gesellschaft, das Verschwinden des sozialen Kitts, und das wird in einer multikulturellen, multi-ethnischen Individualistengesellschaft auf Dauer zur Auflösung von Staaten, Gesellschaften und Demokratien führen. Wenn wir das verhindern wollen, brauchen wir tatsächlich Schulen, aber auch Stadtteile und Stadtviertel mit einer gesunden, gut durchmischten Sozialstruktur. Migrantenkinder müssen gleichmäßig auf alle Schulen verteilt werden. Gettobildungen müssen rückgängig gemacht werden. Das geht nicht von heute auf morgen, aber es muss jetzt von Politikern, Städteplanern und Bürgern ganz schnell ganz energisch in Angriff genommen werden.
Was genau ist für Sie der Unterschied zwischen autoritärer Erziehung und Erziehung mit natürlicher Autorität? Autoritäre Erziehung setzt auf Macht, Befehl und Gehorsam. Ihre Herrschafts- und Disziplinierungsmittel sind Angst, Drohung, Strafe, Ausschaltung von Menschlichkeit, Pochen auf unhinterfragte Traditionen, kompromisslose Einpassung in ein hierarchisches, militärähnlich gestaltetes System, in dem der Ober den Unter sticht, und mag der Ober noch so dumm und der Unter noch so klug sein. Die zwischenmenschlichen Verhältnisse sind von Misstrauen, Geheimhaltung und Günstlingswirtschaft geprägt.
Was autoritäre Erziehung ist, haben wir kürzlich in Michael Hanekes Kinofilm „Das weiße Band" gesehen. Er schildert die Ordnung in einem norddeutsch-protestantischen Dorf vor dem Ersten Weltkrieg. Zu dieser Ordnung gehören der sonntägliche Kirchgang, die religiöse Unterweisung, aber vor allem der Gehorsam. Die Kinder des Pfarrers reden das Familienoberhaupt mit 'Herr Vater' an und küssen ihm vorm Zubettgehen die Hand. Damit sie sich nicht selbst befriedigen, werden ihnen die Arme nachts am Bett festgebunden. Kleinste Vergehen haben zur Folge, dass der Herr Pfarrer in Stellvertretung für den strafenden Gott seine Urteile verkündet: zehn Schläge mit der Rute. Vollstreckung am nächsten Tag, sachlich, unabänderlich, ganz nach dem Bibelspruch, wen Gott lieb hat, den züchtigt er.
Was Erziehung durch natürliche Autorität ist, schildert ebenfalls ein Kinofilm: „Der Club der toten Dichter." Im altehrwürdigen Welton-Internat wird seit jeher traditionell autoritär erzogen, bis John Keating als neuer Lehrer kommt und alles durcheinander bringt. Seine Lehrmethoden sind unkonventionell, doch vor allem ist er selbst unkonventionell: Offen, spontan, freundlich und jedem Schüler zugewandt setzt er nicht wie seine älteren Kollegen auf die bewährten Mittel der Autorität und Einschüchterung, sondern auf Zuspruch und Ermunterung. Er stellt eine persönliche Beziehung zu seinen Schülern her, ohne sich mit ihnen gemein zu machen. Er vermeidet Verbrüderung und Vertraulichkeiten. Der Abstand zwischen Lehrer und Schüler bleibt gewahrt, aber die Schüler spüren: Das ist ein anderer Abstand. Dieser Lehrer liebt seine Schüler, traut ihnen etwas zu, fordert sie heraus, setzt sich für sie ein, flößt ihnen Selbstvertrauen ein und bringt sie auf neue Gedanken. Er erzieht sie zum selbstständigen, eigenverantwortlichen Denken und Handeln. Carpe diem - nutze den Tag - ist Keatings Leitspruch, und weil er ihn selber lebt und glaubwürdig innere Energie und Leidenschaftlichkeit ausstrahlt, kann er auch seine Schüler begeistern. Werte haben und sie glaubwürdig vorleben, begeistert sein und mit seiner Begeisterung andere anstecken, das ist Führung durch natürliche Autorität.
