Das Haus hinter den Dünen
Eine Liebe auf Rügen
Sophie ist reif für die Insel. Frisch getrennt und seit kurzem auch ohne Job, braucht die junge Kinderärztin erst einmal Urlaub. Auf Rügen kommt sie im entzückenden Ferienhaus der 81-jährigen Katharina Hag unter. Rasch freunden sich die beiden...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Taschenbuch
9.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Haus hinter den Dünen “
Klappentext zu „Das Haus hinter den Dünen “
Sophie ist reif für die Insel. Frisch getrennt und seit kurzem auch ohne Job, braucht die junge Kinderärztin erst einmal Urlaub. Auf Rügen kommt sie im entzückenden Ferienhaus der 81-jährigen Katharina Hag unter. Rasch freunden sich die beiden unterschiedlichen Frauen an. Sophie ist begeistert von den vielen Geschichten und Ratschlägen der alten Dame. Kann sie hier auf der Insel eine neue Heimat finden? Vielleicht sogar mit Katharinas Patensohn Michael, der ihr die Insel zeigt? Doch dann entfährt Sophie entsetzt, dass Michael nicht mehr frei ist ...Lese-Probe zu „Das Haus hinter den Dünen “
Das Haus hinter den Dünen von Carin Winter1
Sophie Hesekiel, vierunddreißig Jahre alt, Kinderärztin und alleinerziehende Mutter, lag in ihrem Bett unter der Decke und vergoss Tränen der Enttäuschung und der Wut. Sie war gerade darüber informiert worden, dass Dr. Winterkorn, bei dem sie seit zwei Jahren als Assistentin arbeitete, seine Kinderarztpraxis an ein Ehepaar verkauft hatte. Die beiden brauchten sie nicht mehr zur Entlastung. Und für drei Ärzte war die Praxis einfach zu klein.
Das war eine schlimme Nachricht, denn nun stand sie ohne den Arbeitsplatz da, an dem sie sich so glücklich gefühlt hatte und den sie eigentlich noch viele Jahre hatte behalten wollen.
Sie wusste schon länger, dass Dr. Winterkorn seine Praxis verkaufen musste, aber sie war voller Zuversicht gewesen, bei einem neuen Eigentümer weiterbeschäftigt zu werden.
Doch an diesem wunderschönen Julitag, der so verheißungsvoll mit strahlender Sonne und kleinen weißen Sommerwölkchen begonnen hatte, brach der Telefonanruf mit dieser niederschmetternden Mitteilung ihres Chefs wie ein Sturmtief über sie herein. Und nun lag sie unter der Decke und wollte von der Welt nichts mehr wissen.
Nach einer Weile wurde ihr klar, dass sich so nichts ändert. Schließlich hatte sie schon mehrere Tiefpunkte in ihrem Leben überwunden und die Erfahrung gemacht, dass es nur einen Weg gab: Man musste sich selbst ans Werk machen, um wieder Oberwasser zu bekommen. Sie seufzte tief, hob die Decke an, holte sich ihr Tagebuch aus dem Nachttisch und setzte sich auf.
... mehr
In dieses Tagebuch hatte sie sich schon öfters ihren Kummer von der Seele geschrieben. Und das Aufschreiben ihrer Enttäuschungen und ihres Unglücks hatte ihr in schwierigen Zeiten viel zuverlässiger als ein Rückzug unter die Bettdecke geholfen, ihre Krisen zu überwinden und sich einen neuen Weg zu suchen. Wenn sie ihn dann gefunden hatte und wieder auf Deck erschien, um Wind und Wellen des Lebens zu trotzen, notierte sie kurz unter die Seiten der Mutlosigkeit, dass ihre Flaute vorbei war, und zeichnete eine lachende Sonne dahinter. Anschließend klappte sie das Tagebuch zu und legte es wieder zurück an seinen Platz, wo es in aller Geduld ausharrte, bis sie es erneut brauchte.
Dr. Winterkorn, das wusste sie, hatte nicht kalten Herzens so gehandelt. Es gab keine anderen Interessenten für die Praxis als dieses Arzt-Ehepaar. Und es war ihm sicher sehr schwergefallen, den beiden die Praxis zu übergeben, weil Sophie dadurch ihren Arbeitsplatz verlor.
