Das Meer wird geschlossen
Vier Erzählungen aus dem heutigen Israel um Liebe, Leidenschaft und dem Traum vom großen Glück.
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Produktinformationen zu „Das Meer wird geschlossen “
Vier Erzählungen aus dem heutigen Israel um Liebe, Leidenschaft und dem Traum vom großen Glück.
Klappentext zu „Das Meer wird geschlossen “
Ilana, eine unscheinbare und etwas unbeholfene junge Lehrerin, träumt vom großen Glück. Doch der Traum von einer glücklichen Zukunft zerplatzt wie eine Seifenblase, als ihr Liebhaber und ehemaliger Professor Schmuel mitsamt Familie für ein Forschungsjahr nach England verschwindet. Ilana beschließt, die Freundschaft zu Tami, der glamourösen und schönen Gefährtin ihrer Jugendtage, wieder aufleben zu lassen. Ilana meldet sich krank und fährt an einem glühend heißen Tag mit dem Bus von Haifa nach Tel Aviv. Doch der Ausflug wird zu einem Fiasko: Die Hitze wird immer unerträglicher, das viel zu teure und elegante Kleid, das sie sich in einer schicken Boutique aufschwatzen lässt, wird sie niemals tragen, vor dem Haus ihrer Freundin wartet sie mehr als zwei Stunden lang, um dann, als Tami endlich auftaucht, festzustellen, dass diese ihre Verabredung vergessen hat und sie einfach nur möglichst schnell loswerden will. Enttäuscht fährt Ilana zurück, das Kleid, die sinnlose Trophäe der Reise,zer schneidet sie in tausend Streifen. So wie die Heldin der Titelgeschichte sind auch die Hauptfiguren der drei weiteren Erzählungen in "Das Meer wird geschlossen" Träumer, Menschen mit nur allzu menschlichen Schwächen, die der Illusion vom Glück nachjagen. Enttäuschte Hoffnungen und unerfüllte Träume sind das Thema, das Judith Katzir in ihren Erzählungen in verschiedenen Varianten durchspielt. Melancholie durchweht die Geschichten, und doch besitzen Katzirs Figuren eine große innere Lebendigkeit, eine fast naive Fähigkeit, sich zu freuen, zu hoffen, zu träumen und zu lieben. Genauigkeit gepaart mit psychologischem Feingefühl zeichnen die Geschichten aus. Lakonisch und mit einer sinnlichen, plastischen Sprache erzählt Judith Katzir von den persönlichen kleinen Tragödien. Zugleich haben ihre Erzählungen doch immer einen Bezug zur Geschichte und zur politischen Situation ihrer Heimat und vermitteln ein genaues Bild vom Lebensgefühl der jüngeren Generation im heutigen Israel.
Lese-Probe zu „Das Meer wird geschlossen “
SchlafstundeEinst, als die großen Ferien den ganzen Sommer lang dauerten, den Geschmack von Sand und den Geruch von Weintrauben hatten und eine rotgoldene Sonne die Gesichter mit Sommersprossen zeichnete, als nach dem Laubhüttenfest ilder Wind durch die Wolkenhaufen pfiff und wir im Gewitter durch das Wadi nach Hause galoppierten, der Regen Minze und Kiefer auf der Zunge prickeln ließ und die Hunde in der Nachbarschaft um die Wette bellten wie hustende alte Onkel in der Pause eines Winterkonzerts, da fiel plötzlich der Frühling ein mit Katzengeschrei und Zitronenblüte, kam der Chamsin wieder, und die Luft stand im Autobus, wir aber standen nur für Frau Bella Blum von der Post auf, die eine gefährliche Kindsräuberin war und in der Nacht, mit dem wilden grauen Haar einer gefährlichen Kindsräuberin und einer schmalen Brille auf der Nase, angespitzt wie der rote Bleistift einer gefährlichen Kindsräuberin, zu uns ans Bett kam und vertrocknete Eisesfinger nach uns ausstreckte und vor der wir uns nur irgendwie retten konnten, wenn wir ihr alle dreieckigen Briefmarken gaben oder wenn wir zu Gott beteten, der sich als Clown im ungarischen Zirkus verkleidet hatte und im Balanceakt auf einem Seil wippte, das sich unter der blauen Tuchbahn des Zeltes spannte, mit riesigen Schuhen und weiten, rotweiß karierten Hosen, sich danach als Elefant verkleidete, uns sein faltiges Hinterteil zudrehte und zum Abendessen ging.
