Das Gesetz der Hydra
Das Gesetz der Hydra von PaulKirchhof
LESEPROBE
I. Das Hydra-Prinzip
1. Ein kleines Märchen vom nettenUngeheuer
Es waren einmal Menschen, die lebtenglücklich und zufrieden in ihrem Land. Da sie aber klein und schwach waren,ständig untereinander stritten und die Zahl ihrer Feinde wuchs, suchten sie nacheinem Wesen, das Frieden sichere und sie beschütze. Stärker sollte es sein alssie alle und furchtlos, Schrecken bei den Feinden verbreiten und lieb sein zuihnen. Deshalb stellten sie ein nettes kleines Ungeheuer an, das ihnenversprach, dafür zu sorgen, dass sie in Freiheit und Frieden leben konnten. Undwirklich - das dienstbare Ungeheuer, das auf den Namen Hydra hörte, erfüllteseine Aufgabe mit großem Erfolg.
Sahen es die Feinde aus der Ferne,so erschraken sie vor seiner vielköpfigen Gestalt und ergriffen die Flucht. Dasmachte die Menschen stolz und zufrieden. Da das Untier gutmütig und fürvielerlei zu gebrauchen war, suchten bald die Schwachen des Landes bei ihmZuflucht. Wenn es Streit gab, so musste nur die Hydra gerufen werden, und schonwurde der Gerechtigkeit zum Durchbruch verholfen. Und wenn es Bäume auszureißengalt, die zu gewaltig waren für die kleinen Leute, auch wenn es ihrer vielewaren, so spannte man das Ungeheuer vor die Last und die Bäume lösten sich wievon selbst aus ihren Wurzeln.
Mit der Zeit zeigte sich aber, dassdas Ungeheuer auch ungeheuer hungrig war. »Wenn ich stark sein soll«, sagte dieHydra, »müsst ihr mir zu fressen geben, sonst kann ich euch nicht helfen!« Das sahen die kleinen Leute ein - und jeder von ihnen gabein Kleines von dem Seinen, damit das gutmütige Ungeheuer nicht darbte und anSchwäche krankte. Das Ungeheuer fraß, erstarkte und sprach: »Ich habe abernicht nur einen Kopf, sondern viele! Und alle sind hungrig. Soll ich etwa mithängenden Köpfen unseren Feinden entgegentreten?«
Da stöhnten die Menschen ein wenig,doch sie sahen ein, dass mehrere Köpfe hungriger sind als einer. So nahm einjeder ein Größeres von dem Seinen, damit dem nützlichen Ungeheuer das Vielfachein den Rachen geworfen werde.
Bald geschah es, dass hie und daeiner ein Feld vom Ungeheuer leer gefressen fand. Die Menschen stellten dieHydra zur Rede. Das Ungeheuer wand sich ein wenig und bekannte: »Es geschah ausNot! Es soll nicht wieder vorkommen!« Damit eswirklich nicht wieder vorkommen würde, schlugen die Klugen des Landes vor, einRegelbuch für das gemeinsame Leben von Menschen und Ungeheuer zu vereinbaren.In diesem war das Verhalten aller Lebewesen im Lande bis ins Kleinste geregelt.Das Ungeheuer war zufrieden und setzte mit seiner Klaue eine Unterschrift unterdas Werk. Bald aber fanden die Menschen, dass sich das Ungeheuer nicht an dasBuch hielt. Sie sagten: »Liest du nicht, was geschrieben steht?« Die Hydra antwortete ihnen: »Ich lese es sehr wohl. Dochhabe ich einige Regeln geändert. Denn ich bin es schließlich, die für Recht undFrieden sorgt. Und ich weiß, was das Beste für euer Land ist.«
Von diesem Tag an bekamen diekleinen Menschen Angst. Sie lebten fortan in Furcht und Schrecken und verfl uchten den Tag, an dem siedas kleine Ungeheuer in ihren Dienst gestellt hatten. Einige sprachenuntereinander, Streit und Krieg seien allemal besser als dieses Ungeheuer.