Dr. Winterkorn war mehr als ein Chef für Sophie gewesen. Er hatte sie von Anfang an unter seine Fittiche genommen wie ein gütiger Vater, ihr seine Fachkenntnisse vermittelt, sie getröstet, wenn ihr das Schicksal von einem kleinen Patienten sehr naheging oder wenn sie Probleme hatte. Und er hatte ihr schon sehr bald zugetraut, selbständig die kranken Kinder zu untersuchen und zu versorgen. Viele Mütter fanden es ganz gut, zur Abwechslung einmal von einer Frau beraten zu werden. Er konnte auch manchmal kurz und heftig aufbrausen, wenn er meinte, dass seine Assistentin nicht aufmerksam genug gewesen war, oder wenn sie zu schnell ein Antibiotikum verschrieb, denn man müsse mit so schweren Geschützen zurückhaltend sein. Aber kurze Zeit später lachte er dann schon wieder. Sein rundes Gesicht bekam kleine Fältchen um die Augen, und er klopfte ihr so heftig auf die Schulter, dass Sophie fast in die Knie ging. Er war ein korpulenter Mann mit dichten grauen Haaren, aber seine kräftigen Finger konnten auch ganz sanft sein und jede schmerzhafte Stelle bei einem Kind vorsichtig ertasten.
»Mädchen«, sagte er oft, »das beste Arbeitsmittel eines Arztes sind seine Hände, seine Augen, seine Fantasie und seine Erfahrung. Du wirst das auch noch lernen.«
Genau das wollte sie, eine gute Kinderärztin werden, und sie war auf dem besten Weg dazu. Aber dann, vor einem halben Jahr, hatte Dr. Winterkorn einen Unfall gehabt. Er war in seinem Garten gestürzt und so unglücklich mit dem Rücken auf eine kleine Steinmauer gefallen, dass er sich zwei Wirbel angebrochen hatte. Seither gab es immer wieder Tage, an denen er nicht in die Praxis kommen konnte, weil seine Schmerzen zu stark waren.
Und da er inzwischen fünfundsechzig Jahre alt war, hatte er sich mit seiner Frau und Sophie beraten und beschlossen, die Praxis ganz aufzugeben. Das Ehepaar wollte danach zu seinem Sohn an den Gardasee ziehen. Das warme Klima und auch das angenehm temperierte Wasser würden seinem Rücken guttun.
Sophie war schon bewusst gewesen, als sie vor zwei Jahren bei ihm eine Teilzeitstelle als Assistentin annahm, dass sie bei einem älteren Kollegen mit Veränderungen würde rechnen müssen. Aber so schnell hatte sie es nicht erwartet. Dr. Winterkorn hatte sich wochenlang bemüht, jemanden in der Umgebung zu finden, bei dem Sophie hätte weiterarbeiten können. Aber bis jetzt hatte sich nichts ergeben.
Sophie hörte auf zu schluchzen und schnäuzte sich kräftig die Nase, dann holte sie tief Luft und setzte sich auf die Bettkante. Sie schlug die letzten beschriebenen Seiten in ihrem Tagebuch auf. Was da stand, war über zwei Jahre her und der Beginn einer guten Zeit.
»Hurra«, hatte sie notiert, »ich habe eine Teilzeitstelle als Assistentin in Thedinghausen. Ein ganz schnuckeliger kleiner Ort, nicht allzu weit weg von Bremen, mit vielen Dörfern in der Umgebung. Dr. Winterkorn hat mir auf Anhieb gefallen und ich ihm auch. Und das Schönste ist: Seine Frau will sich um Mona kümmern, wenn ich noch in der Praxis bin und der Kindergarten schließt. Bin ich ein Glückskind? Ich bin ein Glückskind!« Der Text endete mit der obligaten Sonne, die dann über ein Jahr lang geschienen hatte.