Einst, als die Welt ganz golden schien durch die kühl glänzende Vase auf dem Wohnzimmerbüffet, die möglicherweise mitsamt den restlichen Möbeln in dem Augenblick verschwand, in dem wir aus dem Zimmer gingen, und wir durchs Schlüsselloch spähten, um zu überprüfen, ob sie noch da waren, sie jedoch vielleicht merkten, daß wir hineinspähten, und ganz schnell zurückkamen, da verbarg sich in der Garage unter dem Supermarkt eine schreckliche Verbrecherbande, die nur Emil und du entlarven konnten, denn es war klar, du würdest ein wichtiger Detektiv werden, über den man
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Bücher schriebe, und ich deine rechte Hand, und wir machten Experimente mit Geheimtinte aus Zwiebeln und erwärmten den Zettel über einer Kerze, damit die Schrift aufschien, und dann übten wir uns im Verschlucken, damit er nicht in Feindeshand fiele, und trainierten noch andere Dinge wie Selbstverteidigung und Geheimnisse bewahren, sogar unter Folter, wenn man ans Bett gefesselt war und einem brennende Streichhölzer an die Zehen gehalten wurden, und wir mischten Gifte aus Erde und Blättern und zerquetschten Schnecken und bewahrten sie in Joghurtgläsern auf, auf die wir Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen malten und die wir zusammen mit all unseren anderen Schätzen versteckten.
Als die großen Ferien den ganzen Sommer lang dauerten und die Welt ganz golden und alles möglich war und alles geschehen konnte, als Onkel Alfred noch am Leben war und zum Nachmittagstee kam, als Großvater und Großmutter zwischen zwei und vier schlafen gingen und uns endlose Zeit ließen, da stahlen wir uns die knarzenden Holztreppen hinterm Haus zu unserem Kämmerchen unterm Dach hinauf, das das Hauptquartier war, standen am Fenster, von dem aus das ganze Meer jenseits des Friedhofs zu sehen war, und du hast mich mit den Fingerspitzen im Gesicht berührt und gesagt, daß du mich liebst.Nun sind wir hier versammelt, wie traurige Verwandte beim Abschied am Flughafen, neben der schwarzen Anzeigetafel am Eingang, auf der mit weißer Kreide geschrieben steht, zwei null null, Aharon Grün, Begräbnis, und ich betrachte die Frau, die auf der Steinbank neben dir sitzt, ein violetter Strohhut beschattet ihre Augen und läßt ihren Mund zur Traube reifen, und die Sonne poliert zwei Lichtklingen entlang ihrer gebräunten Waden, und dann trete ich auf euch zu, nehme die Sonnenbrille ab und sage ruhig, Schalom, und du stehst auf und sagst hastig, darf ich vorstellen, meine Frau. Meine Cousine. Und ich registriere das Aufblitzen des Rings und die weißen Zähne zwischen den Schatten, berühre die weiche Hand mit den überlangen Fingern und sage noch einmal, Schalom. Und da sind schon die Totengräber, wie emsige Engel in ihren weißen Hemdsärmeln, mit ihren bärtigen, verschwitzten Gesichtern, tragen auf einer Bahre unter dem dunklen, staubigen Tuch den eingeschrumpften Körper, der Kopf berührt beinah das fette schwarze Hinterteil des ersten Engels, die Füße baumeln vor dem offenen Hosenschlitz des zweiten, und ein eisiger Hauch durchfährt mich, wie damals, und ich suche die Erinnerung in deinem Blick, aber du schlägst die Augen nieder, zu ihr, ergreifst ihren Arm und hilfst ihr aufzustehen, und mein spionierender Blick erstarrt auf ihrem gerundeten Bauch unter dem geblümten Kleid und sieht in ihrem Inneren all deine Kinder, die du im Wäldchen hinterm Haus vergraben hast, in den großen Ferien zwischen der siebten und der achten Klasse, als Großvater, wie jedes Jahr, am ersten Morgen kam, um mich mit seinem alten schwarzen Automobil zu Hause