Andere wollten selbst ein Ungeheuerwerden, das die Regeln ändern könne und wisse, was für die Menschen gut sei.Wieder andere schlugen eine neue Ordnung vor, die das Ungeheuer fessele, so dass es zwar noch Streitende und Kämpfendezurechtweisen, sich aber nicht mehr über die Menschen erheben könne.
2. Die Hydra befiehlt das Beste
Wer einem anderen das Beste wünscht,ist ein guter Mensch. Wer das Beste befiehlt, ist ein Tyrann. DerUrlaubswunsch, du mögest viele Gipfel ersteigen, weckt die Vorstellungsonniger, sportlicher Ferien. Der Befehl, du musst täglich einen Bergerklimmen, riecht nach Trimmanstalt. Das klassische Menschenrecht auf Glückmeint das Recht jedes Einzelnen, sein Glück zu suchen, ermächtigt nicht denStaat, den Bürgern ihr Glück vorzuschreiben. Freiheit herrscht nur dort, wojeder sein Leben nach eigenem Gutdünken einrichten, das für ihn Beste selbst bestimmendarf.
Die ungeheure Wasserschlange Hydra,die bei Argolis im Sumpfe von Lernalebte, besaß neun Häupter, und wenn Herakles ein Haupt abgeschlagen hatte,wuchsen an seiner Stelle zwei neue nach. Erst als Herakles mit einer Fackel dieWunden der Hydra ausbrannte und so das Nachwachsen der Köpfe verhinderte,konnte er das Ungeheuer besiegen. In das Giftblut tauchte er sein Schwert, dass von nun an unheilbare Wunden schlug.
Die Hydra, dieses allesverschlingende Ungeheuer, ist von Argolis nachDeutschland geflohen und beginnt hier ihren Schrecken zu verbreiten.
Auf ihrer Wanderung ist sie schlauergeworden, damit noch gefährlicher: Sie tritt den Menschen nicht mehr alsUngeheuer gegenüber, das den Kampfesmut weckt, sondern verkleidet sich alsWohltäter, der mit jedem seiner neun Köpfe Subventionen, Steuervergünstigungenund Privilegien verspricht. Doch immer dann, wenn ein Bürger eines dieserVersprechen angenommen hat, verdoppelt sich einer ihrer Köpfe: Neben dem Hauptdes leistenden Wohltäters erwächst das noch größere des steuerlichenÜbeltäters.
Der Herakles in uns muss deshalberst den Verlockungen der Hydra widerstehen, ehe er ihre Köpfe abschlagen kann.Und wenn er dann die Wunde ausbrennt, damit nicht zwei neue Köpfe nachwachsen,wird er sich einer wütenden Menge gegenübersehen, die weiterhin dieVersprechungen des ungeheuren, alles verschlingenden Wohltäters hören und aufanstrengungsloses Einkommen hoffen will.
Doch ein Herakles muss kommen, derdem Ungeheuer die Köpfe abschlagen kann, der gegen das Gift der Zuwendungen,Subventionen, Steuervergünstigungen und Privilegien immun ist und den Panzerder Gleichheit, des allgemeinen Gesetzes und der freiheitlichen Selbsthilfeanzieht. Das Ungeheuer ist verwundbar, wenn man die richtigen Waffen zur Handhat.
Glaubt ein Herrscher, das für seineUntertanen Beste erkennen zu können und anordnen zu sollen, erhöht er sich indieser Überheblichkeit und entwickelt sich zum Tyrannen. Optimierungsstrategienhaben ihren Platz in der Welt des Wünschens, Hoffens und Empfehlens, nicht desAnordnens und Befehlens. Der Befehlende verfügt nicht über das beste Wissen unddie besten Einsichten in das Wohl des anderen. Ein junger Mozart wird sichschon als Kind seinen Kompositionen widmen und insoweit sein Glück abweichendvom Regelverhalten seiner Altersgenossen definieren. Ein Carl Benz wird seinganzes Augenmerk seinen technischen Experimenten zuwenden, mögen diese aucherst später von seinen Zeitgenossen verstanden werden. Und ein Van Gogh wirdseine Bilder malen, auch wenn die Menschen seiner Zeit nicht bereit und in derLage sind, diese Werke als Kunst zu erkennen und durch Honorierunganzuerkennen. Mozart, Benz und Van Gogh sind nicht auf Befehl entstanden. Siewurden Komponist, Erfinder, Maler, weil sie die Freiheit hatten, in der siesich entfalten konnten.
