Das Missing Link
Es war einmal vor 47 Millionen Jahren in Deutschland »Ida«, ein sensationell gut erhaltener Fossilfund, wirft neues Licht auf die Entwicklungsgeschichte von Affen und Menschen. Colin Tudge schildert das atemberaubend spannende Abenteuer einer einmaligen...
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Produktinformationen zu „Das Missing Link “
Es war einmal vor 47 Millionen Jahren in Deutschland »Ida«, ein sensationell gut erhaltener Fossilfund, wirft neues Licht auf die Entwicklungsgeschichte von Affen und Menschen. Colin Tudge schildert das atemberaubend spannende Abenteuer einer einmaligen wissenschaftlichen Entdeckung und macht uns mit Idas Welt und den Ursprüngen der Menschheit vertraut.
Klappentext zu „Das Missing Link “
Im Hochsicherheitsdepot eines der führenden Museen der Welt befindet sich ein aufsehenerregender Fund, womöglich die bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung der letzten Jahre. Bis vor Kurzem wussten weniger als ein Dutzend Experten von seiner Existenz, nun wirft er völlig neues Licht auf die Ursprünge der Menschheit. Es handelt sich um ein exzellent erhaltenes Fossil eines Primaten, sensationelle 44 Millionen Jahre älter als "Lucy", der bislang berühmtesten Urahnin des Menschen. Der Fundort: Deutschland. Genauer: die Grube Messel bei Darmstadt, heute Unesco-Weltnaturerbe. "Ida" wie die Forscher, die das Fossil seit 2006 wissenschaftlich bearbeiten, das mögliche Missing Link in der Entwicklungsgeschichte von Affen und Menschen liebevoll nennen blieb lange Zeit der Weltöffentlichkeit verborgen. Jetzt wird sich an Darwinius masillae eine spannungsreiche Diskussion über unsere ältesten Vorfahren entzünden.
Lese-Probe zu „Das Missing Link “
Missing Link von Colin Tudge (mit Josh Young)Kapitel 1
Ida wird entdeckt
Im schwachen Licht des Dreiviertelmondes huscht ein winziges Etwas zwischen den Palmen hindurch, die einen See einrahmen. Die Landschaft sieht fast schon unwirklich urtümlich aus. Das kleine Wesen, das in diesem üppigen tropischen Wald zu Hause ist, hat ein helles Fell und ist etwa einen halben Meter groß. Der längliche Kopf mit den nach vorn gerichteten Augen wirkt im Verhältnis zum Körper ein wenig überproportioniert - ein Indiz für Intelligenz. Die Beine sind ein wenig länger als die Arme, sodass es auf Bäume klettern und sich im Geäst bewegen kann, um den Gefahren auf dem Erdboden zu entgehen.
Es ist Ida. Sie ist knapp ein Jahr alt und wurde erst vor Kurzem von der Mutter entwöhnt. Jetzt kann sie herumstreifen und -klettern, wo immer sie möchte, und für sich selbst sorgen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit bewegt sie sich durch die Baumkronen, stößt sich mit den Füßen von einem Ast ab, wobei sie den Schwanz wie ein Steuerruder benutzt, und greift dann mit den langen Fingern nach dem nächsten. Sie hält sich mit den Zehen fest, die alle ungefähr gleich lang sind und für nichts anderes benutzt werden als zur Fortbewegung. Mit den opponierbaren Daumen kann sie elegant greifen und gehen.
Ida sucht nach ihrer nächsten Mahlzeit. Dabei lässt sie die verschiedenen Insekten - die alle leicht zu fangen wären - links liegen und konzentriert sich auf eine Frucht. Sie legt die Hände um die Frucht, pflückt sie vom Ast und schiebt sie in ihr längliches Maul. Mit rhythmischen Kieferbewegungen zermahlt sie die Frucht zwischen den abgerundeten Zähnen. Die Nahrungssuche im Wald ist für ein Lebewesen nun wirklich kein besonders aufregender Vorgang - wenn sie nicht vor 47 Millionen Jahren gerade in diesem Wald und
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gerade an diesem See stattgefunden hätte.
