Cry Baby
Sie wollte nie wieder zurück. Nie wieder nach Hause. Nie wieder an den Schmerz denken. Doch als die Journalistin Camille über einen besonderen Fall schreiben soll, muss sie in ihr trostloses Heimatkaff Wind Gap reisen. Zwei Mädchen wurden...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Cry Baby “
Sie wollte nie wieder zurück. Nie wieder nach Hause. Nie wieder an den Schmerz denken. Doch als die Journalistin Camille über einen besonderen Fall schreiben soll, muss sie in ihr trostloses Heimatkaff Wind Gap reisen. Zwei Mädchen wurden dort ermordet und verstümmelt. Sie waren hübsch, fast schon Teenager. Als Camille in Wind Gap ankommt, spürt sie sofort den Würgegriff einer düsteren Vergangenheit, die sie für immer vergessen wollte. Denn dort, wo sie lebte, doch nie zuhause war, fand einst auch ihre kleine Schwester den Tod.
Gillian Flynn ist Journalistin und derzeit leitende TV-Kritikerin von Entertainment Weekly. Ihr Debüt-Roman ist ein absoluter Treffer.
Lese-Probe zu „Cry Baby “
Cry Baby von Gillian Flynn LESEPROBE
1. Kapitel
Mein Pullover war neu, knallrot und hässlich. Wir hatten schon den 12. Mai, aber keine zehn Grad, und nachdem ich vier Tage im T-Shirt gezittert hatte, besorgte ich mir lieber etwas im Ausverkauf, statt wieder die Winterklamotten hervorzukramen. So ist der Frühling in Chicago.
Ich hockte an meinem Arbeitsplatz vor dem Computer und recherchierte eine üble, wenn auch nicht weltbewegende Geschichte. In der South Side waren vier Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren entdeckt worden, die man mit ein paar Thunfischsandwichs und einem Liter Milch in ein Zimmer gesperrt hatte. Sie saßen drei Tage dort drinnen und flatterten wie die Hühner zwischen den Nahrungsmitteln und den Fäkalien umher. Die Mutter war abgehauen, um ein Pfeifchen zu rauchen, und hatte sie völlig vergessen. Kann passieren. Keine Brandwunden von Zigaretten, keine Knochenbrüche. Nur ein einziger nicht wieder gutzumachender Ausrutscher. Ich hatte die Mutter nach ihrer Verhaftung gesehen: Tammy Davis, 22 Jahre, blond und fett, auf den Wangen zwei perfekte Kreise aus rosa Rouge, groß wie Wassergläser. Ich konnte sie mir gut auf einem verschlissenen Sofa vorstellen, Lippen am Pfeifenhals, eine einzige Rauchschwade. Dann verschwamm alles, sie ließ die Kinder weit hinter sich, träumte sich zurück in die Junior High School, wo die Jungs noch auf sie standen und sie die Hübscheste von allen war, dreizehn, glänzende Lippen, sie kaute Zimtstangen, bevor sie einen küsste.
Ein Bauch. Ein Geruch. Zigaretten und abgestandener Kaffee. Mein Chefredakteur, der verehrte, müde Frank Curry in seinen rissigen Hush Puppies. Die Zähne in braunem Tabakspeichel getränkt.
»Wie weit bist du mit der Story, Kleines?« Auf meinem Schreibtisch lag ein silberner
... mehr
Reißnagel mit der Spitze nach oben. Er schob ihn verstohlen unter seinen gelben Daumennagel.
»Bin fast durch.« Mir fehlte noch die Hälfte.
»Gut. Reinhauen, rausschicken, ratzfatz in mein Büro.« »Ich kann auch sofort kommen.«
»Reinhauen, rausschicken, ratzfatz in mein Büro.«
»Na gut, zehn Minuten.« Ich wollte meinen Reißnagel zurück.
Er machte einen Schritt aus meiner Nische. Die Krawatte baumelte bis zum Schritt.
»Preaker?«
»Curry?«
»Hau rein.«
Frank Curry hält mich für weich. Vielleicht, weil ich eine Frau bin. Oder weil ich wirklich weich bin.
Currys Büro befindet sich im zweiten Stock. Ich bin sicher, er macht sich vor Aufregung ins Hemd, wann immer er aus dem Fenster guckt und einen Baumstamm sieht. Gute Chefredakteure sehen keine Rinde, sondern die Blätter - falls sie vom 20. oder 30. Stock aus überhaupt noch Bäume sehen. Die Daily Post, Chicagos viertgrößte Zeitung, arbeitet von einem Vorort aus und hat daher jede Menge Platz, um sich auszubreiten. Über drei Etagen, in alle Richtungen, ohne die benachbarten Teppichhändler und Lampengeschäfte zu stören. Ein Bauunternehmer hatte diese Siedlung zwischen 1961 und 1964 errichtet und nach seiner Tochter benannt, die einen Monat vor Fertigstellung einen schweren Reitunfall erlitt. Aurora Springs sollte die Siedlung heißen, er posierte sogar neben dem nagelneuen Ortsschild. Danach verschwand er samt seiner Familie. Die Tochter ist heute über fünfzig, gesund bis auf ein gelegentliches Kribbeln in den Armen und kommt dann und wann von Arizona her, um sich mit ihrem Namensschild fotografieren zu lassen.
Ich habe die Story bei ihrem letzten Besuch geschrieben. Curry fand sie furchtbar, weil er Geschichten aus dem wahren Leben fast immer furchtbar findet. Er besoff sich mit Chambord-Likör, während er den Artikel las, worauf meine ganze Story nach Himbeeren roch. Curry besäuft sich leise, dafür aber umso öfter. Das Trinken ist allerdings nicht der Grund für seinen Weltschmerz, er hatte im Leben einfach Pech gehabt.
Ich ging in sein Büro und machte die Tür zu. Ich hatte mir das Büro eines Chefredakteurs immer ganz anders vorgestellt. Ich sehnte mich nach eichengetäfelten Wänden und einer Tür mit Glasscheibe, auf der sein Name stand. Durch die man von außen sehen konnte, wie ich mit ihm über die Pressefreiheit stritt. Currys Büro hingegen ist nichts sagend und nüchtern wie das ganze übrige Gebäude. Hier könnten ebenso gut Arztpraxen beheimatet sein, in denen Krebsabstriche gemacht werden.
»Erzähl mir von Wind Gap.« Curry bohrte die Spitze eines Kugelschreibers in sein graues Stoppelkinn. Ich sah das winzige blaue Pünktchen, das er hinterlassen würde, förmlich vor mir.
Rasch kramte ich die Fakten zusammen. »Es liegt im äußersten Südosten von Missouri, dem so genannten >Stiefelabsatz<. Man kann praktisch nach Tennessee und Arkansas spucken.« Curry genoss es, Reporter zu allen möglichen Themen in die Mangel zu nehmen, wenn es ihm zweckdienlich erschien - die jährliche Mordrate von Chicago, die demographische Entwicklung von Cook County oder, wie jetzt, die Geschichte meiner Heimatstadt, über die ich gar nicht gerne spreche. »Den Ort gibt es etwa seit dem Bürgerkrieg«, fuhr ich fort. »Er liegt am Mississippi und hatte früher einen ziemlich bedeutenden Hafen. Heute leben die meisten Leute von der Schweinezucht. Um die 2000 Einwohner. Alter Geldadel und Abschaum.«
»Und was bist du?«
»Ich bin Abschaum. Von altem Geldadel.« Ich lächelte. Er runzelte die Stirn.
