Dann wählt mal schön
Dann wähltmal schön von Wolfgang Herles
LESEPROBE
Vorwort
Politiker in der Zirkuskuppel - ratlos. Das Publikum imManegenrund buht, pfeift, lärmt. Der Zirkusdirektor klatscht in die Hände,bittet um Ruhe. »Sehr verehrtes Publikum! Ich bitte Sie jetzt um IhreStimmzettel und um ein klein wenig mehr Optimismus, und Sie werden sehen, schonläuft die Show wieder wie geschmiert.« Ein Teil der Zuschauer stöhnt, anderestehen auf und wollen gehen. Aber die Eingänge sind versperrt. Politik istZirkus. Diese Republik ist ein Zirkus. Aber zu lachen gibt es nichts.
Kaum lässt sich der Kanzler das Vertrauen entziehen - schonrafft das Land sich wieder auf, beendet Agonie und Wirtschaftskrise. Es ist dasschiere Wunder, was Wahlkämpfer wie Leitartikler derzeit herbeireden. Nur wirdes kein Wunder geben. Dann wählt mal schön!, fordern die Parteien. Aber wird esam Zustand dieses Landes und seiner Demokratie etwas ändern?
Müssen wir uns tatsächlich um die Demokratie in Deutschlandsorgen? Schon die Frage gilt als überhitzt. Denn es gehört zum Selbstbild dieser Republik, dasssie erwachsen geworden sei, so normal und stabil wie die Nachbarn im Westen,deren Demokratien erheblich länger währen. In welchem Zustand ist dieDemokratie in Deutschland, wie tragfähig in der Krise? Ist sie bloß eineSchönwetterdemokratie? Eine Staatsform, deren Inhalt schal und trocken zuwerden beginnt, weil den Bürgern andere Werte mehr gelten als politischeFreiheit? Sind die Demokratien in der Lage, Deutschland aus der Krise zu holen?Die Zahl derer, die daran zweifeln, wächst. Sie wählen entweder radikaleParteien oder - die meisten von ihnen - gar nicht mehr.
Die Krise ist oft genug beschrieben worden. Fast allePolitiker glauben, ihre Überwindung sei bloß eine Frage der Konjunktur unddes Wachstums. Dies ist allerdings ein verhängnisvoller Irrtum. Diegebetsmühlenartige Beschwörung des Aufschwungs fruchtet nichts, immer weiterverspätet sich sein Eintreffen. Warten auf Godot.
Es siehtganz danach aus, als würde kein denkbares Ergebnis der bevorstehenden Bundestagswahleneine Lösung der wachsenden Probleme bieten. Ob dieses Land, so wie es gegenwärtigverfasst ist, überhaupt noch reformierbar ist, wird es erst noch beweisenmüssen.
Anders alsin älteren, gelasseneren Demokratien lasten die Deutschen die Krise überwiegendder Politik und den demokratischen Institutionen an. Das ist auch nicht ganzfalsch. Konstruktionsfehler der politischen Institutionen, aber auch Berufsauffassungund Mentalität der Volksvertreter haben ihren Anteil am Absturz des einstigenMusterlandes Deutschland. Da aber hierzulande das Vertrauen der Wähler in die Demokratiemehr als anderswo vom wirtschaftlichen Wohlergehen abhängig ist, geht dieKrise tiefer. Die Deutschen sind dabei, ihre Demokratie zu ruinieren.
Längst istaus Politikverdrossenheit schleichende Demokratieverdrossenheit geworden.Allerdings ist weniger ein Umsturz zu befürchten als der schleichende Tod derDemokratie durch Erosion.
DieUrsachen dieser Entwicklung versuche ich zu beschreiben. Sie sind auch in historischenEntwicklungen und Traditionen des Landes zu finden. In Deutschland ist eineklatanter Mangel an Streitkultur zu beklagen, es herrscht ein Konsens- undGeschlossenheitskult. Führung wird gefordert. Die Parlamente haben nichts mehrzu melden.
Und nochimmer herrscht in Deutschland die Neigung, sich in die eigene Tasche zu lügen,Wünsche für Realität zu halten, sich die Welt als Wille und Vorstellungzurechtzulegen, Illusionen und selbst gestrickten Mythen aufzusitzen, die Weltmit Denkverboten und heiligen Kühen zuzustellen. Demokratie aber lebt vonpraktischer Vernunft, von Realitätssinn und Augenmaß, von Wachsamkeit undSelbstkritik.
Trotzdemscheint die Auffassung konsensfähig zu sein, man dürfe Deutschlands Krise nichtlänger durch übermäßiges Schwarzmalen vertiefen. Die Vorstellung herrscht, mankönne das Land sozusagen mit positiver Energie aufladen. Es geht uns im Grundeblendend, wir müssen nur daran glauben.
Weil dasWünschen und Gesundbeten helfen soll, sind Reformen willkommen, vorausgesetzt,sie ändern nichts. Die Realisten sind in der Minderheit und werden fürPessimisten gehalten, am Ende gar noch für den nicht enden wollenden AbstiegDeutschlands verantwortlich gemacht.
Vor denBundestagswahlen ist es an der Zeit, nicht nur die Regierung einer Revision zuunterziehen, sondern das gesamte politische System und die politische Klasse.Diese Bilanz fällt natürlich anders aus als die der Wahlkämpfer.
VomVersagen der Politik muss die Rede sein, aber ebenso vom Versagen der Wählerund Bürger. Die Skandalisierung der Politiker und der Parteien, die Aufregungum Spenden und Nebentätigkeiten lenken nur ab von der wahren Unfähigkeit derpolitischen Klasse wie auch anderer Eliten, vor allem der Medien und derWirtschaft.
Es wäre eingroßer Irrtum zu glauben, unser politisches System sei unerschütterbar und aufewig festgeschrieben. Die Fehler und Versäumnisse, die Lähmungen undErmüdungserscheinungen, das Elend des Populismus haben ihren Preis.
© Piper VerlagGmbH, München 2005
- Autor: Wolfgang Herles
- 2005, 235 Seiten, Maße: 13,3 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492048625
- ISBN-13: 9783492048620
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