Sie blätterte nicht weiter um, sie wollte noch einmal an diese glückliche Zeit denken. Ja, damals hatte sie eine erfreuliche Zukunft vor sich gesehen mit Leonardo, dem Vater ihres Kindes, der in Bremen ein beliebtes, gut gehendes Restaurant besaß. Sie hatten Pläne geschmiedet, sich irgendwo zwischen Bremen und Thedinghausen eine gemeinsame Wohnung zu suchen.
Sophie hatte die ganze Gegend um den kleinen Ort Thedinghausen erkundet, Patienten aus allen zwölf Ortsteilen kennengelernt und mit Mona und Leonardo das Schloss besucht, den Taubenturm und das Packhaus. Sie hatten zusammen sonnige Tage im einzigartigen Baumpark verbracht und viel gelernt über die dreihundertfünfunddreißig Arten Laubbäume, die dort im Laufe der Jahre angepflanzt worden waren. Sie war mit Mona mit der Museumsbahn nach Bremen gefahren, und die Einkaufszentren in Verden oder Achim kannte sie in- und auswendig. Thedinghausen lag nicht in der Pampa! Jeder Arzt oder jede Ärztin müsste sich eigentlich die Finger danach lecken, wenn hier eine Kinderarztpraxis verkauft wurde. Warum stürmten sie nicht zur Tür herein und riefen: Hier? Warum wollten alle bequem in der Großstadt sitzen und dort das dicke Geld machen?
Das einzig ernsthafte Angebot war von diesem Ehepaar gekommen, und nun hatte Dr. Winterkorn keine Wahl gehabt und ihnen zugesagt.
Aus ist der Traum von einer Weiterbeschäftigung und vielleicht sogar von einer Gemeinschaftspraxis mit einer Kollegin, dachte Sophie, und schon wieder kullerten die Tränen. Und ein paar galten auch Leonardo, denn auch er war nicht mehr da. Aber daran wollte sie jetzt nicht mehr denken.
Sie klappte das Tagebuch wieder zu und starrte aus dem Fenster. Draußen schien immer noch die fröhliche Julisonne und passte überhaupt nicht zu ihrer trüben Stimmung. Ein Gewitter mit Sturm und Regen würde jetzt besser passen. Aber das Wetter nahm darauf keine Rücksicht.
Nach einer Weile ging sie ins Wohnzimmer, setzte sich an den ovalen Tisch und blätterte in dem Tagebuch noch einmal ein paar Seiten zurück.
Wie oft war bei ihr schon Land unter gewesen? Und wie war sie jedes Mal wieder auf festen Boden gekommen?
Ihre schwäbische Großmutter fiel ihr ein, die immer gesagt hatte: »Das Fallen ist keine Kunst, aber das Wiederaufstehen. « Die schwäbische Großmutter lebte nicht mehr und war weit weg im Süden begraben, im Schwarzwald. Aber im Herzen war sie Sophie immer noch nahe.
Der Schwarzwald hatte seinen festen Platz in Sophies Herzen, auch wenn sie seit über dreizehn Jahren nicht mehr dort gewesen war. Schließlich war sie in der Nähe von Freiburg geboren und aufgewachsen, und irgendwann einmal wollte sie mit Mona in diese wunderbare Gegend fahren und ihr alles zeigen.
2
Nach dem Abitur hatte es Sophie in Richtung Bremen verschlagen. Da war sie bereits zwanzig Jahre alt gewesen. Gymnasium und Studium hatten ihre Eltern für sie eigentlich von Anfang an ausgeschlossen. Die kleine Bäckerei hatte gerade mal für den Lebensunterhalt gereicht. Trotzdem dachte sie jeden Tag daran, ihr größtes Ziel nie aus den Augen zu lassen: Sie wollte Ärztin werden, Kinderärztin, und wenn möglich dazu einen netten Kollegen heiraten und mit ihm zusammen eine Praxis aufmachen.
Immerhin durfte sie eine Ausbildung zur Krankenpflegerin machen, wenigstens ein kleiner Schritt in die Richtung, die sie sich so leidenschaftlich wünschte.