»Und was zum Teufel ist da so los?«
Ich ging im Geiste die verschiedenen Katastrophen durch, die über Wind Gap hereingebrochen sein könnten. Es ist eins dieser lausigen Kaffs, die das Unglück förmlich anziehen: Busunfall oder Wirbelsturm, Explosion im Silo oder Kleinkind im Brunnen. Eigentlich war ich ein bisschen beleidigt. Denn ich hatte wie immer, wenn Curry mich in sein Büro rief, gehofft, er werde mir zu einem Artikel gratulieren, mir ein interessanteres Ressort geben oder eine Gehaltserhöhung anbieten. Auf eine Plauderei über die jüngsten Vorfälle in Wind Gap war ich nun gar nicht vorbereitet.
»Preaker, deine Mutter wohnt noch da, oder?«
»Mutter und Stiefvater.« Dazu eine Halbschwester, die geboren wurde, als ich schon studierte, und deren Existenz mir so unwirklich erscheint, dass ich meistens ihren Namen vergesse. Amma. Und dann natürlich Marian, die längst von uns gegangene Marian.
»Na schön, wann hast du zuletzt mit ihnen gesprochen?« An Weihnachten: ein eisiger Höflichkeitsanruf, nachdem ich mir drei Gläser Bourbon genehmigt hatte. Ich fürchtete, meine Mutter könnte es durch die Telefonleitung riechen.
»Schon länger nicht mehr.«
»Herrgott nochmal, Preaker, lies doch endlich mal, was von den Agenturen kommt. Ein kleines Mädchen wurde dort erdrosselt, letzten August, glaube ich.«
Ich nickte, als wüsste ich Bescheid. Aber es war gelogen. Meine Mutter war der einzige Mensch in Wind Gap, mit dem ich so etwas wie Kontakt pflegte, und sie hatte mir nichts davon gesagt. Eigenartig.
»Jetzt wird wieder eins vermisst. Klingt nach einem Serientäter. Fahr runter und schreib die Story. Aber schnell. Morgen früh bist du da.«
Nur über meine Leiche. »Curry, wir haben hier oben genügend Horrorgeschichten.«
»Klar, und drei Konkurrenzblätter mit doppelt so viel Geld und Personal. Ich hab's satt, immer bei den heißen Themen leer auszugehen. Das ist unsere ganz große Chance.«
Curry glaubt, er müsse nur die richtige Story bringen, um Marktführer in Chicago zu werden und landesweiten Einfluss zu gewinnen. Letztes Jahr schickte eine Zeitung einen Reporter in dessen texanische Heimatstadt, wo einige Teenager beim Frühjahrshochwasser ertrunken waren. Er schrieb einen elegischen, aber gut recherchierten Artikel über das Wesen von Wasser und Trauer, über das Basketballteam, das seine drei besten Spieler verloren hatte, und den örtlichen Bestatter, der wegen seiner mangelnden Erfahrung im Herrichten von Ertrunkenen verzweifelt war. Die Story gewann den Pulitzer Preis.
Ich wollte nicht hinfahren. Wehrte mich so sehr dagegen, dass ich mich an die Sessellehnen klammerte, als müsste Curry mich notfalls mit Gewalt losreißen. Er betrachtete mich aus wässrigen haselnussbraunen Augen. Räusperte sich, warf einen Blick auf das Foto seiner Frau und lächelte wie ein Arzt, der einem etwas Schlimmes mitteilen muss. Curry tobt gerne, weil es zu seinem Bild vom Chefredakteur alter Schule passt, ist aber einer der anständigsten Menschen, die ich kenne.
»Hör mal, Kleines, wenn's nicht geht, geht's nicht. Aber es könnte dir gut tun. Eine Art Reinigung. Damit du wieder auf die Beine kommst. Ist eine verdammt gute Story - und die brauchen wir. Du brauchst sie.«
Curry hat mich immer unterstützt. Er sagt, ich sei seine beste Reporterin und hätte einen erstaunlichen Verstand. Seit nunmehr zwei Jahren enttäusche ich seine Erwartungen. War manchmal ein richtiger Reinfall.
Ich konnte förmlich spüren, wie er mich innerlich drängte, ihm zu vertrauen. Ich nickte, zuversichtlich, wie ich hoffte.
»Ich gehe packen.« Meine Hände hinterließen verschwitzte Abdrücke auf den Lehnen.
Ich besitze keine Haustiere, die versorgt, und keine Pflanzen, die von Nachbarn gegossen werden müssen. Zu meiner eigenen Beruhigung stopfte ich Klamotten für fünf Tage in einen Matchsack und hoffte, dass ich spätestens Ende der Woche wieder aus Wind Gap verschwinden könnte. Als ich mich noch einmal umsah, traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Meine Wohnung sah aus wie eine Studentenbude - billig, provisorisch und ziemlich farblos. Ich nahm mir fest vor, mir als Belohnung für die tolle Story, die ich ausgraben würde, ein vernünftiges Sofa anzuschaffen.
Auf dem Tisch neben der Tür stand ein Teenagerfoto von mir, auf dem ich Marian auf dem Arm halte. Sie ist etwa sieben. Wir lachen beide. Sie hat die Augen überrascht aufgerissen, während ich meine zukneife. Ich drücke sie an mich, ihre mageren Beine baumeln vor meinen Knien. Ich weiß nicht mehr, worüber wir lachen. Im Laufe der Zeit ist ein schönes Geheimnis daraus geworden. Ich glaube, es ist mir lieber so.
Ich dusche nie. Ich bade. Ich kann den Wasserstrahl nicht aushalten, er lässt meine Haut summen, als hätte jemand einen Schalter gedrückt. Also stopfte ich ein dünnes Hotelhandtuch in den Abfluss der Dusche, richtete den Duschkopf gegen die Wand und hockte mich in eine Pfütze von knapp zehn Zentimetern Tiefe.
Kein zweites Handtuch, also rannte ich zum Bett und trocknete mich mit der billigen Flauschdecke ab. Dann trank ich warmen Bourbon und verfluchte die defekte Eismaschine.
Wind Gap liegt etwa elf Stunden südlich von Chicago. Curry war so großzügig gewesen, mir eine Übernachtung im Motel und ein Frühstück zu bezahlen, falls ich an einer Tankstelle aß. In Wind Gap würde ich dann bei meiner Mutter wohnen. Das hatte er für mich entschieden. Ich wusste schon, wie sie reagieren würde, wenn ich bei ihr auftauchte. Ein rasches, schockiertes Erröten, die Hand zur Frisur, eine ungeschickte Umarmung. Sie würde sich für die Unordnung im Haus entschuldigen, das gar nicht unordentlich war. Und mit höflichen Umschreibungen danach fragen, wie lange ich zu bleiben gedachte.
»Wie lange haben wir das Vergnügen, Liebes?« Übersetzt: »Wann fährst du wieder?«
Die Höflichkeit war am schlimmsten.
Eigentlich sollte ich mir Notizen machen, mich vorbereiten, Fragen entwerfen. Stattdessen trank ich weiter Bourbon, warf Aspirin hinterher, schaltete das Licht aus. Das feuchte Schnurren der Klimaanlage und das elektronische Piepsen eines Videospiels nebenan schläferten mich ein. Ich war nur dreißig Meilen von meiner Heimatstadt entfernt, brauchte aber eine letzte Nacht mit mir allein.
