Das Herz der Feuerinsel
Ein farbenprächtiger Roman, der das Fernweh weckt
Amsterdam 1882. Auf der Überfahrt von Amsterdam nach Batavia schließen zwei Frauen Freundschaft, die unterschiedlicher kaum sein könnten: die ernsthafte Jacobina, Tochter aus gutem...
Amsterdam 1882. Auf der Überfahrt von Amsterdam nach Batavia schließen zwei Frauen Freundschaft, die unterschiedlicher kaum sein könnten: die ernsthafte Jacobina, Tochter aus gutem...
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Produktinformationen zu „Das Herz der Feuerinsel “
Ein farbenprächtiger Roman, der das Fernweh weckt
Amsterdam 1882. Auf der Überfahrt von Amsterdam nach Batavia schließen zwei Frauen Freundschaft, die unterschiedlicher kaum sein könnten: die ernsthafte Jacobina, Tochter aus gutem Hause, und die temperamentvolle Floortje aus einfachen Verhältnissen. Beide träumen vom Glück in der Ferne, und berauscht von der exotischen Schönheit der Tropen wähnen sie sich im Paradies. Nach und nach jedoch offenbart der Garten Eden seine Abgründe, und während auf Jacobina ein böser Verdacht fällt, gleitet Floortje ab in die Prostitution. Als der bislang so friedliche Vulkan Krakatau ausbricht, beginnt für die beiden Freundinnen ein Kampf um Leben und Tod ...
Amsterdam 1882. Auf der Überfahrt von Amsterdam nach Batavia schließen zwei Frauen Freundschaft, die unterschiedlicher kaum sein könnten: die ernsthafte Jacobina, Tochter aus gutem Hause, und die temperamentvolle Floortje aus einfachen Verhältnissen. Beide träumen vom Glück in der Ferne, und berauscht von der exotischen Schönheit der Tropen wähnen sie sich im Paradies. Nach und nach jedoch offenbart der Garten Eden seine Abgründe, und während auf Jacobina ein böser Verdacht fällt, gleitet Floortje ab in die Prostitution. Als der bislang so friedliche Vulkan Krakatau ausbricht, beginnt für die beiden Freundinnen ein Kampf um Leben und Tod ...
Klappentext zu „Das Herz der Feuerinsel “
Ein farbenprächtiger Roman, der das Fernweh wecktAmsterdam 1882. Auf der Überfahrt von Amsterdam nach Batavia schließen zwei Frauen Freundschaft, die unterschiedlicher kaum sein könnten: die ernsthafte Jacobina, Tochter aus gutem Hause, und die temperamentvolle Floortje aus einfachen Verhältnissen. Beide träumen vom Glück in der Ferne, und berauscht von der exotischen Schönheit der Tropen wähnen sie sich im Paradies. Nach und nach jedoch offenbart der Garten Eden seine Abgründe, und während auf Jacobina ein böser Verdacht fällt, gleitet Floortje ab in die Prostitution. Als der bislang so friedliche Vulkan Krakatau ausbricht, beginnt für die beiden Freundinnen ein Kampf um Leben und Tod ...
Lese-Probe zu „Das Herz der Feuerinsel “
Das Herz der Feuerinsel von Nicole C. Vosseler... mehr
1
Das musste er sein, der Duft der Freiheit.
Salzig wie die Meeresluft, die sie sogar auf der Zunge schmecken konnte. Wie der Wind roch, klar und rein, wie Quellwasser oder wie frisch gewaschene und gestärkte Leintücher. Ein Duft nach Sonnenwärme und Seetang - wie der Geruch der Decksplanken aus honigbraunem Holz, nach dem frühmorgendlichen Schrubben stellenweise noch nass, die unter dem Dröhnen der Maschinen vibrierten, im Wechselspiel von vorwärtsstrebender Dampfkraft und Wellenschlag schwankten und schaukelten.
Kein zahmer, lieblicher Duft war es, sondern einer auf dem schmalen Grat zwischen Wohltat und beißender Schärfe. Rauchig, fast brandig wie Ruß und Qualm, die aus dem Schornstein des Dampfers quollen. Wie der Geruch des langgestreckten, schlanken Schiffsleibs aus Eisen, der in der feuchten Luft an Jodtinktur erinnerte, ebenso stechend und säuerlich, ebenso kühl. So wie auch Freiheit stets Hand in Hand mit dem Unbekannten einhergeht und ein Wagnis beinhaltet. Einen Sprung ins Ungewisse.
Jacobina schloss die Augen und sog diesen Duft tief ein, der ihr in seiner Kraft, in seiner Stärke hier auf hoher See neu war und doch nicht gänzlich fremd; sie hatte ihn sogleich wiedererkannt. Es war der Geruch, der jedes Jahr die hellen, unbeschwerten Tage der Sommerfrische im Seebad von Zandvoort erfüllt hatte. Derselbe, der manchmal beizend vom Hafen herübergedrungen war und sich zwischen den hohen Hausfassaden gesammelt hatte. Der an seltenen Tagen, wenn der Wind günstig stand, als kaum wahrnehmbarer Hauch über Amsterdam lag und das Meer erahnen ließ, verheißungsvoll und zugleich eine Mahnung, wie nahe es doch war. Aber erst seit sie mit ihren Koffern an Bord gegangen war und jede verstrichene Stunde, jede zurückgelegte Seemeile sie weiter von ihrem alten Leben forttrug, ihrem neuen entgegen, wusste Jacobina diesen Duft zu benennen.
