Das Ministerium für besondere Fälle
Kaddisch Poznan, Jude und Sohn einer Hure, hat es im Leben zu nichts Rechtem gebracht. Sein Sohn Pato verachtet ihn, und seine Frau Lillian verdient in einer Versicherungsagentur das Geld für die Familie. Eines Tages wird Kaddischs Sohn verhaftet, und...
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Produktinformationen zu „Das Ministerium für besondere Fälle “
Kaddisch Poznan, Jude und Sohn einer Hure, hat es im Leben zu nichts Rechtem gebracht. Sein Sohn Pato verachtet ihn, und seine Frau Lillian verdient in einer Versicherungsagentur das Geld für die Familie. Eines Tages wird Kaddischs Sohn verhaftet, und binnen kürzester Zeit verliert sich Patos Spur in der anonymen Apparatur der argentinischen Militärdiktatur. Immer wieder werden Kaddisch und seine Frau im "Ministerium für besondere Fälle" vorstellig, doch niemand fühlt sich zuständig, niemand will ihnen weiterhelfen...
Klappentext zu „Das Ministerium für besondere Fälle “
Auf dem alten jüdischen Friedhof von Buenos Aires, durch eine hohe Mauer vom respektablen Rest getrennt, liegen Zuhälter, Ganoven und Huren begraben. Kaddisch Poznan, selbst Jude und Sohn einer Hure, profitiert von der Scham der Nachkommen, denn gegen ein Handgeld meißelt er nachts die Namen von den Grabsteinen. Sein Sohn Pato verachtet ihn deswegen. Anstatt ihm zu helfen, geht er lieber in Diskos und träumt mit seinen Freunden, den Joint in den Fingern, von der Weltrevolution. Kaddischs Frau Lillian sorgt mit ihrem Job bei einer Versicherungsagentur für den Unterhalt der Familie, obwohl sie sich ihr Leben anders vorgestellt hat. Im Buenos Aires der siebziger Jahre boomt das Versicherungsgewerbe, da zu viel Unwägbares passiert: Die argentinische Militärdiktatur führt einen "Schmutzigen Krieg" gegen die eigene Bevölkerung, in dem Tausende von Unschuldigen spurlos verschwinden. Eines Tages geschieht dann genau das, was Kaddisch und Lillian um jeden Preis verhindern wollten: Pato wird von Männern in grauen Anzügen abgeholt. Und für die beiden beginnt eine lange, immer absurdere Suche nach dem verlorenen Sohn, die stets zu dem rosa Gebäude an der Plaza Mayor führt, dem Ministerium für besondere Fälle...Mit sprühender Phantasie und überbordendem Witz erzählt Nathan Englander die Geschichte einer Familie und zugleich einer Nation. Sein Sinn für das Absurde, seine geniale Balance zwischen Verzweiflung und Hoffnung und sein tiefes Verständnis für den Menschen und seine Schwächen stellen ihn in die Tradition eines I.B. Singer und Philip Roth.
Lese-Probe zu „Das Ministerium für besondere Fälle “
Teil eins1
Die Juden bestatten sich so, wie sie leben: Noch im Tod hocken sie aufeinander und nehmen sich gegenseitig den Platz weg. Die Grabsteine standen dicht an dicht, die Toten darunter lagen Ellbogen an Ellbogen und Kopf an Fuß. Kaddisch führte Pato auf der Seite des Wohltätigen Ich über buckligen Boden, zwischen schiefen Reihen hindurch. Um das Licht zu dämpfen, hielt er die Hand über das Auge der Taschenlampe. Seine Finger glühten orange, in den Zwischenräumen rot, während er mit der Faust über die Stirnseite eines Steins fuhr.
Die beiden waren auf der Suche nach Hezzi Doppelklinges Grab, und es dauerte nicht lange, bis sie es fanden. Seine Grabstelle stieg steil an. Sein Stein neigte sich nach hinten. Es kam Kaddisch vor, als hätte der alte Knabe versucht, sich in die Freiheit zu wühlen. Außerdem sah es so aus, als hätte Doppelklinges Tochter, hätte sie nur noch einen Winter gewartet, Kaddisch Poznan überhaupt nicht anheuern müssen.
In Marmor, hatte Kaddisch herausgefunden, meißelt man nicht, weil er hart, sondern weil er weich ist. So wie die übrigen Marmorsteine auf dem Friedhof der "Gesellschaft des Wohltätigen Ich" hatte auch Hezzis Grabstein Krater und Risse, und die Buchstaben verblassten zunehmend. Die meisten anderen Steine waren aus Granit gehauen. Wurden sie nicht durch Witterung und Umweltverschmutzung in Mitleidenschaft gezogen, dann von den örtlichen Rowdys. Schon oft hatte Kaddisch Hakenkreuze weggeschrubbt und zerbrochene Steine wieder zusammengefügt.
Er prüfte, wie stabil der Stein auf Doppelklinges Grab war. "Als wenn man gegen einen losen Zahn schlägt", sagte Kaddisch. "Ich weiß gar nicht, warum wir uns überhaupt damit abgeben - dauert nicht mehr lange, dann ist davon nichts mehr übrig."
Doch Kaddisch und Pato wussten ganz genau, warum sie sich damit abgaben. Sie begriffen sehr gut, warum die Familien sich jetzt mit solcher Dringlichkeit an sie wandten. Man schrieb das Jahr 1976 in Argentinien. Unsicherheit und drohendes
... mehr
Chaos bestimmten das Leben. Entführungen und Erpressungen waren in Buenos Aires schon lange an der Tagesordnung. Überall herrschte Terror, ständig wuchs die Zahl der Morde. Niemand wollte auffallen, weder Gojim noch Juden. Und die Juden hatten nahezu ausnahmslos das Gefühl, sich durch ihr Jüdischsein schon mehr als genug von den anderen zu unterscheiden.