Der Regenwald, in dem Ida zu Hause ist, wäre für uns als solcher zu erkennen, aber er sähe anders aus als alle, die wir bislang gesehen haben. Es ist ein unvergesslicher Anblick, und auch wenn seine einzelnen Bestandteile zu jener Zeit relativ verbreitet waren, konnte dieser Ort nur durch das Zusammentreffen ganz bestimmter Ereignisse entstehen. Sein warmes, gleichmäßiges Klima fördert das Wachstum von Pflanzen und Bäumen und macht das Leben für seine Bewohner angenehm. Palmen mit gewaltigen Wurzelstöcken schießen ebenso in die Höhe wie die Palmfarne, die unten einen kräftigen Stamm haben und oben große, dicht gepackte Blätterbündel tragen. In der grünen Landschaft tollen Zwergpferde herum. Opossums und Gürteltiere teilen sich den Platz mit riesigen Mäusen und Salamandern. Vögel mit spechtähnlichem Schnabel und kurzen Flügeln rauschen durch die Luft, es gibt aber auch stämmige, flugunfähige Vögel, die am Erdboden leben, fast zwei Meter groß sind und sich von Säugetieren ernähren. Große Insekten schützen sich, indem sie sich als Blätter tarnen. Rattengroße »Langfinger«, deren Schwanz doppelt so lang ist wie der Körper, reißen mit ihren beiden klauenartigen Fingern die Borke von den Bäumen und hoffen, dort Insektenlarven zu finden. Ameisenfresser wimmeln durcheinander: Sie haben zweieinhalb Zentimeter lange Riesenameisen entdeckt, aber die entkommen häufig in letzter Sekunde, weil sie ihre Flügel 15 Zentimeter weit ausspannen und sich schnell davonmachen können.
Mitten im Wald liegt der See, der die Lebewesen in seiner Umgebung magisch anzieht. Der Krater, den er füllt, ist viele Jahrtausende vor Idas Geburt durch einen Vulkanausbruch entstanden. Tief unter der Erde war damals die Erdkruste gerissen, sodass glühend heißes, geschmolzenes Magma nach oben dringen konnte. Kurz bevor das flüssige Gestein durch die Oberfläche brach, traf es auf eine Grundwasserschicht; das Wasser verwandelte sich sofort in Dampf, der sich explosionsartig ausdehnte. Durch diese Reaktion wurde die darüberliegende Gesteinsschicht gleichsam weggesprengt, und es entstand ein riesiger Krater mit einem Durchmesser von 1600 Metern und einer Tiefe von über 250 Metern - ein Maar.
Im Laufe der Zeit füllte sich das Loch mit Grundwasser, das von unten einsickerte, und Regenwasser, das vom Himmel herabfiel. Ein See entstand. Es gibt zwar ein paar Bäche, aber keine größeren Zu- oder Abflüsse; deshalb ist das Wasser in dem See relativ unbeweglich. Da es keine Strömungen gibt, ist das Wasser am Seeboden von den oberen Schichten abgeschnitten, und es kann aus der Atmosphäre keinen Sauerstoff aufnehmen. Alle Fische leben dicht unter der Oberfläche, und Aasverwerter, die den Seeboden absuchen würden, gibt es nicht.
Der See ist so reich an Algen, dass er von oben aussieht wie ein grünes Auge mitten im Regenwald. Wenn die Algen an der Oberfläche absterben, sinken sie zu Boden und verwandeln sich irgendwann in Schlamm. In dem schweren Schlamm, der nahezu keinen Sauerstoff enthält, gibt es nur wenige Bakterien, und die vorhandenen sind nicht in der Lage, Kadaver vollständig zu zersetzen. Jedes Lebewesen, das stirbt und auf den Boden des Sees sinkt, ruht dort praktisch ungestört bis in alle Ewigkeit.
