Das Heiligenspiel
Der zweite Roman der Autorin des Bestsellers "Die Seidenweberin" führt ins historische Augsburg.
Augsburg im ausgehenden Mittelalter: Nachdem Anna einige Zeit bei dem Kräuterweib Oda im Wald gelebt und von ihr alles...
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Produktinformationen zu „Das Heiligenspiel “
Der zweite Roman der Autorin des Bestsellers "Die Seidenweberin" führt ins historische Augsburg.
Augsburg im ausgehenden Mittelalter: Nachdem Anna einige Zeit bei dem Kräuterweib Oda im Wald gelebt und von ihr alles über die heilende Kraft der Natur gelernt hat, kehrt sie nach Augsburg zurück. Dort kommt das Gerücht auf, sie sei eine Hungerheilige. Anna versucht, den Irrtum richtigzustellen. Doch ihre Mitbürger verehren ihre Heilkunst zu sehr. Und auch der Kaufmann Anton Welser ist sehr von Anna angetan.
Lese-Probe zu „Das Heiligenspiel “
Das Heiligenspiel von Ursula Niehaus Prolog Am Tag der heiligen Anna 1480
Schneidend fuhr Barbara der Schmerz durch den Leib, und sie schrie auf, erschrocken und voller Pein. Sie ließ ihr Bündel in den Staub der Straße fallen und krümmte sich. War es denn schon so weit? Oder war etwas mit dem Kind nicht recht? Barbara wusste es nicht zu sagen, denn es würde ihre erste Niederkunft werden.
Mit einem Satz war Michael bei ihr und ergriff stützend den Arm seiner jungen Frau. Hilfesuchend klammerte sich Barbara an seine Schultern. Michaels schmales Gesicht zeigte Sorge. Barbara würde doch nicht jetzt niederkommen! Hier auf der Straße, fernab der Stadt und ganz ohne die Hilfe einer Wehmutter! Wer sollte denn dem Kleinen auf die Welt helfen? Ihm fehlte in diesen Dingen jegliche Erfahrung. Wohl hatte er einmal geholfen, einen Wurf Zicklein zur Welt zu bringen, aber ob man das vergleichen konnte?
»Ist es so weit?«, fragte er bange, die hohe Stirn in Falten gelegt.
»Ich weiß es nicht. Es schmerzt so arg«, jammerte Barbara.
Erschöpft wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Die Luft war drückend, als hätte jemand sie vollständig aufgesogen und vergessen, wieder auszuatmen. Michael hielt seine Frau und strich ihr sanft über den Rücken, bis die Wehe nachließ.
»Wir müssen weitergehen. Bis zur Stadt sind es kaum mehr als zwei Stunden«, drängte er. Gehorsam bückte seine Frau sich nach ihrem Bündel, so gut es mit ihrem unförmigen Bauch ging. Rasch hob Michael es auf und lud es sich zu seinem eigenen auf die Schulter. Barbara machte ein paar Schritte vorwärts, doch dann griff sie sich erneut an den Leib. »Ich kann nicht!«
... mehr
Michael blickte zum Himmel auf. Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, ohne jedoch erholsame Abkühlung zu bringen. Seit Wochen schon lag eine alles versengende Hitze über dem Land. Sie würden sich beeilen müssen, wenn sie die Stadt vor dem Unwetter erreichen wollten. Behutsam zog Michael seine junge Frau vorwärts.
»Wir hätten in Memmingen bleiben sollen«, jammerte Barbara und verzog unwillig das Gesicht. Sie wäre gerne länger bei Schwager und Schwägerin geblieben und dort, in aller Annehmlichkeit, die der wohlhabende Haushalt bot, von den Mägden umsorgt, niedergekommen. Doch ohne im Geringsten Rücksicht auf ihren Zustand zu nehmen, hatte ihr Mann zum Aufbruch gedrängt.
Michael vernahm den vorwurfsvollen Unterton wohl. Doch er hatte guten Grund, rechtzeitig zum Tag der heiligen Afra nach Augsburg heimzukehren. Die einzige Märtyerin Augsburgs wurde als Stadtheilige hoch verehrt und ihr Gedenktag stets mit zahlreichen Feierlichkeiten begangen. Viele Spielleute würden in die Stadt kommen, da stand zu erwarten, dass der eine oder andere Michael um eine neue Saite, um eine Reparatur oder gar um ein ganz neues Instrument ersuchte. Das versprach gute Geschäfte, denn Michael war Lautenmacher. Sie konnten das Geld dringlich brauchen, dachte er, gerade jetzt, wo sie im Begriff standen, eine Familie zu werden.