Am Morgen verschlang ich einen alten Donut mit Gelee und fuhr weiter nach Süden. Es wurde heißer, der Wald beiderseits der Straße dichter und üppiger. Dieser Teil von Missouri ist seltsam flach - meilenweit öde Bäume, nur unterbrochen vom schmalen Band des Highways. Immer die gleiche Aussicht.
Aus der Ferne kann man Wind Gap nicht erkennen, da das höchste Gebäude nur zweigeschossig ist. Doch nach zwanzig Minuten wusste ich, was kam. Zuerst tauchte eine Tankstelle auf. Davor eine Gruppe gelangweilter, magerer Halbwüchsiger mit nacktem Oberkörper. Ein Kleinkind in Pampers warf mit beiden Händen Schotter in die Luft, während seine Mutter ihren alten Pick-up betankte. Sie hatte die Haare goldblond gefärbt, doch sie waren fast bis zu den Ohren braun nachgewachsen. Sie rief den Jungs etwas zu, das ich im Vorbeifahren nicht verstehen konnte. Bald darauf wurde der Wald lichter. Ich kam an einem winzigen Einkaufszentrum mit Sonnenstudio, Waffengeschäft und Stoffhandlung vorbei. Es folgte eine einsame Sackgasse mit alten Häusern, Teil einer Siedlung, die nie fertig gestellt worden war. Und dann erreichte ich die eigentliche Stadt.
Ich hielt unwillkürlich die Luft an, als ich am Willkommensschild vorbeifuhr, so wie Kinder es an Friedhöfen tun. Seit acht Jahren war ich nicht mehr hier gewesen, aber diese Szenerie erkannte ich im Schlaf. Am Ende jener Straße wohnte meine Klavierlehrerin aus der Grundschule, eine ehemalige Nonne, die aus dem Mund nach Eiern roch. Der Weg dort drüben führte zu einem winzigen Park, in dem ich an einem schwitzig heißen Sommertag meine erste Zigarette geraucht hatte. Dort ging es nach Woodberry und zum Krankenhaus.
Zunächst wollte ich zur Polizeiwache am Ende der Main Street, die einzige Straße in ganz Wind Gap, die diesen Namen verdient. Dort findet man einen Schönheitssalon und eine Eisenwarenhandlung, einen Billigladen und eine Bücherei mit ungefähr zwölf Regalen. Ein Bekleidungsgeschäft namens Candy's Casuals, in dem man Pullover, Rollis und Sweatshirts kaufen kann, die mit Enten und Schulgebäuden bedruckt sind. Die meisten netten Frauen von Wind Gap sind Lehrerinnen, Mütter oder arbeiten in Läden wie Candy's Casuals. In einigen Jahren wird es sicher auch ein Starbucks geben, das der Stadt endlich die lang ersehnte, vorgefertigte Mainstream-Coolness bringt. Doch bislang gibt es auf der Main Street nur ein schmuddliges Cafe, das von einer Familie geführt wird, deren Name mir entfallen ist.
Die Hauptstraße lag verlassen da. Keine Autos, keine Leute. Ein Hund trottete den Gehweg entlang. An sämtlichen Laternenpfählen hingen gelbe Bänder und körnige Fotos eines Mädchens. Ich parkte und schälte einen Zettel ab, den wohl ein Kind schief an ein Stoppschild geklebt hatte. Er war handgeschrieben. »Vermisst« stand in fetten Buchstaben darüber, die mit Textmarker ausgemalt waren. Auf dem Foto war ein dunkeläugiges Mädchen mit katzenhaftem Lächeln und üppigern Haarschopf zu sehen. Der Typ Mädchen, den Lehrer gern als »schwierig« bezeichnen. Mir gefiel sie.
Natalie Jane Keene
Alter: 10
Vermisst seit dem 11.5.
Zuletzt gesehen im Jacob J. Garrett Park
in blauen Jeansshorts und rot gestreiftem T-Shirt Hinweise: 588-7377
Ich hatte gehofft, dass man mir auf der Polizeiwache sagen würde, dass Natalie Jane wohlbehalten gefunden worden sei. Dass sie sich bloß verlaufen oder im Wald den Knöchel verstaucht hätte oder von zu Hause weggelaufen sei, sich dann aber eines Besseren besonnen hätte. Dann wäre ich einfach ins Auto gestiegen und sofort wieder nach Chicago zurückgefahren und hätte kein Wort mehr darüber verloren.
Doch wie sich herausstellte, waren die Straßen deshalb so verlassen, weil die halbe Stadt die Wälder nördlich von Wind Gap absuchte. Chief Bill Vickery würde bald zur Mittagspause zurückkehren. Im Warteraum war es heimelig wie in einer Zahnarztpraxis. Ich hockte auf dem letzten orangefarbenen Sitz der Reihe und blätterte in Redbook. Ein elektrischer Lufterfrischer verströmte zischend seinen Plastikduft, der an eine Landbrise erinnern sollte. Dreißig Minuten später hatte ich drei Zeitschriften durch und konnte den Geruch nicht mehr ertragen. Als Vickery endlich hereinkam, nickte die Empfangsdame zu mir hinüber und flüsterte ebenso eifrig wie verächtlich: »Von der Zeitung.«
Vickery, ein schlanker Typ von Anfang fünfzig, hatte seine beigefarbene Uniform durchgeschwitzt. Das Hemd klebte am Oberkörper, die Hose beulte sich, wo der Hintern hätte sein sollen.
»Zeitung?« Er starrte mich über seine Bifokalbrille an. »Von welcher Zeitung?«
»Chief Vickery, ich heiße Camille Preaker und arbeite in Chicago für die Daily Post.«
»Chicago? Warum kommen Sie von so weit her?«
»Ich würde gern mit Ihnen über die Mädchen sprechen - Natalie Keene und das andere Mädchen, das letztes Jahr ermordet wurde.«
»Herrgott nochmal, wie haben Sie denn davon Wind bekommen?«
Er sah die Empfangsdame an, dann wieder mich, als hätten wir uns gegen ihn verschworen. Schließlich bedeutete er mir, ihm zu folgen. »Keine Anrufe, Ruth.«
Die Empfangsdame verdrehte die Augen.
Bill Vickery ging vor mir her durch einen holzgetäfelten Flur, den schachbrettartig aufgehängte Fotos von Forellen und Pferden in billigen Rahmen säumten. Sein Büro war klein, quadratisch, fensterlos, mit Metallregalen. Er setzte sich und zündete sich eine Zigarette an, ohne mir eine anzubieten.
»Ich will nicht, dass das bekannt wird, Miss. Das lasse ich auf keinen Fall zu.«
»Bedauere, Chief Vickery, aber Sie haben keine Wahl. Es sind Kinder in Gefahr, das sollte die Öffentlichkeit wissen.« Diesen Ansatz hatte ich mir unterwegs überlegt, um mich ins rechte Licht zu rücken.
»Was geht Sie das an? Es sind doch nicht Ihre Kinder, sondern Kinder aus Wind Gap.« Er stand auf, setzte sich wieder, räumte Papiere um. »Es ist wohl kaum gelogen, wenn ich behaupte, dass sich in Chicago noch nie einer für die Kinder in Wind Gap interessiert hat.« Seine Stimme brach beim letzten Wort. Er zog an seiner Zigarette, drehte den dicken Goldring, den er am kleinen Finger trug, blinzelte hektisch. Ich fragte mich, ob er gleich in Tränen ausbrechen würde.