Der See ist das Herzstück dieses Wald-Ökosystems und bietet vielen verschiedenen Tierarten eine Lebensgrundlage. Am Ufer patrouillieren riesige Krokodile in ihrem Revier, und Frösche suchen mit einem tock-Geräusch nach Insekten. Die Landfrösche haben kurze Hinterbeine und graben ihre Nahrung aus, die Beine der Wasserfrösche sind lang und dünn. Schildkröten schieben sich mit paddelförmigen Füßen über die Oberfläche des algentrüben Wassers. An versunkene Felsen, die das Ufer des Sees säumen, haben sich Schnecken angeheftet. Vorn Sauerstoffmangel in tieferen "Wasserschichten abgeschreckt, schwimmen Kahlhechte, Barsche, Knochenhechte und Aale dicht unter der Oberfläche. Viele Fische ernähren sich von Schnecken und anderen Beutetieren mit harter Schale.
Ida hangelt sich durch diese ungeheure Fülle wilder Tiere, weicht Fledermäusen aus und bleibt außer Reichweite der schnappenden Krokodilkiefer mit ihren sägeförmigen Zähnen; dabei wird eines ganz deutlich: Sie ist anders als ihresgleichen. Sie begibt sich in den Bäumen viel tiefer hinab, und auf den ersten Blick sieht es aus, als würde sie mit den anderen Tieren spielen. Aber als sie sich vorwärtsbewegt, zeigt sich, dass sie mit ihrem rechten Handgelenk und dem linken Arm sehr vorsichtig umgeht.
Inmitten dieses friedlichen Paradieses, zwischen dem Schnattern Hunderter von Tieren und dem Lärm eines kreischenden Fledermausschwarms, beginnt es unter dem See zu grummeln. Aus dem Grummeln wird schnell ein Dröhnen, aber die Tiere im Wald achten nicht auf die große Gasblase, die aus den Tiefen der Erdkruste aufsteigt.
In diesem Augenblick beugt sich Ida nach vorn, um einen Schluck aus dem See zu nehmen. Mit einer Hand umfasst sie einen Palmenstamm, mit der hohlen anderen schöpft sie Wasser. Die Störung scheint ihr gleichgültig zu sein.
Die vollkommen geformte, ovale Blase rauscht über Zoo Meter durch das Wasser nach oben, tötet nahezu alle Lebewesen im See und setzt schließlich, als sie an der Oberfläche platzt, eine dünne Schicht aus dichtem Gas frei. Das Gas ist schwerer als die Luft, also breitet es sich am Boden aus. Es
bedeckt die Wasseroberfläche und kriecht über die tief liegenden Landflächen.
Ida und die anderen Lebewesen können das Gas nicht riechen. Doch selbst wenn Ida, erschreckt vom Rauschen der aufsteigenden Blase, hätte flüchten wollen: Sie kann sich nicht hochziehen, weil ihr Arm noch nicht kräftig genug ist, kann sich nicht von der Wasseroberfläche entfernen. Dann nimmt ihr das Gas die Luft. Sie krümmt sich in einer Embryonalhaltung zusammen, verliert das Bewusstsein und stürzt zusammen mit allen anderen Tieren aus ihrer Umgebung ins Wasser.
Leblos sinkt Ida auf den Boden des Sees, wo sie schließlich im Schlamm zur Ruhe kommt. Der natürliche Lebenszyklus eines jungen Tieres ist abrupt zu Ende. Aber wegen der wundersamen Besonderheiten von Zeitpunkt, Ort und Todesumständen wird sie eine unauslöschliche Spur in der Geschichte hinterlassen - eine Spur, die tiefer ist als die jedes anderen Lebewesens aus den nachfolgenden Jahrmillionen.