Sei nicht albern, Bina, vermeinte sie Henriks Stimme zu hören. Wie sollte man Freiheit denn riechen können? Sie sah ihren älteren Bruder vor sich, in Anzug und Weste, die Krawatte korrekt um den steifen Hemdkragen gebunden und die Brauen unter den vorzeitig beginnenden Geheimratsecken emporgezogen, wie er sie mit einem nachsichtigen Lächeln bedachte. Kein Spott lag darin, denn dafür hätte es einer Leichtigkeit bedurft, die den van der Beeks nicht zu eigen war. Schweres Blut war es, das durch deren Adern floss und kaum je in Wallung geriet, geschweige denn in Leidenschaft entbrannte. Nüchtern war dieses Blut, wohltemperiert und satt von althergebrachten Werten. Wer es in sich trug, hatte sich von jeher anstandslos in die vom Vater für den Sohn, von der Mutter für die Tochter vorgezeichneten Bahnen gefügt und nie Anlass zur Enttäuschung gegeben. Anders als Jacobina. Obwohl sie nie trotzig oder ungehorsam gewesen war und sich unablässig bemüht hatte, alles richtig zu machen. Bis über die Zeit die bittere Erkenntnis in ihr aufgekeimt war, dass es Dinge gab,bei denen jegliche Mühe vergeblich blieb und die einem dennoch nicht verziehen wurden.
Ich bin frei. Jacobina reckte sich der bleichen Morgensonne entgegen, die ihr mit noch schwachen Fingern über die Wangen strich, hielt das Gesicht in den Wind, dessen Atem ihr eins zu sein schien mit ihrem eigenen. Ein Flattern stieg in ihrer Magengegend auf, halb aufgeregte Vorfreude, halb Angst vor ihrer eigenen Kühnheit, und trieb ihr Herz zu schnellerem Schlag an, voller Stolz, diesen ungeheuren Mut aufgebracht zu haben, und mit einer Ahnung von Glück. Sie konnte es sich nicht oft genug vorsagen. Ich bin frei. Unbehagen sickerte nach und nach in diese Freude hinein, zäh und schwer wie in Wasser geträufeltes Öl und ebenso unauflöslich. Begleitet von einem Kribbeln zwischen den Schulterblättern, das den Nacken hinaufwanderte und die Haut dort sich kräuseln ließ. Jacobina musste sich nicht umdrehen, um sich zu vergewissern. Sie hatte jahrelange Erfahrung darin, wie sich neugierige, abschätzende, gar mitleidige Blicke im Rücken anfühlten. Sie wusste, sie wurde beobachtet.
Bis gerade eben hatte Floortje der anderen jungen Frau noch dabei zusehen können, wie sich ihre Haltung zunehmend entspannte. Als schälte sie sich zögerlich aus dem Mantel von Unnahbarkeit und Selbstgenügsamkeit, mit dem sie bislang alle Mitreisenden auf Abstand gehalten hatte. Gerade so weit, dass sie nicht unhöflich oder unfreundlich wirkte, aber auch nicht zu einer näheren Bekanntschaft einlud. Wie sie hier, auf dem noch stillen und leeren Oberdeck an der Reling stand, hatte sie auf Floortje zum ersten Mal einen weniger unzugänglichen Eindruck gemacht. Erleichtert schien sie, beinahe wie befreit, als wäre ihr dieser Mantel auf Dauer selbst zu schwer geworden. Für einige wenige viel zu kurze Augenblicke, die Floortje ungenutzt hatte verstreichen lassen. Die Schultern unter der schmucklosen, taillierten Jacke aus grauem Tuch versteiften sich wieder; schließlich wandte sie den Kopf zu Floortje um und sah sie mit zusammengezogenen Brauen unter der Hutkrempe hervor an. Bleib, wo du bist, besagte dieser Blick. Lass mich in Frieden!
Floortje verwünschte im Stillen ihr Zögern, das ihr im Grunde überhaupt nicht entsprach. Etwas zu bereuen, das man gesagt oder getan hatte - dafür blieb schließlich hinterher immer noch genug Zeit. Was aber den Umgang mit dem eigenen Geschlecht betraf, so hatte sich Floortje eine gewisse Vorsicht angewöhnt. In den Augen dieser jungen Frau, grau wie der Himmel über Friesland im Winter, hatte Floortje bislang jedoch keinen Funken Bosheit aufglimmen gesehen. Ein beherrschtes Abwarten stand darin, eine Duldsamkeit, die müde wirkte. Und manchmal glaubte Floortje in einem Blick unter halb gesenkten Lidern oder in einer kleinen, unwillkürlichen Bewegung gar einen Anflug von Unsicherheit zu entdecken. Auch wenn die junge Frau nun wieder den Kopf abwandte und den Blick zurück aufs Meer richtete, den Rücken durchgedrückt und die Schultern in unmissverständlicher Abwehr angespannt.
Das behagliche Gefühl, allein und unbeobachtet zu sein, war dahin, die friedliche Stimmung dieser frühen Stunde verdorben; dennoch dachte Jacobina keineswegs daran, ihren Platz aufzugeben. So schnell würde sie nicht mehr mit brennenden Wangen und gesenktem Kopf die Flucht ergreifen. Wie sie es früher so oft getan hatte, in ein dunkles Nebenzimmer, in dem sie wieder atmen konnte, abseits einer gediegenen Gesellschaft, die sich selbst feierte und für die der Name Jacobina van der Beek gleichbedeutend war mit dem Geld ihres Vaters. Mehr nicht. Denn mehr hatte Jacobina nicht zu bieten.
Als müsste sie ihr Recht verteidigen, hier zu sein, schlossen sich ihre behandschuhten Finger um den obersten Holm der Reling. Umklammerten ihn fester, als sich schnelle, leichtfüßige Schritte näherten.