An dem Tag, an dem sie zum ersten Mal das Krankenhaus betrat, wo sie alles über Pflege lernen würde, hatte sie begonnen Tagebuch zu führen. Sie versprach sich und dem Tagebuch, das Abitur nachzuholen und es irgendwie zu schaffen, danach Medizin zu studieren.
Sophie sah man es nicht an, dass sie so fest entschlossen ihre Ziele verfolgen konnte. Sie hatte eine zarte Haut, helle, lange Haare, die sie zu einem Zopf geflochten trug, der im Rücken fast bis zur Taille reichte. Sie wirkte eher zerbrechlich als stark, aber das täuschte. Mit viel Fleiß und Energie schaffte sie alle Prüfungen, und ein halbes Jahr nachdem sie nun Fachkraft für Krankenpflege war, hatte sie dann auch das Abitur in der Tasche und einen Studienplatz für Medizin in Bremen. Dort lernte sie Kris, Medizinstudent im dritten Semester, kennen. Er war groß, blond und sehr charmant.
An dieser Stelle klebte im Tagebuch ein Foto, das von Kris und ihr gemacht worden war, als sie beide glücklich und voller Unternehmungslust waren: Sophie, zwanzig Jahre alt, mit langem Zopf, im geliebten Flatterrock, strebt eifrig auf die Uni zu. Ihr Gesicht, das sie auf dem Foto strahlend Kris zuwendet, wird von kleinen Löckchen eingerahmt, und sie strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Auch Kris lacht sie an, und im Hintergrund sieht man eins der großen Gebäude, wo sie beide Medizin studieren würden.
Sophie schaute vom Heft hoch und zum Fenster hinaus. Der strahlend blaue Himmel wölbte sich über dem Apfelbaum vor ihrem Balkon. Im Herbst würde sie wieder ihre geliebten Boskoops ernten. Die Äpfel sahen auf den ersten Blick nicht sehr attraktiv aus, aber wenn man dann hineinbiss, konnte man nur selig die Augen schließen. Für Kenner waren sie einzigartig im Geschmack. Das hatte Leonardo einmal gesagt und sie dabei viel sagend angesehen. Aber an Leonardo wollte sie jetzt nicht denken.
Sie betrachtete noch einmal das Foto vor der Bremer Uni. Die praktische Frisur trug sie auch heute noch, und auch ihre Vorliebe für lange Röcke war geblieben. Nur ihr Gesicht war ein wenig schmaler geworden und herber, nicht mehr so weich wie früher.
Sie blätterte weiter. Auf den Seiten standen nur wenige Sätze. Ein Brief von ihrer Mutter lag dazwischen, in dem sie Sophie mitteilte, dass sie am Packen sei, um nach Neuseeland zu reisen. Und es stehe in den Sternen, ob und wann sie zurückkommen würde. Sie wollte sich einen lang ersehnten Traum erfüllen.
Sophie war damals zwar bestürzt gewesen, weil sie nie daran gedacht hätte, dass sich ihre Eltern einmal trennen würden. Aber sie war mit dem Studium und ihrer Liebe zu Kris so glücklich, dass sie nicht lange darüber nachgrübelte und auch nicht viel ins Tagebuch schrieb. Sie konzentrierte sich auf ihr Leben, das ihr viele gute und glückliche Jahre verhieß.
Copyright © Ullstein Verlag.
In dieses Tagebuch hatte sie sich schon öfters ihren Kummer von der Seele geschrieben. Und das Aufschreiben ihrer Enttäuschungen und ihres Unglücks hatte ihr in schwierigen Zeiten viel zuverlässiger als ein Rückzug unter die Bettdecke geholfen, ihre Krisen zu überwinden und sich einen neuen Weg zu suchen. Wenn sie ihn dann gefunden hatte und wieder auf Deck erschien, um Wind und Wellen des Lebens zu trotzen, notierte sie kurz unter die Seiten der Mutlosigkeit, dass ihre Flaute vorbei war, und zeichnete eine lachende Sonne dahinter. Anschließend klappte sie das Tagebuch zu und legte es wieder zurück an seinen Platz, wo es in aller Geduld ausharrte, bis sie es erneut brauchte.