47 Millionen Jahre später hat sich das Antlitz der Erde gewandelt. Die indische Platte der Erdkruste ist mit der asiatischen Platte zusammengestoßen, was zur Entstehung des Himalaja führte. An den Polen haben sich Eiskappen gebildet. Die Kontinente haben ihre heutige Form angenommen, und das Klima hat sich verändert - und zwar mehrfach. Die Menschen haben sich entwickelt. Und in der Zeit eines Wimpernschlags spielte sich die moderne Menschheitsgeschichte ab - die Entwicklung der Zivilisation, die landwirtschaftliche, die industrielle und die technische Revolution sowie zahlreiche Kriege. Während all dieser Zeit lag Ida still in der Erde.
Die heutige Erde sieht ganz ähnlich aus wie die im Eozän, aber nicht genau gleich. Im Laufe der Jahrmillionen haben sich die Kontinente verschoben, und der Kratersee in dem tropischen Wald ist 45 Meter unter die Oberfläche gewandert. Außerdem hat er sich vom Gebiet des heutigen Mittelmeers
auf der Höhe Siziliens an eine Stelle bewegt, die 35 Kilometer südwestlich von Frankfurt am Main in der Nähe des Dorfes Messel liegt. Währenddessen presste das Gewicht der dicken Schlammschichten die abgestorbenen Algen zusammen und verwandelte sie in Ölschiefer; in diesem wurden die Überreste weiterer Tausender Lebewesen, die dort gestorben sind, platt gedrückt. Eines von ihnen ist Ida.
Die Ölschieferablagerungen wurden im 78. Jahrhundert von Kohleprospektoren entdeckt, und nachdem man ein Verfahren zur Umwandlung des Schiefers in Rohöl entwickelt hatte, wurde der Steinbruch-er heißt heute »Grube Messel «zum Schauplatz hektischer Betriebsamkeit. Am 30. Dezember 1875 lieferte die Grube Messei erstmals einen Anhaltspunkt, dass hier etwas Besonderes begraben liegt: Man fand Knochen und Kieferbruchstücke eines Krokodils. Aber auch als man im 20. Jahrhundert immer wieder Fossilien entdeckte, ging der Schieferabbau unaufhaltsam weiter. Und in all der hektischen Betriebsamkeit wurden Idas Überreste aus irgendeinem Grund übersehen.
Im Jahr 1966 schließlich machten sich Paläontologen und Archäologen in der Grube Messe] an systematische Ausgrabungsarbeiten. Fossilien von Pferden, Fischen, Fledermäusen und Krokodilen, alle seit langer Zeit eingeschlossen, wurden ans Licht geholt und in Sicherheit gebracht. In vielen Fällen hatten sich vollständige Skelette erhalten, aber auch Abdrücke von Haaren, Federn, Schuppen und sogar inneren Organen. Die Entdeckung des ersten Urpferdchens führte dazu, dass auch Hobby-Fossiliensammler auf ihren Tagesausflügen mit Geologenhämmern, Drahtbürsten und winzigen Putzlappen die Grube bevölkerten, immer auf der Suche nach Souvenirs oder einem jener seltenen Funde, die sie auf dem offenen Markt verkaufen konnten. Schicht für Schicht wurden viele Tonnen Schiefer entfernt, und bald hatte die Grube eine Tiefe von nahezu 6o Metern erreicht.
Im Jahr 1971 wurde der Bergbau eingestellt; die Konkurrenz billiger Ölimporte hatte ihn zugrunde gerichtet. Im gleichen Jahr beschloss die Regierung des Landes Hessen, die Grube in eine Deponie für Haus- und Industrieabfälle umzuwandeln. Aber so weit kam es nicht: Eine Bürgerinitiative organisierte sich, und auch die wissenschaftliche Weit protestierte; es kam zu einem regelrechten Feldzug für die Rettung der historischen Stätte. Durch Proteste und Gerichtsverfahren verzögerten sich die Pläne zur Einrichtung einer Müllkippe, und die Grube blieb für Fossilsammler geöffnet, bis eine Lösung gefunden war.
