Das Erbe des Vaters
London in den 50er Jahren: Die junge Romy wagt nach den Schicksalen der Kriegszeit einen Neuanfang. Bald findet sie überall Anerkennung.
Da tritt ein junger Mann in ihr Leben, der tief mit ihrer Vergangenheit verbunden ist.
London in den 50er Jahren: Die junge Romy wagt nach den Schicksalen der Kriegszeit einen Neuanfang. Bald findet sie überall Anerkennung.
Da tritt ein junger Mann in ihr Leben, der tief mit ihrer Vergangenheit verbunden ist.
Das Erbe des Vaters
Roman
Erst als er das Gewehr herausholte, bekam sie Angst.
Seit sie am frühen Morgen erwacht war, hatte sie gespürt, daß dies kein normaler Tag war. Die Strophe eines Liedes, das ihr Vater manchmal sang, ging ihr durch den Kopf. "Die Männer im Wald, die fragten mich einst: Wie viele wilde Erdbeeren wachsen im Meer?" Romy hatte das Lied immer blöd gefunden. Im Meer wuchsen doch keine Erdbeeren! Aber dieser Tag heute war so merkwürdig, daß sie an die verkehrte Welt des Liedes denken mußte, in der nichts richtig war, nichts so war, wie es sein sollte. "Mit Tränen im Auge fragt' ich zurück: Wie viele Schiffe segeln im Wald?" Nein, der Tag war nicht normal. Aber das hatte ihr keine Angst gemacht. Angst bekam sie erst, als ihr Vater das Gewehr herausholte.
Das Gewehr wurde in einem hohen Schrank im oberen Flur aufbewahrt. Von ihrem Versteck aus sah Romy zu, wie ihr Vater den Schlüssel ins Schloß schob und die Tür aufzog. Mit seinen kräftigen, schwieligen Fingern strich er über den Doppellauf der Waffe und hielt plötzlich wie unsicher geworden inne. Aber dann öffnete er das Schloß und legte zwei Patronen ein. Romy hatte sich in dem grünen Schrank am Ende des Flurs versteckt. Er war klein und eng, sie mußte sich hinknien, sonst hätte sie gar nicht hineingepaßt. Sie hörte die lauten Rufe aus dem Garten und beobachtete durch ein Astloch in der Schranktür ihren Vater. Immer wenn man im Haus etwas suchte und nicht fand, pflegte ihre Mutter zu sagen: Schaut doch mal im grünen Schrank nach. Alles, was alt und hoffnungslos kaputt war, landete im grünen Schrank: eine einzelne Gamasche, an der alle Knöpfe abgerissen waren; eine Teekanne mit angeschlagener Tülle und ohne Deckel. Die Teile eines Puzzlespiels drückten gegen Romys Knie, und Federn aus einem zerschlissenen alten Kopfkissen schwebten im Dunkeln um sie herum wie sanfte graue Schneeflocken. Obwohl sie Schal und Mantel anhatte, war ihr kalt; so kalt, daß ihre Zähne
Die Männer im Wald, die fragten mich einst ... Romy fröstelte. Die lauten Stimmen ihrer Eltern hatten sie am Morgen geweckt; die ihres Vaters trotzig und wütend, die ihrer Mutter schrill und voller Tränen. Keiner schien an Frühstück oder Schule zu denken. Es gab kein Porridge und kein Brot. Das Feuer im Herd war ausgegangen. Niemand hatte Wasser geholt. Jem war noch nicht einmal halb angezogen, hatte nur Hemd und Unterhose an und einen Schuh. Romy half ihm ungeduldig in den zweiten, schnürte die Bänder und zog ihrem Bruder danach den Pulli so energisch über den Kopf, daß er schrie, sie reiße ihm ja die Ohren ab.
Auf der Uhr auf dem Kaminsims hatte sie gesehen, daß es halb neun war. Sie hätten längst zur Schule unterwegs sein müssen. Sie hätte sich gern über die zusätzlichen Minuten zu Hause gefreut, aber dazu war ihre Beunruhigung zu groß. Mam und Dad schienen die Schule ganz vergessen zu haben; als wäre sie völlig bedeutungslos. Romy fragte sich, was da passiert sein konnte, daß ihr Vater, der sonst immer sagte, die Schule sei das allerwichtigste, plötzlich keinen Gedanken mehr daran verschwendete.