Kaddischs Kunden waren diejenigen, die etwas zu verlieren hatten: der angesehene, erfolgreiche Teil der jüdischen Gemeinschaft, dessen Familien keine so ehrenhafte Vergangenheit vorzuweisen hatten. In ruhigeren Zeiten hatte es gereicht, diese zu ignorieren und zu leugnen. Als der Letzte der Generation des Wohltätigen Ich verstummt war, als alle Grabstellen auf ihrer Seite belegt waren, hatten die Nachkommen dieser unanständigen Sippe eine ihrer Meinung nach anständige Frist verstreichen lassen und den Friedhof für immer dichtgemacht.
Als er das Grab seiner Mutter besuchen wollte und das Tor verschlossen fand, bat Kaddisch die anderen Kinder des Wohltätigen Ich um den Schlüssel. Sie stritten jegliche Verstrickung ab. Sie waren überrascht, von der Existenz des Friedhofs zu erfahren. Und als Kaddisch sie darauf hinwies, dass ihre Eltern dort begraben lägen, erwiesen sie sich als genauso außerstande, sich an die Namen ihrer eigenen Eltern zu erinnern.
So hart diese Haltung auch war, geboren wurde sie aus einer entsetzlichen Scham.
Die Gesellschaft des Wohltätigen Ich war nicht nur in Buenos Aires ein Skandal, zu ihrer Glanzzeit in den zwanziger Jahren war sie für jeden argentinischen Juden eine Schande sondergleichen gewesen. Wer von ihren Verleumdern freute sich nicht, wenn seine Morgenzeitung ein gutes Bild von einem Alphonse in Handschellen brachte, von einem Kaftan-Mitglied bei einer polizeilichen Gegenüberstellung; wer hatte nicht das Gefühl, seine Schmähreden seien gerechtfertigt, wenn er die berühmten jüdischen Zuhälter von Buenos Aires zusammen mit ihren schmolllippigen jüdischen Huren sah. Doch das war 1950, als Kaddisch plötzlich ausgesperrt vor dem Tor stand, längst vorbei. Als jüdisches Geschäft war dieses furchtbare Gewerbe damals schon zwanzig Jahre stillgelegt. Die Gebäude, die der Gesellschaft des Wohltätigen Ich gehörten, waren schon lange verkauft, die Schul der Zuhälter verlassen. Nur ein Teil der Liegenschaft würde nie und nimmer unter mangelnder Nutzung leiden. Unter Baufälligkeit schon. Und auch unter Verwahrlosung. Doch - so die Rätselfrage - was ist das Einzige, was von Menschenhand gebaut und garantiert immerfort benutzt wird? Die Toten benutzen einen Friedhof ewig.
Außerdem war jener Friedhof die einzige von den Zuhältern und Huren von Buenos Aires gegründete Einrichtung, die mit Zustimmung der aufrechten Juden gebaut worden war. Hartherzig, wie jene Juden waren, wenn es um das Wohltätige Ich ging, im Tod konnten sie sich nicht abwenden. Der Vorstand der in den Kinderschuhen steckenden Vereinigten Jüdischen Gemeinden von Argentinien kam zusammen und geriet in eine Sackgasse. Kein Jude sollte, so helfe ihnen Gott, als Goi begraben werden müssen. Andererseits sollten die feinen Juden von Buenos Aires aber auch nicht unter Huren liegen müssen. Sie besprachen ihr Dilemma mit Talmud-Harry, der, als Oberhaupt des Wohltätigen Ich, seinem eigenen Vorstand vorsaß. "Ihr liegt bei ihnen, wenn sie leben", sagte Harry, "wieso solltet ihr euch dann nicht auch zusammenkuscheln, wenn sie tot sind?"
Schließlich einigte man sich. Im hinteren Teil würde eine zur
Friedhofsumfassung passende Mauer errichtet werden, wodurch ein zweiter Friedhof entstand, der im Prinzip zum ersten dazugehörte - technisch, aber nicht halachisch gesehen. Genau auf diese Art und Weise lösen Juden jedes Problem, mit dem sie konfrontiert werden.
Die bestehende Mauer war bescheidene zwei Meter hoch, eine zweckmäßige Barriere zur Abgrenzung eines heiligen Ortes. Die Gründung eines jüdischen Friedhofs in einer von ihren Toten besessenen Stadt hatte ein Maß an Akzeptanz signalisiert, von dem die Vereinigten Gemeinden nur träumen konnten. Seine Gestaltung hatte ihre Unbefangenheit zeigen sollen.
Doch an einem Tag akzeptiert zu werden heißt noch lange nicht, dass man auch noch am nächsten willkommen ist - die Juden von Buenos Aires konnten der Versuchung nicht widerstehen, für dunkle Zeiten vorauszuplanen. Und so war auf jener bescheidenen Mauer noch ein weiterer, zwei Meter hoher schmiedeeiserner Zaun angebracht worden, dessen Stangen oben je eine bourbonische Lilie trugen. Diese vielen Spitzen und Zacken in vier Meter Höhe vermittelten einen abweisenden, unbezwingbaren Eindruck; eine Mauer, deren schierer Anblick einem bereits die Hosen zerriss. Einen Anflug von Größe gestatteten sich die Vereinigten Gemeinden aber doch, und zwar in Form eines überkuppelten Säuleneingangs. Dies war, ehe unter den Juden selbst irgendein Kompromiss gefunden wurde, der Kompromiss, den sie mit der Außenwelt geschlossen hatten.