Übersetzung: Sebastian Vogel
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2009
Der Regenwald, in dem Ida zu Hause ist, wäre für uns als solcher zu erkennen, aber er sähe anders aus als alle, die wir bislang gesehen haben. Es ist ein unvergesslicher Anblick, und auch wenn seine einzelnen Bestandteile zu jener Zeit relativ verbreitet waren, konnte dieser Ort nur durch das Zusammentreffen ganz bestimmter Ereignisse entstehen. Sein warmes, gleichmäßiges Klima fördert das Wachstum von Pflanzen und Bäumen und macht das Leben für seine Bewohner angenehm. Palmen mit gewaltigen Wurzelstöcken schießen ebenso in die Höhe wie die Palmfarne, die unten einen kräftigen Stamm haben und oben große, dicht gepackte Blätterbündel tragen. In der grünen Landschaft tollen Zwergpferde herum. Opossums und Gürteltiere teilen sich den Platz mit riesigen Mäusen und Salamandern. Vögel mit spechtähnlichem Schnabel und kurzen Flügeln rauschen durch die Luft, es gibt aber auch stämmige, flugunfähige Vögel, die am Erdboden leben, fast zwei Meter groß sind und sich von Säugetieren ernähren. Große Insekten schützen sich, indem sie sich als Blätter tarnen. Rattengroße »Langfinger«, deren Schwanz doppelt so lang ist wie der Körper, reißen mit ihren beiden klauenartigen Fingern die Borke von den Bäumen und hoffen, dort Insektenlarven zu finden. Ameisenfresser wimmeln durcheinander: Sie haben zweieinhalb Zentimeter lange Riesenameisen entdeckt, aber die entkommen häufig in letzter Sekunde, weil sie ihre Flügel 15 Zentimeter weit ausspannen und sich schnell davonmachen können.
Mitten im Wald liegt der See, der die Lebewesen in seiner Umgebung magisch anzieht. Der Krater, den er füllt, ist viele Jahrtausende vor Idas Geburt durch einen Vulkanausbruch entstanden. Tief unter der Erde war damals die Erdkruste gerissen, sodass glühend heißes, geschmolzenes Magma nach oben dringen konnte. Kurz bevor das flüssige Gestein durch die Oberfläche brach, traf es auf eine Grundwasserschicht; das Wasser verwandelte sich sofort in Dampf, der sich explosionsartig ausdehnte. Durch diese Reaktion wurde die darüberliegende Gesteinsschicht gleichsam weggesprengt, und es entstand ein riesiger Krater mit einem Durchmesser von 1600 Metern und einer Tiefe von über 250 Metern - ein Maar.
Im Laufe der Zeit füllte sich das Loch mit Grundwasser, das von unten einsickerte, und Regenwasser, das vom Himmel herabfiel. Ein See entstand. Es gibt zwar ein paar Bäche, aber keine größeren Zu- oder Abflüsse; deshalb ist das Wasser in dem See relativ unbeweglich. Da es keine Strömungen gibt, ist das Wasser am Seeboden von den oberen Schichten abgeschnitten, und es kann aus der Atmosphäre keinen Sauerstoff aufnehmen. Alle Fische leben dicht unter der Oberfläche, und Aasverwerter, die den Seeboden absuchen würden, gibt es nicht.
Der See ist so reich an Algen, dass er von oben aussieht wie ein grünes Auge mitten im Regenwald. Wenn die Algen an der Oberfläche absterben, sinken sie zu Boden und verwandeln sich irgendwann in Schlamm. In dem schweren Schlamm, der nahezu keinen Sauerstoff enthält, gibt es nur wenige Bakterien, und die vorhandenen sind nicht in der Lage, Kadaver vollständig zu zersetzen. Jedes Lebewesen, das stirbt und auf den Boden des Sees sinkt, ruht dort praktisch ungestört bis in alle Ewigkeit.