Dr. Winterkorn, das wusste sie, hatte nicht kalten Herzens so gehandelt. Es gab keine anderen Interessenten für die Praxis als dieses Arzt-Ehepaar. Und es war ihm sicher sehr schwergefallen, den beiden die Praxis zu übergeben, weil Sophie dadurch ihren Arbeitsplatz verlor.
Dr. Winterkorn war mehr als ein Chef für Sophie gewesen. Er hatte sie von Anfang an unter seine Fittiche genommen wie ein gütiger Vater, ihr seine Fachkenntnisse vermittelt, sie getröstet, wenn ihr das Schicksal von einem kleinen Patienten sehr naheging oder wenn sie Probleme hatte. Und er hatte ihr schon sehr bald zugetraut, selbständig die kranken Kinder zu untersuchen und zu versorgen. Viele Mütter fanden es ganz gut, zur Abwechslung einmal von einer Frau beraten zu werden. Er konnte auch manchmal kurz und heftig aufbrausen, wenn er meinte, dass seine Assistentin nicht aufmerksam genug gewesen war, oder wenn sie zu schnell ein Antibiotikum verschrieb, denn man müsse mit so schweren Geschützen zurückhaltend sein. Aber kurze Zeit später lachte er dann schon wieder. Sein rundes Gesicht bekam kleine Fältchen um die Augen, und er klopfte ihr so heftig auf die Schulter, dass Sophie fast in die Knie ging. Er war ein korpulenter Mann mit dichten grauen Haaren, aber seine kräftigen Finger konnten auch ganz sanft sein und jede schmerzhafte Stelle bei einem Kind vorsichtig ertasten.
»Mädchen«, sagte er oft, »das beste Arbeitsmittel eines Arztes sind seine Hände, seine Augen, seine Fantasie und seine Erfahrung. Du wirst das auch noch lernen.«
Genau das wollte sie, eine gute Kinderärztin werden, und sie war auf dem besten Weg dazu. Aber dann, vor einem halben Jahr, hatte Dr. Winterkorn einen Unfall gehabt. Er war in seinem Garten gestürzt und so unglücklich mit dem Rücken auf eine kleine Steinmauer gefallen, dass er sich zwei Wirbel angebrochen hatte. Seither gab es immer wieder Tage, an denen er nicht in die Praxis kommen konnte, weil seine Schmerzen zu stark waren.
Und da er inzwischen fünfundsechzig Jahre alt war, hatte er sich mit seiner Frau und Sophie beraten und beschlossen, die Praxis ganz aufzugeben. Das Ehepaar wollte danach zu seinem Sohn an den Gardasee ziehen. Das warme Klima und auch das angenehm temperierte Wasser würden seinem Rücken guttun.
Sophie war schon bewusst gewesen, als sie vor zwei Jahren bei ihm eine Teilzeitstelle als Assistentin annahm, dass sie bei einem älteren Kollegen mit Veränderungen würde rechnen müssen. Aber so schnell hatte sie es nicht erwartet. Dr. Winterkorn hatte sich wochenlang bemüht, jemanden in der Umgebung zu finden, bei dem Sophie hätte weiterarbeiten können. Aber bis jetzt hatte sich nichts ergeben.
Sophie hörte auf zu schluchzen und schnäuzte sich kräftig die Nase, dann holte sie tief Luft und setzte sich auf die Bettkante. Sie schlug die letzten beschriebenen Seiten in ihrem Tagebuch auf. Was da stand, war über zwei Jahre her und der Beginn einer guten Zeit.
»Hurra«, hatte sie notiert, »ich habe eine Teilzeitstelle als Assistentin in Thedinghausen. Ein ganz schnuckeliger kleiner Ort, nicht allzu weit weg von Bremen, mit vielen Dörfern in der Umgebung. Dr. Winterkorn hat mir auf Anhieb gefallen und ich ihm auch. Und das Schönste ist: Seine Frau will sich um Mona kümmern, wenn ich noch in der Praxis bin und der Kindergarten schließt. Bin ich ein Glückskind? Ich bin ein Glückskind!« Der Text endete mit der obligaten Sonne, die dann über ein Jahr lang geschienen hatte.
