Das letzte Zimmer
Mara glaubt nicht an diese Auskunft und mietet sich in der unheimlich wirkenden Pension ein. Als sie sieht, wie auf einem Gartenfest eine junge Frau dem geheimnisvollen Mollner wie hypnotisiert folgt, hat sie eine böse Ahnung von Merets Schicksal.
Das letzte ZimmervonCharlotte Richter-Peill
LESEPROBE
AUFBRUCH
Noch immer kein Lebenszeichen von Meret. Allmählich beunruhigtemich das inzwischen mehrwöchige Schweigen meiner besten Freundin. Mich beunruhigteaußerdem, dass der siebte August näher rückte. Der Tag, an dem mein Vatergestorben war. Im August ging es mir nie besonders gut. In dem Versuch, meinen Gedanken eine andereRichtung zu geben, begann ich zu putzen, Ordnung in meiner Wohnung zu schaffen.Die Gummibänder, die an einem Haken über der Spüle hingen, sortierte ich nachFarben. Meine Schuhe stellte ich blank poliert und mit sauberen Sohlen in einerReihe neben der Fußmatte auf. Meine Bücher, die sich im Küchenschrank und aufdem Spülkasten der Toilette und überall in meiner Wohnung stapelten, entstaubteich und schob sie Rücken an Rücken in die Regale. Draußen ging die Sonne unter. Ich verstaute das Putzzeug, schobeine Pizza in den Ofen und setzte mich an den Küchentisch. Regentropfen tipptengegen die Scheibe. Ich blätterte eine Illustrierte nach der anderen durch,versuchte meinen Kopf leer zu blättern, wärmte den Kakao von gestern auf,verschlang die Pizza und stopfte eine halbe Packung Vanilleeis nach. MeinHunger war nicht zu stillen. Ein alter Hunger, gegen den nur ein Mittel half. Ich kochte frischen Milchreis - das Zeug ausdem Kühlregal kam mir nicht auf den Teller -, streute Zimt und Zucker in einerdicken Schicht darüber und aß das Ganze heiß. So heiß wie möglich. Späterschrubbte ich den Herd und spülte das Geschirr. Mein Bauch drückte gegen den Bundmeiner Jeans. Mit einer Wärmflasche legte ich mich ins Bett und hoffte, dass esmorgen besser würde. Die Nacht warschlimm. Ich lief durch einen Traum, in dem mich die Fetzchen zerrissenerBriefe umtanzten wie ein böses Schneegestöber. Die Schnipsel flogen mir insGesicht, in die Augen, den Mund. Ich versuchte sie abzuwehren. Immer mehrPapier schneite auf mich herab. Um mich herum gab es kein Fleckchen Luft mehrzum Atmen. Dann begannen die Schreie. Ich fiel zwischen den Schreien hindurchin mein Bett. Mit pochendem Herzen lag ich da und versuchte in die Wirklichkeitzurückzufinden. Noch immer hörte ich die Schreie. Es war eine Katze imHinterhof. Ich lauschte, gebannt zunächst, dann erleichtert, als die Schreiesich entfernten. Die Digitalanzeige des Radioweckers sprang auf 4 Uhr 49. MeinMagen schmerzte, mein Kopf fühlte sich schwer an. Ich konnte nicht aufhören zudenken, und alle meine Gedanken waren dunkel und traurig. Um halb sechs lag ich noch immer wach. Wiederund wieder versuchte ich aufzustehen und schaffte es nicht. Ich tauchte ineiner zähen Masse, die in mir ausgegossen war. Im Haus gegenüber begann einBaby zu weinen. Ich schaute an die Decke, auf das schwarzgraue Spinnennetz, dasdort im Luftzug schaukelte. Das Spinnennetz gefiel mir, es sah so zart undgeduldig gewoben aus. Ich überlegte, ob ich mir einen Becher Nescafé kochen undmich richtig wecken sollte, doch ich blieb liegen. Je länger ich lag, destosinnloser erschien es mir, diesen Tag zu beginnen, ihn herumzubringen, ihnirgendwie durchzustehen. Wozu mir die Zähne putzen, mich anziehen, mein Lebenleben. Reglos lag ich da. Hier, im Morgengrauen, spann es mich ein, kalt undatemberaubend, das Dunkel, das ich seit Tagen so deutlich gespürt und gegen dasich mich zu guter Letzt mit Pizza und Milchreis zur Wehr gesetzt hatte. Schweiß sammelte sich in meiner Kehlgrube undin meinem Bauchnabel. Das Laken umschlang meine Beine wie ein feuchter Wickel.Das Dunkel wuchs. Und wie immer, wenn es wuchs, war es hungrig. In mir war das Schlaraffenland,dorthin wollte es, wollte sich in meinen Magen bohren, meine Lungeverschlingen, mir das Herz wegfressen, es wollte mich leeren und das leereGefäß, in das ich mich verwandeln würde, mit sich selbst füllen, klebrig undgrau, sehr weich, sehr endgültig. Mitder Zeit hatte ich eine gewisse Fertigkeit in der Kunst entwickelt, dem Dunkelauszuweichen, es nicht anzusehen, so dass es zurücksank in seinen kalten,schweren Schlaf. Ich konnte arbeiten, studieren, Freunde treffen. Ich konntemich verlieben, konnte mich in