Die OECD hatte neulich vorgerechnet, dass die jetzt lebende Schülergeneration durch ein paar Punkte mehr beim PISA-Test im Lauf ihres Berufslebens acht Billionen Dollar mehr erwirtschaften könnte. Diese Gleichung „Bildung gleich Dollar" (oder Euro) ist es, die uns so wahnsinnig nervt, denn hier wird Bildung mit Wettbewerbsfähigkeit verwechselt. Die OECD-Gleichung zeigt auch die unhinterfragte Selbstverständlichkeit, mit der heutzutage alles dem ökonomischen Verwertungsinteresse unterworfen wird, auch die Schulen und Universitäten, und demnächst wohl noch die Kindergärten und Krippen. So missrät unser Bildungssystem zu einer Fabrik für „human ressources", in die man vorne ein Kind hineinschiebt und hinten einen Ingenieur oder Betriebswirt herauszieht. In dieser Fabrik geht es dann nur noch um das Eine, nämlich um die Anpassung des Nachwuchses an von der Wirtschaft definierte Markterfordernisse. Und alles andere, echte Bildung, Charakterbildung oder die Erziehung zum mündigen Bürger, der sich für sein Gemeinwesen verantwortlich fühlt, fällt weg. Unter dieser totalitären Sichtweise werden dann eben auch Kinder nur noch als ökonomische Faktoren wahrgenommen und behandelt, als künftige Wachstumsgaranten, Produzenten, Konsumenten, Rentenzahler, Schuldenberg-Abtrager. Dieser kalte Blick auf Kinder ist unmenschlich und skandalös, eine Form des Kindesmissbrauchs.
Unser Protest dagegen bedeutet aber natürlich nicht, dass wir die Augen verschließen vor dem Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Nur sind wir überzeugt: Dort gewinnt auf Dauer der wirklich Gebildete gegen den bloß Markt-Angepassten, denn nur der wirklich Gebildete reagiert kreativ auf unvorhergesehene Änderungen.
Was genau macht für Sie beide einen sogenannten guten Charakter aus und wo sehen Sie die Defizite?
Einen guten Charakter erkennt man an seiner Prioritätenliste und der Deckung dieser Liste mit seinem Leben. Wenn auf dieser Liste so Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit weit oben stehen, dazu Verlässlichkeit, Treue, Freundschaft, Familie, Mut, Zivilcourage, Verantwortungsbewusstsein, und wenn diese Werte dann auch tatsächlich gelebt und beispielsweise dem Geld, der Karriere, dem Ruhm, der Macht und den eigenen Lüsten und Launen übergeordnet werden, dann hat man es mit einem guten Charakter zu tun.
Wo die Defizite liegen, lesen wir täglich in der Zeitung. Wenn die Manager von BP über Verantwortungsbewusstsein verfügt hätten, hätten sie in ihre Ölbohrinseln Sicherheitsventile eingebaut, und die Ölpest im Golf von Mexiko wäre uns erspart geblieben. Die Finanzkrise, die Euro-, Griechenland- und Irlandkrise wären uns erspart worden, wenn die vielen Akteure in der Politik und in der Finanzbranche gelernt hätten, langfristig und verantwortungsbewusst zu handeln. Aber sie haben offensichtlich nur gelernt, ihren kurzfristigen Vorteil wahrzunehmen und sich für die Folgen ihres Handelns nicht verantwortlich zu fühlen. Dass sie sich auch jetzt noch gegen alles wehren, was solche Krisen für die Zukunft ausschließen könnte, dass sie keinerlei Reue oder Scham oder wenigstens Nachdenklichkeit und Einsicht zeigen, beweist, dass in der Erziehung und Bildung dieser Menschen irgend etwas grundlegend schief gelaufen sein muss.
Nach mir die Sintflut, Geiz ist geil: Warum springen so viele Menschen auf den Ego-Zug auf. Was denken Sie?
Der Fisch stinkt immer vom Kopf her. Wenn die da unten sehen, wie sich die da oben bereichern, und wenn die da unten dann auch noch zahlen und ausbaden müssen, was die da oben angerichtet haben, ist es logisch, dass auch unten jeder versucht, seinen kurzfristigen Vorteil - notfalls auf Kosten der Allgemeinheit - wahrzunehmen. Auf diese Weise werden alle ärmer, und die Ärmsten haben dann gar keine andere Wahl mehr, als geizig zu sein. Langfristig löst sich ein Gemeinwesen auf, in dem jeder jeden auszutricksen versucht.
Was sagen Ihre zwei Kinder, 17 und 20 Jahre alt, zu dem Thema Charakter? Haben sie das Buch vorab gelesen? Wird/Wurde im Hause Gerster/Nürnberger darüber diskutiert?
Ja, sie haben es gelesen, aber sie wissen eh, was ihre Eltern denken, weil bei uns tatsächlich an fast jedem Tag bei fast jeder Mahlzeit über Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und Gott und die Welt diskutiert wird. Wir sind nun mal zwei Journalisten, die sich schon Berufs wegen mit ihrer Welt auseinandersetzen müssen. Das haben die Kinder von Anfang an mitbekommen, und dadurch sind sie zu unserer Freude auch politisch bewusste Menschen geworden.