Sie blätterte nicht weiter um, sie wollte noch einmal an diese glückliche Zeit denken. Ja, damals hatte sie eine erfreuliche Zukunft vor sich gesehen mit Leonardo, dem Vater ihres Kindes, der in Bremen ein beliebtes, gut gehendes Restaurant besaß. Sie hatten Pläne geschmiedet, sich irgendwo zwischen Bremen und Thedinghausen eine gemeinsame Wohnung zu suchen.
Sophie hatte die ganze Gegend um den kleinen Ort Thedinghausen erkundet, Patienten aus allen zwölf Ortsteilen kennengelernt und mit Mona und Leonardo das Schloss besucht, den Taubenturm und das Packhaus. Sie hatten zusammen sonnige Tage im einzigartigen Baumpark verbracht und viel gelernt über die dreihundertfünfunddreißig Arten Laubbäume, die dort im Laufe der Jahre angepflanzt worden waren. Sie war mit Mona mit der Museumsbahn nach Bremen gefahren, und die Einkaufszentren in Verden oder Achim kannte sie in- und auswendig. Thedinghausen lag nicht in der Pampa! Jeder Arzt oder jede Ärztin müsste sich eigentlich die Finger danach lecken, wenn hier eine Kinderarztpraxis verkauft wurde. Warum stürmten sie nicht zur Tür herein und riefen: Hier? Warum wollten alle bequem in der Großstadt sitzen und dort das dicke Geld machen?
Das einzig ernsthafte Angebot war von diesem Ehepaar gekommen, und nun hatte Dr. Winterkorn keine Wahl gehabt und ihnen zugesagt.
Aus ist der Traum von einer Weiterbeschäftigung und vielleicht sogar von einer Gemeinschaftspraxis mit einer Kollegin, dachte Sophie, und schon wieder kullerten die Tränen. Und ein paar galten auch Leonardo, denn auch er war nicht mehr da. Aber daran wollte sie jetzt nicht mehr denken.
Sie klappte das Tagebuch wieder zu und starrte aus dem Fenster. Draußen schien immer noch die fröhliche Julisonne und passte überhaupt nicht zu ihrer trüben Stimmung. Ein Gewitter mit Sturm und Regen würde jetzt besser passen. Aber das Wetter nahm darauf keine Rücksicht.
Nach einer Weile ging sie ins Wohnzimmer, setzte sich an den ovalen Tisch und blätterte in dem Tagebuch noch einmal ein paar Seiten zurück.
Wie oft war bei ihr schon Land unter gewesen? Und wie war sie jedes Mal wieder auf festen Boden gekommen?
Ihre schwäbische Großmutter fiel ihr ein, die immer gesagt hatte: »Das Fallen ist keine Kunst, aber das Wiederaufstehen. « Die schwäbische Großmutter lebte nicht mehr und war weit weg im Süden begraben, im Schwarzwald. Aber im Herzen war sie Sophie immer noch nahe.
Der Schwarzwald hatte seinen festen Platz in Sophies Herzen, auch wenn sie seit über dreizehn Jahren nicht mehr dort gewesen war. Schließlich war sie in der Nähe von Freiburg geboren und aufgewachsen, und irgendwann einmal wollte sie mit Mona in diese wunderbare Gegend fahren und ihr alles zeigen.
2
Nach dem Abitur hatte es Sophie in Richtung Bremen verschlagen. Da war sie bereits zwanzig Jahre alt gewesen. Gymnasium und Studium hatten ihre Eltern für sie eigentlich von Anfang an ausgeschlossen. Die kleine Bäckerei hatte gerade mal für den Lebensunterhalt gereicht. Trotzdem dachte sie jeden Tag daran, ihr größtes Ziel nie aus den Augen zu lassen: Sie wollte Ärztin werden, Kinderärztin, und wenn möglich dazu einen netten Kollegen heiraten und mit ihm zusammen eine Praxis aufmachen.
Immerhin durfte sie eine Ausbildung zur Krankenpflegerin machen, wenigstens ein kleiner Schritt in die Richtung, die sie sich so leidenschaftlich wünschte.