»Guten Morgen!« Für eine solch kleine, zarte Person war ihre Stimme erstaunlich dunkel. Eine Stimme wie schwerer Samt, der während der Mahlzeiten den Speiseraum auskleidete, wenn sie am Nebentisch unablässig über Nichtigkeiten plauderte. Oftmals begleitet von einem Lachen, das tief war, zuweilen geradezu unanständig rau und wohl gerade deshalb ihre Tischnachbarn zum Mitlachen einlud. Auch jetzt schwang dieses Lachen in ihren Worten mit und klang wie Portwein, den man im Glas umherschwappen ließ. »Ist das nicht ein herrlicher Tag?!«
»Guten Morgen.« Jacobina sah weiterhin eisern geradeaus. »Ja.«
»Fährst du bis nach Batavia?«
Jacobina starrte sie an, eher verblüfft als verärgert darüber, so ungehörig, so vertraulich geduzt zu werden. Offen wurde ihr Blick erwidert, aus oval geschnittenen Augen unter dichten, dunklen Wimpern. Katzenaugen, manchmal grün, dann wieder wie aus dem Stoff des Ozeans geschaffen, ebenso lichtblau oder türkisen.
Neugierig blickten sie, mit einer entwaffnenden Arglosigkeit und einem hoffnungsvollen Schimmer darin, und Jacobina sah schnell wieder auf das Meer hinaus.
»Wohin denn sonst?«, murmelte sie, und es geriet ihr weniger barsch als beabsichtigt.
»Vielleiiichht ... naaachhh ...«, kam die langgezogene Erwiderung in neckendem Tonfall, wie in einem Ratespiel, »... Alexandria? Aden? Nach Colombo? Oder nach Singapur?« Ebenfalls an eine Katze erinnerte die Art, wie sie sich an die Reling schmiegte, während sie einzelne Stationen dieser Schiffsreise aufzählte, und wie ihre bloßen Finger über das Eisen des obersten Holms strichen, auf Jacobina zu.
Unwillkürlich ließ Jacobina die Hände sinken und trat einen halben Schritt zurück. »Nein, ich bleibe bis Batavia an Bord.«
»Oh, ich auch! Ich bin übrigens Floortje. Floortje Dreessen.«
Jacobina schaute auf die Hand hinunter, die Floortje ihr in einer selbstbewussten Geste hinstreckte, Handfläche nach oben, als böte sie ihr mit Nachdruck etwas dar. Ebenso wenig wie Handschuhe trug sie einen Hut, offenbar unbesorgt darum, dass die Sonne ihren Teint verderben könnte, der hell war wie Sahne und zart, beinahe durchscheinend. Anders als Jacobinas Blässe, die so leicht ins Fahle überging. Es schien Floortje auch nicht zu kümmern, dass der Wind unablässig an dicken Partien ihres Haares raufte, das schwer war und kaffeedunkel glänzte. Sie hatte es ihm sogar noch leicht gemacht, nur einen Teil davon am Hinterkopf zu einem filigranen Schlaufengebilde hochgesteckt, während der Rest in geschmeidigen Wellen und Kringeln ihren Rücken hinabfiel. Kein Vergleich zu Jacobinas flachshellem Haar, das schnell strähnig aussah und in Sonne und Wind strohig wurde, wenn sie nicht achtgab. Einmal mehr durchfuhr es Jacobina, wie jung dieses Fräulein Dreessen doch war, fast noch ein Mädchen. Und hübsch, so hübsch, dass es wehtat. Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz umgedreht und wäre ohne ein weiteres Wort davongegangen. Ihre gute Erziehung indes verbot es ihr; sie wusste, was sich gehörte.
»Jacobina van der Beek.« Es versetzte ihr einen Stich, wie winzig und zerbrechlich sich Floortjes Hand in ihrer eigenen anfühlte, trotz der unvermuteten Kraft,mit der diese zupackte,und Jacobina ließ sie schnell wieder los.
»Ich war eigentlich auf dem Weg zum Käpt'n. Er hat mir angeboten, mich heute Morgen auf dem Schiff herumzuführen und mir alles zu zeigen. Sogar den Maschinenraum!« Floortjes Augen funkelten auf wie Aquamarine. »Magst du vielleicht mitkommen?«
»Sehr freundlich - aber danke, nein«, entgegnete Jacobina in mechanischer Förmlichkeit.
Floortjes Brauen, zwei wie mit sepiabrauner Tusche gezeichnete Bögen, hoben sich. »Aber warum denn nicht? Auf dem Pott hier läuft dir sicher nichts weg! Komm doch mit, das wird bestimmt lustig!«
»Nein, danke. Wirklich nicht.« Jacobina blinzelte in die Sonne, die sich weiter am Himmel hinaufgeschoben hatte und das Deck mit einem Licht wie zerlassene Butter übergoss. Sie war dieser Art wohltätiger Einladungen überdrüssig, für die sie sich später dankbar zeigen sollte.
»Ach, bitte!« Ein Ruck ging durch Floortje hindurch, halb Aufstampfen, halb Hüpfen, wie auch ihr Tonfall gleichermaßen flehend wie trotzig war. »Komm schon, zier dich nicht so! Zu zweit ist es noch mal so lustig!«
»Nein, ich ...«, setzte Jacobina an; der Rest des Satzes blieb ihr in der Kehle stecken, als Floortje schwungvoll ihre Hand ergriff und sie im Laufschritt mit sich zog.