Was gibt es für konkrete kleine oder größere Beispiele für den für die Charakterbildung so wichtigen Widerstand gegen die Mehrheitsmeinung?
Große Beispiele sind natürlich so Menschen wie Dietrich Bonhoeffer, Georg Elser, Stauffenberg, Nelson Mandela, Mahatma Gandhi, Willy Brandt, oder Martin Luther, dessen Motto stellvertretend für alle gilt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen." Kürzlich hörten wir von Aung San Suu Kyi, jene birmanische Oppositionelle, die gerade aus ihrem 15jährigen Hausarrest befreit wurde. Oder von dem chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo, dem gerade der Friedensnobelpreis zugesprochen wurde. Bärbel Bohley und die DDR-Oppositionellen zählen ebenfalls zu den großartig widerständigen Menschen. Vor solchen Menschen, die einfach nur die Wahrheit sagen, zittern alle waffenstarrenden Päpste, Kaiser, Könige und Diktatoren. Eine Nummer kleiner, weil nie mit dem Tode bedroht, aber auch nicht von Pappe, ist Alice Schwarzer. Auch die Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali ist ein Beispiel für Widerständigkeit. Normale Zivilcourage bewies Dominik Brunner, der in der Münchner S-Bahn eingriff, als gewalttätige Jugendliche versuchten, Angst und Schrecken zu verbreiten im S-Bahn-Wagen. Unnormal war daran, dass Brunner dafür sterben musste. Normale, letztlich gefahrlose, aber dennoch unbequeme Widerständigkeit beweisen immer wieder Helmut Schmidt, aber auch so Typen wie Uli Hoeneß oder Louis van Gaal, weil sie sich um die veröffentlichte Meinung nicht scheren, nicht um die Gunst irgendeines Publikums buhlen, diesem nicht nach dem Munde reden, sondern sich mit allen anlegen, mit den Medien, mit den Fans, den eigenen Mitarbeitern oder Parteifreunden. Ein weiteres Beispiel ist Sabine Czerny, die Lehrerin, die gegen die Selektion in der Schule rebelliert und sich weigert, schlechte Zensuren zu erteilen. Es gibt zum Glück noch viel mehr als die hier genannten Beispiele.
Wie könnte eine Schule aussehen, die Menschen bildet und keine Bildungsfabrik ist? Ganz konkret: Wie wahrscheinlich schätzen Sie beide eine Veränderungsmöglichkeit dahingehend ein?
Oh je, das lässt sich jetzt aber nicht in einem Satz sagen. Also: Zwei Dinge halten wir für entscheidend, und fünf weitere sollten hinzukommen: Erstens, dass jede Schule den großen Ehrgeiz hat, ihren Schülern Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Zweitens, dass Schüler nicht für gute Noten und Zeugnisse lernen, sondern für sich selbst. Dass sie erfahren, dass Lernen zwar anstrengend, aber spannend ist und der Lohn des Lernens im Glück besteht, etwas geleistet zu haben. Damit so etwas möglich wird, muss jeder Lehrer und jeder Direktor von der Leidenschaft beseelt sein, aus jedem Schüler herauszukitzeln, was in ihm steckt. Es gibt kein Kind, das gar nichts kann. Dazu wäre dann aber auch nötig, ein viel größeres Lernangebot bereit zu halten. Ein Kind, das gut tanzen oder Theater spielen könnte, fällt heute meist durchs Raster, weil diese Fähigkeit nicht abgerufen wird. Statt dessen muss es vor allem kognitive Leistung zeigen, muss gut sein in Mathe, Physik, Chemie, Biologie, Geschichte, Erdkunde, Deutsch. Und selbst in diesen Fächern wird oft einseitig der Symbolanalytiker belohnt, also in Deutsch beispielsweise derjenige, der gut Texte interpretieren kann. Vielleicht kann einer das nicht besonders gut, kann aber dafür sehr gut schreiben, bekommt jedoch selten oder nie die Chance, das zu beweisen. Ein anderer tut sich schwer im Notenlesen und hat noch mehr Probleme mit der Musiktheorie und Musikgeschichte, aber wenn er eine Melodie hört, kann er sie auf dem Klavier oder der Geige nachspielen, was eine ungeheure Intelligenzleistung ist, aber sie wird nicht abgerufen, und der Betreffende weiß vielleicht nicht einmal etwas von seiner Begabung. Manch einer hat einen ausgeprägten Geruchs- und Geschmackssinn und verfügt über die Kreativität eines guten Kochs oder Sommeliers, aber die Schule fragt nicht danach. Und so gäbe es noch viele Möglichkeiten, Talente zu entdecken, handwerkliche, technische, musische, künstlerische, unternehmerische, gärtnerische, politische, journalistische - aber nichts davon kann sich in der Schule entfalten. Der einzige Typ, der sich dort zuverlässig entfaltet, ist der Streber.
