Das letzte Opfer
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Nur im Jahr 1990 gibt es eine rätselhafte Lücke. In einer Pressemeldung weist Scheib auf das fehlende Opfer hin und hofft, dass sich eine wichtige Zeugin findet.
Petra Hammesfahr, geboren 1951, lebt als Schriftstellerin und Drehbuchautorin bei Köln. Sie gilt als erfolgreichste deutsche Krimi-Autorin.
Das letzteOpfer von Petra Hammesfahr
LESEPROBE
Die Schauspielerin
Schauspielerinwollte sie werden, seit sie zum ersten Mal auf einer Bühne gestanden hatte. Dawar sie fünf, und es war keine richtige Bühne, nur ein mit Tannengrüngeschmücktes Podest, aber ein ziemlich großes. Bei einer Weihnachtsfeier imKindergarten war sie die Maria. Der Pfarrer saß dabei und fand das Krippenspielso gelungen, dass er es unbedingt noch einmal aufführen lassen wollte. DieWiederholung fand vor dem Altar in der Kirche statt und vor vollen Bänken. DieLeute waren zu Tränen gerührt, ihre Eltern ebenso wie alle anderen.
Stolz warenChrista und Karlheinz Dierden beim ersten großen Auftritt ihrer kleinenTochter. So ein kluges Kind, das sagten alle, begann mit vier Jahren zu lesen.Im Kindergarten bezeichneten sie es als außergewöhnlich, schaute ihrem Bruderein paar Mal bei den Schulaufgaben zu und merkte sich jedes Wort. Dabei war ihrBruder zehn Jahre älter als sie und ging zu der Zeit aufs Gymnasium, allerdingsnicht mehr lange. Norbert war schon einmal sitzen geblieben. Und als es dannwieder so aussah, dass er die Versetzung nicht schaffen würde, schickte ChristaDierden ihn lieber zurück auf die Hauptschule und setzte ihre gesamte Hoffnungauf die kleine Tochter. Alle prophezeiten Karen eine großartige Zukunft. Undihre Mutter stellte sich vor, dass dieses Kind all das erreichte, wozu es beiihr selbst nicht gelangt hatte. Abitur, Studium und ein Doktortitel. Die erste Akademikerinin der Familie: Frau Doktor Karen Dierden.
Christa wargelernte Friseuse, Karlheinz im Baugewerbe tätig. Er war viel auf Montage,einmal sogar für ein halbes Jahr in einem arabischen Emirat. Normalerweiseerfuhr er nur übers Telefon, was die Kinder so trieben. Aber zu Weihnachten warer natürlich daheim, konnte sich das Krippenspiel mit eigenen Augen anschauenund feststellen, dass seine Frau nicht übertrieb und Karen wirklichbeachtliche Leistungen erbrachte. Eine Menge Text für einfünfjähriges Mädchen. Sie sprach bei der zweiten Aufführung in der Kirche nichtnur ihre Rolle, auch den Josef, weil der zu schüchtern war und sich vor vollenBänken nicht traute, den Mund aufzumachen. Sie machte das sehr geschickt,drehte das Gesicht zur Seite und senkte den Kopf tiefer über die Krippe, damitniemand sah, dass sie die Lippen bewegte. Sogar ihre Tonlage veränderte sieein wenig. Und als der Engel des Herrn, der die Hirten zur Krippe führensollte, vergaß, was er zu sagen hatte, half sie ihm auch noch aus der Klemme.
Es fiel natürlich trotz aller Mühe auf, die Leuteapplaudierten minutenlang. Der Pfarrer lobte sie. Ihr Vater sagte auf dem Heimwegmindestens fünfmal: «Das hast du wirklich sehr gut gemacht.»
Von da an wollte sie es eben nur noch sehr gut machen. An NorbertsSchulaufgaben war sie nicht länger interessiert. Ihre Mutter hatte gehofft,dass sie ihre Aufmerksamkeit auch einmal auf Zahlen richtete und mindestens bisfünfzig zählen könne, wenn sie eingeschult wurde. Das war leider nicht derFall.
Andere in ihrem Alter tobten auf Spielplätzen oder beschäftigtensich mit Puppen. Sie trug zwei Küchenstühle hinaus auf den Balkon derelterlichen Mietwohnung. Damals lebten sie noch in Köln-Porz, Platz für mehrals zwei Stühle war auf dem Balkon nicht. Auf einen setzte sie ihren Teddy, aufden anderen einen Plüschhasen. Dann zog sie ihre Puppe aus, hüllte sie in ein Handtuchund legte sie in den Blumenkübel, in dem während des Sommers Geranien geblühthatten. Im Winter war der Kübel leer. Sie legte sich eine Bettdecke um dieSchultern und spielte das Stück in allen nur denkbaren Variationen. Glücklicherweiseim siebten Stock, sodass kaum jemand Notiz davon nahm. Trotzdem sagte ihreMutter alle paar Minuten: «Jetzt komm rein, ist doch viel zu kalt draußen.» Ihrwar die Sache peinlich.
© 2002 by Rowohlt Verlag GmbH
Autoren-Porträt von PetraHammesfahr
Petra Hammesfahr, geboren 1952, lebt alsSchriftstellerin und Drehbuchautorin in Kerpen beiKöln. Ihr Roman «Der stille Herr Genardy» wurde inmehrere Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt. Für den Roman «Der gläserneHimmel» erhielt sie den Rheinischen Literaturpreis der Stadt Siegburg und 2000in Hessen den FrauenKrimiPreis der LandeshauptstadtWiesbaden.
Interview mit Petra Hammesfahr
Ihre Kriminalromane sind unglaublich spannend. Durch die genaueBeschreibung des Seelenlebens der Protagonisten gerät man immer tiefer in denSog des Geschehens. Wie ist das in "Ein süßer Sommer"? WelcheAbgründe lauern hinter dem romantischen Titel?
Hass und falsch verstandene Liebe.
Wie sind Sie aufdieses Thema gekommen? Gab es da einen Auslöser, ein Ereignis?
Kein bestimmtes Ereignis, nur die häufig vorgebrachteBehauptung einer Tochter, der man als Mutter gerade einen Wunsch erfüllthat, dass sie alles tun würde, was irgendwann einmal getan werden müsste.Da fragt man sich als Mutter doch: Wie weit würde meine Tochter wirklich fürmich gehen?
Ihre Leser können sichregelmäßig über neue Veröffentlichungen von Ihnen freuen. Schreiben Sie ohnePause, an mehreren Büchern gleichzeitig, oder eins nach dem anderen? Wiearbeiten Sie?
Ohne Pause, das heißt, täglich zehn bis zwölf Stunden, abernie an zwei Büchern gleichzeitig. Ich schreibe auch nicht unentwegt. Die meisteZeit vergeht mit Lesen und Verbessern.
In einem Interviewerzählten Sie, dass Sie seit Ihrer Kindheit schreiben, schon immerSchriftstellerin werden wollten. Wollten Sie schon immer Krimiautorin werden?
Nein, das hat sich dann so ergeben, weil mir mehr bitterböseals wunderschöne Geschichten einfallen.
Was inspiriert Sie:Alltägliches, Polizeinachrichten, andere Autoren?
Alltäglichesund die Abgründe, die in jedem normalen Bürger und jeder Bürgerin stecken.Manchmal braucht es wirklich nur einen geringfügigen Anlass, um jemanden insolch einen Abgrund stürzen zu lassen.
Die Fragen stellte Mathias Voigt,literaturtest.de.
- Autor: Petra Hammesfahr
- 2004, Sonderausg., 394 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499237180
- ISBN-13: 9783499237188
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