Sie hatte, schon fertig angezogen und mit hungrig knurrendem Magen, in der Küche gestanden und gewartet, während ihre Mutter geweint und ihr Vater gebrüllt hatte, und schließlich hatte sie sich unbemerkt nach oben geschlichen, um sich dort im grünen Schrank zu verstecken. Sie mochte den grünen Schrank. Immer wenn sie traurig war oder Ärger hatte und nicht gefunden werden wollte, pflegte sie sich dort zu verkriechen. Damals, als sie Annie Paynter den Kopf in den Wassertrog getunkt hatte, war sie hinterher auch im grünen Schrank untergeschlüpft; einen Moment lang erheiterte sie die Erinnerung daran, wie Annie das schmutzige Wasser aus den triefnassen blonden Locken getropft war. Und wenn sie helfen sollte - Birnen pflücken oder Kohlen holen oder dergleichen -, versteckte sie sich ebenfalls oft im Schrank. Aber ihre Mutter fand sie immer. Jem mochte den grünen Schrank nicht, weil es drinnen so eng und finster war, da hatte er stets Angst vor Gespenstern.
Nach einer Weile hörte sie ihre Mutter schreien: "Glaub ja nicht, daß ich hierbleibe und zusehe, wie sie dich ins Gefängnis abtransportieren!" Und ihr Vater brüllte zurück: "Dann nimm auch gleich die Kinder mit. Kinder kann ich hier nicht gebrauchen, wenn die mir Middlemere wegnehmen wollen." Ein bißchen später sagte ihre Mutter: "Wo ist dieses verwünschte Kind?" Und Jem antwortete: "Romy ist in die Schule gegangen."
Dann wurde die Tür zugeschlagen, und eine Zeitlang war es wunderbar still. Romy aß den Apfel, den sie heimlich aus dem Korb auf dem Küchenbüfett genommen hatte, und beschloß, den ganzen Tag im Schrank zu bleiben. Das war sowieso besser als Schule, schon gleich an einem Freitag. Freitags hatten die Mädchen Handarbeiten, und Romy haßte Handarbeiten. Rechnen war ihr tausendmal lieber, als Schürzen zu nähen und Socken zu stricken. Zahlen hatten so etwas Klares, Scharfes, Zuverlässiges: Man mußte nur die Regeln begreifen, dann stimmte es jedesmal. Bei der Handarbeit hingegen konnte sie sich Mühe geben, soviel sie wollte, die Schürzen und die Socken waren früher oder später stets nur noch ein formloser verhedderter Wust.
Gerade begann sie, Mut zu fassen und zu glauben, die Welt wäre wieder ins Lot gekommen, als der Krach losging. Das plötzliche Klopfen und Hämmern brachte mit einem Schlag das ungute Gefühl des frühen Morgens zurück. Angespannt lauschend hörte sie, wie ihr Vater Türen abschloß und verriegelte. Dann vernahm sie ein neues Geräusch, lautes Knarren und Kratzen, und erkannte, daß ihr Vater irgendein schweres Möbelstück über den Küchenboden schob. Sie öffnete die Schranktür einen Spalt und sah hinaus. In der Ferne konnte sie das Brummen eines Autos hören, das den holprigen Fahrweg nach Middlemere heraufkam. Dann hörte sie ihren Vater die Treppe hinauflaufen. Hastig zog sie die Schranktür wieder zu.
Interview mitJudith Lennox
Wenn Siesich jemandem, der Sie und Ihre Bücher nicht kennt, vorstellen sollten: Wiewürden Sie sich charakterisieren, als Persönlichkeit ebenso wie als Autorin?
Als Person: Ich genieße es, allein zu sein - wasfür eine Schriftstellerin natürlich auch notwendig ist. Aber natürlich bin ichauch sehr gerne mit anderen Menschen zusammen. Meine Familie - d.h. mein Mannund meine drei Söhne, Geschwister, Nichten und Neffen - hat immer Priorität.Ich hasse es, wenn ich mich aus irgendeinem Grund zu lange drinnen aufhaltenmuss, und ich liebe die Landschaft in England. Nach einem Arbeitstag sehne ichmich nach einem Spaziergang an der frischen Luft. Ich gehe gerne ins Kino, insTheater, ins Ballett oder ins Konzert, und natürlich lese ich für mein Lebengerne. Ich würde einen netten Abend mit guten Freunden jederzeit einer großenParty vorziehen. Ich interessiere mich für andere Menschen und dafür, wie sie"funktionieren", was sie in Schwung hält.
Als Autorin fasziniert mich Geschichte, dieVergangenheit. Am interessantesten finde ich, wie historische und politischeEreignisse auf das Leben einzelner Personen Einfluss nehmen. Es istaufschlussreich zu beobachten, was Menschen zu bestimmten Handlungen veranlasstund wie sie reagieren, wenn plötzlich ein Ereignis, auf das sie keinen Einflusshaben, ihr Leben völlig umkrempelt. Ich schreibe gerne über die Suche nachLiebe. Damit meine ich nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern auchdie Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Geschwistern und zwischenFreunden. Ein anderes Thema, das mich beschäftigt, ist Selbstfindung. Für meineweiblichen Hauptpersonen gestaltet sich die Suche nach dem eigenen Ich manchmalbesonders schwer, da die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen mitunter wichtigerscheinen als ihre persönlichen Sehnsüchte und Ziele.