abzuholen, zusammen mit Mischa, dem Bürochauffeur, der sich mir zu Ehren mit einer weißen Schirmmütze und einem riesengroßen Lächeln mit Goldzahn ausstaffiert hatte. Mischa legte meinen roten Koffer in den Kofferraum und öffnete mir die hintere Wagentür, salutierte augenzwinkernd, und wir fuhren los, um dich vom Bahnhof beim Hafen abzuholen. Unterwegs steckte ich meinen Kopf zwischen Großvater und Mischa nach vorne und bat ihn, mir wieder die Geschichte zu erzählen, wie er vor dem König von Jugoslawien gespielt hatte, und Mischa seufzte und sagte, das ist lange her, aber ich erinnere mich daran, als wär's gestern gewesen. Ich war ein kleiner Junge damals, vielleicht neun oder zehn, doch ich war der beste Trompetenspieler der ganzen Schule, und eines Tages brachten sie mir einen blauen Anzug mit Goldknöpfen und Krawatte, knielange Strümpfe und eine Schirmmütze und sagten, zieh das an, und sie stellten mich neben die Fahne und sagten, spiel, und ich spielte ganz wunderschön und laut, und dann kam König Pavel, und die Fahne stieg hoch bis zur Spitze des Mastes, die Trompete funkelte nur so in der Sonne, genau wie die Goldknöpfe, wer hätte das je geglaubt, Herzchen, so ein kleiner Judenbub spielt Trompete vor dem König, und er kam zu mir, strich mir über den Kopf und fragte, wie heißt du, und ich sagte zu ihm, Mischa, und meine Mutter stand da und weinte so sehr, daß man sie stützen mußte, und mein Vater antwortete ihr, jetzt bin ich froh, daß wir ihn haben, denn am Anfang wollte er mich gar nicht, sie waren nur zur Erholung nach Österreich gefahren, und als sie zurückkamen, sagte meine Mutter, ich bin schwanger, und mein Vater antwortete ihr, fünf sind genug, laß es abtreiben, aber meine Mutter war sehr dickköpfig, wie die Mutter von Albert Einstein, auch ihn wollte sein Vater nicht, und später war er schrecklich schlecht in der Schule, und die Lehrer bestellten seinen Vater zu sich, und der Vater sagte zu ihm, Albert, du bist jetzt schon siebzehn, kein Kind mehr, was soll nur aus dir werden, aber mit sechsundzwanzig traf er Lenin und Churchill und erklärte ihnen die Relativitätstheorie, es gab eine Menge Diskussionen, und er wurde in der ganzen Welt berühmt, wenn ich also was von Abtreibungen höre, sage ich, wer weiß, was aus diesem Kind hätte werden können, wozu einen Menschen töten. Mischa seufzte wieder und zündete sich eine Zigarette an. Von weitem konnte man schon die große Uhr über dem Bahnhof sehen. Um fünf vor neun kamen wir an. Großvater und ich gingen auf den Bahnsteig, Mischa wartete im Auto. Zwei Gepäckträger mit grauen Dienstmützen lehnten an ihren rostigen Karren, warfen sich hin und wieder mit halb geschlossenen Augen einen Blick zu und rauchten stinkende Zigaretten aus gelben Packungen mit schwarzen Pferden darauf. Vor lauter Aufregung mußte ich und tanzte von einem Bein aufs andere. Punkt neun Uhr erklang der lange, fröhliche Pfiff der Lokomotive, die fünf ratternde Waggons zog. Die Gepäckträger wachten auf, traten mit riesigen Schuhen ihre Zigaretten aus und begannen den Bahnsteig auf und ab zu rennen und zu schreien, Koffer, Koffer. Angstvoll suchte ich zwischen den Hunderten von Gesichtern, die sich auf erschreckende Weise gegen die Fensterscheiben preßten, nach deinem Gesicht. Und dann öffneten sich zischend die Türen, und du stiegst aus, als erster, in kurzen Jeans, wie sie alle Kinder anhatten, einem grünen Hemd mit Emblemen auf den Taschen, wie sie nur wenige hatten, und mit einer karierten Detektivmütze, die sie dir einmal aus England mitgebracht hatten und die kein einziges anderes Kind hatte, und so