Auch ist ein Amtsträger - wie jederMensch - nur begrenzt in der Lage, mit seinen Vermutungen und Voraussagen indie Zukunft vorzugreifen.
Deswegen überlässt der freiheitlicheStaat diese Einschätzungen demjenigen, den es angeht. Als ich in der Oberstufedes Gymnasiums erwogen habe, Jura zu studieren, empfahl uns ein Vertreter desArbeitsamtes, ein anderes, ein »Brotstudium« in naturwissenschaftlichen Berufenzu wählen. Jura sei - so das Wort des staatlichen Beraters in eigenwilligerWürdigung zweier ehrenwerter Berufe - die Vorbereitung auf den Beruf desTaxifahrers. Fünf Schüler unserer Klasse haben sich durch diesen Hinweis nichtentmutigen lassen, das persönliche Freiheitsrisiko des Jurastudiums gewagt undüben heute schöne - inhaltlich befriedigende, für die Richter leidlich, für denAnwalt glänzend ertragreiche - Rechtsberufe aus.
Freiheit ist auch das Recht zumSuboptimalen, zum Mittelmäßigen, zum Mäßigen. Wer das Zeug zum Geigenvirtuosenhat, sich aber eher dem Fußballspiel widmen möchte und dort nur einen mäßigenErfolg erreicht, darf dieses sein Leben eigenverantwortlich gestalten, mag erauch den Menschen glanzvolle Konzerte vorenthalten. Und wenn der eine ständigGedichte schreibt und mit einem Poesieband glücklich wird, während der andereständig Bilanzen schreibt und sich an seinem hohen Kontostand freut, so darfder freiheitliche Staat den einen oder anderen Lebensweg nicht als den besserenbewerten. Freiheit heißt, sich von anderen zu unterscheiden, anders als derNachbar handeln zu dürfen. Freiheit bedeutet auch, vorhandene Unterschiede inBegabung, Lebenserfahrung und Gestaltungswillen zu mehren, es besser als derNachbar machen zu dürfen.
Der freiheitliche Rechtsstaat pflegteine Kultur des Maßes, strebt nicht nach dem Maximum. Das Bemühen um dengrößtmöglichen Gewinn, die beste sportliche Leistung, die intensivste Formmenschlichen Erlebens ist Sache des Bürgers, nicht des Staates. Hunger,Erwerbsstreben, Neugier und Forschungsdrang, der Wille nach Ansehen und Macht,Sinnlichkeit und Sexualität sind Antriebskräfte unseres Handelns.
Viele Menschen würden diesenNeigungen maßlos folgen, gäbe der Staat nicht rechtsverbindliche Maßstäbe vor.Dem Menschen ist der Wille zur unbegrenzten Freiheit angeboren. Das Rechtbettet diesen Freiheitswillen in eine gemeinsame Rechtsordnung aller Freienein, begrenzt also die Freiheit und gewährt Freiheitsrechte. DasStraßenverkehrsrecht verspricht nicht freies Belieben auf deutschen Straßen,sondern die Bewegungsfreiheit in der Sicherheit und Leichtigkeit einesgeordneten Straßenverkehrs. Erst wenn die Regel gilt, dass rechts gefahren undlinks überholt wird, Fahrer und entgegenkommende Fahrzeugführer also die Artihrer Begegnung nicht erst durch Verständigung oder durch Gewalt bestimmenmüssen, ereignet sich tatsächliche Freiheit.
Für die Hydra gilt: Die Macht desStaates wurde gerufen, damit wir in Freiheit leben, nicht damit wir unsereFreiheit verlieren.
3. Die Hydra verspricht uns dasBlaue vom Himmel
Eine Demokratie, die jedem dasWünschbare verspricht, wird ihre Bürger täuschen, enttäuschen.