Es war eine logische Konsequenz, dass ich meineersten Romane im 16. und 17. Jahrhundert ansiedelte. Ich hatte an derUniversität viel über diese Zeit gelernt und war deshalb einfach damit vertraut.Nachdem ich vier Romane geschrieben hatte, bekam ich das Gefühl, dass michdiese Epoche langsam einschränkte. Man gelangt irgendwann an seine Grenzen,wenn man die Frauen von damals historisch korrekt darstellen möchte. Eine Frau,die im 16. Jahrhundert lebte, hatte eben nur sehr begrenzte Möglichkeiten, sichberuflich zu verwirklichen. Auch die Wahl des Ehemanns wurde durch zahlreicheFaktoren beeinflusst. Eines der großen Themen des 20. Jahrhunderts war dergrundlegende Wandel in Bezug auf die Rolle der Frau und ihre Möglichkeiten,sich selbst zu verwirklichen. Darüber wollte ich schreiben. Es ist zudem leichter,Personen zu ergründen, die unserer Zeit näher sind, da die Unterschiede inReligion, Sprache und Denkweise nicht so grundlegend sind. Darüber hinaus wares mir wichtig, die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, da diese unsereheutige Zeit so stark prägt.
Ihnengelingt in "Die geheimen Jahre" eine atmosphärisch dichte Schilderungder Zeit des Ersten Weltkrieges und der 20er Jahre. Woher haben Sie IhrWissen über diese Zeit?
Ich recherchiere natürlich sehr viel, bevor ichmit dem Schreiben beginne. Zuerst mache ich mich mit den bedeutendstenEreignissen der Epoche vertraut. Für "Die geheimen Jahre" waren dasder Erste Weltkrieg und die Ereignisse der Zwanziger Jahre. Ich habe sehr vielüber Sozialgeschichte gelesen. Bevor ich eine Geschichte schreiben kann, mussich genau wissen, welche Kleidung die entsprechenden Personen trugen, welcheMöbel sie hatten, womit sie ihre Zeit verbrachten etc. Ich besuche allerelevanten Museen, herrschaftlichen Anwesen und Schlösser. Mittlerweilerecherchiere ich zunehmend im Internet. Als ich "Die geheimen Jahre"schrieb, stand mir diese Möglichkeit allerdings noch nicht zur Verfügung.Autobiografien und mündliche Überlieferungen aus der Zeit sind vonunschätzbarem Wert. Ich beginne nie mit meinem Text, bevor ich die Zeit, überdie ich schreiben möchte, ganz deutlich vor Augen habe.
Siestudierten Englisch, arbeiteten später unter anderem als Pianistin in einerBallettschule. Gab es für Sie einen speziellen Anlass, sich ab Mitte der 80erJahre ganz der Arbeit als Schriftstellerin zu widmen? Haben Sie vielleichtvorher schon geschrieben?
Ich spielte Klavier in einer Ballettschule,nachdem mein erster Sohn geboren wurde. Nach der Geburt meines zweiten Sohneszogen wir um nach Cambridge. Dort begann ich Gedichte, kleinere Geschichten undTheaterstücke zu schreiben. Schreiben hat mir immer großen Spaß gemacht. Alsowollte ich versuchen, dieses Hobby zum Beruf zu machen. Damals ging meindritter Sohn gerade in den Kindergarten, und so hatte ich einige Stunden desTages ganz für mich. Ich begann, meinen ersten Roman zu schreiben. Es war eingroßartiger Tag für mich, als dieses Buch schließlich veröffentlicht wurde.
Wenn Sieeinen Roman schreiben, haben Sie dann auch Ihre Leser vor Augen oderkonzentrieren Sie sich ganz auf das Schreiben als solches?
Im Großen und Ganzen konzentriere ich mich eherauf die Geschichte an sich - ich muss mich darin verlieren, alles um mich herumausblenden können und möglichst fließend schreiben. Darüber hinaus behalte ichaber auch den Leser im Hinterkopf. Es ist unerlässlich, dass die Geschichtemeinen Lesern gefällt und sie fesselt. Ich hoffe immer, dass sie meineFaszination für die Vergangenheit bis zu einem gewissen Grad teilen. BeimSchreiben muss ich jedoch vorerst mit meinem eigenen Urteilsvermögen auskommen- ich bin meine erste Leserin und Kritikerin.
Die Fragen stellte RolandGroße Holtforth, literaturtest.de.
- Autor: Judith Lennox
- 2004, 2, 590 Seiten, Maße: 13 x 20,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Mechthild Sandberg
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492046495
- ISBN-13: 9783492046497
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