»Vermutlich haben Sie Recht. Ich will die Sache nicht ausschlachten, aber sie ist mir wichtig. Falls es Sie interessiert, ich komme selbst aus Wind Gap.« Na bitte, Curry, ich gebe mir alle Mühe.
Der Chief glotzte mich an.
»Wie heißen Sie doch gleich?«
»Camille Preaker.«
»Und wieso kenne ich Sie nicht?«
»Hatte noch nie Probleme mit der Polizei, Sir.« Ich deutete ein Lächeln an.
»Ihre Familie heißt also Preaker?«
»Meine Mutter hat vor fünfundzwanzig Jahren wieder geheiratet. Adora und Alan Crellin.«
»Ach, die kenne ich.« Klar, die kannte hier jeder. Geld, richtig altes Geld, war selten in Wind Gap. »Aber ich will Sie trotzdem nicht hier haben, Miss Preaker. Wenn Sie die Story drucken, bringt man uns für immer mit ... mit dem hier in Verbindung.«
»Vielleicht würde ein bisschen Publicity ja bei der Suche helfen«, sagte ich. »Soll vorkommen.«
Vickery saß ganz still da und betrachtete seine zerknüllte Essenstüte. Sie roch nach Mortadella. Er murmelte etwas, von dem ich nur die Worte »JonBenet« und »Scheiße« verstand.
»Nein danke, Miss Preaker. Ansonsten kein Kommentar. Ich habe nichts über die laufenden Ermittlungen zu sagen. Das können Sie gern zitieren.«
»Sie wissen, es ist mein Recht, hier zu sein. Machen wir es uns doch nicht so schwer. Geben Sie mir irgendeine Information, dann lasse ich Sie eine Weile in Ruhe. Ich will Ihnen nicht im Weg stehen, aber ich muss auch meine Arbeit tun.« Diesen Satz hatte ich mir auf der Höhe von St. Louis überlegt.
Ich verließ die Polizeiwache mit einer fotokopierten Karte von Wind Gap, auf der Chief Vickery mit einem winzigen X den Ort markiert hatte, an dem im vergangenen Jahr die Mädchenleiche gefunden worden war.
Ann Nash, zehn Jahre, wurde am 27. August im Falls Creek entdeckt, einem steinigen, laut dahinrauschenden Bach, der mitten durch die North Woods floss. Ein Suchtrupp hatte seit dem Vorabend den Wald durchkämmt, doch es waren Jäger, die sie gegen fünf Uhr morgens fanden. Sie war gegen Mitternacht mit einer Wäscheleine erdrosselt worden, die zweimal um ihren Hals geschlungen war. Danach hatte man sie in den Bach geworfen, der wegen der sommerlichen Trockenheit wenig Wasser führte. Die Wäscheleine hatte sich an einem großen Felsen verfangen, und das Mädchen war die Nacht über im trägen Wasser dahingetrieben. Sie wurde im geschlossenen Sarg aufgebahrt. Mehr wollte Vickery nicht sagen. Und ich hatte eine geschlagene Stunde gebraucht, um das bisschen aus ihm herauszubekommen.
Vom Münztelefon in der Bücherei rief ich die Nummer auf dem Suchplakat an. Eine ältere Frauenstimme meldete sich mit den Worten »Natalie Keene Hotline«, doch ich hörte im Hintergrund den Geschirrspüler rauschen. Sie teilte mir mit, dass die Suche in den North Woods ihres Wissens noch im Gange sei. Wer helfen wolle, solle sich auf der Hauptzufahrtsstraße melden und Trinkwasser mitbringen. Man erwarte Höchsttemperaturen.
Am Suchstützpunkt saßen vier blonde Mädchen steif auf einer Picknickdecke. Sie deuteten auf einen Waldweg, den ich entlanggehen sollte, bis ich den Suchtrupp gefunden hätte.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte die Hübscheste. Ihr gerötetes Gesicht war rundlich wie das eines ganz jungen Mädchens, und sie hatte die Haare mit Bändern zu Zöpfen gebunden, doch die Brüste, die sie stolz nach vorn reckte, waren die einer erwachsenen Frau. Einer glücklichen erwachsenen Frau. Sie lächelte, als würden wir uns kennen, was unmöglich sein konnte. Als ich das letzte Mal hier war, musste sie noch im Kindergarten gewesen sein, und doch kam sie mir irgendwie vertraut vor. Vielleicht die Tochter einer alten Schulfreundin. Das Alter könnte hinkommen, falls sie gleich nach der Schule schwanger geworden wäre. Was nicht auszuschließen war.
»Ich wollte nur helfen.«
»Okay«, meinte sie grinsend und entließ mich, indem sie sich ganz darauf konzentrierte, den Lack von einem Zehennagel abzukratzen.
Ich schlug den Waldweg ein, der Schotter knirschte unter meinen Füßen, und inmitten der Bäume schien es tatsächlich noch wärmer zu sein. Die Luft war dschungelfeucht. Goldrute und Lorbeersumach streiften meine Knöchel, und überall schwebten weiße Pappelsamen, stahlen sich in meinen Mund, hafteten an meinen Armen. Plötzlich fiel mir ein, dass wir sie früher Feenkleidchen genannt hatten.
In der Ferne hörte ich Leute nach Natalie rufen, die drei Silben hoben und senkten sich wie ein Lied. Noch zehn Minuten Fußmarsch, dann hatte ich sie entdeckt: etwa fünfzig Menschen, die sich in langen Reihen vorwärts bewegten und das Unterholz mit Stöcken abtasteten.
»Hallo? Gibt's was Neues?«, rief ein Mann mit Bierbauch, der ganz in meiner Nähe stand. Ich verließ den Pfad und ging zu ihm hinüber.
»Kann ich helfen?« Ich war noch nicht so weit, dass ich einfach das Notizbuch zücken konnte.
»Sie können hier neben mir gehen«, sagte er. »Helfer können wir immer gebrauchen. Je mehr Augen, desto besser.« Ein paar Minuten schritten wir schweigend nebeneinander. Der Mann räusperte sich bisweilen mit einem feuchten, kollernden Husten.
»Manchmal denke ich, wir sollten den Wald einfach niederbrennen«, sagte er unvermittelt. »Hier passiert nichts Gutes. Sind Sie mit den Keenes befreundet?«
»Eigentlich bin ich von der Zeitung. Chicago Daily Post. «
»Hm ... Na so was. Und Sie schreiben über das hier?«
Plötzlich erscholl ein lautes Heulen, ein Mädchen schrie: »Natalie!« Meine Hände schwitzten, als wir auf den Schrei zurannten. Menschen taumelten uns entgegen. Ein junges Mädchen mit weißblondem Haar stieß uns beiseite, das Gesicht rot und geschwollen. Es wankte wie betrunken und brüllte immer wieder Natalies Namen zum Himmel empor. Ein älterer Mann, vielleicht der Vater, nahm sie in die Arme und führte sie zurück zur Straße.
»Hat man sie gefunden?«, rief mein Suchpartner.
Allgemeines Kopfschütteln. »Hat sich wohl nur erschreckt«, meinte ein anderer Mann. »War zu viel für sie. Mädchen sollten hier sowieso nicht mitmachen.« Er schaute mich nachdrücklich an, nahm die Baseballkappe ab, um sich die Stirn abzuwischen, und blickte wieder zu Boden.