An dem Tag, an dem sie zum ersten Mal das Krankenhaus betrat, wo sie alles über Pflege lernen würde, hatte sie begonnen Tagebuch zu führen. Sie versprach sich und dem Tagebuch, das Abitur nachzuholen und es irgendwie zu schaffen, danach Medizin zu studieren.
Sophie sah man es nicht an, dass sie so fest entschlossen ihre Ziele verfolgen konnte. Sie hatte eine zarte Haut, helle, lange Haare, die sie zu einem Zopf geflochten trug, der im Rücken fast bis zur Taille reichte. Sie wirkte eher zerbrechlich als stark, aber das täuschte. Mit viel Fleiß und Energie schaffte sie alle Prüfungen, und ein halbes Jahr nachdem sie nun Fachkraft für Krankenpflege war, hatte sie dann auch das Abitur in der Tasche und einen Studienplatz für Medizin in Bremen. Dort lernte sie Kris, Medizinstudent im dritten Semester, kennen. Er war groß, blond und sehr charmant.
An dieser Stelle klebte im Tagebuch ein Foto, das von Kris und ihr gemacht worden war, als sie beide glücklich und voller Unternehmungslust waren: Sophie, zwanzig Jahre alt, mit langem Zopf, im geliebten Flatterrock, strebt eifrig auf die Uni zu. Ihr Gesicht, das sie auf dem Foto strahlend Kris zuwendet, wird von kleinen Löckchen eingerahmt, und sie strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Auch Kris lacht sie an, und im Hintergrund sieht man eins der großen Gebäude, wo sie beide Medizin studieren würden.
Sophie schaute vom Heft hoch und zum Fenster hinaus. Der strahlend blaue Himmel wölbte sich über dem Apfelbaum vor ihrem Balkon. Im Herbst würde sie wieder ihre geliebten Boskoops ernten. Die Äpfel sahen auf den ersten Blick nicht sehr attraktiv aus, aber wenn man dann hineinbiss, konnte man nur selig die Augen schließen. Für Kenner waren sie einzigartig im Geschmack. Das hatte Leonardo einmal gesagt und sie dabei viel sagend angesehen. Aber an Leonardo wollte sie jetzt nicht denken.
Sie betrachtete noch einmal das Foto vor der Bremer Uni. Die praktische Frisur trug sie auch heute noch, und auch ihre Vorliebe für lange Röcke war geblieben. Nur ihr Gesicht war ein wenig schmaler geworden und herber, nicht mehr so weich wie früher.
Sie blätterte weiter. Auf den Seiten standen nur wenige Sätze. Ein Brief von ihrer Mutter lag dazwischen, in dem sie Sophie mitteilte, dass sie am Packen sei, um nach Neuseeland zu reisen. Und es stehe in den Sternen, ob und wann sie zurückkommen würde. Sie wollte sich einen lang ersehnten Traum erfüllen.
Sophie war damals zwar bestürzt gewesen, weil sie nie daran gedacht hätte, dass sich ihre Eltern einmal trennen würden. Aber sie war mit dem Studium und ihrer Liebe zu Kris so glücklich, dass sie nicht lange darüber nachgrübelte und auch nicht viel ins Tagebuch schrieb. Sie konzentrierte sich auf ihr Leben, das ihr viele gute und glückliche Jahre verhieß.
Copyright © Ullstein Verlag.
... weniger
Autoren-Porträt von Carin Winter
Carin Winter hat Medizin studiert und mehrere Jahre als Ärztin in einem Dorf gearbeitet; später entdeckte sie die Lust am Schreiben. Teile ihrer Familie stammen von Rügen, ein Großonkel war dort auch Arzt. Carin Winter lebt in Weil der Stadt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carin Winter
- 2014, 4. Aufl., 320 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548286062
- ISBN-13: 9783548286068
- Erscheinungsdatum: 09.04.2014
Kommentare zu "Das Haus hinter den Dünen"
0 Gebrauchte Artikel zu „Das Haus hinter den Dünen“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Haus hinter den Dünen".
Kommentar verfassen