Schokolade stürzen, zu Hollywood-Schnulzenweinen, auf Partys gehen, mir noch ein Referat aufhalsen und noch eins und nocheins und eine Zeit lang glauben, begeistert und voller Zuversicht zu leben. Jetzt lag ich festgeklebt in meinem Bett. Ich durfte nicht liegen bleiben. Warten warGift. Ich musste diesen Tag beginnen, ihn in Angriff nehmen, das wusste ich.Von dem Moment an, da ich mich bewegte, würde es leichter werden. Den Taghinter mich bringen, es wäre nicht das erste Mal. Wie gern wollte ich glauben, dass es nur um das Aufstehen ging.Dass es von diesem Punkt an erträglicher würde. Ich schlüpfte in meinen Morgenmantel, tappte in die Küche undschaltete den Wasserkocher ein. Drei Löffel Nescafé. Auf der Suche nach der Zuckerdoseentdeckte ich zwischen einem Stapel Krimis und dem Olivenöl Merets letztePostkarte. Lange betrachtete ich die grauweiß gebänderten Kieselsteine,zwischen denen sich ein einzelner Klatschmohn hervorschob, der Stängel fast zuzart für den feurigroten Blütenschirm. Die Feuermohnkarte war vor vier Wocheneingetroffen. Seither kein Wort mehr von Meret. In diesem Moment, an diesemMorgen kam mir zum ersten Mal in den Sinn, dass etwas passiert sein könnte. Ich sollte ihr noch einmal schreiben, dachteich. Doch Schreiben schien sinnlos, schon allein deshalb, weil sie nichtantwortete. Ich könnte fahren, dachteich. Nach Mühlenstedt. Ich könnte meine Freundin suchen. Ein paar Sekunden stand ich da, die Karte inder Hand; eine Stunde später warf ich meine Reisetasche in den Kofferraum undstieg in meinen Polo. Unter einem Wust von Papiertaschentüchern,Schokoladenpapier und Plastiktüten kramte ich einen Autoatlas hervor, der nurnoch von einem Streifen Paketband zusammengehalten wurde. Ich schaltete das Radioein. »Hotel California«. Ich war auf dem Weg. Wie Meret vier Monate zuvor. An einem Tag im Frühling war sie losgefahren,ins Blaue, nach Irgendwo. Meret, die ihren Roman woanders schreiben wollte.Nicht in Hamburg. Keine Horrorheftchen mehr. Einen richtigen Roman. Eine Wochespäter war der erste Brief eingetroffen. Esther! Das glaubst du nicht! So was von idyllisch! Zu idyllisch,könnte man sagen, aber im Moment genieße ich das nur. Meret hatte das Ziel ihrer Reise erreicht.Ein Städtchen mit knapp fünftausend Einwohnern, einem Kino, einer Bibliothek,Sonnenuntergängen in Technicolor und dem Namen Mühlenstedt. Die Pension Moormann muss ein Trick sein.Stell dir vor: ein Zimmer zum Verlaufen, tolles Essen und das für fünfzehn Markam Tag. Zum Lachen. Übrigens, ich habe wirklich zu schreiben begonnen. Dieses Mühlenstedtist der richtige Ort. Ich glaube, das wird gut. Ich werde noch eine Weilebleiben. Fröhlich hatte dieser ersteBrief geklungen. Ich hatte heißes Wasser über meinen Nescafé gegossen, Papierund Kugelschreiber hervorgeholt und mir viel Zeit genommen, Meret zu antworten.Ich vermisste meine Freundin. Und zugleich freute ich mich für sie. Mehrere Wochen vergingen. Sieben Briefe.Acht. Ich fragte mich, wann Meret neben den vielen Briefen Zeit fand, ihrenRoman zu schreiben. Vielleicht war sie in eine Art Schaffensrausch geraten. Noch einige Wochen später. Inzwischen trafendie Briefe seltener ein. Immer seltener. Aus Gewohnheit schickte ich auchweiterhin Post nach Mühlenstedt. Die Antworten meiner Freundin schrumpften.Eilig hingekritzelte Sätze, die kaum noch eine Karte füllten. Mühlenstedt wurdenicht mehr erwähnt. Jetzt ging es um den Roman. Offenbar gab es Probleme. Die erstenKapitel hatte sie verworfen. Die anfängliche Euphorie war verschwunden.
© Goldmann Verlag
Autoren-Porträt von Charlotte Richter-Peill
Charlotte Richter-Peill, 1969 in Nürnberg geboren, lebt inHamburg, wo sie als freie Schriftstellerin arbeitet. Sie ist Mitglied desdortigen »Forums junger Autorinnen und Autoren«. Bisher hat sie vor allem inZeitschriften und Anthologien veröffentlicht; viele ihrer Texte wurden für denHörfunk vertont. 2001 erhielt sie den Förderpreis für Literatur der StadtHamburg und 2004 ein Aufenthaltsstipendium für Autoren im Künstlerhaus KlosterCismar. »Das letzte Zimmer« ist Charlotte Richter-Peills erster Roman. WeitereTitel der Autorin sind bei Goldmann in Vorbereitung.
- Autor: Charlotte Richter-Peill
- 2004, 253 Seiten, Maße: 11,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442457610
- ISBN-13: 9783442457618
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