Außerdem wichtig wäre dann drittens noch, dass in unsere Schulen die „amerikanische Lehrerhaltung" einzieht. Die haben unsere beiden Kinder in den USA kennengelernt, und sie besteht darin, dass sich der Lehrer verantwortlich fühlt, wenn ein Kind schlechte Noten schreibt. Dann setzt er sich nachmittags mit dem Kind hin und erklärt und übt solange, bis die Note besser wird. Bei uns sind die Schüler und die Eltern schuld, wenn‘s nicht klappt, also erwartet die Schule, dass die Eltern sich hinsetzen und nochmals Abitur machen oder Nachhilfestunden bezahlen.
Ein Viertes wäre, dass Lehrer nicht mehr als Einzelkämpfer arbeiten, sondern Teams bilden, die sich nach dem Unterricht austauschen, sich gegenseitig im Unterricht besuchen und durch konstruktive Kritik gemeinsam versuchen, als Team immer besser zu werden.
Fünftens: Eine andere Lehrerausbildung. Lehrer, vor allem Gymnasiallehrer, studieren an der Uni ein Fach, und in der Schule haben sie es plötzlich mit Menschen zu tun. Der Mathelehrer hat sich an der Uni viele Stunden lang mit Nichteuklidischer Geometrie und allerhöchster Mathematik herumgeschlagen, die er in der Schule nie mehr braucht. Aber wie man Schülern den Pythagoräischen Lehrsatz beibringt, wurde ihm an der Uni nicht beigebracht, auch nicht, wie man starke, durchschnittliche und schwache Schüler gleichzeitig fördert, wie man mit Störern umgeht, mit Problemkindern, mit Aggressivlingen, mit Unmotivierten. Wie man sich im Unterricht durchsetzt, wie man Konflikte austrägt, wie man mit Eltern umgeht - nichts davon wird den Lehramtsstudenten an der Uni beigebracht. Lehrer ist ein sozialer und praktischer Beruf, aber ausgebildet wird er zum Theoretiker und Wissenschaftler.
Sechstens: Mehr Freiheit für den Direktor. Er muss sich seine Lehrer selbst aussuchen, und er muss auch mal einen Lehrer feuern dürfen.
Siebtens, und das ist jetzt keinesfalls der unwichtigste Punkt: Wenn wir mündige, demokratische Staatsbürger wollen, dann muss Demokratie auch in der Schule praktiziert werden, und das heißt: Nicht der Direktor oder der Kultusminister stülpen den Schülern eine Schulordnung über, an die sie sich zu halten haben, sondern Schüler und Lehrer erarbeiten sich ihre Ordnung selbst, bestimmen selbst ihre Regeln des Zusammenlebens und wachen über deren Einhaltung und beraten über Sanktionen bei Regelverstößen.
Das alles klingt nach Utopie, dessen sind wir uns bewusst. Aber wir fordern nichts Unrealisierbares. Wenn hier von einer Bildungsrepublik Deutschland gesprochen wird und das Ernst gemeint ist, müsste es auch den Willen geben, den Worten taten Folgen zu lassen.
Wie wichtig ist Schule als gemeinschaftsbildendes Instrument heute noch mit - im Extremfall - überforderten Lehrern, Kindern, die gewalttätig oder apathisch sind und/oder die Sprache nicht verstehen?
Gerade wegen der vielen Migrantenkinder und wegen der vielen Probleme mit Gewalt ist Schule als gemeinschaftsbildendes Instrument wichtiger denn je. Alles weitere siehe unten.
Gemischte Klassen mit Schülern aller Schichten und Nationalitäten sind wichtig, sagen Sie beide. Doch was tun, wenn die Elite die Kleinen ins feine Internat schickt, der gehobene Mittelstand den Nachwuchs immerhin noch auf eine kirchliche Einrichtung. „wo die Welt noch in Ordnung ist"?
Wenn wir 1990 in Berlin-Neukölln gewohnt hätten, wären wir spätestens 1996 aus Neukölln weggezogen. In diesem Jahr wurde unsere Tochter schulpflichtig. Wir verurteilen daher niemand, der seine Kinder ins „feine Internat" oder in die „kirchliche Einrichtung" schickt. Im Gegenteil. Solche Eltern handeln verantwortungsbewusster als jene Politiker, die so beinhart ihre Kulturhoheit und ihre Herrschaft über das Bildungssystem verteidigen, aber nichts dafür tun. Lehrer, Schüler und Eltern sind mit ihren Problemen von der Politik und der Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg allein gelassen worden. Daher kann man es keinem Elternpaar verdenken, wenn es nach Alternativen zur verwahrlosten Staats-Schule sucht.
