Das Evangelium nach Pilatus
Judas der Verräter, Pilatus der Henker, Jesus das Opfer? Der Autor befreit die Protagonisten der Passionsgeschichte von jeder Überhöhung oder Vorverurteilung. Er erzählt uns eine vertraute Geschichte so spannend und neu,als hörten wir sie zum ersten Mal.
Das Evangelium nach Pilatus von Eric-Emmanuel Schmitt
LESEPROBE
Prolog
Beichte eines zum Tode Verurteilten
am Abend seiner Verhaftung
In ein paar Stunden kommen sie mich holen.
Die Vorbereitungen sind in vollem Gange.
Die Soldaten putzen ihre Wa en. Boten eilen durch die
dunklen Straßen, um das Tribunal zusammenzutrommeln.
Der Zimmermann liebkost das Kreuz, an dem ich morgen
bluten muß. Ein Flüstern geht von Mund zu Mund, ganz
Jerusalem weiß, daß ich verhaftet werde.
Sie werden glauben, daß sie mich überraschen . . . dabei
warte ich schon auf sie. Sie suchen einen Schuldigen . . . und
finden einen Komplizen.
Mein Gott, mach, daß sie skrupellos sind und sich eilen!
Laß sie dumm und brutal sein. Erspar mir die Mühsal, sie
gegen mich aufzubringen! Sie sollen mich einfach töten.
Schnell. Und sauber.
Wie ist das alles gekommen?
Ich könnte heute abend auch woanders sein, in einer
Herberge voller Flöhe inmitten von anderen Pilgern, um
Ostern zu feiern wie alle Juden. Von der stillen Heiterkeit
der Pflichterfüllung durchdrungen, würde ich mich am
Sonntag auf den Heimweg nach Nazareth machen. Sehn-
süchtig erwartet von der Frau, die ich nicht habe, in dem
Haus, das ich auch nicht habe, und freudestrahlenden kleinen
Lockenköpfchen hinter der Tür. Soweit hat mich mein
Traum gebracht: daß ich in diesem Garten dem gefürchteten
Tod entgegensehe.
Womit hat das begonnen? Hat das Schicksal einen Anfang?
(...)
Das Evangelium nach PilatusVonPilatus an seinen lieben Titus
Ich hasse Jerusalem. Die Luft hier ist keine Luft, sondern
ein Gift, das wahnsinnig macht. Und dann diese Maßlosigkeit
in allem und jedem! Das orientalische Sprachengewirr,
das hier herrscht, ist nur dazu da, damit sich alle mißverstehen,
die ganze Stadt ist ein einziger Knoten aus Straßen
und Gäßchen, die nirgendwohin führen, so daß man sich
ständig verirrt, und über Land kommt man auch nicht
voran, weil man ständig mit wem zusammenstößt. Auf den
Straßen wird zuviel herumgeschrien, in den Häusern zuviel
getuschelt. Die römische Ordnung wird nur insofern beachtet,
als jeder sie verabscheut. Es stinkt nach Heuchelei
und verhaltenen Leidenschaften. Selbst die Sonne ist anders.
Man möchte nicht glauben, daß der helle, leuchtende Stern
über Rom derselbe ist wie der, der träge über Jerusalem
brütet. Allenthalben schürt er Verrat, scha t dunkle Ecken
für Verschwörungen, breite Alleen für flüchtige Diebe und
Tempel, in die kein Römer seinen Fuß setzen kann. Und
dieses Dunkel habe ich für das Licht eingetauscht, als ich
meine Ernennung zum Statthalter von Judäa angenommen
habe.
Ich hasse Jerusalem, aber es gibt etwas, das ich noch mehr
hasse als das alles zusammengenommen: Das ist Jerusalem
zu Ostern.
© Ammann Verlag
- Autor: Eric-Emmanuel Schmitt
- 280 Seiten, Maße: 13,2 x 20,4 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Übersetzer: Brigitte Große
- Verlag: Ammann
- ISBN-10: 3250600644
- ISBN-13: 9783250600640
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