»Traurige Arbeit«, meinte mein Partner. »Traurige Zeiten.« Wir bewegten uns langsam vorwärts. Ich trat eine verrostete Bierdose beiseite. Und noch eine. Ein einzelner Vogel flog auf Augenhöhe vorüber und stieß steil nach oben in die Wipfel. Ein Grashüpfer landete auf meinem Handgelenk. Ein unheimlicher Zauber.
»Würden Sie mir etwas über die Sache erzählen?« Ich winkte mit meinem Notizbuch.
»Wüsste nicht, was ich Ihnen sagen soll.«
»Nur was Sie so denken. Zwei Mädchen in einer Kleinstadt ...«
»Niemand weiß, ob das eine mit dem anderen zu tun hat, oder? Außer, Sie wissen mehr als ich. Wir gehen davon aus, dass Natalie putzmunter wieder auftaucht. Ist ja noch keine zwei Tage her.«
»Gibt es irgendwelche Theorien über Ann?«
»Muss ein Verrückter gewesen sein. Ein Typ auf der Durchreise, der seine Pillen nicht genommen hat oder der Stimmen hört. So in der Art.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Er blieb stehen, holte ein Päckchen Kautabak aus der Gesäßtasche, schob sich einen dicken Pfriem in den Mund und kaute, bis der erste kleine Riss den Tabak freisetzte. Mein eigener Mund prickelte vor Mitgefühl.
»Warum sonst sollte jemand einem toten Mädchen alle Zähne ziehen?«
»Er hat ihr die Zähne gezogen?«
»Alle, bis auf den hinteren Teil eines Milchbackenzahns.«
© S. Fischer Verlag
Übersetzung: Susanne Goga-Klinkenberg
»Bin fast durch.« Mir fehlte noch die Hälfte.
»Gut. Reinhauen, rausschicken, ratzfatz in mein Büro.« »Ich kann auch sofort kommen.«
»Reinhauen, rausschicken, ratzfatz in mein Büro.«
»Na gut, zehn Minuten.« Ich wollte meinen Reißnagel zurück.
Er machte einen Schritt aus meiner Nische. Die Krawatte baumelte bis zum Schritt.
»Preaker?«
»Curry?«
»Hau rein.«
Frank Curry hält mich für weich. Vielleicht, weil ich eine Frau bin. Oder weil ich wirklich weich bin.
Currys Büro befindet sich im zweiten Stock. Ich bin sicher, er macht sich vor Aufregung ins Hemd, wann immer er aus dem Fenster guckt und einen Baumstamm sieht. Gute Chefredakteure sehen keine Rinde, sondern die Blätter - falls sie vom 20. oder 30. Stock aus überhaupt noch Bäume sehen. Die Daily Post, Chicagos viertgrößte Zeitung, arbeitet von einem Vorort aus und hat daher jede Menge Platz, um sich auszubreiten. Über drei Etagen, in alle Richtungen, ohne die benachbarten Teppichhändler und Lampengeschäfte zu stören. Ein Bauunternehmer hatte diese Siedlung zwischen 1961 und 1964 errichtet und nach seiner Tochter benannt, die einen Monat vor Fertigstellung einen schweren Reitunfall erlitt. Aurora Springs sollte die Siedlung heißen, er posierte sogar neben dem nagelneuen Ortsschild. Danach verschwand er samt seiner Familie. Die Tochter ist heute über fünfzig, gesund bis auf ein gelegentliches Kribbeln in den Armen und kommt dann und wann von Arizona her, um sich mit ihrem Namensschild fotografieren zu lassen.
Ich habe die Story bei ihrem letzten Besuch geschrieben. Curry fand sie furchtbar, weil er Geschichten aus dem wahren Leben fast immer furchtbar findet. Er besoff sich mit Chambord-Likör, während er den Artikel las, worauf meine ganze Story nach Himbeeren roch. Curry besäuft sich leise, dafür aber umso öfter. Das Trinken ist allerdings nicht der Grund für seinen Weltschmerz, er hatte im Leben einfach Pech gehabt.
Ich ging in sein Büro und machte die Tür zu. Ich hatte mir das Büro eines Chefredakteurs immer ganz anders vorgestellt. Ich sehnte mich nach eichengetäfelten Wänden und einer Tür mit Glasscheibe, auf der sein Name stand. Durch die man von außen sehen konnte, wie ich mit ihm über die Pressefreiheit stritt. Currys Büro hingegen ist nichts sagend und nüchtern wie das ganze übrige Gebäude. Hier könnten ebenso gut Arztpraxen beheimatet sein, in denen Krebsabstriche gemacht werden.
»Erzähl mir von Wind Gap.« Curry bohrte die Spitze eines Kugelschreibers in sein graues Stoppelkinn. Ich sah das winzige blaue Pünktchen, das er hinterlassen würde, förmlich vor mir.
Rasch kramte ich die Fakten zusammen. »Es liegt im äußersten Südosten von Missouri, dem so genannten >Stiefelabsatz<. Man kann praktisch nach Tennessee und Arkansas spucken.« Curry genoss es, Reporter zu allen möglichen Themen in die Mangel zu nehmen, wenn es ihm zweckdienlich erschien - die jährliche Mordrate von Chicago, die demographische Entwicklung von Cook County oder, wie jetzt, die Geschichte meiner Heimatstadt, über die ich gar nicht gerne spreche. »Den Ort gibt es etwa seit dem Bürgerkrieg«, fuhr ich fort. »Er liegt am Mississippi und hatte früher einen ziemlich bedeutenden Hafen. Heute leben die meisten Leute von der Schweinezucht. Um die 2000 Einwohner. Alter Geldadel und Abschaum.«
»Und was bist du?«
»Ich bin Abschaum. Von altem Geldadel.« Ich lächelte. Er runzelte die Stirn.
»Und was zum Teufel ist da so los?«
Ich ging im Geiste die verschiedenen Katastrophen durch, die über Wind Gap hereingebrochen sein könnten. Es ist eins dieser lausigen Kaffs, die das Unglück förmlich anziehen: Busunfall oder Wirbelsturm, Explosion im Silo oder Kleinkind im Brunnen. Eigentlich war ich ein bisschen beleidigt. Denn ich hatte wie immer, wenn Curry mich in sein Büro rief, gehofft, er werde mir zu einem Artikel gratulieren, mir ein interessanteres Ressort geben oder eine Gehaltserhöhung anbieten. Auf eine Plauderei über die jüngsten Vorfälle in Wind Gap war ich nun gar nicht vorbereitet.
»Preaker, deine Mutter wohnt noch da, oder?«
»Mutter und Stiefvater.« Dazu eine Halbschwester, die geboren wurde, als ich schon studierte, und deren Existenz mir so unwirklich erscheint, dass ich meistens ihren Namen vergesse. Amma. Und dann natürlich Marian, die längst von uns gegangene Marian.
»Na schön, wann hast du zuletzt mit ihnen gesprochen?« An Weihnachten: ein eisiger Höflichkeitsanruf, nachdem ich mir drei Gläser Bourbon genehmigt hatte. Ich fürchtete, meine Mutter könnte es durch die Telefonleitung riechen.
»Schon länger nicht mehr.«
»Herrgott nochmal, Preaker, lies doch endlich mal, was von den Agenturen kommt. Ein kleines Mädchen wurde dort erdrosselt, letzten August, glaube ich.«
Ich nickte, als wüsste ich Bescheid. Aber es war gelogen. Meine Mutter war der einzige Mensch in Wind Gap, mit dem ich so etwas wie Kontakt pflegte, und sie hatte mir nichts davon gesagt. Eigenartig.