bist du dagestanden, neben dem schwarzen Koffer deines Vaters, hast dich umgesehen, die Augen zu zwei grünen Schlitzen unter den wilden blonden Locken zusammengekniffen, und ich spürte wieder diesen Schmerz zwischen Hals und Bauch, der meinen Atem jedesmal umklammerte, wenn ich dich sah oder auch nur an dich dachte, und ich schrie, hier Uli, hier Uli, und rannte auf dich zu, und dann hast du mich gesehen und gelächelt, und wir umarmten uns ganz fest, und Großvater kam auch, klopfte dir auf die Schulter und sagte, wie groß du geworden bist, Saul, und er nahm dir deinen Koffer nicht ab, denn du warst schon dreizehneinhalb und stärker als er, du legtest ihn selbst in den Kofferraum neben meinen roten. Und Mischa fuhr uns in die Herzlstraße zu Großvaters Büro, dessen Wände mit großen glänzenden Bildern, mit viel Blau, von den schönsten Plätzen Israels bedeckt waren, vom See Genezareth und vom Toten Meer, von Rosch Hanikra und Eilat, wo es Erholungsheime gab, und der Staat bezahlte Großvater dafür, die Überlebenden des Holocaust hinzuschicken, und ich malte mir immer aus, wie sie mit dem Zug dort ankommen, mit komischen Mänteln und Hüten, darunter die traurigen gelben Gesichter wie auf den Bildern, die man uns am Holocaust- und Heldengedenktag in der Klasse zeigte, und wie sie sich dort mit all ihren mit Stricken zusammengebundenen Koffern in einer langen Schlange aufstellen, und jeder tritt der Reihe nach vor, legt Hut und Mantel ab und erhält statt dessen bunte Badebekleidung und ein orangefarbenes Idiotenkäppi, und sie sitzen in Liegestühlen in der Sonne und baden im Meer, essen viel und genesen, und nach einer Woche sind sie dick und braun und lächeln wie die Leute auf den Werbeplakaten, und dann werden sie heimgeschickt, weil neue Überlebende mit dem Zug angekommen sind und schon in der Schlange warten. Bis wir einmal, es war ein Sabbat, mit den Großeltern und Mischa eines dieser Erholungsheime besuchten, das sich Rosch-Hanikra-Erholungsdorf nannte, und am Eingang gab es gar keine Schlange von Überlebenden, man konnte nicht einmal sagen, wer ein Holocaust-Überlebender und wer einfach nur so da war, denn sie hatten alle fette Hängebäuche, und niemand sah besonders traurig aus, alle schwammen im Swimmingpool herum, verdrückten Sandwiches und Frucht-Quelle, redeten laut und spielten Bingo. Und da erfanden wir eine Methode, um herauszufinden, wer wirklich ein Überlebender war, aber mir fehlte der Mut, ich schaute bloß von weitem zu, wie du zwischen den Liegestühlen auf dem Rasen neben dem Swimmingpool umhergingst und jedem ins Ohr flüstertest, Hitler, und ich sah, daß die meisten Leute gar nichts machten, nur die Augen mit einem merkwürdigen Blick aufschlugen, als wären sie aus irgendeinem Traum erwacht und könnten sich nicht gleich erinnern, wo sie waren, sie dann gleich wieder schlossen und weiterschliefen, und nur ein großer fetter Mann mit vielen schwarzen Haaren auf Brust und Rücken wie ein riesiger Gorilla stand auf und verfolgte dich über den ganzen Rasen, schnaufend und keuchend wie eine Dampflokomotive, die Augen rot und riesig wie Scheinwerfer, und am Ende erwischte er dich, gab dir eine Ohrfeige, beutelte dich heftig an den Schultern und bellte, Pazkuzwe choleyra, Pazkuzwe choleyra, und du kamst mit roten Ohren zu mir zurück, aber du hast nicht geweint, du hast gesagt, es tut überhaupt nicht weh, aber seit damals stellte ich mir jedesmal, wenn Hitler erwähnt wurde, in der Schule oder im Fernsehen, statt des echten Hitler mit dem kleinen Schnurrbart und dem Seitenscheitel den Gorilla aus dem Erholungsheim vor.