2
»... zwei-und-zwan-zig, drei-und-zwan-zig ...«, singsangte die kleine Lijsje im Takt ihrer Sprünge. »Vier-und-zwan...« Mit dem Absatz ihrer geschnürten Stiefelette blieb sie hängen und verhedderte sich, entwirrte das Seil und begann von vorne, sodass ihre zu Affenschaukeln hochgebundenen blonden Flechtzöpfe vor und zurück pendelten. »Ei-heins, zwei-hei, drei-hei ...«
Das schöne Wetter hatte alle nach dem ersten Frühstück an Deck gelockt, um die Zeit bis zum Gabelfrühstück mit gepflegtem Müßiggang zu verbringen. Die Herren Verbrugge und Ter Steege saßen sich an einem Tischchen gegenüber und verschoben abwechselnd und mit langen Denkpausen die Spielsteine auf dem Damebrett zwischen sich.Im Schutz eines Sonnenschirms flanierte Frau Ter Steege neben ihrer Mutter die Reling entlang, wortreich bemüht, dieser die Aussicht auf das azurblaue Meer und die felsige, sonnenüberglänzte Küste Portugals schmackhaft zu machen. Doch mehr als ein ungnädiges Brummen dann und wann war der weißhaarigen älteren Dame, deren kohlschwarze Kleider so steif wirkten wie ein Harnisch, nicht zu entlocken. Ihre beiden Mädchen wusste Frau Ter Steege unterdessen gut aufgehoben: während unter Frau Verbrugges Fingern ein filigranes Häkeldeckchen Gestalt annahm, ruhte ihr fürsorglicher Blick teils auf Lijsje mit ihrem Springseil,teils auf Kaatje,die einträchtig neben der fast gleichaltrigen Tressje Verbrugge auf den Decksplanken saß. Mal mit ernsten Mienen und gedämpften Stimmchen,dann wieder mit dramatischer Mimik und aufgeregten Rufen hatten sich die beiden kleinen Mädchen ganz in die Welt ihrer Puppen zurückgezogen, deren Geheimnisse den Erwachsenen verborgen blieben.
»... zwei-und-dreissig, drei-und-drei...«, zählte Lijsje weiter die Augenblicke dieses friedlichen Vormittags an Deck ab, immer wieder unterbrochen durch ein verärgertes Schnauben, eine kurze Pause. »Ei-heins, zwei-hei ...«
Jacobina vermochte sich nicht in ihr Buch zu vertiefen; beständig schweiften ihre Augen von den Seiten ab und zu Floortje hinüber, die im Liegestuhl neben ihr döste. Kaum dass sie sich nach dem ersten Frühstück hier niedergelassen hatten, hatte Floortje die Schuhe abgestreift und die Knie angezogen, einmal mehr einer Katze ähnelnd, die sich auf den Polstern zusammenrollte. Es schien ihr gleich zu sein, dass sich dabei die Rüschensäume ihres elfenbeinhellen, mit blauen Streublumen bedruckten Sommerkleides und des Unterrocks hochschoben und ihre weißbestrumpften Beine bis weit über die Knöchel enthüllten.
Den vier Rekruten aus dem Koloniaal Werfdepot in Harderwijk war dieser Anblick indes keineswegs gleichgültig. So jung, dass sie noch lange keine Männer waren, trotz schmucker Uniform und sorgfältig getrimmter Bärte kaum mehr als milchgesichtige Burschen, drückten sie sich in einigem Abstand an der Reling herum, rauchten, tuschelten und starrten unverhohlen herüber. Ab und zu war ein gedämpftes Lachen zu hören, gleichermaßen wissend wie verlegen, und jedes Mal reckten die Rekruten sogleich die Hälse und sahen sich verstohlen um, ob nicht einer der mitreisenden Offiziere an ihrem Benehmen Anstoß nahm.
Major Rosendaal, dem die vier jungen Männer während der Überfahrt unterstellt waren, schien darin jedoch keinen Grund für eine Rüge zu sehen, noch nicht einmal für einen strengen Blick. Die Hände auf dem Rücken seines schwarzblauen Uniformrocks ineinandergelegt, marschierte er gemessenen Schrittes auf dem Deck auf und ab, die Augen gedankenvoll auf die Planken unter seinen blank polierten Schuhen gerichtet. Wann immer ihn sein Weg an dem Liegestuhl vorbeiführte, in dem Fräulein Dreessen schlummerte, hob sich sein Blick und wanderte mit sichtlichem Wohlgefallen über ihre Fesseln und Waden, über die Falten ihrer Röcke hinweg die schmale Taille hinauf, streifte einen Wimpern- schlag lang ihren Brustkorb, der sich unter dem züchtigen spitzengesäumten Ausschnitt hob und wieder senkte, und blieb dann auf ihrem Gesicht haften. Bis seine Augen aufwärts zuckten, als wäre ihm urplötzlich etwas eingefallen, und er über Jacobinas kleinen Strohhut hinweg zu seiner Gattin spähte, die sich mit ihrer Schwester unter das Schattendach zurückgezogen hatte. Jedes Mal strich sich der Major dann rasch über seinen Bart und gab einen kaum hörbaren Laut von sich, der ebenso gut ein Räuspern sein konnte wie ein Seufzen oder auch nur ein besonders tiefer Atemzug, bevor er seinen Weg über das Deck fortsetzte.
Wie hingegossen wirkte Floortje in ihrem Liegestuhl, einen träumerischen Ausdruck auf den feinen Zügen. Ihr leicht geöffneter Mund schien nur darauf zu warten, dass man sie wachküsste, und wie sich die geschwungenen Lippen ein wenig aufwarfen, sah es fast so aus, als schmollte sie, weil es bislang noch niemand gewagt hatte. Unter dem dünnen Stoff des Sommerkleids zeichneten sich verlockende Rundungen ab, und gerade jetzt, im Schlaf, verlieh ihr das an der Spitze himmelwärts gerichtete Näschen etwas Vorwitziges, Kokettes.
In der Gegenwart von Mädchen und Frauen wie Floortje, an denen alles klein und zart, weich und süß war, hatte Jacobina sich von jeher unwohl gefühlt. Daneben kam sie sich noch größer vor, als sie es ohnehin schon war.Grobschlächtig beinahe, obwohl sie doch so schlank war. Zu schlank, denn keinem noch so raffinierten und stramm sitzenden Korsett, keiner noch so ausgeklügelten Mogelei der Schneiderin war es je gelungen, für Jacobinas Figur wenigstens eine Illusion wohlgeformter Weiblichkeit herbeizuzaubern. An Jacobina war alles zu sehr: die Linien ihres Gesichts zu herb, beinahe hart, der Mund zu breit und die Nase eine Spur zu kräftig; ihre Gestalt zu lang aufgeschossen, zu mager, zu kantig. Allenfalls ihre Augen, groß und klar, hätte sie schön finden können, wäre deren Farbe nicht so fade gewesen, so nüchtern. Selbst die Andeutung eines Grübchens in ihrem Kinn, die gleiche, die sich an Henrik so überaus gewinnend ausnahm, vermochte nicht den Eindruck von Strenge zu mildern, den Jacobina van der Beek unweigerlich vermittelte. Den einer gewissen Freudlosigkeit und einer Kälte, die zum Kern ihres Wesens zu gehören schienen.