Die beiden Vorstände standen dabei und sahen zu, wie die neue Mauer errichtet wurde. Der verwestlichte Rabbiner von der Befreier-Schul hatte es abgelehnt zu kommen. Es war der junge Rabbiner aus der alten Heimat, der, nervös auf und ab gehend, darauf achtete, dass bestimmte Normen eingehalten wurden, und entsetzt feststellen musste, dass er plötzlich die Aufsicht führte.
Als der Mörtel getrocknet war, kamen die Vorsitzenden der Vereinigten Gemeinden für die Errichtung des Zaunes zurück. Sie waren überrascht, die Zuhälter auf ihrer Seite versammelt zu finden - ein Anblick, den jene aufrechten Juden gehofft hatten, nie wieder sehen zu müssen. Vor ihnen stand eine Reihe der berühmten Haudegen des Wohltätigen Ich, einschließlich des noch immer robusten Hezzi Doppelklinge, Kokosnuss Burstein und Hayim-Moshe "Einauge" Weiss. Über Talmud-Harry ragte der sehr große, sehr legendäre Schlomo die Stecknadel empor.
"Die Mauer ist allemal hoch genug", sagte Talmud-Harry. "Ein Zaun ist eine unnötige Beleidigung." Die Juden der Vereinigten Gemeinden hingegen hielten ihn nicht für eine Beleidigung; ihrer Meinung nach passte er gut zu den anderen Einzäunungen in der Gegend. Eine Reihe von üblen Drohungen lagen bereits in der Luft. Harry brauchte nichts groß hinzuzufügen. Er zeigte auf die Mauer und sagte nur: "Noch mehr wird hier nicht abgetrennt."
Sie machten lange Gesichter und wandten sich an den Rabbiner, der nichts zu ihrer Unterstützung beizutragen hatte. Eine solide, zwei Meter hohe Mauer war, egal, welche Maßstäbe man anlegte, eine Abtrennung. Sie würde für eine Mehitza oder Sukkah ausreichen und auch, um einen wild gewordenen Ochsen einzusperren. Noch während die Feinheiten erörtert wurden, gab Talmud-Harry grünes Licht. Ein kribbeliger Doppelklinge griff bereits an die Hüfte, und Schlomo die Stecknadel ballte die Finger seiner rechten Hand zu einer keulenähnlichen Faust. Feigenblum, der erste Präsident der Vereinigten Gemeinden und Vater des zweiten, sah es aus dem Augenwinkel. Er hielt dies für einen ausgezeichneten Moment, das Wort des jungen Rabbiners als verbindlich zu erklären, worauf ein schneller Aufbruch erfolgte.
Die Zuhälter wollten genauso wenig zweitklassig sein wie ihre Brüder, die den Bau einer Trennmauer verlangt hatten. Als sie die Fassade ihres Friedhofs errichteten, gaben sie eine - allerdings einen Meter höhere - Nachbildung des großen Kuppeleingangs in Auftrag, der die Trauernden auf der Seite der Vereinigten Gemeinden willkommen hieß.
Nochmals sei Gott gedankt, dass alles geregelt war. So konnte Talmud-Harry in Frieden sterben, und ihm blieb der Anblick seiner eigenen Söhne erspart, wie sie, beides Rechtsanwälte, Kaddisch in den Wohnzimmern ihrer Villen gegenüberstanden und ihre Herkunft leugneten. Das Gleiche geschah bei dem Treffen mit Einauges Tochter und dem Sohn von Henja der Stummen. Alles, was diese Kinder hatten, war nach Art des Wohltätigen Ich erkämpft und bezahlt worden.
Es war Lila Finkel - deren Mutter, Brina die Vagina, wie es hieß, ein helles Köpfchen sowie eine Fotze aus reinem Gold hatte -, die es auf sich nahm, die Dinge für Kaddisch ins rechte Licht zu rücken. "Hol mal tief Luft", sagte sie. Kaddisch tat, wie ihm befohlen. "Riechst du es?", fragte sie. Vielleicht, dachte Kaddisch. "Glück, Poznan, so riecht Glück. Dies ist für uns die Zeit des Wohlstands, und der hat sich bisher noch nie hierherverirrt."
Es war die Glanzzeit Evitas, ihrer befreiten und ihrer hemdlosen Arbeiter. Unter Perón schossen Fabriken aus dem Boden, und Lila entwarf für Kaddisch ein Bild vom damit einhergehenden Aufstieg der Mittelschicht, der auch für die Juden Platz schaffte. Sie bitte ihn lediglich, sich gemeinsam mit ihnen auf die Zukunft zu freuen. Kein Grund, in hässlichen, bald vergessenen Erinnerungen zu verweilen. Kaddisch war nicht überzeugt, und Lilas Geduld begann zu schwinden. "Überleg doch mal", sagte sie und tippte sich einmal kräftig an die Schläfe. "Wer ist besser dran" - noch eine Rätselfrage -, "ein Mensch ohne Zukunft oder ein Mensch ohne Vergangenheit? Deshalb wurde doch die Mauer gebaut. Damit die Juden eines Tages alle beisammen sein können, damit wir auf dem Friedhof der Vereinigten Gemeinden nicht in Trauer, sondern in Freude stehen und alle zusammen beim Anblick dieser Mauer vergessen können, was sich auf der anderen Seite befindet."
Nur dass für Kaddisch Poznan die Zukunft nicht heller aussah als die Vergangenheit. Er hatte Lillian noch nicht kennengelernt und geheiratet; sein Sohn war noch nicht geboren. Da er das Grab seiner Mutter Favorita nicht besuchen konnte, hatte Kaddisch überhaupt niemanden.
"Na und?", sagte Lila. "In der Geschichte eines jeden Volkes gibt es Zeiten, die sollten am besten vergessen werden. Das hier ist unsere, Poznan. Lass sie los."