»Jetzt wird wieder eins vermisst. Klingt nach einem Serientäter. Fahr runter und schreib die Story. Aber schnell. Morgen früh bist du da.«
Nur über meine Leiche. »Curry, wir haben hier oben genügend Horrorgeschichten.«
»Klar, und drei Konkurrenzblätter mit doppelt so viel Geld und Personal. Ich hab's satt, immer bei den heißen Themen leer auszugehen. Das ist unsere ganz große Chance.«
Curry glaubt, er müsse nur die richtige Story bringen, um Marktführer in Chicago zu werden und landesweiten Einfluss zu gewinnen. Letztes Jahr schickte eine Zeitung einen Reporter in dessen texanische Heimatstadt, wo einige Teenager beim Frühjahrshochwasser ertrunken waren. Er schrieb einen elegischen, aber gut recherchierten Artikel über das Wesen von Wasser und Trauer, über das Basketballteam, das seine drei besten Spieler verloren hatte, und den örtlichen Bestatter, der wegen seiner mangelnden Erfahrung im Herrichten von Ertrunkenen verzweifelt war. Die Story gewann den Pulitzer Preis.
Ich wollte nicht hinfahren. Wehrte mich so sehr dagegen, dass ich mich an die Sessellehnen klammerte, als müsste Curry mich notfalls mit Gewalt losreißen. Er betrachtete mich aus wässrigen haselnussbraunen Augen. Räusperte sich, warf einen Blick auf das Foto seiner Frau und lächelte wie ein Arzt, der einem etwas Schlimmes mitteilen muss. Curry tobt gerne, weil es zu seinem Bild vom Chefredakteur alter Schule passt, ist aber einer der anständigsten Menschen, die ich kenne.
»Hör mal, Kleines, wenn's nicht geht, geht's nicht. Aber es könnte dir gut tun. Eine Art Reinigung. Damit du wieder auf die Beine kommst. Ist eine verdammt gute Story - und die brauchen wir. Du brauchst sie.«
Curry hat mich immer unterstützt. Er sagt, ich sei seine beste Reporterin und hätte einen erstaunlichen Verstand. Seit nunmehr zwei Jahren enttäusche ich seine Erwartungen. War manchmal ein richtiger Reinfall.
Ich konnte förmlich spüren, wie er mich innerlich drängte, ihm zu vertrauen. Ich nickte, zuversichtlich, wie ich hoffte.
»Ich gehe packen.« Meine Hände hinterließen verschwitzte Abdrücke auf den Lehnen.
Ich besitze keine Haustiere, die versorgt, und keine Pflanzen, die von Nachbarn gegossen werden müssen. Zu meiner eigenen Beruhigung stopfte ich Klamotten für fünf Tage in einen Matchsack und hoffte, dass ich spätestens Ende der Woche wieder aus Wind Gap verschwinden könnte. Als ich mich noch einmal umsah, traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Meine Wohnung sah aus wie eine Studentenbude - billig, provisorisch und ziemlich farblos. Ich nahm mir fest vor, mir als Belohnung für die tolle Story, die ich ausgraben würde, ein vernünftiges Sofa anzuschaffen.
Auf dem Tisch neben der Tür stand ein Teenagerfoto von mir, auf dem ich Marian auf dem Arm halte. Sie ist etwa sieben. Wir lachen beide. Sie hat die Augen überrascht aufgerissen, während ich meine zukneife. Ich drücke sie an mich, ihre mageren Beine baumeln vor meinen Knien. Ich weiß nicht mehr, worüber wir lachen. Im Laufe der Zeit ist ein schönes Geheimnis daraus geworden. Ich glaube, es ist mir lieber so.
Ich dusche nie. Ich bade. Ich kann den Wasserstrahl nicht aushalten, er lässt meine Haut summen, als hätte jemand einen Schalter gedrückt. Also stopfte ich ein dünnes Hotelhandtuch in den Abfluss der Dusche, richtete den Duschkopf gegen die Wand und hockte mich in eine Pfütze von knapp zehn Zentimetern Tiefe.
Kein zweites Handtuch, also rannte ich zum Bett und trocknete mich mit der billigen Flauschdecke ab. Dann trank ich warmen Bourbon und verfluchte die defekte Eismaschine.
Wind Gap liegt etwa elf Stunden südlich von Chicago. Curry war so großzügig gewesen, mir eine Übernachtung im Motel und ein Frühstück zu bezahlen, falls ich an einer Tankstelle aß. In Wind Gap würde ich dann bei meiner Mutter wohnen. Das hatte er für mich entschieden. Ich wusste schon, wie sie reagieren würde, wenn ich bei ihr auftauchte. Ein rasches, schockiertes Erröten, die Hand zur Frisur, eine ungeschickte Umarmung. Sie würde sich für die Unordnung im Haus entschuldigen, das gar nicht unordentlich war. Und mit höflichen Umschreibungen danach fragen, wie lange ich zu bleiben gedachte.
»Wie lange haben wir das Vergnügen, Liebes?« Übersetzt: »Wann fährst du wieder?«
Die Höflichkeit war am schlimmsten.
Eigentlich sollte ich mir Notizen machen, mich vorbereiten, Fragen entwerfen. Stattdessen trank ich weiter Bourbon, warf Aspirin hinterher, schaltete das Licht aus. Das feuchte Schnurren der Klimaanlage und das elektronische Piepsen eines Videospiels nebenan schläferten mich ein. Ich war nur dreißig Meilen von meiner Heimatstadt entfernt, brauchte aber eine letzte Nacht mit mir allein.
Am Morgen verschlang ich einen alten Donut mit Gelee und fuhr weiter nach Süden. Es wurde heißer, der Wald beiderseits der Straße dichter und üppiger. Dieser Teil von Missouri ist seltsam flach - meilenweit öde Bäume, nur unterbrochen vom schmalen Band des Highways. Immer die gleiche Aussicht.
Aus der Ferne kann man Wind Gap nicht erkennen, da das höchste Gebäude nur zweigeschossig ist. Doch nach zwanzig Minuten wusste ich, was kam. Zuerst tauchte eine Tankstelle auf. Davor eine Gruppe gelangweilter, magerer Halbwüchsiger mit nacktem Oberkörper. Ein Kleinkind in Pampers warf mit beiden Händen Schotter in die Luft, während seine Mutter ihren alten Pick-up betankte. Sie hatte die Haare goldblond gefärbt, doch sie waren fast bis zu den Ohren braun nachgewachsen. Sie rief den Jungs etwas zu, das ich im Vorbeifahren nicht verstehen konnte. Bald darauf wurde der Wald lichter. Ich kam an einem winzigen Einkaufszentrum mit Sonnenstudio, Waffengeschäft und Stoffhandlung vorbei. Es folgte eine einsame Sackgasse mit alten Häusern, Teil einer Siedlung, die nie fertig gestellt worden war. Und dann erreichte ich die eigentliche Stadt.
Ich hielt unwillkürlich die Luft an, als ich am Willkommensschild vorbeifuhr, so wie Kinder es an Friedhöfen tun. Seit acht Jahren war ich nicht mehr hier gewesen, aber diese Szenerie erkannte ich im Schlaf. Am Ende jener Straße wohnte meine Klavierlehrerin aus der Grundschule, eine ehemalige Nonne, die aus dem Mund nach Eiern roch. Der Weg dort drüben führte zu einem winzigen Park, in dem ich an einem schwitzig heißen Sommertag meine erste Zigarette geraucht hatte. Dort ging es nach Woodberry und zum Krankenhaus.