Der See ist das Herzstück dieses Wald-Ökosystems und bietet vielen verschiedenen Tierarten eine Lebensgrundlage. Am Ufer patrouillieren riesige Krokodile in ihrem Revier, und Frösche suchen mit einem tock-Geräusch nach Insekten. Die Landfrösche haben kurze Hinterbeine und graben ihre Nahrung aus, die Beine der Wasserfrösche sind lang und dünn. Schildkröten schieben sich mit paddelförmigen Füßen über die Oberfläche des algentrüben Wassers. An versunkene Felsen, die das Ufer des Sees säumen, haben sich Schnecken angeheftet. Vorn Sauerstoffmangel in tieferen "Wasserschichten abgeschreckt, schwimmen Kahlhechte, Barsche, Knochenhechte und Aale dicht unter der Oberfläche. Viele Fische ernähren sich von Schnecken und anderen Beutetieren mit harter Schale.
Ida hangelt sich durch diese ungeheure Fülle wilder Tiere, weicht Fledermäusen aus und bleibt außer Reichweite der schnappenden Krokodilkiefer mit ihren sägeförmigen Zähnen; dabei wird eines ganz deutlich: Sie ist anders als ihresgleichen. Sie begibt sich in den Bäumen viel tiefer hinab, und auf den ersten Blick sieht es aus, als würde sie mit den anderen Tieren spielen. Aber als sie sich vorwärtsbewegt, zeigt sich, dass sie mit ihrem rechten Handgelenk und dem linken Arm sehr vorsichtig umgeht.
Inmitten dieses friedlichen Paradieses, zwischen dem Schnattern Hunderter von Tieren und dem Lärm eines kreischenden Fledermausschwarms, beginnt es unter dem See zu grummeln. Aus dem Grummeln wird schnell ein Dröhnen, aber die Tiere im Wald achten nicht auf die große Gasblase, die aus den Tiefen der Erdkruste aufsteigt.
In diesem Augenblick beugt sich Ida nach vorn, um einen Schluck aus dem See zu nehmen. Mit einer Hand umfasst sie einen Palmenstamm, mit der hohlen anderen schöpft sie Wasser. Die Störung scheint ihr gleichgültig zu sein.
Die vollkommen geformte, ovale Blase rauscht über Zoo Meter durch das Wasser nach oben, tötet nahezu alle Lebewesen im See und setzt schließlich, als sie an der Oberfläche platzt, eine dünne Schicht aus dichtem Gas frei. Das Gas ist schwerer als die Luft, also breitet es sich am Boden aus. Es
bedeckt die Wasseroberfläche und kriecht über die tief liegenden Landflächen.
Ida und die anderen Lebewesen können das Gas nicht riechen. Doch selbst wenn Ida, erschreckt vom Rauschen der aufsteigenden Blase, hätte flüchten wollen: Sie kann sich nicht hochziehen, weil ihr Arm noch nicht kräftig genug ist, kann sich nicht von der Wasseroberfläche entfernen. Dann nimmt ihr das Gas die Luft. Sie krümmt sich in einer Embryonalhaltung zusammen, verliert das Bewusstsein und stürzt zusammen mit allen anderen Tieren aus ihrer Umgebung ins Wasser.
Leblos sinkt Ida auf den Boden des Sees, wo sie schließlich im Schlamm zur Ruhe kommt. Der natürliche Lebenszyklus eines jungen Tieres ist abrupt zu Ende. Aber wegen der wundersamen Besonderheiten von Zeitpunkt, Ort und Todesumständen wird sie eine unauslöschliche Spur in der Geschichte hinterlassen - eine Spur, die tiefer ist als die jedes anderen Lebewesens aus den nachfolgenden Jahrmillionen.
47 Millionen Jahre später hat sich das Antlitz der Erde gewandelt. Die indische Platte der Erdkruste ist mit der asiatischen Platte zusammengestoßen, was zur Entstehung des Himalaja führte. An den Polen haben sich Eiskappen gebildet. Die Kontinente haben ihre heutige Form angenommen, und das Klima hat sich verändert - und zwar mehrfach. Die Menschen haben sich entwickelt. Und in der Zeit eines Wimpernschlags spielte sich die moderne Menschheitsgeschichte ab - die Entwicklung der Zivilisation, die landwirtschaftliche, die industrielle und die technische Revolution sowie zahlreiche Kriege. Während all dieser Zeit lag Ida still in der Erde.