Unter den Kindern, die die Existenz ihrer Eltern nicht zur Kenntnis nehmen wollten, gab es außer Lila noch jemanden, den Kaddischs Worte kopfscheu gemacht hatten. Als er zum Friedhof zurückging, beseelt von dem Willen hineinzukommen, sah Kaddisch, dass das Tor mit einer zusätzlichen Kette gesichert und schludrig zugeschweißt worden war, und obendrein waren auch noch die Schlüssellöcher beider Schlösser mit Teer verklebt. Er versetzte ihm einen Stoß, der durch die Kuppel hallte und eine Taube herabschießen ließ. Kaddisch dachte daran, was Lila gesagt hatte, und ging zur Seite der Vereinigten Gemeinden herum. Er trat durch deren stets geöffnetes Tor, durchquerte die gepflegte Anlage, und als er sie erreichte und die Hände danach ausstreckte - als er die Hände nach oben streckte und sich auf die Mauer hochzog, zerschrammte sich Kaddisch die Schuhe an den Backsteinen. Wie er dort thronte und den Blick über das Wohltätige Ich schweifen ließ, fragte sich Kaddisch, ob wohl jemals eine Mauer gebaut worden war, die niemand hatte überqueren können. Diese hier stellte keine große Herausforderung dar. Sie sollte schließlich nicht die Lebenden zurückhalten, sondern die Toten trennen.
Als Lösung war dies für Kaddisch und, als sich die Nachricht verbreitete, auch für den Rest der jüdischen Gemeinde auf beiden Seiten der Mauer akzeptabel. Gelegentlich wurde Kaddisch dabei beobachtet, wie er zum Wohltätigen Ich hinüberkletterte oder sich wieder zwischen die Gräber der Vereinigten Gemeinden herunterließ. Niemand räumte öffentlich ein, dass er dorthin ging. Wenn es möglich war, jeden einzelnen der auf jenem Friedhof begrabenen Gauner aus dem Gedächtnis zu streichen, war es nicht schwer, noch einen weiteren Namen zu vergessen. Von da an war es, als gäbe es ihn nicht. Die Juden vergaßen auch Kaddisch Poznan.
Und so blieb es für lange Zeit. So wurde Kaddisch behandelt, als er sich in Lillian verliebte, die seine Liebe, Gott segne sie, sofort erwiderte. Die Juden von Buenos Aires machten in ihrem Vergessen Platz für sie - keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, dass ihre Familie sich der Seite der Vereinigten Gemeinden angeschlossen hatte. (Auch die Eltern sind zu bedauern. Was soll man mit einer Tochter machen, die darauf besteht, einen hijo de puta zu heiraten? Warum musste sich Lillian den einzigen Juden suchen, der stolz darauf war, der Sohn einer Hure zu sein?) So blieb es für die beiden, als zwei Jahre später Evita starb, und auch als fünf Jahre später Perón vertrieben wurde. Nach Patos Geburt wurden Kaddischs Besuche beim Grab seiner Mutter immer häufiger. Seine Mutter war die einzige ununterbrochene Verbindung der Familie mit einer Vergangenheit.
Nicht einmal Kaddischs Name stammte von der Familie; der junge Rabbiner hatte ihn ausgesucht, nicht mehr als ein halbherziger Akt der Freundlichkeit und alles, wozu sich die aufrechten Juden je durchringen konnten. Kränklich, schwächlich und sich ans Leben klammernd, überlebte Kaddisch nur knapp die erste Woche. Seine Mutter - eine gläubige Frau - bat darum, dass der Rabbiner zu Talmud-Harry gerufen wurde, damit er ihn errette. Der Rabbiner weigerte sich, über die Schwelle zu treten. Im Sonnenlicht auf der Cashewnussstraße lugte er in den Vorraum auf den Säugling in Favoritas Armen. Im Nu sprach er sein Urteil. "Sein Name soll Kaddisch sein, damit der Engel des Todes ferngehalten werde. Ein Trick und ein Segen. Dieses Kind soll trauern, statt betrauert zu werden." Da, außer beim körperlichen (und geschäftlichen) Akt, niemand die Vaterstelle einnahm, gab der Rabbiner Kaddisch den Nachnamen, der mit der Legende einhergeht - dass der Nachkomme, den ein Mann mit einer Prostituierten zeugt, ein böses Ende nehmen wird, das wissen wir aus Poznan. Favorita wiederholte den Namen: Kaddisch Poznan. Sie hielt Kaddisch vor sich in die Höhe und drehte ihn einmal ganz herum, als überlegte sie, ob er wohl passen würde. Der Rabbiner lächelte nicht, und er verabschiedete sich auch nicht. Er trat einfach in die Gosse hinaus, mit dem Gefühl, das Richtige für das Kind getan zu haben. Sollte der Name Kaddisch ihn retten. Aus der anderen Sache sollte der Junge, falls er rechtschaffen war, allein herauskommen.
Hätte Kaddisch die Ursprünge seines Namens gekannt, er hätte sich nicht verflucht gefühlt. Er war glücklich mit seiner Familie. Er war überzeugt, seinem Sohn stünde eine leuchtende Zukunft bevor. Und sosehr seine Knie auch knackten, als er jene Mauer erklomm, sosehr er auch sanft und ohne großen Schwung zu landen versuchte, sich selbst hatte er auch noch nicht aufgegeben. Hätte sie ihn in den letzten fünfundzwanzig Jahren zur Kenntnis genommen, hätte Kaddisch Lila Finkel gesagt, dass sie zum Teil recht gehabt hatte. So schwer das Leben auch war, irgendwie war es auch nicht schlecht, mit ein wenig Hoffnung zu leben. Vielleicht war das der Grund, weshalb Kaddisch die anderen Juden genauso wenig brauchte wie sie ihn.