Als die großen Ferien den ganzen Sommer lang dauerten und die Welt ganz golden und alles möglich war und alles geschehen konnte, als Onkel Alfred noch am Leben war und zum Nachmittagstee kam, als Großvater und Großmutter zwischen zwei und vier schlafen gingen und uns endlose Zeit ließen, da stahlen wir uns die knarzenden Holztreppen hinterm Haus zu unserem Kämmerchen unterm Dach hinauf, das das Hauptquartier war, standen am Fenster, von dem aus das ganze Meer jenseits des Friedhofs zu sehen war, und du hast mich mit den Fingerspitzen im Gesicht berührt und gesagt, daß du mich liebst.Nun sind wir hier versammelt, wie traurige Verwandte beim Abschied am Flughafen, neben der schwarzen Anzeigetafel am Eingang, auf der mit weißer Kreide geschrieben steht, zwei null null, Aharon Grün, Begräbnis, und ich betrachte die Frau, die auf der Steinbank neben dir sitzt, ein violetter Strohhut beschattet ihre Augen und läßt ihren Mund zur Traube reifen, und die Sonne poliert zwei Lichtklingen entlang ihrer gebräunten Waden, und dann trete ich auf euch zu, nehme die Sonnenbrille ab und sage ruhig, Schalom, und du stehst auf und sagst hastig, darf ich vorstellen, meine Frau. Meine Cousine. Und ich registriere das Aufblitzen des Rings und die weißen Zähne zwischen den Schatten, berühre die weiche Hand mit den überlangen Fingern und sage noch einmal, Schalom. Und da sind schon die Totengräber, wie emsige Engel in ihren weißen Hemdsärmeln, mit ihren bärtigen, verschwitzten Gesichtern, tragen auf einer Bahre unter dem dunklen, staubigen Tuch den eingeschrumpften Körper, der Kopf berührt beinah das fette schwarze Hinterteil des ersten Engels, die Füße baumeln vor dem offenen Hosenschlitz des zweiten, und ein eisiger Hauch durchfährt mich, wie damals, und ich suche die Erinnerung in deinem Blick, aber du schlägst die Augen nieder, zu ihr, ergreifst ihren Arm und hilfst ihr aufzustehen, und mein spionierender Blick erstarrt auf ihrem gerundeten Bauch unter dem geblümten Kleid und sieht in ihrem Inneren all deine Kinder, die du im Wäldchen hinterm Haus vergraben hast, in den großen Ferien zwischen der siebten und der achten Klasse, als Großvater, wie jedes Jahr, am ersten Morgen kam, um mich mit seinem alten schwarzen Automobil zu Hause abzuholen, zusammen mit Mischa, dem Bürochauffeur, der sich mir zu Ehren mit einer weißen Schirmmütze und einem riesengroßen Lächeln mit Goldzahn ausstaffiert hatte. Mischa legte meinen roten Koffer in den Kofferraum und öffnete mir die hintere Wagentür, salutierte augenzwinkernd, und wir fuhren los, um dich vom Bahnhof beim Hafen abzuholen. Unterwegs steckte ich meinen Kopf zwischen Großvater und Mischa nach vorne und bat ihn, mir wieder die Geschichte zu erzählen, wie er vor dem König von Jugoslawien gespielt hatte, und Mischa seufzte und sagte, das ist lange her, aber ich erinnere mich daran, als wär's gestern gewesen. Ich war ein kleiner Junge damals, vielleicht neun oder zehn, doch ich war der beste Trompetenspieler der ganzen Schule, und eines Tages brachten sie mir einen blauen Anzug mit Goldknöpfen und Krawatte, knielange Strümpfe und eine Schirmmütze und sagten, zieh das an, und sie stellten mich neben die Fahne und sagten, spiel, und ich spielte ganz wunderschön und laut, und dann kam König Pavel, und die Fahne stieg hoch bis zur Spitze des Mastes, die Trompete funkelte nur so in der Sonne, genau wie die Goldknöpfe, wer hätte das je geglaubt, Herzchen, so ein kleiner Judenbub spielt Trompete vor dem König, und