Zunächst wollte ich zur Polizeiwache am Ende der Main Street, die einzige Straße in ganz Wind Gap, die diesen Namen verdient. Dort findet man einen Schönheitssalon und eine Eisenwarenhandlung, einen Billigladen und eine Bücherei mit ungefähr zwölf Regalen. Ein Bekleidungsgeschäft namens Candy's Casuals, in dem man Pullover, Rollis und Sweatshirts kaufen kann, die mit Enten und Schulgebäuden bedruckt sind. Die meisten netten Frauen von Wind Gap sind Lehrerinnen, Mütter oder arbeiten in Läden wie Candy's Casuals. In einigen Jahren wird es sicher auch ein Starbucks geben, das der Stadt endlich die lang ersehnte, vorgefertigte Mainstream-Coolness bringt. Doch bislang gibt es auf der Main Street nur ein schmuddliges Cafe, das von einer Familie geführt wird, deren Name mir entfallen ist.
Die Hauptstraße lag verlassen da. Keine Autos, keine Leute. Ein Hund trottete den Gehweg entlang. An sämtlichen Laternenpfählen hingen gelbe Bänder und körnige Fotos eines Mädchens. Ich parkte und schälte einen Zettel ab, den wohl ein Kind schief an ein Stoppschild geklebt hatte. Er war handgeschrieben. »Vermisst« stand in fetten Buchstaben darüber, die mit Textmarker ausgemalt waren. Auf dem Foto war ein dunkeläugiges Mädchen mit katzenhaftem Lächeln und üppigern Haarschopf zu sehen. Der Typ Mädchen, den Lehrer gern als »schwierig« bezeichnen. Mir gefiel sie.
Natalie Jane Keene
Alter: 10
Vermisst seit dem 11.5.
Zuletzt gesehen im Jacob J. Garrett Park
in blauen Jeansshorts und rot gestreiftem T-Shirt Hinweise: 588-7377
Ich hatte gehofft, dass man mir auf der Polizeiwache sagen würde, dass Natalie Jane wohlbehalten gefunden worden sei. Dass sie sich bloß verlaufen oder im Wald den Knöchel verstaucht hätte oder von zu Hause weggelaufen sei, sich dann aber eines Besseren besonnen hätte. Dann wäre ich einfach ins Auto gestiegen und sofort wieder nach Chicago zurückgefahren und hätte kein Wort mehr darüber verloren.
Doch wie sich herausstellte, waren die Straßen deshalb so verlassen, weil die halbe Stadt die Wälder nördlich von Wind Gap absuchte. Chief Bill Vickery würde bald zur Mittagspause zurückkehren. Im Warteraum war es heimelig wie in einer Zahnarztpraxis. Ich hockte auf dem letzten orangefarbenen Sitz der Reihe und blätterte in Redbook. Ein elektrischer Lufterfrischer verströmte zischend seinen Plastikduft, der an eine Landbrise erinnern sollte. Dreißig Minuten später hatte ich drei Zeitschriften durch und konnte den Geruch nicht mehr ertragen. Als Vickery endlich hereinkam, nickte die Empfangsdame zu mir hinüber und flüsterte ebenso eifrig wie verächtlich: »Von der Zeitung.«
Vickery, ein schlanker Typ von Anfang fünfzig, hatte seine beigefarbene Uniform durchgeschwitzt. Das Hemd klebte am Oberkörper, die Hose beulte sich, wo der Hintern hätte sein sollen.
»Zeitung?« Er starrte mich über seine Bifokalbrille an. »Von welcher Zeitung?«
»Chief Vickery, ich heiße Camille Preaker und arbeite in Chicago für die Daily Post.«
»Chicago? Warum kommen Sie von so weit her?«
»Ich würde gern mit Ihnen über die Mädchen sprechen - Natalie Keene und das andere Mädchen, das letztes Jahr ermordet wurde.«
»Herrgott nochmal, wie haben Sie denn davon Wind bekommen?«
Er sah die Empfangsdame an, dann wieder mich, als hätten wir uns gegen ihn verschworen. Schließlich bedeutete er mir, ihm zu folgen. »Keine Anrufe, Ruth.«
Die Empfangsdame verdrehte die Augen.
Bill Vickery ging vor mir her durch einen holzgetäfelten Flur, den schachbrettartig aufgehängte Fotos von Forellen und Pferden in billigen Rahmen säumten. Sein Büro war klein, quadratisch, fensterlos, mit Metallregalen. Er setzte sich und zündete sich eine Zigarette an, ohne mir eine anzubieten.
»Ich will nicht, dass das bekannt wird, Miss. Das lasse ich auf keinen Fall zu.«
»Bedauere, Chief Vickery, aber Sie haben keine Wahl. Es sind Kinder in Gefahr, das sollte die Öffentlichkeit wissen.« Diesen Ansatz hatte ich mir unterwegs überlegt, um mich ins rechte Licht zu rücken.
»Was geht Sie das an? Es sind doch nicht Ihre Kinder, sondern Kinder aus Wind Gap.« Er stand auf, setzte sich wieder, räumte Papiere um. »Es ist wohl kaum gelogen, wenn ich behaupte, dass sich in Chicago noch nie einer für die Kinder in Wind Gap interessiert hat.« Seine Stimme brach beim letzten Wort. Er zog an seiner Zigarette, drehte den dicken Goldring, den er am kleinen Finger trug, blinzelte hektisch. Ich fragte mich, ob er gleich in Tränen ausbrechen würde.
»Vermutlich haben Sie Recht. Ich will die Sache nicht ausschlachten, aber sie ist mir wichtig. Falls es Sie interessiert, ich komme selbst aus Wind Gap.« Na bitte, Curry, ich gebe mir alle Mühe.
Der Chief glotzte mich an.
»Wie heißen Sie doch gleich?«
»Camille Preaker.«
»Und wieso kenne ich Sie nicht?«
»Hatte noch nie Probleme mit der Polizei, Sir.« Ich deutete ein Lächeln an.
»Ihre Familie heißt also Preaker?«
»Meine Mutter hat vor fünfundzwanzig Jahren wieder geheiratet. Adora und Alan Crellin.«
»Ach, die kenne ich.« Klar, die kannte hier jeder. Geld, richtig altes Geld, war selten in Wind Gap. »Aber ich will Sie trotzdem nicht hier haben, Miss Preaker. Wenn Sie die Story drucken, bringt man uns für immer mit ... mit dem hier in Verbindung.«
»Vielleicht würde ein bisschen Publicity ja bei der Suche helfen«, sagte ich. »Soll vorkommen.«
Vickery saß ganz still da und betrachtete seine zerknüllte Essenstüte. Sie roch nach Mortadella. Er murmelte etwas, von dem ich nur die Worte »JonBenet« und »Scheiße« verstand.
»Nein danke, Miss Preaker. Ansonsten kein Kommentar. Ich habe nichts über die laufenden Ermittlungen zu sagen. Das können Sie gern zitieren.«
»Sie wissen, es ist mein Recht, hier zu sein. Machen wir es uns doch nicht so schwer. Geben Sie mir irgendeine Information, dann lasse ich Sie eine Weile in Ruhe. Ich will Ihnen nicht im Weg stehen, aber ich muss auch meine Arbeit tun.« Diesen Satz hatte ich mir auf der Höhe von St. Louis überlegt.