Dies war das Gleichgewicht, das durch die Montoneros und die ERP und nach dem Sturz von Onganía aufrechterhalten wurde. Während jener zwei Jahrzehnte wurde die Gemeinschaft wohlhabend und erlangte einen gewissen Status. Und Kaddisch war überzeugt, dass er, hätte nur einer seiner Pläne funktioniert, von allen am wohlhabendsten geworden wäre.
Als Perón wieder an die Macht kam, verspürten die Juden kein großes Bedürfnis, Bilanz zu ziehen. Und schon gar nicht kam es ihnen in den Sinn, sich Gedanken darüber zu machen, wie Kaddisch Poznan die ganzen Jahre über behandelt worden war. Als während der Feier zu Peróns Rückkehr unter der ihm zujubelnden Menschenmenge ein kleines Massaker angerichtet wurde, ging ein leichtes kollektives Zucken durch die Gemeinschaft. In Once und Villa Crespo gab es einige, die während Peróns kurzer Herrschaft nervös mit den Knien wippten, und nach seinem Tod begannen zwei Brüder in zwei Villen in Palermo, ernsthaft an den Nägeln zu kauen.Perón hatte seinem Land als Nachfolgerin im Rosa Haus eine Tänzerin hinterlassen, der es nicht gelang, den Laden am Laufen zu halten. Während jener Zeit der großen Unsicherheit und tödlichen Gerüchte fürchteten einige der Glücklichen, dass die Neidischen und Böswilligen eventuell einen Blick in die Vergangenheit werfen könnten. Die Zahl der Toten nahm zu, von den Beerdigungen aber wollte man noch nichts wissen. Das Interesse in dieser Zeit richtete sich eher auf das, was ausgegraben wurde. In Buenos Aires wurden damals derart viele Geheimnisse zutage gefördert, dass jeder rein zufällig auf eins stoßen konnte. Da erst räumten die Kinder des Wohltätigen Ich ein, was Kaddisch schon immer gewusst hatte: Die Mauer, die jene beiden Friedhöfe voneinander trennte, war gar nicht so hoch.
Kaddischs Kunden waren diejenigen, die etwas zu verlieren hatten: der angesehene, erfolgreiche Teil der jüdischen Gemeinschaft, dessen Familien keine so ehrenhafte Vergangenheit vorzuweisen hatten. In ruhigeren Zeiten hatte es gereicht, diese zu ignorieren und zu leugnen. Als der Letzte der Generation des Wohltätigen Ich verstummt war, als alle Grabstellen auf ihrer Seite belegt waren, hatten die Nachkommen dieser unanständigen Sippe eine ihrer Meinung nach anständige Frist verstreichen lassen und den Friedhof für immer dichtgemacht.
Als er das Grab seiner Mutter besuchen wollte und das Tor verschlossen fand, bat Kaddisch die anderen Kinder des Wohltätigen Ich um den Schlüssel. Sie stritten jegliche Verstrickung ab. Sie waren überrascht, von der Existenz des Friedhofs zu erfahren. Und als Kaddisch sie darauf hinwies, dass ihre Eltern dort begraben lägen, erwiesen sie sich als genauso außerstande, sich an die Namen ihrer eigenen Eltern zu erinnern.
So hart diese Haltung auch war, geboren wurde sie aus einer entsetzlichen Scham.
Die Gesellschaft des Wohltätigen Ich war nicht nur in Buenos Aires ein Skandal, zu ihrer Glanzzeit in den zwanziger Jahren war sie für jeden argentinischen Juden eine Schande sondergleichen gewesen. Wer von ihren Verleumdern freute sich nicht, wenn seine Morgenzeitung ein gutes Bild von einem Alphonse in Handschellen brachte, von einem Kaftan-Mitglied bei einer polizeilichen Gegenüberstellung; wer hatte nicht das Gefühl, seine Schmähreden seien gerechtfertigt, wenn er die berühmten jüdischen Zuhälter von Buenos Aires zusammen mit ihren schmolllippigen jüdischen Huren sah. Doch das war 1950, als Kaddisch plötzlich ausgesperrt vor dem Tor stand, längst vorbei. Als jüdisches Geschäft war dieses furchtbare Gewerbe damals schon zwanzig Jahre stillgelegt. Die Gebäude, die der Gesellschaft des Wohltätigen Ich gehörten, waren schon lange verkauft, die Schul der Zuhälter verlassen. Nur ein Teil der Liegenschaft würde nie und nimmer unter mangelnder Nutzung leiden. Unter Baufälligkeit schon. Und auch unter Verwahrlosung. Doch - so die Rätselfrage - was ist das Einzige, was von Menschenhand gebaut und garantiert immerfort benutzt wird? Die Toten benutzen einen Friedhof ewig.
Außerdem war jener Friedhof die einzige von den Zuhältern und Huren von Buenos Aires gegründete Einrichtung, die mit Zustimmung der aufrechten Juden gebaut worden war. Hartherzig, wie jene Juden waren, wenn es um das Wohltätige Ich ging, im Tod konnten sie sich nicht abwenden. Der Vorstand der in den Kinderschuhen steckenden Vereinigten Jüdischen Gemeinden von Argentinien kam zusammen und geriet in eine Sackgasse. Kein Jude sollte, so helfe ihnen Gott, als Goi begraben werden müssen. Andererseits sollten die feinen Juden von Buenos Aires aber auch nicht unter Huren liegen müssen. Sie besprachen ihr Dilemma mit Talmud-Harry, der, als Oberhaupt des Wohltätigen Ich, seinem eigenen Vorstand vorsaß. "Ihr liegt bei ihnen, wenn sie leben", sagte Harry, "wieso solltet ihr euch dann nicht auch zusammenkuscheln, wenn sie tot sind?"