Kleine Staubwirbel umtanzten sie, und die dunklen Wolken kamen schneller näher, als Michael erwartet hatte. Weit und breit war kein Dorf und kein Weiler in Sicht. Donner grummelte in der Ferne, und wieder krümmte Barbara sich zusammen. Die Schmerzen kamen in immer rascherer Folge, kaum vermochte Barbara dazwischen ein paar Schritte zu gehen.
»Ein Stück noch, bitte«, flehte Michael seine Frau an. Gute hundert Schritt entfernt hatte er neben dem Weg die Reste eines verfallenen Schuppens ausgemacht. Doch im Näherkommen musste er erkennen, dass das Dach der Hütte eingefallen war, wenn auch die Wände sie vor dem ärgsten Wind beschützen würden. Endlich, als schon die ersten, münzgroßen Tropfen in den Staub schlugen, zog er seine Frau in den Windschatten des Schuppens. Hastig befreite er ein Stück des Bodens von Schindeln und geborstenen Brettern. Dann öffnete er sein Bündel, zog seine Joppe hervor und breitete sie aus, um seiner Frau ein Lager zu bereiten. Erschöpft ließ Barbara sich zu Boden sinken. »Dem Herrn sei es geklagt, dass ich in so einem Stall niederkommen soll!«, seufzte sie und verdrehte die Augen. Michael schwieg betreten. Er bedauerte, es ihr nicht behaglicher machen zu können. So eine Geburt war sicherlich eine unangenehme Sache, und die Schmerzen mussten Barbara gar sehr peinigen.
In Windeseile hatte der Himmel sich verdunkelt wie beinahe zur Nachtzeit, und gleißende Blitze zuckten über ihn hinweg. Barbara stöhnte und krümmte sich zusammen. Die nächste Wehe ließ sie laut schreien. Hilflos, zerrissen vor Mitleid, war Michael dazu verurteilt, die Pein seiner Frau mit anzusehen, ohne sie lindern zu können.
Die Wehen kamen schneller, immer schneller, und verschmolzen zu einer einzigen Woge aus Schmerz. Dann öffnete sich der Himmel, und dichter Regen prasselte auf die beiden herab, durchweichte ihre Kleider und Haare, vermischte sich mit dem Schweiß auf Barbaras Gesicht. Barbara schrie. Warum musste es ausgerechnet jetzt so weit sein? Nicht einen Tag früher oder später? Eine qualvolle Angst ergriff Michael. Wenn Barbara nun sterben würde? Sie und das Kind? Seine Frau war jung und kräftig, doch das waren viele andere auch, die das Kindbett nicht überlebten. Es war gar nicht so selten …
Michael sank auf die Knie und begann laut zu beten. »Lieber Gott, wenn du ein Leben forderst, so nimm das meine, nicht das meiner Frau und meines unschuldigen Kindes«, flehte er. Einen nach dem anderen bat er alle Heiligen, die ihm einfielen, um Beistand, immer wieder unterbrochen vom Donner und den Schreien seiner Frau. Grell schlug der Blitz in die Spitze einer Tanne, nur wenige Schritte entfernt, und tauchte den Stall für einen kurzen Moment in gleißendes Licht. Der Donner ließ den Boden erzittern, und Michael fuhr zusammen. Barbara bäumte sich auf, und mit einem letzten, durchdringenden Schrei presste sie ein winziges Wesen in das Leben hinaus. »Es wird Zeit, zu gehen. Du holst dir sonst den Tod«, mahnte Michael sanft. Zärtlich strich er Barbara eine feuchte Strähne aus dem erhitzten Gesicht. Allen Mut hatte er zusammennehmen müssen, um mit seinem Messer die Nabelschnur zu durchtrennen. Obschon seine schlanken Finger es gewohnt waren, feines Handwerk zu verrichten, hatte er sich kaum getraut, den Säugling hochzuheben. Es würde für ihn immer ein unerklärliches Wunder bleiben, wie vollkommen so ein kleiner Mensch die Welt betrat.