er kam zu mir, strich mir über den Kopf und fragte, wie heißt du, und ich sagte zu ihm, Mischa, und meine Mutter stand da und weinte so sehr, daß man sie stützen mußte, und mein Vater antwortete ihr, jetzt bin ich froh, daß wir ihn haben, denn am Anfang wollte er mich gar nicht, sie waren nur zur Erholung nach Österreich gefahren, und als sie zurückkamen, sagte meine Mutter, ich bin schwanger, und mein Vater antwortete ihr, fünf sind genug, laß es abtreiben, aber meine Mutter war sehr dickköpfig, wie die Mutter von Albert Einstein, auch ihn wollte sein Vater nicht, und später war er schrecklich schlecht in der Schule, und die Lehrer bestellten seinen Vater zu sich, und der Vater sagte zu ihm, Albert, du bist jetzt schon siebzehn, kein Kind mehr, was soll nur aus dir werden, aber mit sechsundzwanzig traf er Lenin und Churchill und erklärte ihnen die Relativitätstheorie, es gab eine Menge Diskussionen, und er wurde in der ganzen Welt berühmt, wenn ich also was von Abtreibungen höre, sage ich, wer weiß, was aus diesem Kind hätte werden können, wozu einen Menschen töten. Mischa seufzte wieder und zündete sich eine Zigarette an. Von weitem konnte man schon die große Uhr über dem Bahnhof sehen. Um fünf vor neun kamen wir an. Großvater und ich gingen auf den Bahnsteig, Mischa wartete im Auto. Zwei Gepäckträger mit grauen Dienstmützen lehnten an ihren rostigen Karren, warfen sich hin und wieder mit halb geschlossenen Augen einen Blick zu und rauchten stinkende Zigaretten aus gelben Packungen mit schwarzen Pferden darauf. Vor lauter Aufregung mußte ich und tanzte von einem Bein aufs andere. Punkt neun Uhr erklang der lange, fröhliche Pfiff der Lokomotive, die fünf ratternde Waggons zog. Die Gepäckträger wachten auf, traten mit riesigen Schuhen ihre Zigaretten aus und begannen den Bahnsteig auf und ab zu rennen und zu schreien, Koffer, Koffer. Angstvoll suchte ich zwischen den Hunderten von Gesichtern, die sich auf erschreckende Weise gegen die Fensterscheiben preßten, nach deinem Gesicht. Und dann öffneten sich zischend die Türen, und du stiegst aus, als erster, in kurzen Jeans, wie sie alle Kinder anhatten, einem grünen Hemd mit Emblemen auf den Taschen, wie sie nur wenige hatten, und mit einer karierten Detektivmütze, die sie dir einmal aus England mitgebracht hatten und die kein einziges anderes Kind hatte, und so bist du dagestanden, neben dem schwarzen Koffer deines Vaters, hast dich umgesehen, die Augen zu zwei grünen Schlitzen unter den wilden blonden Locken zusammengekniffen, und ich spürte wieder diesen Schmerz zwischen Hals und Bauch, der meinen Atem jedesmal umklammerte, wenn ich dich sah oder auch nur an dich dachte, und ich schrie, hier Uli, hier Uli, und rannte auf dich zu, und dann hast du mich gesehen und gelächelt, und wir umarmten uns ganz fest, und Großvater kam auch, klopfte dir auf die Schulter und sagte, wie groß du geworden bist, Saul, und er nahm dir deinen Koffer nicht ab, denn du warst schon dreizehneinhalb und stärker als er, du legtest ihn selbst in den Kofferraum neben meinen roten. Und Mischa fuhr uns in die Herzlstraße zu Großvaters Büro, dessen Wände mit großen glänzenden Bildern, mit viel Blau, von den schönsten Plätzen Israels bedeckt waren, vom See Genezareth und vom Toten Meer, von Rosch Hanikra und Eilat, wo es Erholungsheime gab, und der Staat bezahlte Großvater dafür, die Überlebenden des Holocaust hinzuschicken, und ich malte mir immer aus, wie sie mit dem Zug dort ankommen, mit komischen