»... bin natürlich kein Mann vom Fach ...« Der Wind trieb Satzfetzen in der sonoren Tonlage von Leutnant Teuniszen herüber, der in Herrn Aarens einen aufmerksamen Zuhörer gefunden hatte. »... der Boden des Preanger besonders geeignet für Tee ...« Floortjes Unterlippe zuckte, ihre Lider zitterten, und hastig senkte Jacobina den Blick auf das Buch in ihren Händen, beobachtete dabei aus den Augenwinkeln aber weiter Floortje, die die Beine von sich streckte, sich ungeniert rekelte und schließlich den Mund zu einem herzhaften Gähnen aufriss. Erst im letzten Moment hielt sie die Hand davor und warf Jacobina unter schlafschweren Lidern ein entschuldigendes Lächeln zu.
1. Auflage Originalausgabe August 2012 Copyright © 2012 by Nicole C. Vosseler Copyright © dieser Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
1
Das musste er sein, der Duft der Freiheit.
Salzig wie die Meeresluft, die sie sogar auf der Zunge schmecken konnte. Wie der Wind roch, klar und rein, wie Quellwasser oder wie frisch gewaschene und gestärkte Leintücher. Ein Duft nach Sonnenwärme und Seetang - wie der Geruch der Decksplanken aus honigbraunem Holz, nach dem frühmorgendlichen Schrubben stellenweise noch nass, die unter dem Dröhnen der Maschinen vibrierten, im Wechselspiel von vorwärtsstrebender Dampfkraft und Wellenschlag schwankten und schaukelten.
Kein zahmer, lieblicher Duft war es, sondern einer auf dem schmalen Grat zwischen Wohltat und beißender Schärfe. Rauchig, fast brandig wie Ruß und Qualm, die aus dem Schornstein des Dampfers quollen. Wie der Geruch des langgestreckten, schlanken Schiffsleibs aus Eisen, der in der feuchten Luft an Jodtinktur erinnerte, ebenso stechend und säuerlich, ebenso kühl. So wie auch Freiheit stets Hand in Hand mit dem Unbekannten einhergeht und ein Wagnis beinhaltet. Einen Sprung ins Ungewisse.
Jacobina schloss die Augen und sog diesen Duft tief ein, der ihr in seiner Kraft, in seiner Stärke hier auf hoher See neu war und doch nicht gänzlich fremd; sie hatte ihn sogleich wiedererkannt. Es war der Geruch, der jedes Jahr die hellen, unbeschwerten Tage der Sommerfrische im Seebad von Zandvoort erfüllt hatte. Derselbe, der manchmal beizend vom Hafen herübergedrungen war und sich zwischen den hohen Hausfassaden gesammelt hatte. Der an seltenen Tagen, wenn der Wind günstig stand, als kaum wahrnehmbarer Hauch über Amsterdam lag und das Meer erahnen ließ, verheißungsvoll und zugleich eine Mahnung, wie nahe es doch war. Aber erst seit sie mit ihren Koffern an Bord gegangen war und jede verstrichene Stunde, jede zurückgelegte Seemeile sie weiter von ihrem alten Leben forttrug, ihrem neuen entgegen, wusste Jacobina diesen Duft zu benennen.
Sei nicht albern, Bina, vermeinte sie Henriks Stimme zu hören. Wie sollte man Freiheit denn riechen können? Sie sah ihren älteren Bruder vor sich, in Anzug und Weste, die Krawatte korrekt um den steifen Hemdkragen gebunden und die Brauen unter den vorzeitig beginnenden Geheimratsecken emporgezogen, wie er sie mit einem nachsichtigen Lächeln bedachte. Kein Spott lag darin, denn dafür hätte es einer Leichtigkeit bedurft, die den van der Beeks nicht zu eigen war. Schweres Blut war es, das durch deren Adern floss und kaum je in Wallung geriet, geschweige denn in Leidenschaft entbrannte. Nüchtern war dieses Blut, wohltemperiert und satt von althergebrachten Werten. Wer es in sich trug, hatte sich von jeher anstandslos in die vom Vater für den Sohn, von der Mutter für die Tochter vorgezeichneten Bahnen gefügt und nie Anlass zur Enttäuschung gegeben. Anders als Jacobina. Obwohl sie nie trotzig oder ungehorsam gewesen war und sich unablässig bemüht hatte, alles richtig zu machen. Bis über die Zeit die bittere Erkenntnis in ihr aufgekeimt war, dass es Dinge gab,bei denen jegliche Mühe vergeblich blieb und die einem dennoch nicht verziehen wurden.
Ich bin frei. Jacobina reckte sich der bleichen Morgensonne entgegen, die ihr mit noch schwachen Fingern über die Wangen strich, hielt das Gesicht in den Wind, dessen Atem ihr eins zu sein schien mit ihrem eigenen. Ein Flattern stieg in ihrer Magengegend auf, halb aufgeregte Vorfreude, halb Angst vor ihrer eigenen Kühnheit, und trieb ihr Herz zu schnellerem Schlag an, voller Stolz, diesen ungeheuren Mut aufgebracht zu haben, und mit einer Ahnung von Glück. Sie konnte es sich nicht oft genug vorsagen. Ich bin frei. Unbehagen sickerte nach und nach in diese Freude hinein, zäh und schwer wie in Wasser geträufeltes Öl und ebenso unauflöslich. Begleitet von einem Kribbeln zwischen den Schulterblättern, das den Nacken hinaufwanderte und die Haut dort sich kräuseln ließ. Jacobina musste sich nicht umdrehen, um sich zu vergewissern. Sie hatte jahrelange Erfahrung darin, wie sich neugierige, abschätzende, gar mitleidige Blicke im Rücken anfühlten. Sie wusste, sie wurde beobachtet.