Es war alles vorhanden, zehn Zehen, zehn Finger … nur eben klitzeklein. Michael hatte sie heimlich nachgezählt. Und so gut er es vermochte, hatte er den kleinen Körper abgewischt und ihn zum Schutz gegen den Regen in einen von Barbaras Unterröcken gehüllt. »Es wird etwas dauern, bis du da hineingewachsen bist«, flüsterte er seiner Tochter zu, als er sie Barbara in den Arm legte. Eine Weile hatte Michael seine Frau ruhen lassen, doch nun drängte er sie aufzustehen. Der Regen hielt unvermindert an, war zu einem grauen Vorhang zusammengewachsen, doch das Gewitter hatte sich verzogen. Das Laufen fiel Barbara schwer, jeder Schritt war schmerzhaft, und nur mühsam kamen sie voran. Zu allem Ungemach hatte der Regen den staubigen Weg binnen kurzem in eine schlammige Rinne verwandelt, und mit jedem Schritt versanken sie knöcheltief im Matsch.
Endlich, bereits in Sichtweite der Stadt, erreichten sie die verwitterte Holzbrücke, die über die Wertach führte. Der Fluss, angeschwollen durch den plötzlichen Regen, vermochte das Wasser kaum zu fassen. In einigen Fuß Tiefe rauschte er in schäumenden Strudeln dahin, als sie die schlüpfrigen Planken betraten. »Wir werden sie Ursula nennen«, sagte Michael unvermittelt. Es war der Name der Heiligen, den er als letzten im Munde geführt hatte, bevor das Kind auf die Welt gekommen war. Hätte er gewusst, welches Ungemach gerade diese Heilige für seine Tochter bereithielt, so wäre er nie auf den Gedanken verfallen. Barbara blickte auf das winzige Bündel in ihren Armen, aus dem nur ein ungewöhnlich dichter und dunkler Haarschopf hervorlugte. »Nein, das geht nicht!«, entgegnete sie entsetzt. »Heute ist der Tag der heiligen Anna, der Mutter Mariens. Wir sollten sie Anna nennen.« Jäh hob sie den Kopf und warf ihrem Mann einen tadelnden Blick zu. Die heftige Bewegung ließ Barbara auf den glitschigen Bohlen straucheln. Sie schwankte und taumelte gegen das Geländer der Brücke. Das morsche Holz brach und stürzte in die Tiefe.
Barbara drohte ebenfalls zu fallen. In jähem Schrecken riss sie die Arme hoch, mühte sich, das Gleichgewicht zu halten, und das hilflose Bündel fi el in die reißenden Fluten. Voller Entsetzen sah Michael, wie das Kind einen Wimpernschlag lang auf dem Wasser trudelte und dann in den Fluten versank. Noch im selben Moment ließ er seine Last fallen und sprang hinter seiner Tochter her. Sofort erfasste ihn die Strömung und riss ihn mit sich. Sein Kopf verschwand in den Fluten. Eine Ewigkeit schien es zu dauern, dann tauchte er ein gutes Stück flussabwärts prustend und schluckend wieder an die Oberfläche. Doch nur für einen Moment. Wie wild schlugen seine Arme auf das Wasser. Er rang nach Luft und versank sogleich wieder.
Barbara stand wie festgewurzelt auf der Brücke. Unfähig, Mann und Kind zu Hilfe zu eilen, starrte sie auf das schlammgraue Wasser unter ihr. Da! Abermals kämpfte Michael sich an die Oberfläche. Mit beiden Händen hielt er das greinende Bündel, reckte es hoch über das Wasser. Den Heiligen sei Dank! Verzweifelt versuchte Michael das Ufer zu erreichen, doch seine Füße fanden keinen Grund. Wieder ging er unter, und die Strömung riss ihn unerbittlich mit sich fort, weiter und weiter.
Michael spürte, wie ihn die Kräfte verließen. Mit aller Gewalt bäumte er sich auf und schaffte es, das Bündel hoch über seinen Kopf zu heben. Voller Verzweiflung warf er das Kind mit einer letzten Kraftanstrengung ans Ufer. Durch einen Schleier von Wasser sah er, wie seine Tochter auf der schlammigen Böschung auftraf. Dann schlossen sich die Fluten der Wertach ein letztes Mal über dem Lautenmacher.
© Knaur Verlag
»Wir hätten in Memmingen bleiben sollen«, jammerte Barbara und verzog unwillig das Gesicht. Sie wäre gerne länger bei Schwager und Schwägerin geblieben und dort, in aller Annehmlichkeit, die der wohlhabende Haushalt bot, von den Mägden umsorgt, niedergekommen. Doch ohne im Geringsten Rücksicht auf ihren Zustand zu nehmen, hatte ihr Mann zum Aufbruch gedrängt.