Die heutige Erde sieht ganz ähnlich aus wie die im Eozän, aber nicht genau gleich. Im Laufe der Jahrmillionen haben sich die Kontinente verschoben, und der Kratersee in dem tropischen Wald ist 45 Meter unter die Oberfläche gewandert. Außerdem hat er sich vom Gebiet des heutigen Mittelmeers
auf der Höhe Siziliens an eine Stelle bewegt, die 35 Kilometer südwestlich von Frankfurt am Main in der Nähe des Dorfes Messel liegt. Währenddessen presste das Gewicht der dicken Schlammschichten die abgestorbenen Algen zusammen und verwandelte sie in Ölschiefer; in diesem wurden die Überreste weiterer Tausender Lebewesen, die dort gestorben sind, platt gedrückt. Eines von ihnen ist Ida.
Die Ölschieferablagerungen wurden im 78. Jahrhundert von Kohleprospektoren entdeckt, und nachdem man ein Verfahren zur Umwandlung des Schiefers in Rohöl entwickelt hatte, wurde der Steinbruch-er heißt heute »Grube Messel «zum Schauplatz hektischer Betriebsamkeit. Am 30. Dezember 1875 lieferte die Grube Messei erstmals einen Anhaltspunkt, dass hier etwas Besonderes begraben liegt: Man fand Knochen und Kieferbruchstücke eines Krokodils. Aber auch als man im 20. Jahrhundert immer wieder Fossilien entdeckte, ging der Schieferabbau unaufhaltsam weiter. Und in all der hektischen Betriebsamkeit wurden Idas Überreste aus irgendeinem Grund übersehen.
Im Jahr 1966 schließlich machten sich Paläontologen und Archäologen in der Grube Messe] an systematische Ausgrabungsarbeiten. Fossilien von Pferden, Fischen, Fledermäusen und Krokodilen, alle seit langer Zeit eingeschlossen, wurden ans Licht geholt und in Sicherheit gebracht. In vielen Fällen hatten sich vollständige Skelette erhalten, aber auch Abdrücke von Haaren, Federn, Schuppen und sogar inneren Organen. Die Entdeckung des ersten Urpferdchens führte dazu, dass auch Hobby-Fossiliensammler auf ihren Tagesausflügen mit Geologenhämmern, Drahtbürsten und winzigen Putzlappen die Grube bevölkerten, immer auf der Suche nach Souvenirs oder einem jener seltenen Funde, die sie auf dem offenen Markt verkaufen konnten. Schicht für Schicht wurden viele Tonnen Schiefer entfernt, und bald hatte die Grube eine Tiefe von nahezu 6o Metern erreicht.
Im Jahr 1971 wurde der Bergbau eingestellt; die Konkurrenz billiger Ölimporte hatte ihn zugrunde gerichtet. Im gleichen Jahr beschloss die Regierung des Landes Hessen, die Grube in eine Deponie für Haus- und Industrieabfälle umzuwandeln. Aber so weit kam es nicht: Eine Bürgerinitiative organisierte sich, und auch die wissenschaftliche Weit protestierte; es kam zu einem regelrechten Feldzug für die Rettung der historischen Stätte. Durch Proteste und Gerichtsverfahren verzögerten sich die Pläne zur Einrichtung einer Müllkippe, und die Grube blieb für Fossilsammler geöffnet, bis eine Lösung gefunden war.
Übersetzung: Sebastian Vogel
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2009
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Autoren-Porträt von Colin Tudge
Josh Young ist Journalist, u.a. für die New York Times und das LIFE Magazine, und war Co-Autor zahlreicher Sachbücher, von denen fünf auf der New-York-Times-Bestsellerliste standen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Colin Tudge
- 2009, 304 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Mit Josh Young
- Übersetzer: Sebastian Vogel
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492053718
- ISBN-13: 9783492053716
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