Schließlich einigte man sich. Im hinteren Teil würde eine zur
Friedhofsumfassung passende Mauer errichtet werden, wodurch ein zweiter Friedhof entstand, der im Prinzip zum ersten dazugehörte - technisch, aber nicht halachisch gesehen. Genau auf diese Art und Weise lösen Juden jedes Problem, mit dem sie konfrontiert werden.
Die bestehende Mauer war bescheidene zwei Meter hoch, eine zweckmäßige Barriere zur Abgrenzung eines heiligen Ortes. Die Gründung eines jüdischen Friedhofs in einer von ihren Toten besessenen Stadt hatte ein Maß an Akzeptanz signalisiert, von dem die Vereinigten Gemeinden nur träumen konnten. Seine Gestaltung hatte ihre Unbefangenheit zeigen sollen.
Doch an einem Tag akzeptiert zu werden heißt noch lange nicht, dass man auch noch am nächsten willkommen ist - die Juden von Buenos Aires konnten der Versuchung nicht widerstehen, für dunkle Zeiten vorauszuplanen. Und so war auf jener bescheidenen Mauer noch ein weiterer, zwei Meter hoher schmiedeeiserner Zaun angebracht worden, dessen Stangen oben je eine bourbonische Lilie trugen. Diese vielen Spitzen und Zacken in vier Meter Höhe vermittelten einen abweisenden, unbezwingbaren Eindruck; eine Mauer, deren schierer Anblick einem bereits die Hosen zerriss. Einen Anflug von Größe gestatteten sich die Vereinigten Gemeinden aber doch, und zwar in Form eines überkuppelten Säuleneingangs. Dies war, ehe unter den Juden selbst irgendein Kompromiss gefunden wurde, der Kompromiss, den sie mit der Außenwelt geschlossen hatten.
Die beiden Vorstände standen dabei und sahen zu, wie die neue Mauer errichtet wurde. Der verwestlichte Rabbiner von der Befreier-Schul hatte es abgelehnt zu kommen. Es war der junge Rabbiner aus der alten Heimat, der, nervös auf und ab gehend, darauf achtete, dass bestimmte Normen eingehalten wurden, und entsetzt feststellen musste, dass er plötzlich die Aufsicht führte.
Als der Mörtel getrocknet war, kamen die Vorsitzenden der Vereinigten Gemeinden für die Errichtung des Zaunes zurück. Sie waren überrascht, die Zuhälter auf ihrer Seite versammelt zu finden - ein Anblick, den jene aufrechten Juden gehofft hatten, nie wieder sehen zu müssen. Vor ihnen stand eine Reihe der berühmten Haudegen des Wohltätigen Ich, einschließlich des noch immer robusten Hezzi Doppelklinge, Kokosnuss Burstein und Hayim-Moshe "Einauge" Weiss. Über Talmud-Harry ragte der sehr große, sehr legendäre Schlomo die Stecknadel empor.
"Die Mauer ist allemal hoch genug", sagte Talmud-Harry. "Ein Zaun ist eine unnötige Beleidigung." Die Juden der Vereinigten Gemeinden hingegen hielten ihn nicht für eine Beleidigung; ihrer Meinung nach passte er gut zu den anderen Einzäunungen in der Gegend. Eine Reihe von üblen Drohungen lagen bereits in der Luft. Harry brauchte nichts groß hinzuzufügen. Er zeigte auf die Mauer und sagte nur: "Noch mehr wird hier nicht abgetrennt."
Sie machten lange Gesichter und wandten sich an den Rabbiner, der nichts zu ihrer Unterstützung beizutragen hatte. Eine solide, zwei Meter hohe Mauer war, egal, welche Maßstäbe man anlegte, eine Abtrennung. Sie würde für eine Mehitza oder Sukkah ausreichen und auch, um einen wild gewordenen Ochsen einzusperren. Noch während die Feinheiten erörtert wurden, gab Talmud-Harry grünes Licht. Ein kribbeliger Doppelklinge griff bereits an die Hüfte, und Schlomo die Stecknadel ballte die Finger seiner rechten Hand zu einer keulenähnlichen Faust. Feigenblum, der erste Präsident der Vereinigten Gemeinden und Vater des zweiten, sah es aus dem Augenwinkel. Er hielt dies für einen ausgezeichneten Moment, das Wort des jungen Rabbiners als verbindlich zu erklären, worauf ein schneller Aufbruch erfolgte.
Die Zuhälter wollten genauso wenig zweitklassig sein wie ihre Brüder, die den Bau einer Trennmauer verlangt hatten. Als sie die Fassade ihres Friedhofs errichteten, gaben sie eine - allerdings einen Meter höhere - Nachbildung des großen Kuppeleingangs in Auftrag, der die Trauernden auf der Seite der Vereinigten Gemeinden willkommen hieß.
Nochmals sei Gott gedankt, dass alles geregelt war. So konnte Talmud-Harry in Frieden sterben, und ihm blieb der Anblick seiner eigenen Söhne erspart, wie sie, beides Rechtsanwälte, Kaddisch in den Wohnzimmern ihrer Villen gegenüberstanden und ihre Herkunft leugneten. Das Gleiche geschah bei dem Treffen mit Einauges Tochter und dem Sohn von Henja der Stummen. Alles, was diese Kinder hatten, war nach Art des Wohltätigen Ich erkämpft und bezahlt worden.