Michael vernahm den vorwurfsvollen Unterton wohl. Doch er hatte guten Grund, rechtzeitig zum Tag der heiligen Afra nach Augsburg heimzukehren. Die einzige Märtyerin Augsburgs wurde als Stadtheilige hoch verehrt und ihr Gedenktag stets mit zahlreichen Feierlichkeiten begangen. Viele Spielleute würden in die Stadt kommen, da stand zu erwarten, dass der eine oder andere Michael um eine neue Saite, um eine Reparatur oder gar um ein ganz neues Instrument ersuchte. Das versprach gute Geschäfte, denn Michael war Lautenmacher. Sie konnten das Geld dringlich brauchen, dachte er, gerade jetzt, wo sie im Begriff standen, eine Familie zu werden.
Kleine Staubwirbel umtanzten sie, und die dunklen Wolken kamen schneller näher, als Michael erwartet hatte. Weit und breit war kein Dorf und kein Weiler in Sicht. Donner grummelte in der Ferne, und wieder krümmte Barbara sich zusammen. Die Schmerzen kamen in immer rascherer Folge, kaum vermochte Barbara dazwischen ein paar Schritte zu gehen.
»Ein Stück noch, bitte«, flehte Michael seine Frau an. Gute hundert Schritt entfernt hatte er neben dem Weg die Reste eines verfallenen Schuppens ausgemacht. Doch im Näherkommen musste er erkennen, dass das Dach der Hütte eingefallen war, wenn auch die Wände sie vor dem ärgsten Wind beschützen würden. Endlich, als schon die ersten, münzgroßen Tropfen in den Staub schlugen, zog er seine Frau in den Windschatten des Schuppens. Hastig befreite er ein Stück des Bodens von Schindeln und geborstenen Brettern. Dann öffnete er sein Bündel, zog seine Joppe hervor und breitete sie aus, um seiner Frau ein Lager zu bereiten. Erschöpft ließ Barbara sich zu Boden sinken. »Dem Herrn sei es geklagt, dass ich in so einem Stall niederkommen soll!«, seufzte sie und verdrehte die Augen. Michael schwieg betreten. Er bedauerte, es ihr nicht behaglicher machen zu können. So eine Geburt war sicherlich eine unangenehme Sache, und die Schmerzen mussten Barbara gar sehr peinigen.
In Windeseile hatte der Himmel sich verdunkelt wie beinahe zur Nachtzeit, und gleißende Blitze zuckten über ihn hinweg. Barbara stöhnte und krümmte sich zusammen. Die nächste Wehe ließ sie laut schreien. Hilflos, zerrissen vor Mitleid, war Michael dazu verurteilt, die Pein seiner Frau mit anzusehen, ohne sie lindern zu können.
Die Wehen kamen schneller, immer schneller, und verschmolzen zu einer einzigen Woge aus Schmerz. Dann öffnete sich der Himmel, und dichter Regen prasselte auf die beiden herab, durchweichte ihre Kleider und Haare, vermischte sich mit dem Schweiß auf Barbaras Gesicht. Barbara schrie. Warum musste es ausgerechnet jetzt so weit sein? Nicht einen Tag früher oder später? Eine qualvolle Angst ergriff Michael. Wenn Barbara nun sterben würde? Sie und das Kind? Seine Frau war jung und kräftig, doch das waren viele andere auch, die das Kindbett nicht überlebten. Es war gar nicht so selten …
Michael sank auf die Knie und begann laut zu beten. »Lieber Gott, wenn du ein Leben forderst, so nimm das meine, nicht das meiner Frau und meines unschuldigen Kindes«, flehte er. Einen nach dem anderen bat er alle Heiligen, die ihm einfielen, um Beistand, immer wieder unterbrochen vom Donner und den Schreien seiner Frau. Grell schlug der Blitz in die Spitze einer Tanne, nur wenige Schritte entfernt, und tauchte den Stall für einen kurzen Moment in gleißendes Licht. Der Donner ließ den Boden erzittern, und Michael fuhr zusammen. Barbara bäumte sich auf, und mit einem letzten, durchdringenden Schrei presste sie ein winziges Wesen in das Leben hinaus. »Es wird Zeit, zu gehen. Du holst dir sonst den Tod«, mahnte Michael sanft. Zärtlich strich er Barbara eine feuchte Strähne aus dem erhitzten Gesicht. Allen Mut hatte er zusammennehmen müssen, um mit seinem Messer die Nabelschnur zu durchtrennen. Obschon seine schlanken Finger es gewohnt waren, feines Handwerk zu verrichten, hatte er sich kaum getraut, den Säugling hochzuheben. Es würde für ihn immer ein unerklärliches Wunder bleiben, wie vollkommen so ein kleiner Mensch die Welt betrat.