Bis gerade eben hatte Floortje der anderen jungen Frau noch dabei zusehen können, wie sich ihre Haltung zunehmend entspannte. Als schälte sie sich zögerlich aus dem Mantel von Unnahbarkeit und Selbstgenügsamkeit, mit dem sie bislang alle Mitreisenden auf Abstand gehalten hatte. Gerade so weit, dass sie nicht unhöflich oder unfreundlich wirkte, aber auch nicht zu einer näheren Bekanntschaft einlud. Wie sie hier, auf dem noch stillen und leeren Oberdeck an der Reling stand, hatte sie auf Floortje zum ersten Mal einen weniger unzugänglichen Eindruck gemacht. Erleichtert schien sie, beinahe wie befreit, als wäre ihr dieser Mantel auf Dauer selbst zu schwer geworden. Für einige wenige viel zu kurze Augenblicke, die Floortje ungenutzt hatte verstreichen lassen. Die Schultern unter der schmucklosen, taillierten Jacke aus grauem Tuch versteiften sich wieder; schließlich wandte sie den Kopf zu Floortje um und sah sie mit zusammengezogenen Brauen unter der Hutkrempe hervor an. Bleib, wo du bist, besagte dieser Blick. Lass mich in Frieden!
Floortje verwünschte im Stillen ihr Zögern, das ihr im Grunde überhaupt nicht entsprach. Etwas zu bereuen, das man gesagt oder getan hatte - dafür blieb schließlich hinterher immer noch genug Zeit. Was aber den Umgang mit dem eigenen Geschlecht betraf, so hatte sich Floortje eine gewisse Vorsicht angewöhnt. In den Augen dieser jungen Frau, grau wie der Himmel über Friesland im Winter, hatte Floortje bislang jedoch keinen Funken Bosheit aufglimmen gesehen. Ein beherrschtes Abwarten stand darin, eine Duldsamkeit, die müde wirkte. Und manchmal glaubte Floortje in einem Blick unter halb gesenkten Lidern oder in einer kleinen, unwillkürlichen Bewegung gar einen Anflug von Unsicherheit zu entdecken. Auch wenn die junge Frau nun wieder den Kopf abwandte und den Blick zurück aufs Meer richtete, den Rücken durchgedrückt und die Schultern in unmissverständlicher Abwehr angespannt.
Das behagliche Gefühl, allein und unbeobachtet zu sein, war dahin, die friedliche Stimmung dieser frühen Stunde verdorben; dennoch dachte Jacobina keineswegs daran, ihren Platz aufzugeben. So schnell würde sie nicht mehr mit brennenden Wangen und gesenktem Kopf die Flucht ergreifen. Wie sie es früher so oft getan hatte, in ein dunkles Nebenzimmer, in dem sie wieder atmen konnte, abseits einer gediegenen Gesellschaft, die sich selbst feierte und für die der Name Jacobina van der Beek gleichbedeutend war mit dem Geld ihres Vaters. Mehr nicht. Denn mehr hatte Jacobina nicht zu bieten.
Als müsste sie ihr Recht verteidigen, hier zu sein, schlossen sich ihre behandschuhten Finger um den obersten Holm der Reling. Umklammerten ihn fester, als sich schnelle, leichtfüßige Schritte näherten.
»Guten Morgen!« Für eine solch kleine, zarte Person war ihre Stimme erstaunlich dunkel. Eine Stimme wie schwerer Samt, der während der Mahlzeiten den Speiseraum auskleidete, wenn sie am Nebentisch unablässig über Nichtigkeiten plauderte. Oftmals begleitet von einem Lachen, das tief war, zuweilen geradezu unanständig rau und wohl gerade deshalb ihre Tischnachbarn zum Mitlachen einlud. Auch jetzt schwang dieses Lachen in ihren Worten mit und klang wie Portwein, den man im Glas umherschwappen ließ. »Ist das nicht ein herrlicher Tag?!«
»Guten Morgen.« Jacobina sah weiterhin eisern geradeaus. »Ja.«
»Fährst du bis nach Batavia?«
Jacobina starrte sie an, eher verblüfft als verärgert darüber, so ungehörig, so vertraulich geduzt zu werden. Offen wurde ihr Blick erwidert, aus oval geschnittenen Augen unter dichten, dunklen Wimpern. Katzenaugen, manchmal grün, dann wieder wie aus dem Stoff des Ozeans geschaffen, ebenso lichtblau oder türkisen.
Neugierig blickten sie, mit einer entwaffnenden Arglosigkeit und einem hoffnungsvollen Schimmer darin, und Jacobina sah schnell wieder auf das Meer hinaus.
»Wohin denn sonst?«, murmelte sie, und es geriet ihr weniger barsch als beabsichtigt.
»Vielleiiichht ... naaachhh ...«, kam die langgezogene Erwiderung in neckendem Tonfall, wie in einem Ratespiel, »... Alexandria? Aden? Nach Colombo? Oder nach Singapur?« Ebenfalls an eine Katze erinnerte die Art, wie sie sich an die Reling schmiegte, während sie einzelne Stationen dieser Schiffsreise aufzählte, und wie ihre bloßen Finger über das Eisen des obersten Holms strichen, auf Jacobina zu.