Es war Lila Finkel - deren Mutter, Brina die Vagina, wie es hieß, ein helles Köpfchen sowie eine Fotze aus reinem Gold hatte -, die es auf sich nahm, die Dinge für Kaddisch ins rechte Licht zu rücken. "Hol mal tief Luft", sagte sie. Kaddisch tat, wie ihm befohlen. "Riechst du es?", fragte sie. Vielleicht, dachte Kaddisch. "Glück, Poznan, so riecht Glück. Dies ist für uns die Zeit des Wohlstands, und der hat sich bisher noch nie hierherverirrt."
Es war die Glanzzeit Evitas, ihrer befreiten und ihrer hemdlosen Arbeiter. Unter Perón schossen Fabriken aus dem Boden, und Lila entwarf für Kaddisch ein Bild vom damit einhergehenden Aufstieg der Mittelschicht, der auch für die Juden Platz schaffte. Sie bitte ihn lediglich, sich gemeinsam mit ihnen auf die Zukunft zu freuen. Kein Grund, in hässlichen, bald vergessenen Erinnerungen zu verweilen. Kaddisch war nicht überzeugt, und Lilas Geduld begann zu schwinden. "Überleg doch mal", sagte sie und tippte sich einmal kräftig an die Schläfe. "Wer ist besser dran" - noch eine Rätselfrage -, "ein Mensch ohne Zukunft oder ein Mensch ohne Vergangenheit? Deshalb wurde doch die Mauer gebaut. Damit die Juden eines Tages alle beisammen sein können, damit wir auf dem Friedhof der Vereinigten Gemeinden nicht in Trauer, sondern in Freude stehen und alle zusammen beim Anblick dieser Mauer vergessen können, was sich auf der anderen Seite befindet."
Nur dass für Kaddisch Poznan die Zukunft nicht heller aussah als die Vergangenheit. Er hatte Lillian noch nicht kennengelernt und geheiratet; sein Sohn war noch nicht geboren. Da er das Grab seiner Mutter Favorita nicht besuchen konnte, hatte Kaddisch überhaupt niemanden.
"Na und?", sagte Lila. "In der Geschichte eines jeden Volkes gibt es Zeiten, die sollten am besten vergessen werden. Das hier ist unsere, Poznan. Lass sie los."
Unter den Kindern, die die Existenz ihrer Eltern nicht zur Kenntnis nehmen wollten, gab es außer Lila noch jemanden, den Kaddischs Worte kopfscheu gemacht hatten. Als er zum Friedhof zurückging, beseelt von dem Willen hineinzukommen, sah Kaddisch, dass das Tor mit einer zusätzlichen Kette gesichert und schludrig zugeschweißt worden war, und obendrein waren auch noch die Schlüssellöcher beider Schlösser mit Teer verklebt. Er versetzte ihm einen Stoß, der durch die Kuppel hallte und eine Taube herabschießen ließ. Kaddisch dachte daran, was Lila gesagt hatte, und ging zur Seite der Vereinigten Gemeinden herum. Er trat durch deren stets geöffnetes Tor, durchquerte die gepflegte Anlage, und als er sie erreichte und die Hände danach ausstreckte - als er die Hände nach oben streckte und sich auf die Mauer hochzog, zerschrammte sich Kaddisch die Schuhe an den Backsteinen. Wie er dort thronte und den Blick über das Wohltätige Ich schweifen ließ, fragte sich Kaddisch, ob wohl jemals eine Mauer gebaut worden war, die niemand hatte überqueren können. Diese hier stellte keine große Herausforderung dar. Sie sollte schließlich nicht die Lebenden zurückhalten, sondern die Toten trennen.
Als Lösung war dies für Kaddisch und, als sich die Nachricht verbreitete, auch für den Rest der jüdischen Gemeinde auf beiden Seiten der Mauer akzeptabel. Gelegentlich wurde Kaddisch dabei beobachtet, wie er zum Wohltätigen Ich hinüberkletterte oder sich wieder zwischen die Gräber der Vereinigten Gemeinden herunterließ. Niemand räumte öffentlich ein, dass er dorthin ging. Wenn es möglich war, jeden einzelnen der auf jenem Friedhof begrabenen Gauner aus dem Gedächtnis zu streichen, war es nicht schwer, noch einen weiteren Namen zu vergessen. Von da an war es, als gäbe es ihn nicht. Die Juden vergaßen auch Kaddisch Poznan.
Und so blieb es für lange Zeit. So wurde Kaddisch behandelt, als er sich in Lillian verliebte, die seine Liebe, Gott segne sie, sofort erwiderte. Die Juden von Buenos Aires machten in ihrem Vergessen Platz für sie - keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, dass ihre Familie sich der Seite der Vereinigten Gemeinden angeschlossen hatte. (Auch die Eltern sind zu bedauern. Was soll man mit einer Tochter machen, die darauf besteht, einen hijo de puta zu heiraten? Warum musste sich Lillian den einzigen Juden suchen, der stolz darauf war, der Sohn einer Hure zu sein?) So blieb es für die beiden, als zwei Jahre später Evita starb, und auch als fünf Jahre später Perón vertrieben wurde. Nach Patos Geburt wurden Kaddischs Besuche beim Grab seiner Mutter immer häufiger. Seine Mutter war die einzige ununterbrochene Verbindung der Familie mit einer Vergangenheit.