Die Folge dieser Suche nach Alternativen ist aber natürlich eine weitere Segmentierung der Gesellschaft, das Verschwinden des sozialen Kitts, und das wird in einer multikulturellen, multi-ethnischen Individualistengesellschaft auf Dauer zur Auflösung von Staaten, Gesellschaften und Demokratien führen. Wenn wir das verhindern wollen, brauchen wir tatsächlich Schulen, aber auch Stadtteile und Stadtviertel mit einer gesunden, gut durchmischten Sozialstruktur. Migrantenkinder müssen gleichmäßig auf alle Schulen verteilt werden. Gettobildungen müssen rückgängig gemacht werden. Das geht nicht von heute auf morgen, aber es muss jetzt von Politikern, Städteplanern und Bürgern ganz schnell ganz energisch in Angriff genommen werden.
Was genau ist für Sie der Unterschied zwischen autoritärer Erziehung und Erziehung mit natürlicher Autorität? Autoritäre Erziehung setzt auf Macht, Befehl und Gehorsam. Ihre Herrschafts- und Disziplinierungsmittel sind Angst, Drohung, Strafe, Ausschaltung von Menschlichkeit, Pochen auf unhinterfragte Traditionen, kompromisslose Einpassung in ein hierarchisches, militärähnlich gestaltetes System, in dem der Ober den Unter sticht, und mag der Ober noch so dumm und der Unter noch so klug sein. Die zwischenmenschlichen Verhältnisse sind von Misstrauen, Geheimhaltung und Günstlingswirtschaft geprägt.
Was autoritäre Erziehung ist, haben wir kürzlich in Michael Hanekes Kinofilm „Das weiße Band" gesehen. Er schildert die Ordnung in einem norddeutsch-protestantischen Dorf vor dem Ersten Weltkrieg. Zu dieser Ordnung gehören der sonntägliche Kirchgang, die religiöse Unterweisung, aber vor allem der Gehorsam. Die Kinder des Pfarrers reden das Familienoberhaupt mit 'Herr Vater' an und küssen ihm vorm Zubettgehen die Hand. Damit sie sich nicht selbst befriedigen, werden ihnen die Arme nachts am Bett festgebunden. Kleinste Vergehen haben zur Folge, dass der Herr Pfarrer in Stellvertretung für den strafenden Gott seine Urteile verkündet: zehn Schläge mit der Rute. Vollstreckung am nächsten Tag, sachlich, unabänderlich, ganz nach dem Bibelspruch, wen Gott lieb hat, den züchtigt er.
Was Erziehung durch natürliche Autorität ist, schildert ebenfalls ein Kinofilm: „Der Club der toten Dichter." Im altehrwürdigen Welton-Internat wird seit jeher traditionell autoritär erzogen, bis John Keating als neuer Lehrer kommt und alles durcheinander bringt. Seine Lehrmethoden sind unkonventionell, doch vor allem ist er selbst unkonventionell: Offen, spontan, freundlich und jedem Schüler zugewandt setzt er nicht wie seine älteren Kollegen auf die bewährten Mittel der Autorität und Einschüchterung, sondern auf Zuspruch und Ermunterung. Er stellt eine persönliche Beziehung zu seinen Schülern her, ohne sich mit ihnen gemein zu machen. Er vermeidet Verbrüderung und Vertraulichkeiten. Der Abstand zwischen Lehrer und Schüler bleibt gewahrt, aber die Schüler spüren: Das ist ein anderer Abstand. Dieser Lehrer liebt seine Schüler, traut ihnen etwas zu, fordert sie heraus, setzt sich für sie ein, flößt ihnen Selbstvertrauen ein und bringt sie auf neue Gedanken. Er erzieht sie zum selbstständigen, eigenverantwortlichen Denken und Handeln. Carpe diem - nutze den Tag - ist Keatings Leitspruch, und weil er ihn selber lebt und glaubwürdig innere Energie und Leidenschaftlichkeit ausstrahlt, kann er auch seine Schüler begeistern. Werte haben und sie glaubwürdig vorleben, begeistert sein und mit seiner Begeisterung andere anstecken, das ist Führung durch natürliche Autorität.
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Petra Gerster , Christian Nürnberger
- 2010, Neuausg., 272 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871346799
- ISBN-13: 9783871346798
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