Unwillkürlich ließ Jacobina die Hände sinken und trat einen halben Schritt zurück. »Nein, ich bleibe bis Batavia an Bord.«
»Oh, ich auch! Ich bin übrigens Floortje. Floortje Dreessen.«
Jacobina schaute auf die Hand hinunter, die Floortje ihr in einer selbstbewussten Geste hinstreckte, Handfläche nach oben, als böte sie ihr mit Nachdruck etwas dar. Ebenso wenig wie Handschuhe trug sie einen Hut, offenbar unbesorgt darum, dass die Sonne ihren Teint verderben könnte, der hell war wie Sahne und zart, beinahe durchscheinend. Anders als Jacobinas Blässe, die so leicht ins Fahle überging. Es schien Floortje auch nicht zu kümmern, dass der Wind unablässig an dicken Partien ihres Haares raufte, das schwer war und kaffeedunkel glänzte. Sie hatte es ihm sogar noch leicht gemacht, nur einen Teil davon am Hinterkopf zu einem filigranen Schlaufengebilde hochgesteckt, während der Rest in geschmeidigen Wellen und Kringeln ihren Rücken hinabfiel. Kein Vergleich zu Jacobinas flachshellem Haar, das schnell strähnig aussah und in Sonne und Wind strohig wurde, wenn sie nicht achtgab. Einmal mehr durchfuhr es Jacobina, wie jung dieses Fräulein Dreessen doch war, fast noch ein Mädchen. Und hübsch, so hübsch, dass es wehtat. Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz umgedreht und wäre ohne ein weiteres Wort davongegangen. Ihre gute Erziehung indes verbot es ihr; sie wusste, was sich gehörte.
»Jacobina van der Beek.« Es versetzte ihr einen Stich, wie winzig und zerbrechlich sich Floortjes Hand in ihrer eigenen anfühlte, trotz der unvermuteten Kraft,mit der diese zupackte,und Jacobina ließ sie schnell wieder los.
»Ich war eigentlich auf dem Weg zum Käpt'n. Er hat mir angeboten, mich heute Morgen auf dem Schiff herumzuführen und mir alles zu zeigen. Sogar den Maschinenraum!« Floortjes Augen funkelten auf wie Aquamarine. »Magst du vielleicht mitkommen?«
»Sehr freundlich - aber danke, nein«, entgegnete Jacobina in mechanischer Förmlichkeit.
Floortjes Brauen, zwei wie mit sepiabrauner Tusche gezeichnete Bögen, hoben sich. »Aber warum denn nicht? Auf dem Pott hier läuft dir sicher nichts weg! Komm doch mit, das wird bestimmt lustig!«
»Nein, danke. Wirklich nicht.« Jacobina blinzelte in die Sonne, die sich weiter am Himmel hinaufgeschoben hatte und das Deck mit einem Licht wie zerlassene Butter übergoss. Sie war dieser Art wohltätiger Einladungen überdrüssig, für die sie sich später dankbar zeigen sollte.
»Ach, bitte!« Ein Ruck ging durch Floortje hindurch, halb Aufstampfen, halb Hüpfen, wie auch ihr Tonfall gleichermaßen flehend wie trotzig war. »Komm schon, zier dich nicht so! Zu zweit ist es noch mal so lustig!«
»Nein, ich ...«, setzte Jacobina an; der Rest des Satzes blieb ihr in der Kehle stecken, als Floortje schwungvoll ihre Hand ergriff und sie im Laufschritt mit sich zog.
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»... zwei-und-zwan-zig, drei-und-zwan-zig ...«, singsangte die kleine Lijsje im Takt ihrer Sprünge. »Vier-und-zwan...« Mit dem Absatz ihrer geschnürten Stiefelette blieb sie hängen und verhedderte sich, entwirrte das Seil und begann von vorne, sodass ihre zu Affenschaukeln hochgebundenen blonden Flechtzöpfe vor und zurück pendelten. »Ei-heins, zwei-hei, drei-hei ...«
Das schöne Wetter hatte alle nach dem ersten Frühstück an Deck gelockt, um die Zeit bis zum Gabelfrühstück mit gepflegtem Müßiggang zu verbringen. Die Herren Verbrugge und Ter Steege saßen sich an einem Tischchen gegenüber und verschoben abwechselnd und mit langen Denkpausen die Spielsteine auf dem Damebrett zwischen sich.Im Schutz eines Sonnenschirms flanierte Frau Ter Steege neben ihrer Mutter die Reling entlang, wortreich bemüht, dieser die Aussicht auf das azurblaue Meer und die felsige, sonnenüberglänzte Küste Portugals schmackhaft zu machen. Doch mehr als ein ungnädiges Brummen dann und wann war der weißhaarigen älteren Dame, deren kohlschwarze Kleider so steif wirkten wie ein Harnisch, nicht zu entlocken. Ihre beiden Mädchen wusste Frau Ter Steege unterdessen gut aufgehoben: während unter Frau Verbrugges Fingern ein filigranes Häkeldeckchen Gestalt annahm, ruhte ihr fürsorglicher Blick teils auf Lijsje mit ihrem Springseil,teils auf Kaatje,die einträchtig neben der fast gleichaltrigen Tressje Verbrugge auf den Decksplanken saß. Mal mit ernsten Mienen und gedämpften Stimmchen,dann wieder mit dramatischer Mimik und aufgeregten Rufen hatten sich die beiden kleinen Mädchen ganz in die Welt ihrer Puppen zurückgezogen, deren Geheimnisse den Erwachsenen verborgen blieben.
»... zwei-und-dreissig, drei-und-drei...«, zählte Lijsje weiter die Augenblicke dieses friedlichen Vormittags an Deck ab, immer wieder unterbrochen durch ein verärgertes Schnauben, eine kurze Pause. »Ei-heins, zwei-hei ...«
Jacobina vermochte sich nicht in ihr Buch zu vertiefen; beständig schweiften ihre Augen von den Seiten ab und zu Floortje hinüber, die im Liegestuhl neben ihr döste. Kaum dass sie sich nach dem ersten Frühstück hier niedergelassen hatten, hatte Floortje die Schuhe abgestreift und die Knie angezogen, einmal mehr einer Katze ähnelnd, die sich auf den Polstern zusammenrollte. Es schien ihr gleich zu sein, dass sich dabei die Rüschensäume ihres elfenbeinhellen, mit blauen Streublumen bedruckten Sommerkleides und des Unterrocks hochschoben und ihre weißbestrumpften Beine bis weit über die Knöchel enthüllten.