Wer gleichbleibendeLeistungen in der Renten- und der gesetzlichen Krankenversicherung verheißt,gleichzeitig aber Beitragserhöhungen ausschließt, hat entweder das Älterwerdenunserer Gesellschaft und die Kosten einer erfolgreichen Medizin nicht erkannt,oder aber einen Finanzier außerhalb des Versicherungssystems im Blick, derstatt der Versicherten fremde Lasten bezahlen soll. Dieser Dritte ist oft dienächste Generation, auf die wir durch überhöhte Staatsverschuldung die Lastender Gegenwart abwälzen. Unsere Kinder sind wehrlos; sie sind noch nichtwahlberechtigt und können noch nicht vor dem Kanzleramt demonstrieren.
Der Staat will Frieden wahren undschaffen, aber Vereinigungsfreiheit, Reisefreiheit und Privatsphäre für alle,auch für den Störer, schützen. Er will die Vertragsfreiheit achten, bei derWahl des Vertragspartners aber Gleichheit garantieren. Er soll Wettenorganisieren, aber die Wettsucht austrocknen. Er will ArbeitslosenArbeitsplätze anbieten, aber immer weniger als Arbeitgeber in Erscheinungtreten. Er will privatisieren, dann aber die privaten Unternehmerentscheidungenregulieren. Er will Kindergärten und Studienplätze gebührenfrei anbieten,gleichzeitig aber Betreuung und Lehre verbessern. Bildung und Forschung habeder Staat finanziell besser auszustatten, aber die Steuern zu senken. Er müssegleiche Sozialversicherungsleistungen garantieren, die Beiträge aber mindern.Er solle die Steuern vereinfachen, aber jedes Privileg retten.
Und wenn der Rechtsstaat jedemMenschen Schutz gegen Angriffe auf sein Leben zusichert, zugleich aber jedenstaatlichen Eingriff in das menschliche Leben ausschließt, hat er gegen einenTerroristen, der ein Flugzeug auf ein Hochhaus lenkt, kein wirksames Mittel. ImKriegsfall, in dem die kämpfenden Truppen, durch Uniform gekennzeichnet,einander gegenüberstehen, kann der Staat die Mitbetroffenheit Unbeteiligternicht ausschließen, wenn er sich durch Handgranaten verteidigt. Die Polizeiwird das Abwehrmittel auf den einzelnen Störer abstimmen; der Soldat setzt diegegenüber dem Unbekannten in die Breite wirkende Granate ein. Deshalb wird derStaat auch dem Organisator eines terroristischen Angriffs kaum zusagen wollen,dass er das von suizidbereiten Menschen gesteuerte Flugzeug nicht an seinemAngriff hindern wird, wenn im Flugzeug auch Passagiere sitzen, die als Geiselndienen sollen. Auch die Unterscheidung zwischen Unrechtstätern undUnschuldigen, die jedenfalls den Abschuss eines ausschließlich mit Angreifernbesetzten Flugzeugs gestatten würde, bietet keine befriedigende Antwort. Nachdem Grundgesetz verwirkt niemand sein Recht auf Leben. Selbst die in einemsorgfältigen Verfahren, in Unbefangenheit und Verlässlichkeit zugemessene Todesstrafeist abgeschafft. Dennoch wird der Staat seinem Auftrag nicht entrinnen, Lebenvorbeugend zu schützen. Sein Blick richtet sich deshalb vor allem auf diewehrlosen Menschen in dem bedrohten Hochhaus, die auf Schutz hoffen.
Für den Staat gilt: Er soll unsnicht versprechen, was er ohnehin nicht einhalten kann.
© Verlag DroemerKnaur
Professor Paul Kirchhof ist Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Leiter der Forschungsstelle Bundesgesetzbuch. Im Jahr 2011 wurde er mit dem Schader-Preis ausgezeichnet.
- Autor: Paul Kirchhof
- 382 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426274078
- ISBN-13: 9783426274071
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Gesetz der Hydra".
Kommentar verfassen