Ich verließ die Polizeiwache mit einer fotokopierten Karte von Wind Gap, auf der Chief Vickery mit einem winzigen X den Ort markiert hatte, an dem im vergangenen Jahr die Mädchenleiche gefunden worden war.
Ann Nash, zehn Jahre, wurde am 27. August im Falls Creek entdeckt, einem steinigen, laut dahinrauschenden Bach, der mitten durch die North Woods floss. Ein Suchtrupp hatte seit dem Vorabend den Wald durchkämmt, doch es waren Jäger, die sie gegen fünf Uhr morgens fanden. Sie war gegen Mitternacht mit einer Wäscheleine erdrosselt worden, die zweimal um ihren Hals geschlungen war. Danach hatte man sie in den Bach geworfen, der wegen der sommerlichen Trockenheit wenig Wasser führte. Die Wäscheleine hatte sich an einem großen Felsen verfangen, und das Mädchen war die Nacht über im trägen Wasser dahingetrieben. Sie wurde im geschlossenen Sarg aufgebahrt. Mehr wollte Vickery nicht sagen. Und ich hatte eine geschlagene Stunde gebraucht, um das bisschen aus ihm herauszubekommen.
Vom Münztelefon in der Bücherei rief ich die Nummer auf dem Suchplakat an. Eine ältere Frauenstimme meldete sich mit den Worten »Natalie Keene Hotline«, doch ich hörte im Hintergrund den Geschirrspüler rauschen. Sie teilte mir mit, dass die Suche in den North Woods ihres Wissens noch im Gange sei. Wer helfen wolle, solle sich auf der Hauptzufahrtsstraße melden und Trinkwasser mitbringen. Man erwarte Höchsttemperaturen.
Am Suchstützpunkt saßen vier blonde Mädchen steif auf einer Picknickdecke. Sie deuteten auf einen Waldweg, den ich entlanggehen sollte, bis ich den Suchtrupp gefunden hätte.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte die Hübscheste. Ihr gerötetes Gesicht war rundlich wie das eines ganz jungen Mädchens, und sie hatte die Haare mit Bändern zu Zöpfen gebunden, doch die Brüste, die sie stolz nach vorn reckte, waren die einer erwachsenen Frau. Einer glücklichen erwachsenen Frau. Sie lächelte, als würden wir uns kennen, was unmöglich sein konnte. Als ich das letzte Mal hier war, musste sie noch im Kindergarten gewesen sein, und doch kam sie mir irgendwie vertraut vor. Vielleicht die Tochter einer alten Schulfreundin. Das Alter könnte hinkommen, falls sie gleich nach der Schule schwanger geworden wäre. Was nicht auszuschließen war.
»Ich wollte nur helfen.«
»Okay«, meinte sie grinsend und entließ mich, indem sie sich ganz darauf konzentrierte, den Lack von einem Zehennagel abzukratzen.
Ich schlug den Waldweg ein, der Schotter knirschte unter meinen Füßen, und inmitten der Bäume schien es tatsächlich noch wärmer zu sein. Die Luft war dschungelfeucht. Goldrute und Lorbeersumach streiften meine Knöchel, und überall schwebten weiße Pappelsamen, stahlen sich in meinen Mund, hafteten an meinen Armen. Plötzlich fiel mir ein, dass wir sie früher Feenkleidchen genannt hatten.
In der Ferne hörte ich Leute nach Natalie rufen, die drei Silben hoben und senkten sich wie ein Lied. Noch zehn Minuten Fußmarsch, dann hatte ich sie entdeckt: etwa fünfzig Menschen, die sich in langen Reihen vorwärts bewegten und das Unterholz mit Stöcken abtasteten.
»Hallo? Gibt's was Neues?«, rief ein Mann mit Bierbauch, der ganz in meiner Nähe stand. Ich verließ den Pfad und ging zu ihm hinüber.
»Kann ich helfen?« Ich war noch nicht so weit, dass ich einfach das Notizbuch zücken konnte.
»Sie können hier neben mir gehen«, sagte er. »Helfer können wir immer gebrauchen. Je mehr Augen, desto besser.« Ein paar Minuten schritten wir schweigend nebeneinander. Der Mann räusperte sich bisweilen mit einem feuchten, kollernden Husten.
»Manchmal denke ich, wir sollten den Wald einfach niederbrennen«, sagte er unvermittelt. »Hier passiert nichts Gutes. Sind Sie mit den Keenes befreundet?«
»Eigentlich bin ich von der Zeitung. Chicago Daily Post. «
»Hm ... Na so was. Und Sie schreiben über das hier?«
Plötzlich erscholl ein lautes Heulen, ein Mädchen schrie: »Natalie!« Meine Hände schwitzten, als wir auf den Schrei zurannten. Menschen taumelten uns entgegen. Ein junges Mädchen mit weißblondem Haar stieß uns beiseite, das Gesicht rot und geschwollen. Es wankte wie betrunken und brüllte immer wieder Natalies Namen zum Himmel empor. Ein älterer Mann, vielleicht der Vater, nahm sie in die Arme und führte sie zurück zur Straße.
»Hat man sie gefunden?«, rief mein Suchpartner.
Allgemeines Kopfschütteln. »Hat sich wohl nur erschreckt«, meinte ein anderer Mann. »War zu viel für sie. Mädchen sollten hier sowieso nicht mitmachen.« Er schaute mich nachdrücklich an, nahm die Baseballkappe ab, um sich die Stirn abzuwischen, und blickte wieder zu Boden.
»Traurige Arbeit«, meinte mein Partner. »Traurige Zeiten.« Wir bewegten uns langsam vorwärts. Ich trat eine verrostete Bierdose beiseite. Und noch eine. Ein einzelner Vogel flog auf Augenhöhe vorüber und stieß steil nach oben in die Wipfel. Ein Grashüpfer landete auf meinem Handgelenk. Ein unheimlicher Zauber.
»Würden Sie mir etwas über die Sache erzählen?« Ich winkte mit meinem Notizbuch.
»Wüsste nicht, was ich Ihnen sagen soll.«
»Nur was Sie so denken. Zwei Mädchen in einer Kleinstadt ...«
»Niemand weiß, ob das eine mit dem anderen zu tun hat, oder? Außer, Sie wissen mehr als ich. Wir gehen davon aus, dass Natalie putzmunter wieder auftaucht. Ist ja noch keine zwei Tage her.«
»Gibt es irgendwelche Theorien über Ann?«
»Muss ein Verrückter gewesen sein. Ein Typ auf der Durchreise, der seine Pillen nicht genommen hat oder der Stimmen hört. So in der Art.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Er blieb stehen, holte ein Päckchen Kautabak aus der Gesäßtasche, schob sich einen dicken Pfriem in den Mund und kaute, bis der erste kleine Riss den Tabak freisetzte. Mein eigener Mund prickelte vor Mitgefühl.
»Warum sonst sollte jemand einem toten Mädchen alle Zähne ziehen?«
»Er hat ihr die Zähne gezogen?«
»Alle, bis auf den hinteren Teil eines Milchbackenzahns.«
© S. Fischer Verlag
Übersetzung: Susanne Goga-Klinkenberg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Gillian Flynn
- 2008, 1, 318 Seiten, Maße: 13,5 x 21,2 cm, Klappenbroschur
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828990207
- ISBN-13: 9783828990203
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