Mänteln und Hüten, darunter die traurigen gelben Gesichter wie auf den Bildern, die man uns am Holocaust- und Heldengedenktag in der Klasse zeigte, und wie sie sich dort mit all ihren mit Stricken zusammengebundenen Koffern in einer langen Schlange aufstellen, und jeder tritt der Reihe nach vor, legt Hut und Mantel ab und erhält statt dessen bunte Badebekleidung und ein orangefarbenes Idiotenkäppi, und sie sitzen in Liegestühlen in der Sonne und baden im Meer, essen viel und genesen, und nach einer Woche sind sie dick und braun und lächeln wie die Leute auf den Werbeplakaten, und dann werden sie heimgeschickt, weil neue Überlebende mit dem Zug angekommen sind und schon in der Schlange warten. Bis wir einmal, es war ein Sabbat, mit den Großeltern und Mischa eines dieser Erholungsheime besuchten, das sich Rosch-Hanikra-Erholungsdorf nannte, und am Eingang gab es gar keine Schlange von Überlebenden, man konnte nicht einmal sagen, wer ein Holocaust-Überlebender und wer einfach nur so da war, denn sie hatten alle fette Hängebäuche, und niemand sah besonders traurig aus, alle schwammen im Swimmingpool herum, verdrückten Sandwiches und Frucht-Quelle, redeten laut und spielten Bingo. Und da erfanden wir eine Methode, um herauszufinden, wer wirklich ein Überlebender war, aber mir fehlte der Mut, ich schaute bloß von weitem zu, wie du zwischen den Liegestühlen auf dem Rasen neben dem Swimmingpool umhergingst und jedem ins Ohr flüstertest, Hitler, und ich sah, daß die meisten Leute gar nichts machten, nur die Augen mit einem merkwürdigen Blick aufschlugen, als wären sie aus irgendeinem Traum erwacht und könnten sich nicht gleich erinnern, wo sie waren, sie dann gleich wieder schlossen und weiterschliefen, und nur ein großer fetter Mann mit vielen schwarzen Haaren auf Brust und Rücken wie ein riesiger Gorilla stand auf und verfolgte dich über den ganzen Rasen, schnaufend und keuchend wie eine Dampflokomotive, die Augen rot und riesig wie Scheinwerfer, und am Ende erwischte er dich, gab dir eine Ohrfeige, beutelte dich heftig an den Schultern und bellte, Pazkuzwe choleyra, Pazkuzwe choleyra, und du kamst mit roten Ohren zu mir zurück, aber du hast nicht geweint, du hast gesagt, es tut überhaupt nicht weh, aber seit damals stellte ich mir jedesmal, wenn Hitler erwähnt wurde, in der Schule oder im Fernsehen, statt des echten Hitler mit dem kleinen Schnurrbart und dem Seitenscheitel den Gorilla aus dem Erholungsheim vor.
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Autoren-Porträt von Judith Katzir
Die 1963 in Haifa geborene Judith Katzir gehört zu den großen Entdeckungen unter den israelischen Schriftstellern der jüngeren Generation. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und begeisterten überall Kritiker und Leser. Im Zentrum ihrer Geschichten steht stets das Wissen um die heilsame Kraft des Erinnerns und des Erzählens.
Bibliographische Angaben
- Autor: Judith Katzir
- 2002, 188 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Hebr. v. Barbara Linner
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442727332
- ISBN-13: 9783442727339
Rezension zu „Das Meer wird geschlossen “
"Ein Album der Bilder und Düfte und Farben und Erinnerungen ... Phantastische und phantastisch genaue Geschichten aus einem (fast) normalen Land, einer (fast) normalen Stadt. Ein Buch, unerlässlich als Korrektiv für die neuesten Nachrichten aus dem Nahen Osten." Elmar Krekeler im Focus
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