Es war alles vorhanden, zehn Zehen, zehn Finger … nur eben klitzeklein. Michael hatte sie heimlich nachgezählt. Und so gut er es vermochte, hatte er den kleinen Körper abgewischt und ihn zum Schutz gegen den Regen in einen von Barbaras Unterröcken gehüllt. »Es wird etwas dauern, bis du da hineingewachsen bist«, flüsterte er seiner Tochter zu, als er sie Barbara in den Arm legte. Eine Weile hatte Michael seine Frau ruhen lassen, doch nun drängte er sie aufzustehen. Der Regen hielt unvermindert an, war zu einem grauen Vorhang zusammengewachsen, doch das Gewitter hatte sich verzogen. Das Laufen fiel Barbara schwer, jeder Schritt war schmerzhaft, und nur mühsam kamen sie voran. Zu allem Ungemach hatte der Regen den staubigen Weg binnen kurzem in eine schlammige Rinne verwandelt, und mit jedem Schritt versanken sie knöcheltief im Matsch.
Endlich, bereits in Sichtweite der Stadt, erreichten sie die verwitterte Holzbrücke, die über die Wertach führte. Der Fluss, angeschwollen durch den plötzlichen Regen, vermochte das Wasser kaum zu fassen. In einigen Fuß Tiefe rauschte er in schäumenden Strudeln dahin, als sie die schlüpfrigen Planken betraten. »Wir werden sie Ursula nennen«, sagte Michael unvermittelt. Es war der Name der Heiligen, den er als letzten im Munde geführt hatte, bevor das Kind auf die Welt gekommen war. Hätte er gewusst, welches Ungemach gerade diese Heilige für seine Tochter bereithielt, so wäre er nie auf den Gedanken verfallen. Barbara blickte auf das winzige Bündel in ihren Armen, aus dem nur ein ungewöhnlich dichter und dunkler Haarschopf hervorlugte. »Nein, das geht nicht!«, entgegnete sie entsetzt. »Heute ist der Tag der heiligen Anna, der Mutter Mariens. Wir sollten sie Anna nennen.« Jäh hob sie den Kopf und warf ihrem Mann einen tadelnden Blick zu. Die heftige Bewegung ließ Barbara auf den glitschigen Bohlen straucheln. Sie schwankte und taumelte gegen das Geländer der Brücke. Das morsche Holz brach und stürzte in die Tiefe.
Barbara drohte ebenfalls zu fallen. In jähem Schrecken riss sie die Arme hoch, mühte sich, das Gleichgewicht zu halten, und das hilflose Bündel fi el in die reißenden Fluten. Voller Entsetzen sah Michael, wie das Kind einen Wimpernschlag lang auf dem Wasser trudelte und dann in den Fluten versank. Noch im selben Moment ließ er seine Last fallen und sprang hinter seiner Tochter her. Sofort erfasste ihn die Strömung und riss ihn mit sich. Sein Kopf verschwand in den Fluten. Eine Ewigkeit schien es zu dauern, dann tauchte er ein gutes Stück flussabwärts prustend und schluckend wieder an die Oberfläche. Doch nur für einen Moment. Wie wild schlugen seine Arme auf das Wasser. Er rang nach Luft und versank sogleich wieder.
Barbara stand wie festgewurzelt auf der Brücke. Unfähig, Mann und Kind zu Hilfe zu eilen, starrte sie auf das schlammgraue Wasser unter ihr. Da! Abermals kämpfte Michael sich an die Oberfläche. Mit beiden Händen hielt er das greinende Bündel, reckte es hoch über das Wasser. Den Heiligen sei Dank! Verzweifelt versuchte Michael das Ufer zu erreichen, doch seine Füße fanden keinen Grund. Wieder ging er unter, und die Strömung riss ihn unerbittlich mit sich fort, weiter und weiter.
Michael spürte, wie ihn die Kräfte verließen. Mit aller Gewalt bäumte er sich auf und schaffte es, das Bündel hoch über seinen Kopf zu heben. Voller Verzweiflung warf er das Kind mit einer letzten Kraftanstrengung ans Ufer. Durch einen Schleier von Wasser sah er, wie seine Tochter auf der schlammigen Böschung auftraf. Dann schlossen sich die Fluten der Wertach ein letztes Mal über dem Lautenmacher.
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Autoren-Porträt von Ursula Niehaus
Bibliographische Angaben
- Autor: Ursula Niehaus
- 570 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828994032
- ISBN-13: 9783828994034
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