Nicht einmal Kaddischs Name stammte von der Familie; der junge Rabbiner hatte ihn ausgesucht, nicht mehr als ein halbherziger Akt der Freundlichkeit und alles, wozu sich die aufrechten Juden je durchringen konnten. Kränklich, schwächlich und sich ans Leben klammernd, überlebte Kaddisch nur knapp die erste Woche. Seine Mutter - eine gläubige Frau - bat darum, dass der Rabbiner zu Talmud-Harry gerufen wurde, damit er ihn errette. Der Rabbiner weigerte sich, über die Schwelle zu treten. Im Sonnenlicht auf der Cashewnussstraße lugte er in den Vorraum auf den Säugling in Favoritas Armen. Im Nu sprach er sein Urteil. "Sein Name soll Kaddisch sein, damit der Engel des Todes ferngehalten werde. Ein Trick und ein Segen. Dieses Kind soll trauern, statt betrauert zu werden." Da, außer beim körperlichen (und geschäftlichen) Akt, niemand die Vaterstelle einnahm, gab der Rabbiner Kaddisch den Nachnamen, der mit der Legende einhergeht - dass der Nachkomme, den ein Mann mit einer Prostituierten zeugt, ein böses Ende nehmen wird, das wissen wir aus Poznan. Favorita wiederholte den Namen: Kaddisch Poznan. Sie hielt Kaddisch vor sich in die Höhe und drehte ihn einmal ganz herum, als überlegte sie, ob er wohl passen würde. Der Rabbiner lächelte nicht, und er verabschiedete sich auch nicht. Er trat einfach in die Gosse hinaus, mit dem Gefühl, das Richtige für das Kind getan zu haben. Sollte der Name Kaddisch ihn retten. Aus der anderen Sache sollte der Junge, falls er rechtschaffen war, allein herauskommen.
Hätte Kaddisch die Ursprünge seines Namens gekannt, er hätte sich nicht verflucht gefühlt. Er war glücklich mit seiner Familie. Er war überzeugt, seinem Sohn stünde eine leuchtende Zukunft bevor. Und sosehr seine Knie auch knackten, als er jene Mauer erklomm, sosehr er auch sanft und ohne großen Schwung zu landen versuchte, sich selbst hatte er auch noch nicht aufgegeben. Hätte sie ihn in den letzten fünfundzwanzig Jahren zur Kenntnis genommen, hätte Kaddisch Lila Finkel gesagt, dass sie zum Teil recht gehabt hatte. So schwer das Leben auch war, irgendwie war es auch nicht schlecht, mit ein wenig Hoffnung zu leben. Vielleicht war das der Grund, weshalb Kaddisch die anderen Juden genauso wenig brauchte wie sie ihn.
Dies war das Gleichgewicht, das durch die Montoneros und die ERP und nach dem Sturz von Onganía aufrechterhalten wurde. Während jener zwei Jahrzehnte wurde die Gemeinschaft wohlhabend und erlangte einen gewissen Status. Und Kaddisch war überzeugt, dass er, hätte nur einer seiner Pläne funktioniert, von allen am wohlhabendsten geworden wäre.
Als Perón wieder an die Macht kam, verspürten die Juden kein großes Bedürfnis, Bilanz zu ziehen. Und schon gar nicht kam es ihnen in den Sinn, sich Gedanken darüber zu machen, wie Kaddisch Poznan die ganzen Jahre über behandelt worden war. Als während der Feier zu Peróns Rückkehr unter der ihm zujubelnden Menschenmenge ein kleines Massaker angerichtet wurde, ging ein leichtes kollektives Zucken durch die Gemeinschaft. In Once und Villa Crespo gab es einige, die während Peróns kurzer Herrschaft nervös mit den Knien wippten, und nach seinem Tod begannen zwei Brüder in zwei Villen in Palermo, ernsthaft an den Nägeln zu kauen.Perón hatte seinem Land als Nachfolgerin im Rosa Haus eine Tänzerin hinterlassen, der es nicht gelang, den Laden am Laufen zu halten. Während jener Zeit der großen Unsicherheit und tödlichen Gerüchte fürchteten einige der Glücklichen, dass die Neidischen und Böswilligen eventuell einen Blick in die Vergangenheit werfen könnten. Die Zahl der Toten nahm zu, von den Beerdigungen aber wollte man noch nichts wissen. Das Interesse in dieser Zeit richtete sich eher auf das, was ausgegraben wurde. In Buenos Aires wurden damals derart viele Geheimnisse zutage gefördert, dass jeder rein zufällig auf eins stoßen konnte. Da erst räumten die Kinder des Wohltätigen Ich ein, was Kaddisch schon immer gewusst hatte: Die Mauer, die jene beiden Friedhöfe voneinander trennte, war gar nicht so hoch.
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Autoren-Porträt von Nathan Englander
Nathan Englander, geb. 1970, wuchs in einer jüdischen Gemeinde in Long Island auf. Er studierte an der Hebrew University in Jerusalem und an der Binghamton Universität Englische Literatur und Jüdische Geschichte. Er arbeitete als Fotograf, Strandreiniger, Schuhverkäufer, Lektoratsassistent und Fremdenführer. Mittlerweile lebt Nathan Englander in Jerusalem und bezeichnet sich selbst als 'vollständig weltlich'.Michael Mundhenk geb. 1954 in Berlin, Studium der Architektur, Romanistik und Anglistik, ist der Übersetzer von u.a. Margret Atwood, Allen Ginsberg, Barry Lopez, David Adams Richards.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nathan Englander
- 2008, 1, 445 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan, v. Michael Mundhenk
- Übersetzer: Michael Mundhenk
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 363087259X
- ISBN-13: 9783630872599
Rezension zu „Das Ministerium für besondere Fälle “
"Einen so lustigen, burlesken, ausladenden, mitunter fantastischen und dabei immer ganz einfach erzählten Roman wie "Das Ministerium für besondere Fälle" kann man vermutlich nur schreiben, wenn man ein so bewegtes, zwischen zwei Kontinenten und Kulturen sich abspielendes Leben wie der 37 Jahre alte Schriftsteller Nathan Englander führt."
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