Den vier Rekruten aus dem Koloniaal Werfdepot in Harderwijk war dieser Anblick indes keineswegs gleichgültig. So jung, dass sie noch lange keine Männer waren, trotz schmucker Uniform und sorgfältig getrimmter Bärte kaum mehr als milchgesichtige Burschen, drückten sie sich in einigem Abstand an der Reling herum, rauchten, tuschelten und starrten unverhohlen herüber. Ab und zu war ein gedämpftes Lachen zu hören, gleichermaßen wissend wie verlegen, und jedes Mal reckten die Rekruten sogleich die Hälse und sahen sich verstohlen um, ob nicht einer der mitreisenden Offiziere an ihrem Benehmen Anstoß nahm.
Major Rosendaal, dem die vier jungen Männer während der Überfahrt unterstellt waren, schien darin jedoch keinen Grund für eine Rüge zu sehen, noch nicht einmal für einen strengen Blick. Die Hände auf dem Rücken seines schwarzblauen Uniformrocks ineinandergelegt, marschierte er gemessenen Schrittes auf dem Deck auf und ab, die Augen gedankenvoll auf die Planken unter seinen blank polierten Schuhen gerichtet. Wann immer ihn sein Weg an dem Liegestuhl vorbeiführte, in dem Fräulein Dreessen schlummerte, hob sich sein Blick und wanderte mit sichtlichem Wohlgefallen über ihre Fesseln und Waden, über die Falten ihrer Röcke hinweg die schmale Taille hinauf, streifte einen Wimpern- schlag lang ihren Brustkorb, der sich unter dem züchtigen spitzengesäumten Ausschnitt hob und wieder senkte, und blieb dann auf ihrem Gesicht haften. Bis seine Augen aufwärts zuckten, als wäre ihm urplötzlich etwas eingefallen, und er über Jacobinas kleinen Strohhut hinweg zu seiner Gattin spähte, die sich mit ihrer Schwester unter das Schattendach zurückgezogen hatte. Jedes Mal strich sich der Major dann rasch über seinen Bart und gab einen kaum hörbaren Laut von sich, der ebenso gut ein Räuspern sein konnte wie ein Seufzen oder auch nur ein besonders tiefer Atemzug, bevor er seinen Weg über das Deck fortsetzte.
Wie hingegossen wirkte Floortje in ihrem Liegestuhl, einen träumerischen Ausdruck auf den feinen Zügen. Ihr leicht geöffneter Mund schien nur darauf zu warten, dass man sie wachküsste, und wie sich die geschwungenen Lippen ein wenig aufwarfen, sah es fast so aus, als schmollte sie, weil es bislang noch niemand gewagt hatte. Unter dem dünnen Stoff des Sommerkleids zeichneten sich verlockende Rundungen ab, und gerade jetzt, im Schlaf, verlieh ihr das an der Spitze himmelwärts gerichtete Näschen etwas Vorwitziges, Kokettes.
In der Gegenwart von Mädchen und Frauen wie Floortje, an denen alles klein und zart, weich und süß war, hatte Jacobina sich von jeher unwohl gefühlt. Daneben kam sie sich noch größer vor, als sie es ohnehin schon war.Grobschlächtig beinahe, obwohl sie doch so schlank war. Zu schlank, denn keinem noch so raffinierten und stramm sitzenden Korsett, keiner noch so ausgeklügelten Mogelei der Schneiderin war es je gelungen, für Jacobinas Figur wenigstens eine Illusion wohlgeformter Weiblichkeit herbeizuzaubern. An Jacobina war alles zu sehr: die Linien ihres Gesichts zu herb, beinahe hart, der Mund zu breit und die Nase eine Spur zu kräftig; ihre Gestalt zu lang aufgeschossen, zu mager, zu kantig. Allenfalls ihre Augen, groß und klar, hätte sie schön finden können, wäre deren Farbe nicht so fade gewesen, so nüchtern. Selbst die Andeutung eines Grübchens in ihrem Kinn, die gleiche, die sich an Henrik so überaus gewinnend ausnahm, vermochte nicht den Eindruck von Strenge zu mildern, den Jacobina van der Beek unweigerlich vermittelte. Den einer gewissen Freudlosigkeit und einer Kälte, die zum Kern ihres Wesens zu gehören schienen.
»... bin natürlich kein Mann vom Fach ...« Der Wind trieb Satzfetzen in der sonoren Tonlage von Leutnant Teuniszen herüber, der in Herrn Aarens einen aufmerksamen Zuhörer gefunden hatte. »... der Boden des Preanger besonders geeignet für Tee ...« Floortjes Unterlippe zuckte, ihre Lider zitterten, und hastig senkte Jacobina den Blick auf das Buch in ihren Händen, beobachtete dabei aus den Augenwinkeln aber weiter Floortje, die die Beine von sich streckte, sich ungeniert rekelte und schließlich den Mund zu einem herzhaften Gähnen aufriss. Erst im letzten Moment hielt sie die Hand davor und warf Jacobina unter schlafschweren Lidern ein entschuldigendes Lächeln zu.
1. Auflage Originalausgabe August 2012 Copyright © 2012 by Nicole C. Vosseler Copyright © dieser Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Nicole C. Vosseler
Nicole Vosseler stammt aus Villingen-Schwenningen. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Psychologie in Tübingen und Konstanz. Sie lebt und arbeitet in Konstanz.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nicole C. Vosseler
- 2012, 606 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442477964
- ISBN-13: 9783442477968
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